Mords Happen 2 - U.L. Brich - E-Book

Mords Happen 2 E-Book

U.L. Brich

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Beschreibung

Ein Junge, der später einmal der größte Kriminalbiologe der Welt werden will … Ein Serienkiller auf der Suche nach der großen Liebe … Eine werdende Mutter im Horrorwinter 1944 in Ostpreußen … In sieben Geschichten setzt U.L. Brich seine Helden verhängnisvollen Situationen aus. Schwarzer Humor ist ihr einziger Trost. Oft, aber nicht immer. Bonus: In kurzen Making-Offs plaudert der Autor über die Entstehung der Geschichten.

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U.L. Brich

Mords Happen 2

Sieben schlimme Stories

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Fliegenjunge

Der Anhalter

Der Sohn

Mühlentag

Schwarzer Rauch

Zwei perfekte Morde

Der Sound des Teufels

Impressum neobooks

Der Fliegenjunge

Im Alter von sechs Jahren fand Benny heraus, dass seine Eltern den Weihnachtsmann getötet hatten. Er war auf den Dachboden gestiegen, um einen Karton mit Spielfiguren zu suchen, die er seit dem Umzug in ihr neues Haus vermisste. Statt der Figuren entdeckte er eine Kiste, in der ein roter Mantel, eine schwarze Pluderhose, ein Paar blitzblank gewienerte Stiefel und ein ausgeblichener Jutesack lagen. Benny kannte die Kiste. Sie gehörte seinem Vater. Auch die Kleidungsstücke hatte er schon gesehen, zuletzt im alten Jahr, als der Weihnachtsmann Geschenke gebracht hatte.

Nun lagen die Sachen versteckt auf dem Dachboden, und das konnte nur eines bedeuten. Seine Eltern hatten ihre Drohung wahrgemacht. Wenn du nicht artig bist, sorgen wir dafür, dass dir der Weihnachtsmann nie wieder etwas bringt. Sogar die Gesichtshaut hatten sie dem alten Knaben abgezogen und seinen Bart als Skalp genommen.

Kreidebleich schlug Benny den Kistendeckel zu und verließ verstört die Bodenkammer.

Vielleicht erklärt dieses Erlebnis, warum Benny zu einem jungen Mann heranwuchs, der anders war als viele Gleichaltrige.

Neun Jahre später ging Benny aufs Gymnasium, Klasse 10. Er war ein fleißiger Schüler und kam mit den meisten seiner Klassenkameraden gut zurecht. Trotzdem sorgte er für Naserümpfen, als er das Thema der Facharbeit bekanntgab, die er für den Biologieunterricht zu schreiben gedachte: Leicheninsekten.

Mit anderen Worten: Maden, Schmeißfliegen und Käfer.

Nicht sehr appetitlich, vor allem wenn man bedachte, warum die Objekte von Bennys Interesse so hießen wie sie hießen.

„Hast du dir das gut überlegt?“, fragte die Biologielehrerin, Frollein Gründler.

Benny nickte. „Ich denke schon. Ich finde Kriminalbiologie total krass.“ Was in der Sprache seiner Altersgruppe hieß, dass ihn das Thema faszinierte. Welcher moderne Pädagoge hätte ihn angesichts derartiger Begeisterung von seinem Weg abbringen wollen?

„Na schön, aber eines muss dir klar sein: Es reicht nicht, aus irgendeinem obskuren Buch abzuschreiben, das zu Hause bei euch im Regal steht. Zur Facharbeit gehört zwingend ein praktischer Teil.“ An dieser Stelle legte Frollein Gründler eine Pause ein. „Willst du es dir vielleicht doch noch anders überlegen?“

„Ich denke nicht“, sagte Benny.

Nach der Stunde kam sein bester Kumpel Lars zu ihm. „Was hat sie mit dem praktischen Teil gemeint?“

„Das bedeutet, dass wir alles, worüber wir schreiben, aus eigener Anschauung kennen müssen.“

„Wow“, machte Lars. „Heißt das, dass du Maden und Fliegen züchten und sie durch eine Lupe anstarren willst?“

„So ähnlich“, sagte Benny. „Sag mal, lebt dein Hamster noch?“

Benny war nicht sein richtiger Name. Es war eine Art Koseform seines Familiennamens, die Benny ganz in Ordnung fand. Alle in seiner Klasse, sogar die Eltern seiner Mitschüler nannten ihn so. Selbst einigen Lehrern war der Spitzname schon herausgerutscht.

