Mordsverlust - Christopher Stahl - E-Book

Mordsverlust E-Book

Christopher Stahl

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  • Herausgeber: NWB Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Mordsverlust und erdrückende Beweise – Darius Schäfer ermittelt wieder. „Du müsstest eben wieder einmal ermitteln ... muss ja nicht immer Mord sein, eine kleine Entführung, Erpressung oder etwas Wirtschaftskriminalität genügen ja vielleicht schon.“ Freunde glauben, das wäre das richtige Rezept gegen den Berufsfrust des Steuerberaters und Hobbykriminalisten Darius Schäfer. Und schneller als dem lieb ist, steckt er wieder mitten in einem neuen Fall. Der neue Stahl - Spannung pur, nicht nur für Steuerberater! Aus dem Inhalt: Das rätselhafte Verschwinden von Renate Dohne hält Darius in Atem. Seine ehemalige Angestellte scheint aus ihrer unglücklichen Ehe geflohen zu sein. Aber warum meldet sie sich nicht einmal bei ihrer Mutter? Vielleicht hat ihr Verschwinden etwas mit ihrer früheren Tätigkeit für die Soko Rheinhessen zu tun. Wurde sie etwa selbst in den Sumpf von Wirtschaftskriminalität, Erpressung und Drogenhandel gezogen, den sie jahrelang bekämpft hatte? Oder sollte Darius Schäfer einer ganz anderen Fährte folgen? Er spürt, dass die Winzerdynastie, in die Renate eingeheiratet hat, dunkle Geheimnisse verbirgt. Doch dann kommt es zu einem Wiedersehen mit der Vermissten, das sich Darius ganz anders vorgestellt hatte ...

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Seitenzahl: 418

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NWB Verlag GmbH & Co. KG, Herne

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch und alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahmen der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages unzulässig.

Zum Buch:
Renate Dohne ist spurlos verschwunden. Nach ihrer Ausbildung bei Darius Schäfer hat sie sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden, dann aber den Polizeidienst kurz nach ihrer Hochzeit quittiert. Jetzt ist sie offenbar aus einer unglücklichen Ehe geflohen. Aber warum meldet sie sich nicht einmal bei ihrer Mutter? Hat ihr Verschwinden vielleicht doch etwas mit ihren früheren Recherchen bei der SoKo Rheinhessennetz zu tun? Hat die Vergangenheit sie eingeholt und in den Sumpf aus Wirtschaftskriminalität, Erpressung und Drogenhandel gezogen? Oder sollten Darius Schäfer und Kriminalhauptkommissar Heribert Koman doch einer ganz anderen Spur folgen? Denn schnell wird dem Steuerberater mit Spürsinn klar, dass die Winzerdynastie Preuß & Erben, in die Renate eingeheiratet hat, so manches Familiengeheimnis hütet. Gerade als Darius Schäfer meint, in einer Sackgasse zu stecken, kommt es zu einem Wiedersehen mit Renate Dohne, das er sich ganz anders vorgestellt hat …
Eine besondere Rolle spielt in diesem Fall ausgerechnet eine Plastik, die als Mahnmal für die Toten geschaffen wurde: Der Schwebende von Ernst Barlach, 1927, Bronze, Dom zu Güstrow.
Zum Autor:
Hinter dem Pseudonym Christopher Stahl verbirgt sich der renommierte Autor von Praktiker-Literatur für Steuerberater Gerd Jürgen Merz. Er lebt mit seiner Familie in Rheinhessen. Nach Tödliche Veranlagung, Schwarzes Geld für schwarze Schafe und Mörderische Bilanz ist Mordsverlust bereits sein vierter Darius-Schäfer-Krimi.
Der Schauplatz: Die Rheinhessische Schweiz
Das Gebiet zwischen Bingen, Mainz, Worms und Alzey wurde 1816 der Provinz Hessen zugeschlagen; später gehörte es zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Seinen heutigen Namen Rheinhessen erhielt es 1819. Im Rahmen der Länderneuregelung wurde es nach dem 2. Weltkrieg Rheinland-Pfalz angegliedert.
Es ist das größte zusammenhängende Weinanbaugebiet Deutschlands. Seine vielfältigen Produkte (Müller-Thurgau, Kerner, Scheurebe, Faber, Bacchus, Huxelrebe, Chardonnay, Silvaner, Riesling, Morio Muskat, Weißburgunder, Grauburgunder Pinot Gricio, Portugieser, Dornfelder, Blauer Spätburgunder, Gewürztraminer), werden in der ganzen Welt geschätzt.
Dem Teil Rheinhessens, das nördlich an das Pfälzische Bergland anschließt, hat man wegen seiner hügeligen Landschaft den bezeichnenden Namen Rheinhessische Schweiz gegeben.
Hier, in dem Weindörfchen Bernheim und der näheren Umgebung, beginnt und endet diese Geschichte. Die örtlichen und geschichtlichen Gegebenheiten orientieren sich an der Realität. Nur das Dörfchen Bernheim, das gibt es ebenso wenig wie die handelnden Personen. Sie und ihre Geschichte sind Produkte der dichterischen Freiheit. Sie sind so frei gestaltet, wie halt eben die Fantasie doch unwillkürlich und ohne Absicht durch die persönliche Lebenserfahrung gesteuert wird.
Entscheidende Personen, die uns immer wieder begegnen und ohne die unsere Geschichte nicht „leben” würde.
Das Wort Familienbande
hat einen Beigeschmack von Wahrheit.
(Karl Kraus)

Montag, 4. April 2005

„Wo ist dein Problem, Darius?” Heinz stellte sein halbvolles Weinglas auf dem Tresen ab, an dem wir seit einer guten Stunde im Bernheimer Schafbock standen.
Es war einer dieser tristen, nasskalten Tage, an denen man schon absonderlich veranlagt sein musste, um nicht wenigstens einen Anflug von Trübseligkeit zu verspüren. Einer dieser Tage, an denen man den Eindruck haben konnte, das noch junge Jahr stecke mitten in der Pubertät und sei hin und her gerissen, für welche Jahreszeit es sich nun entscheiden solle.
Ich war einfach unzufrieden – mit mir selbst – und die verdrießliche Stimmung die der Tag vor dem Bürofenster verbreitet hatte, war nicht unbedingt dazu angetan, meine eigene aufzuhellen. Dazu war noch Wochenanfang und Sonja hatte sich heute Morgen von mir mit dem Hinweis verabschiedet, dass es wieder einmal spät werden könne und ich nicht auf sie warten solle. „Elternabend”, war ihre lapidare Erklärung, die sie mit einem bedauernden Achselzucken und einem nachgeschobenen Kuss auf meine Wange abzumildern versuchte. Und danach wollte sie sich noch mit ein paar Kollegen beim Lehrer-Lieblings-Griechen in Alzey treffen. „Soziale Pflichtübung” nannte sie das.
Ich konnte Beatrice, meine Ex-Frau, immer besser verstehen. Während der letzten Jahre unserer Ehe war sie es gewesen, die immer häufiger auf ein geregeltes und vertrauenswürdiges partnerschaftliches Zusammensein hatte verzichten müssen. Vor drei Jahren – lange nach unserer Scheidung – hatte ich begonnen, mein Leben umzukrempeln und als Konsequenz meine Steuerberatungskanzlei verkauft, an Carlo Dornhagen, einen ehemaligen Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey. Die Übergabe war mit meiner festen, sogar vertraglich vereinbarten Absicht verbunden, dort nur noch mit halber Fahrt mitzuarbeiten.
Doch wenn mich nicht eine Serie von Schicksalsfügungen immer wieder einmal für mehrere Wochen in die Gefilde der Hobby­kriminalistik entführt hätte, wäre ich schon bald gedankenlos in den alten Trott zurückgefallen. Obwohl ich für mich die Feststellung getroffen hatte, dass Trott nicht allzu weit entfernt war von Trottel. „Lieber ein Löwe am Abgrund, als ein Esel vor dem Karren.” Wie oft und mit welcher Überheblichkeit, hatte ich nach meinem Erwachen aus einem jahrelangen beruflichen Albtraum anfänglich mit diesem Spruch auf andere eingeschlagen, die meine Veränderung nicht nachvollziehen konnten. Und dann, schleichend und kaum von mir bemerkt, verfiel ich wieder in alte Verhaltensmuster. Dass das Kanzleigebäude in dem umgebauten Kelterhaus eines kleinen, ehemaligen Weingutes untergebracht war – nur zehn Schritte von dem Haus entfernt, in dem ich mit Sonja, zwei Hunden und drei Katzen lebte – wirkte sich begünstigend auf meine Rückfälle aus.
Das Anwesen lag am Ortsrand von Bernheim, einem kleinen Winzerdorf in der Rheinhessischen Schweiz. Die Region hatte immer als Garant für die ideale Witterung zum Weinanbau gegolten, während der letzten Wochen allerdings schien diese Auszeichnung nicht mehr zuzutreffen.
Da saß ich also an meinem Schreibtisch, stapelte lustlos Akten von einer auf die andere Seite, verteilte einiges in Hängehefter, suchte nach irgendetwas im Internet und wusste, dass etwas geschehen musste. Aber was?! Sonja nicht da, mieses Wetter und matschige Wege, die einem das Joggen verleideten, Unzufriedenheit mit meiner eigenen Inkonsequenz – was half da? Ein gutes Männergespräch mit Heinz, unterstützt von ein paar Bernheimer Roten.
Heinz Runde, ein begnadeter Softwarespezialist und bekennender und praktizierender Demeter-Ökologie-Nebenerwerbslandwirt, gehörte mit seiner Frau Karin zu meinen engsten Freunden. Beatrice hatte beide ursprünglich als eine Art Mitgift in unsere Ehe eingebracht und mir nach der Scheidung anteilig zum weiteren Nießbrauch überlassen.
Ich griff spontan zum Telefon.
„Wir treffen uns im Schafbock, um acht, ich muss zuerst noch die Tiere füttern”, war seine prompte Reaktion auf meine Bitte, ein Gläschen mit mir zu trinken. Er war einer meiner Mandanten, aber er kam auch zu mir, wenn er ein Problem abseits steuerrechtlicher Belange hatte. Und ich konnte ebenso auf ihn zählen.
Wir standen am Tresen in unserer Dorfgaststätte. Die Werbeuhr der Kirner Brauerei an der Wand zeigte kurz vor halb zehn. Obwohl sich die Kochkünste von Paul Herbst, der seit fast zwei Jahren das Lokal führte, inzwischen rumgesprochen hatten und Gäste aus der gesamten Umgebung anlockten, waren die Tische heute kaum besetzt. Kein Wunder – es war Montag, der Teuro verleidete den Leuten weiterhin das Ausgehen und das dritte deutsche Wirtschaftswunder hatte sich immer noch nicht herbeireden lassen.