„Hi, Boomer“, sagte Lars an diesem Nachmittag zu seinem Goldhamster. „Benny hier hat einen Job für dich!“

Als das Fehlen des betagten Nagers ein paar Tage später auffiel und Lars‘ Mutter bei Bennys Mutter wütend nachfragte, wann ihr Sohn gedenke, den alten Boomer zurückzubringen, da verzichtete sie auf den Gebrauch von Bennys Kosenamen.

„Welcher Hamster?“ Bennys Mutter war ahnungslos.

„Boomer. Lars hat das Tier seit drei Jahren.“

„Und was hat mein Sohn damit zu tun?“

„Fragen Sie ihn doch mal!“

Das tat Bennys Mutter.

„Den Hamster hab ich nicht mehr“, sagte Benny.

Das stimmte im Prinzip. Der alte Boomer lag mit gebrochenem Genick in einem Schuhkarton hinter dem Haus. Benny ging jeden Tag nachsehen, welche Fliegen oder Käfer sich an der Leiche einfanden. Als die ersten Maden schlüpften, gab das ein ziemliches Gewimmel, doch als Benny im Biologieunterricht die Frage aufwarf, ob er im praktischen Teil seiner Facharbeit über kleine Nagetiere schreiben könne, schüttelte Frollein Gründler den Kopf.

„Mit Kriminalbiologie hat das eigentlich nichts zu tun.“

Vermutlich war die Lehrerin nur in Gedanken versunken. Für Benny jedoch klang ihre Antwort eindeutig.

Er musste größer denken.

Ein Meerschweinchen war größer als ein Hamster, doch Benny hatte so eine Ahnung, dass auch das nicht reichen würde. Schließlich gehörten Meerschweinchen zu den Kleinnagern. Er vermutete jedoch, dass der Kater ihrer Nachbarin die Anforderungen erfüllte. Er hieß Fritzi, aber heimlich nannten ihn alle Garfield. Der Grund dafür war offensichtlich: Fritzi-Garfield war vollgefressen und anderthalb mal so groß wie normale Katzen.

An einem sonnigen Nachmittag legte Benny sich am Zaun zum Nachbargrundstück auf die Lauer. Der Kater lümmelte auf der Sitzbank im Garten und hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Auch er schien zu warten, vermutlich auf die nächste Fütterung. Nun, Benny hatte da etwas für ihn. Eine kleine Dose Katzenfutter, Gourmet Premium, mit Rindfleisch, Ente, Kaninchen und Hochseefisch. So stand es auf der Dose.

Benny überlegte, was für ein Fisch das sein mochte. Heilbutt? Kabeljau? Lachs oder Dorsch? Thunfisch womöglich. Vielleicht schrieben sie es nicht auf die Verpackung, weil der Inhalt häufig wechselte. Fischabfälle der Saison klang nicht so lecker wie die unverbindliche, aber hochtrabende Bezeichnung Hochseefisch.

Benny hatte eine Latte am Zaun gelockert und dann eine zweite, damit der fette Kater auch tatsächlich hindurchpasste. Er hatte sich einen Hammer aus dem Werkzeugkeller seines Vaters besorgt, den er jetzt in der rechten Hand hielt, während er mit der Linken die Futterdose ans Zaunloch schob.

„Miezmiezmiez“, machte Benny und kam sich reichlich blöd dabei vor. Doch für die Wissenschaft musste man Opfer bringen.

Der Kater blickte träge herüber. Entweder war er zu faul, das leckere Mahl zu wittern, oder er musste erst abwägen, ob Gourmet-Premium-Futter die Mühe lohnte, sich von seinem Sonnenplatz zu erheben. Komm schon, dachte Benny, Hochseefisch!

Nach einer Weile hatte er den Kater halb überzeugt. Der schwarze Fellbatzen plumpste wenig anmutig von der Bank auf die Steinfliesen und näherte sich zögerlich dem Zaun.