Am Tresen waren Heinz und ich alleine. So konnte ich meinen Frust loslassen, ohne dass ich auf unerwünschte Zuhörer hätte achten müssen. Maitre Paul, wie wir ihn anerkennend nannten, stand wie immer, wenn es in der Küche nichts zu tun gab, auf der anderen Seite des Ausschanks. Angetan mit seiner burgunderroten Schürze, mit dem eingestickten goldfarben und ineinander verschlungenen Namenskürzel PH, wartete er in diskretem Abstand im Hintergrund auf einen Wink, unsere Gläser mit Bernheimer Spätburgunder zu füllen. Jeder von uns hatte bereits fünf Striche auf seinem Deckel.
Nebeneinander stehend, unsere Rücken dem Gastraum zugewandt, mussten wir ein imposantes Bild abgeben. Von hinten sahen wir uns, soweit es unsere Statur betraf, zum Verwechseln ähnlich. Heinz war mit 1 Meter 85 nur knapp größer als ich. Von vorne betrachtet erkannte man natürlich den Unterschied von zehn Jahren, die ich Heinz voraus hatte. Er war in seinem Farmerlook – kariertes Hemd und speckige Glattlederhose – ich immer noch im anthrazitfarbenen Kanzleianzug, was darauf hinwies, dass ich Sonjas Abwesenheit zu Überstunden missbraucht hatte. Den Schlips hatte ich allerdings abgelegt.
Einen Fuß auf der Trittstange abgestellt, leicht nach vorn über den Tresentisch gebeugt hielten wir unsere Gläser in der Rechten und starrten in das dunkle, satte Rubinrot. Ich hatte mich ausgequatscht, Heinz hatte zugehört und nun konnten wir … schweigen. Eine Szene wie in einer alten Westernschnulze. Ich schmunzelte vergnügt vor mich hin, mir ging es besser, Heinz hatte mich verstanden. Oder etwa doch nicht?
„Wo ist dein Problem, Darius?” Er stellte sein halbvolles Glas auf dem Tresen ab. „Gut, Beatrice hat dich vor acht Jahren mit euren beiden Söhnen verlassen. Aber, die sind ohnehin schon längst aus dem Haus und mit Beatrice besteht eine Freundschaft, die anscheinend besser funktioniert als eure Ehe.”
„Schon, aber …”
„Und seit fast drei Jahren bist du mit Sonja zusammen. Ihr passt zusammen, ergänzt euch und seid offenbar glücklich.”
„Ja, das stimmt ja alles, aber …”
„Was denn aber. Dir könnte es doch nicht besser gehen. Wie kann man nur so wehleidig sein, nur weil mal nicht alles so geht, wie man es sich vorstellt. Du könntest wirklich etwas entspannter sein.”
„Du musst gerade reden. Wie war das denn letzten Monat, als ihr Oskar geschlachtet habt, weil trotz mehrmaliger Deckungsversuche keine eurer Kühe trächtig wurde.” Heinz winkte ab, aber ich wollte einfach zeigen, dass auch er seine Grenzen hatte. „Und kurz danach habt ihr festgestellt, dass er doch seiner Bullenpflicht erfolgreich nachgekommen war. Der wollte nur nicht, dass ihr dabei zuseht. Nur war da der verhätschelte Zuchtbulle schon im Topf.”
„Klar hat mich das geärgert.”
„Geärgert? Tagelang gab es kein anderes Thema. Ganz Bernheim musste an deinem Kummer teilnehmen. Und als der Metzger dann wegen eines Missverständnisses fast das ganze Fleisch zur Wurst verarbeitet hat, sogar die Filetstücke, da bist du gänzlich ausgeflippt. Dabei ist es doch nur dein Hobby und soll der Entspannung dienen.”
Beide hatten wir unsere Gläser geleert und ich erweckte Paul aus seiner Erstarrung. „Noch mal dasselbe” forderte ich und tippte mit dem Zeigefinger auf meinen Deckel. Ich hatte Heinz attackiert, dafür gab ich einen aus.
Als wir mit den Gläsern anstießen, kam ihm die Erleuchtung: „Weißt du, was dir fehlt? Du müsstest wieder einmal über eine Leiche stolpern. Kriminalabstinenz führt bei dir zu Entzugserscheinungen.”
„Abgesehen davon, dass deine Bemerkung nur knapp an der Grenze zur Geschmacklosigkeit vorbeischrammt, schreibe ich deinen Mangel an Einfallsreichtum übermäßiger Alkoholzufuhr zu.”
Er zählte demonstrativ die Striche auf seinem Zettel und tippte sich dann an die Stirn.
Doch ich fuhr ungerührt fort: „Falls du es übersehen haben solltest: Ich habe bisher nur dann den Privatermittler gespielt, wenn ich persönlich auf irgendeine Weise betroffen war. Horst war mein Freund und Peter Simonis und Conrad Hauprich waren Kollegen. Wenn überhaupt, würde ich mich nur dann reaktivieren lassen, wenn es wieder um jemanden aus meinem persönlichen Umfeld ginge – um dich zum Beispiel.” Ich übersah sein theatralisches Entsetzen. „Nein Heinz, mir geht es um etwas ganz anderes, etwas Existenzielles: Ich will nicht wieder in mein altes Leben abdriften, darum geht es mir!”
„Nun, dann habe ich mit meinem Gedankenflug doch Recht – oder? Es muss ja nicht immer ein Mord sein. Eine kleine Entführung oder eine saftige Erpressung oder ein bisschen Wirtschaftskriminalität würde ja auch schon genügen. Warte nur ab, der nächste Fall kommt bestimmt. Vielleicht schon morgen”, frotzelte er und klopfte mir jovial auf die Schulter. „Auf mich brauchst du als Opfer allerdings nicht zu hoffen. So leicht werde ich es dir nicht machen. Und bei dem guten Berater, den ich habe, ist ja noch nicht einmal das kleinste bisschen Steuerhinterziehung drin.”
Ich besann mich wieder auf männliches … Schweigen und Heinz schloss sich freundschaftlich an.
Aber schon wenige Tage später fühlte ich mich bemüßigt ihn zu fragen, ob er etwa heimlich einen Volkshochschulkurs in Hellseherei absolviert hatte, mit Bestnote.