„Miezmiezmiez, hol dir das Leckerli“, säuselte Benny.

Der Kater konnte die Dose jetzt genau sehen. Er musste das Fleisch riechen. Dennoch drückte sein Katzengesicht Argwohn aus. Womöglich hatte der Hersteller Barrakuda in das Futter gemischt, überlegte Benny, oder Katzenhai.

Er wackelte mit der Dose und zog sie ein paar Zentimeter vom Zaunloch weg. Wenn der Kater seinen Kopf weit genug unter dem Zaun durchsteckte, würde er mit dem Hammer zuschlagen. Er hatte die Bewegung geübt und war sicher, dass es klappte.

Aber der Kater blieb misstrauisch. Er schien irgendetwas zu ahnen. Benny steckte einen Finger in die Futterdose und leckte ihn ab. „Leckerleckerlecker“, sagte er, und das war nicht gelogen.

Schließlich kam der Kater. Vielleicht wollte er verhindern, dass ihm Benny das Premium-Futter wegfraß. Der Grund war eigentlich vollkommen egal. Der Kater kam durch den Zaun, das war alles, was zählte. Benny drosch mit dem Hammer zu. Es war vermutlich derselbe Hammer, mit dem sein Vater damals den Weihnachtsmann getötet hatte, aber der Kater, so fett er auch sein mochte, reagierte schneller als der Weihnachtsmann. Wie eine fellummantelte Rakete schoss er unter dem Hammerkopf davon, stieg am Zaun hoch und entschwand auf der anderen Seite, als trudele das Raumschiff führerlos ins All.

„Scheißescheißescheiße“, sagte Benny. Solch eine Reaktionsschnelligkeit hatte er dem fetten Viech nicht zugetraut. Er hatte den Kater unterschätzt, worunter nun seine Facharbeit leiden musste.

Während Benny noch mit sich haderte, hörte er auf einmal ein Schmatzen zu seinen Füßen. Er blickte nach unten, und da saß ein Hund und leckte die Katzenfutterdose aus. Es handelte sich um eine schwarz-weiß-schmutzige Promenadenmischung namens Sammy. Er gehörte einer Witwe ein paar Häuser die Straße runter. Sammy war bekannt dafür, dass er gerne ausbüxte. Er war ein kleiner Hund, aber klein bedeutete in diesem Fall, dass er fast doppelt so groß wie der Nachbarskater war.

Mit anderen Worten: groß genug.

Außerdem war er nicht schneller als der Weihnachtsmann.

Natürlich glaubte Benny schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann. Auch im Jahr seines grausigen Dachbodenfunds war der Weihnachtsmann am Heiligen Abend zu ihm gekommen, aber Benny hatte rasch erkannt, dass es in Wirklichkeit sein Vater war, der ihm etwas vorspielte. Er hatte sich die Kleider aus der Bodenkammer angezogen und sich die getrocknete Gesichtshaut des Toten wie eine Eishockeymaske umgebunden. Benny spielte mit, doch sein Vertrauen war erschüttert.

Ein oder zwei Jahre später eröffnete ihm einer seiner Freunde, er habe herausgefunden, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. „Ich weiß“, hatte Benny gesagt, „nicht mehr.“

„Nicht mehr?“

„Frag nicht, es ist kompliziert.“

Benny hatte nie wieder über das Thema geredet, doch manchmal, wenn er sich langweilte, war er auf den Dachboden gestiegen, hatte die Kiste geöffnet und in morbider Faszination hineingestarrt. Einmal war ihm etwas ins Gesicht geflattert, nachdem er den Deckel gehoben hatte. Es fühlte sich an wie ein zum Leben erwachter Wattebausch, aber dann sah er, dass es eine Motte war. Empört umkreiste ihn das Insekt. Es hatte etwas von einem übermotivierten Killersatelliten an sich. Er musste ein paarmal zuschlagen, ehe die Motte zermalmt zwischen seinen Handflächen klebte.