Mittwoch, 6. April 2005

Ich hatte mit Sonja ausgiebig gefrühstückt und mich dann um meine Katzen und Hunde gekümmert. Nach intensiver Zeitungslektüre und noch ein wenig Rumtrödeln kam ich gegen zehn Uhr dreißig in die Kanzlei. Ich ging an der verwaisten Zentrale vorbei in mein Büro, wo ich die Tür hinter mir zuzog. Das war seit Jahren ein Zeichen für alle Mitarbeiter, dass ich weder persönlich noch telefonisch gestört werden wollte.
Mein Blick fiel von der immer noch trüben Aussicht vor dem Fenster auf meinen ebenso deprimierenden Schreibtisch. Im Laufe des Vormittags hatte sich erneut ein bedrohlicher Papierdschungel ausgebreitet. Und wieder einmal schaffte ich Ordnung, indem ich mich bemühte, zuerst einmal eine Bresche zu schlagen. Früher hatte das meine Sekretärin wenigstens in groben Zügen gemacht. Sie wusste, was dringend und was weniger wichtig war. Aber neben Telefondienst und am Empfang arbeitete Irene Dengler nur noch für den Übernehmer meiner Kanzlei, Carlo Dornhagen. Das war zwischen uns auch so vereinbart worden, dennoch vermisste ich ihre jahrelange Erfahrung und Übersicht.
Ich schaute auf meinen Terminplan, dann auf die Uhr. In einer halben Stunde stand eine Besprechung mit einem Mandanten, Karl Söhngen, an. Im Zuge der Übernahme eines alteingesessenen Handwerkbetriebs in Albig wollte er expandieren. Bisher war der Betrieb darauf ausgerichtet, Bauherren und Hausbesitzern genormte Fertigfenster von Drittlieferanten zu empfehlen und einzubauen. Der frisch gebackene Unternehmer, hatte vor, sich zusätzlich auf die Sanierung von denkmalgeschützten Häusern zu spezialisieren und Holzfenster nach individuellem Aufmaß zu fabrizieren. In Rheinhessen zeichnete sich seit einigen Jahren ein positiver Trend beim Umbau und bei der authentischen Renovierung alter Bauern- und Winzerhöfe ab. Söhngens Ansicht nach gab es dadurch einen wachsenden Bedarf an originalgetreuen Fenstern.
Bei meiner Beratung ging es um die Analyse der Machbarkeit seines Vorhabens, damit die Finanzierung günstig und sicher gestaltet werden konnte. Mehrere Stunden hatte ich mich sorgfältig auf die erbetene Beratung vorbereitet, recherchiert, gerechnet und anhand der ersten Zahlen ein sondierendes Bankgespräch geführt. Bis in die gestrigen Abendstunden hinein hatte ich noch ein Exposé vorbereitet, das inhaltlich und formal den banküblichen Anforderungen entsprach. Das wollte ich noch einmal kurz durchlesen, bevor ich es dem Mandanten vorlegte.
Kerstin Neubert, eine neue Mitarbeiterin, streckte den Kopf zur Tür herein und fragte leise: „Kann ich Sie kurz stören?”
„Worum geht es? Und zu flüstern brauchen sie auch nicht.”
„Frau Dengler ist ja seit gestern auf einem Fortbildungsseminar und hat mich gebeten, die Telefonate entgegenzunehmen.” Sie deutete auf das Funktelefon in ihrer Hand und sah mich erwartungsvoll an.
Sollte ich sie nun loben, weil sie es als neue Mitarbeiterin geschafft hatte, die Zentrale darauf weiterzuleiten oder was wollte sie? Ich blickte nervös auf die Uhr, dann auf das Exposé, das immer noch ungelesen vor mir lag, und schließlich zu ihr. „Schön. Und was wollen Sie mir damit andeuten?”
„Na ja, und sie hat gesagt, ich solle Sie nicht stören, wenn Sie Ihre Tür geschlossen haben. Und da sie gestern den ganzen Tag geschlossen war, habe ich Ihnen heute früh eine Telefonnotiz auf den Tisch gelegt.”
„Von wem, von wann?”
„Von Herrn Söhngen, gestern gegen siebzehn Uhr, kurz bevor ich gegangen bin, hat er angerufen. Und eben hat er …”
Ich winkte ab. Mir war keine Notiz aufgefallen und ich blätterte nochmals den Papierstapel durch, den ich flüchtig sortiert hatte. Tatsächlich, an der Büroklammer eines Schriftstückes verhakt, entdeckte ich eine rosafarbene Telefonnotiz. Bevor ich sie lesen konnte, klingelte das Funktelefon. Kerstin Neubert blickte mich unsicher an, ich nickte etwas ungehalten und sie nahm das Ge­spräch an. „Steuerberatung Dornhagen, Neubert? … Herrn Schäfer? Da muss ich mal sehen, Frau Faber.”
Das konnte nur Gertrud Faber sein, eine Kollegin. Ich nickte ein weiteres Mal und Frau Neubert stellte zu meinem Apparat durch. Während ich das Gespräch annahm, bedeutete ich ihr, noch zu bleiben. Sie nahm Platz.
„Hallo Gertrud”, begrüßte ich sie.
„Hallo Darius. Bitte entschuldige, dass ich dich störe, aber ich habe ein ernsthaftes Problem.” Ihre angenehme, warme Stimme klang gehetzt. Doch das kannte ich gar nicht anders von ihr. Gertrud – wir hatten uns bei der Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung kennengelernt und sind seitdem per Du – war immer im Stress.
„Gertrud, du weißt, dass man ernsthafte Probleme nicht übers Knie brechen sollte. Ich habe in … fünf Minuten einen Mandantentermin. Das wird etwa eine Stunde dauern, danach …”, Kerstin Neubert wedelte mit der Hand und schüttelte den Kopf. Ich reagierte allerdings nicht darauf, da ich mir auf ihre Zeichensprache keinen Reim machen konnte, „…habe ich Zeit für dich. Ich rufe dann umgehend zurück.”
„Natürlich, sicher! Danke”, sagte Gertrud hastig und bat mich, sie unter ihrer Privatnummer anzurufen, weil sie nicht im Büro sei.
„Herr Söhngen hat den Termin abgesagt, das wollte ich Ihnen vorhin sagen. Und eben hat er …”
„Er hat abgesagt? Weshalb?”
Sie wies auf die Telefonnotiz, die ich immer noch in der Hand hielt. Ihr war zu entnehmen, dass der Finanzierungsberater der Commerzbank für heute um acht Uhr dreißig einen Termin mit ihm vereinbart hätte und er meine Beratung momentan nicht benötige. Ich blickte irritiert auf.
„Und bevor ich zu Ihnen kam, hat er noch mal angerufen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass mit der Bank alles geklärt sei.”
„Und, dass er mich nicht mehr benötigt!” Mein Sarkasmus war nicht zu überhören.
„So hat er es nicht gesagt. Aber Sie müssten ihn deshalb nicht zurückrufen, sagte er, weil er jetzt auch schon auf einer Baustelle ist. Ich soll Ihnen auch noch ausrichten, dass er sich für Ihre Bemühung bedankt.”
Ich war dem Platzen nahe und musste mich zusammenreißen; cholerische Chefs geben immer eine schlechte Figur ab. Dennoch wollte ich vorbeugen, damit ein solches Desaster nicht wieder vorkam.
„Ich hätte mir einige Arbeit sparen können, wenn ich das rechtzeitig gewusst hätte”, erklärte ich.
„Ich bin das noch nicht gewohnt, zu entscheiden, wann ich durchstellen kann und wann nicht. Mein vorheriger Chef hat alle Telefonate selbst angenommen.” Sie kämpfte mit den Tränen, denn natürlich entging ihr meine Miene nicht, dabei galt mein Ärger weniger ihr als viel mehr den Kollegen, die immer noch ihre Mitarbeiter wie unselbständige Kinder behandelten.