Später entdeckte Benny die Löcher im Mantel des Weihnachtsmannes, und er begriff, dass er die Motte beim Fressen gestört hatte. Zuerst ekelte er sich. Igitt, wem schmeckten schon die Klamotten eines Toten? Aber dann nistete sich ein Gedanke in seinem Kopf ein wie ein Wurm in einem faulen Apfel. Was, wenn die Motte vom Geruch der Kleider angezogen wurde, was, wenn sie den Duft von Toten mochte? Das war der Augenblick gewesen, in dem Bennys Interesse für Leicheninsekten erwachte.

Benny brachte den toten Hund in ihren Garten. Damit niemand sehen konnte, was er da trug, wickelte er seine Jacke um den schlaffen Körper. Er würde sie später mit Deodorant einsprühen, um die Motten fernzuhalten.

Benny legte den Kadaver unter ein paar Bretter hinter dem Schuppen. Bevor er Sammys Leiche abdeckte, machte er ein Foto mit seiner Handykamera. Für seine Facharbeit war es wichtig, das Experiment lückenlos zu dokumentieren, sonst würde Frollein Gründler wieder etwas zu meckern haben.

In den folgenden Tagen gelangen ihm einige aufschlussreiche Schnappschüsse.

Erst kamen die Fliegen. Buntschillernd bedeckten sie den Kadaver wie ein Tuch aus lebenden Edelsteinen.

Dann kamen die Maden. Die meisten waren weiß und sahen aus wie etwas, das man durchaus essen konnte, wären da nicht auch schwarze und rote Maden gewesen, die absolut bedrohlich wirkten. Benny nahm an, dass sie einen von innen auffraßen, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gab.

Als Nächstes kam Bennys Mutter. Sie hielt sich die Nase zu, riss die Augen auf, murmelte Oh mein Gott und rief Bennys Vater. Damit war das Experiment zu Ende.

„Das könnte Sammy sein“, sagte sein Vater, nachdem er den Kadaver eine Weile angestarrt hatte. „Da. Schwarz-weißes Fell. So sah Sammy aus. Auch die Größe passt.“

„Sammy?“ Benny tat unschuldig.

„Der Hund von Frau Bolte. Er ist vor ein paar Tagen wieder einmal weggelaufen und wird seitdem vermisst.“

„Aha“, machte Benny.

„Sammy war alt“, sagte sein Vater. „Offenbar hat er sich hier zum Sterben verkrochen. Das tun Tiere manchmal.“

Lars‘ Hamster Boomer war auch alt gewesen.

Mit Tieren hab ich einfach kein Glück, dachte Benny.

Auf seinem Mountainbike kurvte Benny durch das Wohnviertel. Er war auf der Suche nach einem Platz, an dem er ungestört experimentieren konnte. Er brauchte ein Labor, so wie alle großen Forscher eines besaßen. In einem Buch hatte er über einen Ort gelesen, der neben Räumen mit Mikroskopen und Seziertischen auch über einen riesigen Garten verfügte, in dem Leichen reiften wie anderswo Kartoffeln oder Erdbeeren. Das war in Tennessee, USA, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es musste aber doch auch hier, in Bennys Heimatstadt, ein Fleckchen Erde geben, an dem sich etwas Ähnliches aufziehen ließ.

Benny fiel das alte Haus am Stadtrand ein, das seit langem eine seltsame Anziehungskraft auf ihn und seine Spielkameraden ausübte. Schmutzig und grau duckte es sich unter das wuchernde Grün ungepflegter Obstbäume und ausladender Hecken. Das einst rote Schindeldach war von üppigem Moos überzogen wie eine tausend Jahre alte Dschungelschildkröte. Ein idealer Platz, um Abenteuer zu erleben. Allerdings war die Besitzerin, eine Rentnerin, nicht gut auf Kinder sprechen. Sie war mehr Hexe als Frau und hatte sie bisher immer vom Hof gejagt. Trotzdem beschloss Benny, sich das alte Haus nach langer Zeit wieder einmal anzusehen. Eventuell war die Vettel ja inzwischen ins Altersheim gezogen.

Benny schlich einmal ums Haus. Alles war ruhig. Er begegnete bloß einer mürrischen Katze, deren grün und grau getigertes Fell im hohen, seit langem nicht geschnittenen Gras wie ein Tarnanzug wirkte. Sie hielt Distanz, schien aber keine Angst vor ihm zu haben. Mit ihren gelben Augen starrte sie ihn tückisch an, als wolle sie seine nächsten Schritte abwarten und dann ihren Schachzug machen. Benny entschied, die Katze nicht weiter zu beachten.