„Ist schon gut, Frau Neubert. Aber wenn Frau Dengler wieder zurück ist, lassen Sie sich bitte von ihr einweisen, unter welchen Bedingungen Sie mich und auch Herrn Dornhagen sofort ansprechen können, auch wenn wir unsere Bürotüren geschlossen haben.”
Nun saß ich wieder alleine in meinem Büro und versuchte erfolglos, meinen Frustknoten zu lösen. Schließlich stürzte ich zu Carlo. Zum Glück war er alleine. Noch vor drei Jahren war er Außenprüfer im Finanzamt in Alzey, unserem weinseligen Kreisstädtchen, gewesen. Seine ruhige, faire und trotzdem integre Art seinem damaligen Dienstherrn gegenüber konnte ich über mehrere Jahre beobachten. Als es dann anstand, dass ich meine Kanzlei verkaufen wollte, war er der passende Kandidat. Ich musste meine Entscheidung für ihn noch keinen Tag bereuen. Inzwischen hatte er seine Steuerberaterprüfung abgelegt und … lebte mit Irene Dengler zusammen. Sie hatten schon lange ein Auge aufeinander geworfen.
Der kleine, leicht untersetzte Carlo saß hinter seinem Schreib­tisch, strahlte mich an und wies mit einer einladenden Geste auf den Besucherstuhl davor.
„Was gibt‘s?”
Ohne Einleitung platzte ich los: „Zig Stunden Arbeit für die Katz. Natürlich hatte ich keinen separaten Vertrag für die Beratung gemacht, wer macht das schon bei langjährigen Klienten. Und jetzt geht der Söhngen ohne das Exposé und ohne mich zur Bank. Weißt du, was mich am meisten ärgert, weißt du das?”
Carlo fuhr sich durch das dichte, schwarze Haar. „Nö, aber du wirst es mir sagen.”
„Es geht mir weniger um das Honorar, das ich nun durch den Kamin jagen kann. Nein, ich habe mich zum Affen gemacht. Ich Trottel habe dem Finanzierungsfuzzi bei der CoBa, diesem Heinemann oder Heinzelmann oder wie der heißt, auch noch die Zahlen vorgelegt. Und der benutzt die gnadenlos, drückt meinem Mandanten eine Feld-Wald-und-Wiesen-Finanzierung aufs Auge, die sein EDV-Programm ausspuckt, und sahnt seine Provision ab. Und wer muss später mit dem Ergebnis umgehen, wenn Söhngen den Kapitaldienst nicht so erbringen kann wie geplant und wenn es an die steuerrechtliche Betrachtung geht? Wir doch. Und die Neubert ist nicht einmal in der Lage, zu entscheiden, wann …”
„Frau Neubert ist noch recht neu und du wusstest, in welcher Kanzlei sie gearbeitet hat, bevor sie zu uns gekommen ist. Da musst du dich nicht wundern.”
„Carlo, das ist nicht mehr der Beruf, den ich vor über 25 Jahren erlernt habe. Nicht genug, dass wir verantwortlich gemacht werden für die steuerlichen Bocksprünge aller bisherigen Regierungen, dass wir uns dauernd mit neuen EDV-Systemen rumschlagen müssen, die ein Schweinegeld kosten, und damit, dass die Mandanten immer unloyaler werden, von den Banken ganz zu schweigen, haben wir es verstärkt mit Mitarbeitern zu tun, die zu Fachidioten ausgebildet werden und denen die notwendige soziale Kompetenz fehlt. Nur nicht selbst denken.”
„Was willst du tun?”
„Ich mache diese ganze Scheiße nicht weiter mit. Ich habe heute Nacht lange mit Sonja geredet und dabei das Problem beim Namen genannt. Das heißt, Sonja hat es auf den Punkt gebracht:
‚Mach dir nichts vor, Darius‘, hat sie gesagt, ‚solange du den Stallgeruch deines Berufes in der Nase hast, wirst du immer weitermachen wie bisher.‘ Und dann sind wir zu der einzigen möglichen Lösung gekommen: Ende des Jahres werde ich ganz aus der Kanzlei aussteigen. Es ist mir klar geworden, dass es ein bisschen schwanger halt nicht gibt.”
Eigentlich hatte ich das Gespräch darüber in einer vorbereiteten Atmosphäre führen und Carlo nicht zwischen Tür und Angel damit konfrontieren wollen. Der Zorn jedoch hatte es rausgespült. Ich war dadurch ruhiger geworden und nun war ich gespannt auf seine Reaktion.
Er war aufgestanden, um den Tisch gegangen und hatte sich neben mich gestellt. „Steh einmal auf, Darius!”
Verdutzt über diese unerwartete Reaktion kam ich seiner ungewöhnlichen Aufforderung, ohne sie zu hinterfragen, nach. Er machte einen Schritt auf mich zu und umarmte mich. Dann schob er mich ein Stück von sich weg und sagte: „Bravo! Das ist genau die richtige Entscheidung, die war schon lange überfällig. Ich gratuliere dir.”
Ich musste ihn äußerst perplex angesehen haben.
„Heh, versteh mich nicht falsch. Ich freue mich nicht, dass du aufhörst. Ich freue mich für dich und Sonja. Ich habe dir viel zu verdanken und viel von dir gelernt Ich werde damit klarkommen müssen und auch klarkommen.”
„Na ja, wenn du dann einmal meine Hilfe benötigst …”
„Nein, mein Lieber. Das würde dir so passen. Kneifen gilt nicht!”, lachte er. „Wie hast du eben noch so schön gesagt? Ein bisschen schwanger gibt es nicht. Oder wie wir hier sagen: Wasch mich, abber mach mer de Pelz nedd nass – dess geht hald nedd.”
Erleichtert ging ich zurück in mein Büro, um Gertrud Faber anzurufen. Wir waren im gleichen Alter. Ihr Mann war vor fast30 Jahren bei einem Unfall auf dem Weingut Preuß, hier in Bernheim, umgekommen. Er war mit der Ehefrau des Winzers wegen einer Inventaraufstellung im Weinkeller, als irgendeine Maschine explodierte und beide dabei tödlich verletzt wurden. Seitdem führte Gertrud die Kanzlei alleine. Ihre Tochter Renate hatte vor 15 Jahren ihre Ausbildung zur Steuerfachangestellten bei mir absolviert und war später zur Polizei gegangen – Kommissariat für Wirtschaftskriminalität. Sie war ein liebenswertes, hübsches und intelligentes Mädchen und Gertruds Ein und Alles. Vor fünf Jahren hatte sie den Enkel der Frau, die mit ihrem Vater umgekommen war, geheiratet; jetzt hieß sie Renate Dohne. Nicht nur das Mandat, sondern vor allem das gemeinsame Schicksal hatte die Familien enger zusammengeführt.
Gertrud hatte mir irgendwann einmal erzählt, dass Renate inzwischen ihren Dienst bei der Polizei quittiert hatte, da sie auf dem florierenden Weingut jede Hand benötigten. Sie kümmerte sich um die Buchhaltung.
Ich wählte Gertrud Fabers Privatnummer. Das Gefühl, dass mir plötzlich ein Stein vom Herzen gefallen war, drückte sich in Heiterkeit aus, die ich gerne teilen wollte: „Na, Gertrud, meine Gute, was kann ich für dich tun?”
„Schön, dass du zurückrufst. Ich habe ein ganz besonderes Problem, mit dem ich nicht klarkomme.” Ihre Stimme klang bedrückt. Ich kannte das. Man wälzte berufliche Fragestellungen, verrannte sich und sah vor lauter rechtstheoretischen Bäumen den Wald der praktischen Umsetzung nicht mehr.
„Um was geht es? Umsatzsteuer? Einkommensteuer? Vorweggenommene Erbfolge? Betriebsübergabe? Abschreibungen? Gesellschaftsrecht? Sprich dich aus! Manches Mal löst sich alles in Luft auf, in frische Luft.”
„Das aber nicht, Darius. Ich benötige keinen fachlichen Rat. Ich habe ein ganz anderes Problem. Es ist etwas passiert und ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden soll, weil du sie doch auch kennst.”
„Wen meinst du mit sie?”
„Renate. Sie ist verschwunden, seit einer Woche … spurlos.”

24 Wochen später, Samstag, 24. September 2005

Sonja war über das Wochenende zu einer Weiterbildungsveranstaltung rheinland-pfälzischer Gymnasiallehrer gefahren. Der Termin hatte zwar schon zu Beginn der Sommerferien festgestanden, aber entweder hatte ich ihn verdrängt oder tatsächlich vergessen. Ich hasste die leeren Wochenenden ohne Sonja. Daher reagierte ich auch entsprechend verdrießlich, als sie mich kurzfristig damit konfrontierte und mit spitzem Zeigefinger auf unseren überdimensionalen Terminplaner deutete, den sie an der Seitenwand unseres Kühlschrankes befestigt hatte und sorgfältig aktualisierte.
„Ab und zu einen Blick auf den Kalender erspart so manche Überraschung”, philosophierte sie. „Wenn du unsere eigenen Termine genau so beachten würdest, wie die in deiner Kanzlei …”, den Rest ließ sie in der Luft schweben. Ich wusste auch so, was sie meinte. Meine erste Ehe mit Beatrice war schließlich vor acht Jahren genau wegen derartiger „Störungen im privaten Betriebsablauf” gescheitert.
Seit zwei Jahren lebten Sonja und ich in meinem kleinen, ehemaligen Winzerhof in Bernheim zusammen und ich gab mir redlich Mühe, die Fehler der Vergangenheit in unserer Beziehung nicht zu wiederholen, auch wenn genetisch verankerte Verhaltensmechanismen, die Männern, und so auch mir, nun einmal zu eigen waren, immer einmal wieder durchschlugen.
Andererseits waren es an diesem Wochenende Sonjas berufliche Termine, die unsere Privatheit störten, und darauf wies ich sie auch maulig hin.
„Der PISA-Studie muss Tribut gezollt werden”, erklärte sie mir tadelnd. „Unser überirdischer Kopulationskult am Sonntagmorgen wird also bis nächste Woche warten müssen”, hatte sie mir schließlich am Freitagnachmittag zum Abschied aus dem offenen Wagen noch zugerufen, wobei sie diese intime Ansage in der Phonzahl eines durchstartenden Düsenjägers von sich gegeben hatte.
Eine Nachbarin, die das freizügige Abschiedsgeplänkel von ihrem Fenster aus beobachtete, winkte mir fröhlich zu. Ich entgegnete ihren Gruß mit dem nichtsagendsten Gesichtsausdruck, dessen ich fähig war. Dabei hoffte ich inständig, dass die Verwunderung darüber, was eine Mathematiklehrerin und ein Steuerberater wohl mit der Veredelung von Reben zu tun haben könnten, noch dazu am heiligen Sonntagmorgen, zu keinen weiteren Gedankenspielen anregen würde.
Aber Sonja wäre nicht meine Sonja, wie sie leibte und lebte, wenn sie nicht noch einen Nachschlag gehabt hätte. „Übrigens”, tönte sie mit schlecht gespieltem Bedauern, „ich komme am Sonntag erst sehr spät zurück”. Damit war auch der klägliche Rest hormonell basierter Hoffnung, den ich mir hatte bewahren wollen, zerstört.
Was tat ein seriöser Strohwitwer um sich in seiner unbeweibten Askese die Zeit zu vertreiben? Er atmete tief durch und tat sich einen 20-Kilometer-Lauf an. Wenn denn schon das Wochenende mit Sonja ausfallen sollte, so freute ich mich wenigstens auf den jährlichen Volkslauf im Gonsenheimer Wald, der an diesem Samstag stattfinden sollte. Und zur psychischen Vorbereitung, quasi als Hors d‘œuvre, wollte ich ein Häppchen Kultur kosten.
Da ich wegen der sportlichen Aktivitäten ohnehin in Mainz war, nahm ich die Gelegenheit wahr, mir vorher die Ernst-Barlach-Ausstellung mit dem verheißungsvollen Motto „Mystiker der Moderne” in der Christuskirche anzusehen. Kurz nach zehn Uhr traf ich in der Christuskirche ein. Die erste Führung des Tages hatte bereits begonnen und so gesellte ich mich, ohne das Objekt, dessentwegen ich hauptsächlich gekommen war, zu beachten, zu einer Gruppe von etwa zehn Personen.
Ein grauhaarig-geknotetes weibliches Wesen, das mühelos selbst die plattesten Vorurteile über „späte Jungfern” im Einzelnen und Kunstführerinnen im Besonderen zu bedienen wusste, stand in geistiger Verzückung vor einer Skulpturengruppe. In einen über­großen Poncho gehüllt, dessen schrilles Rot eine wahre Folter für jedes halbwegs sensible Auge war, wirkte sie wie ein überdimensionaler Pylon. Dazu trug ihre Körpergröße – ich schätzte sie auf einen Meter achtzig – das seine zu diesem Bild bei.
Ihre höchste Konzentration galt ihrer Aufgabe und … sich selbst. Mit keinem Blick würdigte sie die an ihren Lippen hängende Gruppe Kunstbeflissener, die wiederum auf ihre eigene Art einem Sketch von „loriotschem” Format entstiegen zu sein schien.
„Ernst Barlach besticht nicht zuletzt durch die Vielfältigkeit seiner Kunst”, dozierte Frau Dr. Arunde Kleine-Schmittbauer, wie ihr Namensschildchen preisgab, in professoraler, leiernder Modulation. „Er selbst hat immer darauf hingewiesen, dass der Weg des Bildhauers für ihn der schwerste der drei Wege gewesen sei, nämlich vom Grafiker über den Dichter bis zum Plastiker.”
Mit nach vorn ruckendem Kinn, das an einen gurrenden Täuberich erinnerte, stieß sie die jeweiligen Hauptwörter derart heftig hervor, dass sie durch den Nachhall der in Kirchen üblichen Akustik wie Folgeexplosionen von den Wänden und aus der Kuppel zurückgestoßen wurden. Dass sie dabei die Zähne kaum auseinander bekam, verlieh ihrer Darbietung zusätzlich etwas Groteskes.
„Der Plastiker endlich”, ruckte sie, „fand den Durchbruch zur Form, die der Vielfalt Einheit, dem Vergleitenden Dauer, dem Einmaligen das Verpflichtende des Gesetzes verlieh. Erst in der Plastik rundete sich das Werk, kam der Suchende in sich wie außer sich aus der Qual des verfließend Subjektiven in die Sicherheit des bleibend Objektiven, in dem sein Wesen wie sein Wollen, sein Warten wie sein Vorwärtsdrängen Sinn, Ruhe, Ziel und die erlösende Aufgabe fand, nach der er mehr als ein Menschenalter umhergetastet hatte.”
Unvermutet, aber erlösend kam eine Atempause. Außerdem musste sie ihrem vehementen Speichelfluss mit heftigem Schlucken huldigen, und endlich der erste Blickkontakt.
Während mich ihre verbalen Illustrationen an den Sprachgebrauch von Ministerialerlassen und steuerrechtlichen Gesetzes­texten einschließlich ihrer noch mehr verwirrenden Erläuterungen erinnerte, honorierte die menschliche Mauer, die sich in dem Moment gebildet hatte, als ich nachträglich zu der Führung gestoßen war, diese rhetorische Rarität mit zustimmendem Kopfnicken. Begleitet von beifälligem Gemurmel tat man unisono so, als hätte man ihre Allegorien entschlüsselt und auch noch verstanden.
Sichtlich zufrieden mit der anerkennenden Reaktion lief Jungfer Arunde nun zur Höchstform auf.
„Die 58 Zentimeter hohe Bronzeplastik Lesende Mönche römisch drei, die Sie hier vor sich sehen, schuf Barlach 1932, zu der Zeit der beginnenden Isolation unter dem Nationalsozialismus …”
„Babba! Heh, Babba!!! Was hadden die Frau da ebe gesachd?”, verlangte ein krähendes Kinderstimmchen energisch nach Aufklärung. Und ohne eine Antwort abzuwarten, ließ der kleine Mann sofort die zweite, für ihn bestimmt wichtigere, Frage folgen: „Du, Babba, mohnste dann, die Nullfünfer gewinne heut gehsche Dortmund?”
„Johannes, sei still … psst … nachher … jetzt nicht!” Da erst entdeckte ich den genervten und sichtlich überforderten Vater, der vergeblich versuchte, einen quirligen Blondschopf an seiner Hand zu zügeln.
Ich beobachtete das Schauspiel, das mir immer noch allzu vertraut war, mit einem Hauch von Wehmut. (War es nicht erst gestern gewesen, dass meine Söhne Mark und Marius an meiner Hand zerrten, um mich an dem teilhaben zu lassen, was ihre kindliche Neugierde erregt hatte. Und wie selten hatte ich mir selbst die Chance gegönnt, mit den beiden wenigstens für ein paar Sekunden in ihrer Kinderwunderwelt eins zu sein. Heute gingen sie schon längst ihre eigenen Wege.)