Er ging zur Vordertür, fasste sich ein Herz und drückte auf den Klingelknopf. Irgendwo im Haus rasselte etwas los, das wie ein rostiger Wecker klang. Ansonsten tat sich nichts. Benny klingelte noch einmal. Keine Reaktion. Er blickte sich um.

Neben der Tür hing ein Briefkasten, von dem die Farbe abblätterte, als handele es sich um eine unheilbare Krankheit. Briefkastenkrebs. Aus dem Schlitz quollen Werbeprospekte. Weitere Reklamezettel lagen auf dem Boden, wo sie verschiedene Stadien der Kompostwerdung repräsentierten.

Benny drückte die Klinke nieder. Leise knarrend ging die Tür auf. „Hallo?“ Keine Antwort. Er trat ein. Er wusste, dass er das nicht tun sollte, aber irgendein Gefühl bewog ihn dazu, weiterzugehen, Es war, als hätte er zwei Stimmen in seinem Kopf. Das ist falsch, sagte die eine, aber du musst das jetzt richtig machen, die andere.

Es war warm im Haus, so als hätte die Besitzerin am Ende des Winters vergessen, die Heizung abzustellen. Benny überlegte, was er ihr sagen sollte, falls sie plötzlich aus einem der Räume geschossen kam, die vom Flur abzweigten. Entschuldigen Sie, aber ich suche einen Platz, an dem ich Leicheninsekten erforschen kann. Mit einem Mal kam ihm sein Vorhaben reichlich dämlich vor.

Dennoch konnte er nicht kehrtmachen. Sein Forscherdrang zwang ihn dazu, einen Schritt vor den anderen zu setzen, in jeden Raum zu spähen, Hallo zu rufen und weiterzugehen. Nichts, keine Spur von der alten Frau. Benny stieg in den ersten Stock, öffnete die nächste Tür, rief erneut Hallo und – da war sie.

Es handelte sich um das Schlafzimmer. Die Frau lag mit bis zum Kinn hochgezogener Daunendecke im Bett und schien zu schlafen. Benny wollte schon Oh, sorry sagen, aber dann fiel ihm die dunkle, fast schwarze Gesichtsfarbe der Schlafenden auf, und er fragte sich, wie jemand so tiefbraun werden konnte, wenn er nicht nach draußen in die Sonne ging. Neugierig trat er vor und starrte der Frau ins Gesicht. Sie regte sich nicht, und allmählich dämmerte es Benny, dass er keine Frau vor sich hatte, sondern eine Mumie.

Die alte Frau war tot, vermutlich ziemlich lange schon, und niemand hatte es bemerkt. Als Benny sie zum letzten Mal gesehen hatte, was gewiss anderthalb Jahre zurücklag, war sie schon alt gewesen. Irgendwann danach musste sie sich wie ein zahnloser Hund in ihrem eigenen Haus zum Sterben verkrochen haben.

Benny überlegte, was jetzt zu tun war. Sollte er einen Rettungswagen rufen? Wohl kaum. Oder die Polizei? Doch er konnte förmlich hören, was die Uniformierten ihn fragen würden. So, Junge, nun erzähl uns doch mal, was du in dem fremden Haus verloren hattest. Er konnte ihnen ja kaum erzählen, dass er auf der Suche nach einem Leichenlabor gewesen war.

Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass er es gefunden hatte. Dieser Ort würde sein Labor sein. Die erste Leiche hatte er auch schon.

Als hinter ihm ein Geräusch ertönte, fuhr Benny erschrocken herum. Aber es war nur das leise Miauen der getigerten Katze gewesen. Benny fiel ein, dass er die Haustür offengelassen hatte. Die Katze war ihm gefolgt. Offenbar gehörte sie hierher. Nachdem die alte Frau gestorben war, hatte ihr keiner mehr die Tür geöffnet, und die Katze hatte sich monatelang im Garten herumgetrieben und darauf gewartet, dass sie ihr altes Leben wieder aufnehmen konnte. Tja, dachte Benny, falsch gehofft.