Ein erzürnter Blick der Dozierenden und Unmutsäußerungen der Umstehenden waren dazu angetan, das störende Zweigestirn im Boden versinken zu lassen. Babba zuckte Verzeihung heischend mit den Schultern und ich erwiderte seinen gequälten Blick mit einem verständnisvollen Grinsen.
„Sie sehen zwei in ein Buch vertiefte Mönche dicht beisammen auf einer Bank sitzen. Ihre gemeinsame Lektüre drückt sich in den zu einer Form verschmolzenen Körpern aus. Feine Unterschiede”, nahm Frau Doktor mit scharfer Betonung den Faden wieder auf und wiederholte sich, da einige der Barlachfreunde nach wie vor Giftpfeile in Richtung Vater und Sohn abschossen. „Ich sagte soeben … hmm, … feine Unterschiede, also, zwischen den Mönchen, offenbaren sich erst auf den zweiten Blick.”
Während sie weitersprach, spähte sie stirnrunzelnd über unsere Köpfe hinweg. Ich folgte ihrem Blick und sah, dass sich der kleine Johannes von der Hand seines Vaters befreit hatte und zielstrebig auf eine Skulptur in der Rotunde der Vorkirche zueilte. Etwa zwei Meter über dem Boden, an zwei kettenähnlichen Stahlstangen aufgehängt, schien sie über einem darunter stehenden, ringförmigen Gitter zu schweben. Es war die Kopie des Güstrower Ehrenmals, besser bekannt als Der Schwebende – der hauptsächliche Grund, weshalb ich die Ausstellung besuchte.
Babba schien beruhigt und war offensichtlich zufrieden, dass der Kleine seinen aktiven Störradius um einige Meter verlegt hatte und er selbst nun endlich unbehelligt Frau Dr. Kleine-Schmittbauers weiteren Ausführungen folgen konnte.
„… fällt das Gewand am Oberkörper straffer, der Saum tanzt lebhafter über den Schuh hinab, um an der Seite in fast gotischer Manier sich aufzuwerfen und einzurollen”, fabulierte sie zur allgemeinen Beseligung. „Die bronzene Oberfläche der Figuren fängt das Licht vor allem in dieser Kreisform. Abgeschlossen …” – weiter kam sie nicht mehr. Jetzt nicht und auch nicht mehr für den Rest des Tages.
Als sei es ein vereinbartes Stichwort, beendete das Wort abgeschlossen, mit dem sie ihren letzten Satz begonnen hatte, tatsächlich ihre Führung. Die Ereignisse verselbständigten sich und katapultierten sie aus der vergeistigten und metapherngeschwängerten Welt ihres Barlachs in die profanen Abgründe der Wirklichkeit. Aber zunächst wehrte sich nicht nur ihr Geist, sondern der allerAnwesenden, das zu realisieren und anzunehmen, was sich ihnen in den nächsten Sekunden aus einem unschuldigen Kindermund offenbaren sollte.
„Babba, kuck mal, die Frau dahinten, die is ja ganz nackich!” verkündete der kleine Mann, der inzwischen wieder zurückgekehrt war, und deutete auf die Skulptur Der Schwebende.
„Johannes!”, der Vater sah hilflos um sich in die stummen Gesichter, in denen nur die eine Frage zu lesen war: Wann hast du endlich diesen Quälgeist im Griff! „Johannes”, flüsterte er für alle vernehmbar und folgte mit dem Blick dem Zeigefinger seines Sohnes, „das ist ein Engel. Und der hängt an zwei Ketten und das sieht nur so aus, als wäre der nackt.”
„Babba, des ist ‘ne Frau!” Der Junge unterstrich mit einem heftigen Aufstampfen seine flammende Entrüstung über das mangelnde Vertrauen in seine Beobachtungsgabe. „Und die hängt auch nicht an Ketten, die liegt auf‘m Boden … unter dem Engel, in dem Kreis. Da war e Kolter drüber gelegt, und die hab ich weggezoge und da hab ich se dann gesehe”, triumphierte er, „kuck doch selber”, erklärte Johannes ungeduldig seinem Vater und zog den sich nur leicht Sträubenden in Richtung Vorkirche.
An eine Fortsetzung der Führung war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Frau Doktor schwieg beleidigt. Kopfschüttelnd zeigte sie ihr Unverständnis für die schlagartige Abkehr des allgemeinen Interesses von Barlachs „Lesenden Mönchen römisch drei”. Ihr Missfallen entlud sich in einem stimmlosen aber nicht weniger verächtlichen „Kulturbanausen”, wie ich meinte, von ihren Lippen abzulesen. Mit einem Seitenblick konnte ich den lautlosen Ausbruch ihrer Verärgerung wahrnehmen, während der Rest der Gruppe der Vorstellung folgte, die sich unter der Skulptur abspielte, von der uns etwa 25 Meter trennten.
Aus der Distanz erst konnte ich sehen, dass Vater und Sohn im Partnerlook gekleidet waren: dreiviertellange, gelbfarbene Freizeithosen, die von breiten, rot-weißen Trägern gehalten wurden, dazu Trikots, die sie als Fans des 1. FSV Mainz 05 auswiesen. Selbstbei den Frisuren hatte man keine Unterschiede zugelassen und die Haare mit dem Viermillimeteraufsatz der Schneidemaschine kurz geschoren. Lediglich ihre Blickrichtung und natürlich die Körpermaße, unterschieden sie voneinander. Während Johannes nach unten blickte, schaute sein Vater nach oben. Die Dramaturgie ihres Aussehens und ihrer Gebärden erinnerte an die eines Stummfilmes – Pat und Patachon, schmunzelte ich innerlich. In diesem Stadium des Geschehens hatte die ganze Sache immer noch einen gewissen Unterhaltungswert für mich.
Johannes deutete jetzt aufgeregt auf eine Stelle innerhalb des ringförmigen Füntengitters. Es war ursprünglich dafür gedacht, ein kostbares Taufbecken zu schützen. Aber jetzt, was verbarg oder schützte es heute?
Beim Betreten der Kirche hatte ich mich auf die bereits im Kreis stehende Gruppe konzentriert und daher nur einen flüchtigen Blick auf die schwebende Skulptur geworfen. Jetzt im Nachhinein erinnerte ich mich, dass mir dabei auch aufgefallen war, dass darunter etwas Dunkelgraues drapiert lag, das wie ein wellenförmiger Bergrücken aussah.
Was also hatte Johannes enthüllt, indem er die Wolldecke, die jetzt als Knäuel außerhalb des Ringgitters lag, zwischen zwei Stäben hindurchgezogen hatte?
Durch die schmiedeeisernen Stäbe konnte man nun selbst aus der Entfernung etwas erkennen, was in mir blitzartig ein Déjà vu auslöste. Niemals würde ich das Ereignis und das Datum vergessen: Es war der 16. Juli 2002, als ich aus ähnlicher Entfernung ein ebenso unidentifizierbares Bündel auf einem Acker ausgemacht hatte, das sich dann als der zerschmetterte und leblose Körper meines besten Freundes Horst Scheurer herausstellen sollte.
Und obwohl meine Gedanken in dem dramatischen Sog der Erinnerung strudelten, konnte ich doch gleichzeitig beobachten, wie Johannes seinen Vater am Ärmel zog, um dessen Blick, der fasziniert an der über ihm schwebenden Skulptur haftete, auf das Objekt am Boden zu lenken.
Widerwillig folgte er der stummen Aufforderung, stutzte, schüttelte ungläubig den Kopf, wischte sich über die Augen, so, als wollte er einen Albtraum auslöschen, blickte wieder nach oben, dann nach unten, erbleichte auf einen Schlag und trat schließlich einen Schritt zurück. Seine rechte Hand fuhr mit einer fahrigen Bewegung zum Mund, die linke packte Johannes an der Schulter. Er zog den Kleinen, rückwärts taumelnd, in unsere Richtung.
Ich hatte mich aus der erstarrten Gruppe gelöst und war auf ihn zugegangen. Mit irrem Blick starrte er mich an, drehte sich dann aber weiter zu der immer noch sprachlosen und entsetzten Gruppe, deutete auf das Gitter und stammelte „da … da … die ist tatsächlich tot … mausetot” und fügte fast entschuldigend, mit leiser Stimme hinzu, „ich habe so etwas ja noch nie erlebt.”
Wieder einmal, schoss es mir durch den Kopf, wieder einmal war ich früher an einem Tatort, als die Polizei. Ich hoffte nur, dass das nicht zu einer notorischen Bestimmung wurde.
Die Tote lag auf dem Rücken, genau unter Der Schwebende. So stirbt man nicht freiwillig und auch nicht durch einen Unfall, fuhr es mir sofort durch den Sinn. Vor allen Dingen diese Frau nicht, nicht SIE!