„Miezmiezmiez!“

Eine Katze hatte ihm für seine Experimente bisher noch gefehlt. Schon nach wenigen Tagen konnte Benny die Liste seiner Studienobjekte außerdem um eine Ringelnatter, einen glücklosen Maulwurf und ein Kaninchen ergänzen, das er von seinem Taschengeld in der Zoohandlung kaufte. Die Krönung seiner Sammlung aber blieb die Mumie der alten Frau. Ihre Haut fühlte sich an wie das Leder eines zerknautschten Sofas. Ihr Körper verströmte den Geruch nach Rheumasalbe jenseits des Verfallsdatums. Benny überlegte, ob das die Leichenkäfer davon abgehalten hatte, der Toten das Fleisch von den Knochen zu nagen. Vielleicht war die Frau aber auch einfach zu alt gewesen, um noch eine Delikatesse für Necrobia rufipes oder Anthrenus scrophulariae darzustellen. Das war ein Punkt, den er später noch genauer untersuchen musste.

Fürs Erste hatte er alle Hände voll zu tun, um den Insektenbefall der anderen Testobjekte in Gang zu bringen.

Die Katze hatte er unter der Gartenbank deponiert, und sofort waren Schmeißfliegen über sie gekommen, grünblau schillernde Plagegeister mit roten Facettenaugen, die wie Weltraummonster aus einem peinlichen Science-Fiction-Film aussahen. Um Einzel-heiten zu erkennen, musste Benny mit seiner Lupe dicht herangehen. Dabei flogen die Biester auf und umgaben ihn wie eine zornige Wolke – wunderschön und beklemmend zugleich. Benny war sich darüber im Klaren, dass die Fliegen versuchten, ihre Eier in seinen Augen, Ohren und Nasenlöchern abzulegen. Sie schienen nicht wählerisch zu sein. Offenbar bevorzugten sie Leichen nur deshalb, weil diese nicht mit den Armen fuchtelten, was es den Fliegen leichter machte, die Eier zu platzieren.

Die Erkenntnisse, die ihm das Kaninchen lieferte, schienen das zu bestätigen. Er hatte den Kadaver mit einem Stück Wäscheleine im Apfelbaum befestigt. Die Schmeißfliegen fielen ähnlich rasch darüber her wie über die Katzenleiche. Die Fleischkäfer jedoch machten sich rar. Am verfaulenden Rumpf der Katze taten sich etwa fünfmal so viele Käfer gütlich wie an dem Karnickelkörper.

Als er darüber nachdachte, erschien Benny das nur logisch. Zur Katze hatten die Käfer über den Boden leichten Zugang. Um zu dem Kaninchen zu gelangen, mussten sie erst auf den Baum klettern, dann über den Ast wandern und sich schließlich an der Wäscheleine abseilen. Das alles schlauchte gewaltig, wie Benny aus dem Sportunterricht wusste.

Des Weiteren fand er die Bestätigung dafür, dass Insekten nicht sonderlich intelligent waren. Als die ersten Maden auf dem Kaninchen schlüpften, hielten sie sich nicht lange. Wann immer ein Windstoß den Kadaver in eine Pendelbewegung versetzte, purzelten viele von ihnen herunter, wo sie mangels Nahrung eingingen. Das hatten die Fliegen offenbar nicht vorausgesehen. Der ebenerdig deponierte Katzenkörper stellte einen wesentlich risikoärmeren Platz für ihre Brut dar.

Ein wenig Sorge bereiteten Benny die Schlange und der Maulwurf, die er in getrennten Zimmern im Haus untergebracht hatte. Sie vertrockneten zusehends, aber irgendwie wollten sich die Fliegen nicht an die Arbeit machen.

Benny dachte über das Problem nach, und ihm fiel der Angelladen ein, in dem sein Vater Stammkunde war. Dort gab es Fliegenmaden zu kaufen. Sie waren als Fischköder gedacht, aber gewiss würden die Maden nichts dagegen haben, wenn sie ihr Schicksal als Lebendfutter gegen eine aktiviere Rolle eintauschen konnten, bei der sie diejenigen waren, die fressen durften.

„Willst du Musca haben oder Sarcophaga?“, fragte der Verkäufer.

Auf diese Frage war Benny nicht vorbereitet, aber er fand, dass Sarcophaga mehr nach einem Leicheninsekt klang, und so nahm er ein Pfund davon.

„Dein Vater will wohl den Fluss leerfischen, was?“ Der Verkäufer grinste. Benny grinste zurück: „Ist so eine Art Prestigeprojekt.“

Die Maden stürzten sich auf den Maulwurf und die Ringelnatter und ließen bloß Skelette übrig. Irgendwann schlüpften die ersten Fliegen, aber sie blieben nicht lange. Eigenartigerweise schienen sie das Haus zu meiden. Benny grübelte darüber nach, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Er musste weiterforschen.

Für seine Biologiearbeit hatte er akribisch die Liegebedingungen seiner Leichen notiert sowie die täglichen Veränderungen protokolliert.

Montag, Katze, Außentemperatur 22 Grad Celsius, Körpertemperatur dito, Gewicht: 1,7 Kilogramm, Maden: 1298, plus/minus ein paar.

Dienstag, Katze, Außentemperatur 20 Grad Celsius, Körpertemperatur im Prinzip wieder dito, Gewicht: 1,4 Kilogramm, Maden: 1165.

Trotz einer gewissen Fehlermarge konnte Benny schlussfolgern, dass Fliegenmaden im Freien dankbare Esser waren.

Aber seine Ergebnisse stellten ihn nicht zufrieden. Katzen, Kaninchen, Maulwürfe, das alles wirkte so ... behelfsmäßig. Man konnte auch sagen: dilettantisch. Genaugenommen waren Kleintiere gar keine richtigen Leichen. Wenn Benny in Büchern oder im Internet über Kriminalbiologie las, ging es immer um tote Menschen. Um es gut zu machen, brauchte er einen Menschen.

Benny kurvte auf seinem Mountainbike durch die Stadt. Aus dem Rest der Wäscheleine hatte er sich eine Art Schärpe mit einer Schlinge geknotet, in die er den Hammer aus der Werkstatt seines Vaters steckte. Er hatte geübt und konnte den Hammer jetzt in voller Fahrt aus der Halterung ziehen. Er brauchte keine zwei Sekunden dafür. Selbst bei Tempo 20 vermochte er ein Ziel in acht von zehn Fällen zu treffen. Das war recht ordentlich, und die Tatsache, dass ein Fahrrad nur selten Tempo 20 fuhr, verbesserte seine Trefferwahrscheinlichkeit noch um einiges.

Als Übungsziele hatte Benny den Kaninchenkadaver am Apfelbaum und einige Verkehrszeichen benutzt. Jetzt war er aber nicht hinter Blechschildern her. Während er durch die Straßen radelte, hielt er Ausschau nach Menschen, die sich als Studienobjekte eigneten.

Auf einem Fußweg tollte ein kleiner Junge hinter einem Ball her. Das war ein schwieriges Ziel, weil der Kopf des Jungen nie länger als eine Sekunde am selben Fleck blieb. Benny entschied sich daher gegen einen Angriff. Auch ein junger Mann, der gedankenversunken auf sein Handy starrte, kam nicht in Frage. Der Typ würde den Hammer zwar nicht kommen sehen, aber er war mindestens zwei Meter groß und damit außerhalb von Bennys idealer Reichweite. Der Schlag würde ihn wahrscheinlich zwischen den Schulterblättern treffen, und es würde definitiv Ärger geben.

Eine Weile folgte Benny einer gebückt dahinschleichenden Rentnerin, die sich mit ihrer Einkaufstasche mühte. Die Position des Ziels, seine relative Unbeweglichkeit, die Schlagdistanz ... alles passte. Benny zögerte dennoch. Er hatte ja schon eine alte Frau in seinem Labor, und die war in Bezug auf Madenbefall nicht gerade eine Offenbarung.

„Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?“, fragte er stattdessen.

Die Frau schreckte hoch und musterte ihn. „Wenn du so lieb sein möchtest“, sagte sie dann.

Benny hängte die Einkaufstasche vorne an den Lenker und schob sein Rad neben der Frau her.

„Wofür brauchst du den Hammer?“, fragte die Alte nach einer Weile.