24 Wochen vorher, Donnerstag, 7. April 2005

Das Wetter hatte sich endlich gebessert und ich fuhr kurz vor elf Uhr bei strahlendem Sonnenschein, der so gar nicht zu dem Anlass meiner Fahrt passte, zu Gertrud Faber. Am Tag zuvor hatte sie mich in der Kanzlei angerufen und mir von Renates Verschwinden erzählt. Sie hatte sich für mehrere Tage aus ihrer Kanzlei abgemeldet und so besuchte ich sie in ihrem Haus in Neu-Bamberg. Das idyllische Dörfchen lag in einem der schönsten Gebiete der Rheinhessischen Schweiz, etwa zehn Autominuten entfernt von Bernheim Richtung Bad Kreuznach. Mein Weg führte mich vorbei am Galgenberg und dem literarisch vielfach beschriebenen Ajaxturm. Während der Fahrt musste ich an das gestrige Telefonat mit Gertrud denken und hatte daher keinen Blick für die pittoreske Landschaft und die Burgruine, die oberhalb auf einem Hügel das Bild der Ortschaft prägte.
Gertrud Faber hatte mir erzählt, dass ihr Schwiegersohn Benjamin am Ostersonntag, also am 27. März, gegen zehn Uhr bei ihr angerufen und sie gefragt hatte, ob sie eine Ahnung hätte, wo Renate sei. Er war aufgewühlt gewesen und hatte ihr erzählt, dass Renate nach einem kleinen Streit, wie er es nannte, mitten in der Nacht die gemeinsame Wohnung auf dem Weingut verlassen hätte, mit der Mitteilung, nie mehr zurückkommen zu wollen. Gertrud war ratlos.
„Ich habe schon seit einiger Zeit gespürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, aber ich kam gar nicht mehr an sie heran. Sie hat seit einigen Wochen so ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt und den Kontakt mit mir auf das wirklich Notwendigste reduziert. Dabei war unser Beziehung doch früher immer so eng! Naja, wenigstens hat Renate sich zwei Tage später gegen fünfzehn Uhr dann doch bei mir gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie bei Marga Preuß, Benjamins Tante, untergekommen sei. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und dass sie einfach ein paar Tage benötige, um sich zu sortieren, wie sie es ausdrückte. Sie würde sichwieder melden. Sie wäre auch mit allem versorgt, was sie brauche – Auto, Kreditkarte und ausreichend Kleidung. Aber als ich dann am nächsten Tag noch einmal versucht habe, sie über ihre Handynummer zu erreichen, nahm sie nicht ab. Ich habe dann bei Marga angerufen, die mir aber auch nicht viel mehr sagen konnte, als dass Renate noch während der Nacht oder am frühen Morgen ohne vorherige Ankündigung das Haus verlassen hätte.”
Seitdem hatte Gertrud nichts mehr von Renate gehört, obwohl sie immer wieder ihre Handynummer wählte. Ihre unbestimmte Befürchtung, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte, verstärkte sich von Tag zu Tag.
„Erst zieht sie sich Stück für Stück von mir zurück, dann verlässt sie ihren Lebenskreis und nun lässt sie schon seit zehn Tagen nichts mehr von sich hören! Sie hätte doch wenigstens anrufen oder auf meine Anrufversuche auf ihrem Handy reagieren können. Das passt alles nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht, das spüre ich.” Für einen Moment herrschte Stille, ich hörte sie nur noch atmen.
„Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Was soll ich nur tun, Darius?”
Ich versprach Gertrud, sie am nächsten Tag zu besuchen und meinen Freund, Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey, hinzuzuziehen. Er konnte die Angelegenheit als Kriminalbeamter bedeutend effektiver beleuchten als ich und ihr bestimmt das Richtige raten.
Ich bog in eine Spielstraße im Neubaugebiet von Neu-Bamberg ein, an deren Ende Gertrud seit etwa 12 Jahren in einem Einfamilienhaus wohnte. Heribert war bereits da. Von Weitem sah ich ihn neben seinem Dienstwagen stehen, wo er auf mich wartete. Er reckte das Gesicht der Sonne entgegen und tankte offensichtlich Glückshormone nach dem wochenlangen Regenwetter.
Während ich im vorschriftsmäßigen Schritttempo auf ihn zu fuhr, fiel mir unsere erste Begegnung ein. Es war im Juli 2002 an dem Acker, an dem meine Hunde die Leiche meines Freundes Horst aufgespürt hatten. Ein freundlich aussehender Mann in Zivil, ichschätzte ihn damals auf Ende 40 – heute ist er 51, sechs Jahre jünger als ich – war auf mich zugekommen. Seinerzeit war er noch etwas schlanker gewesen, aber bei seiner Größe von 1,95 Meter fiel das kaum auf. Allerdings hatten sich seine Haare inzwischen meiner Frisur angeglichen. Sie waren weniger, zum Ausgleich jedoch auch grauer geworden.
Der freundliche Eindruck hatte sich sehr schnell verwischt, als er mich ohne eine erklärende Vorbemerkung gefragt hatte, ob ich Horst umgebracht hätte, was nicht gerade dazu hatte beitragen können, die erste Wahrnehmung des Hauptkommissars Heribert Koman wenigstens neutral zu gestalten. Und als er mich auch noch über Horst ausfragen wollte, der nicht nur mein Freund, sondern auch einer meiner Mandanten gewesen war, konterte ich mit einer hochgestochenen Reaktion: Ich verwies auf meine Verpflichtung zur Verschwiegenheit und zitierte aus meiner Berufsordnung. Ich erinnerte mich noch gut an unsere ebenso kurze, wie lächerliche Auseinandersetzung, die sich daran anschloss. Heribert beendete sie mit der Erklärung: „Wollen wir uns hier Paragrafen um die Ohren schlagen oder möglichst schnell den Tod Ihres Freundes klären!? Ihre Schweigepflicht, verehrter Herr Schäfer, interessiert mich dabei nämlich, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, einen Scheiß.” Seitdem war er mir sympathisch. Allerdings bedurfte es noch mehrerer verbaler Scharmützel bei einem weiteren Fall bis wir, mit der Unterstützung einiger Flaschen Rheinhessenwein, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft à la Rick Blaine und Victor László einläuteten.
Gertrud hatte uns bereits durch das Küchenfenster gesehen und öffnete die Haustür, bevor wir klingeln konnten. Sie sah müde und angespannt aus und ihre sonst stets frische Gesichtsfarbe war einer kränklichen Blässe gewichen. Sie musste meinem Blick entnommen haben, dass mich ihr Anblick erschreckt hatte. Als sie uns in das zum rückwärtigen Garten gelegene Wohnzimmer geführt und gebeten hatte, Platz zu nehmen, erklärte sie, dass sie schrecklich aussehen müsse, seit Tagen habe sie kaum geschlafen.
Während sie uns Kaffee einschenkte, der in einer großen Kanne schon bereitstand, beobachtete ich sie. Gertrud war ansonsten eine attraktive, sehr gepflegte Erscheinung. Nicht nur wegen ihrer zierlichen Gestalt – sie war etwa 1 Meter 65 groß – schätzte man sie auf höchstens Anfang 50, sondern auch wegen ihrer blonden, kurz geschnittenen Haare, denen zumindest ich nicht ansehen konnte, ob sie in einer natürlichen Farbe getönt oder einfach noch nicht ergraut waren. Aber heute sah man ihr ihre 58 Lebensjahre an.
Sie hatte die Kaffeekanne abgesetzt und offerierte mit einer einladenden Geste Milch und Zucker.
„Wo kann sie nur sein, Darius? Du kennst Renate doch auch. Das ist einfach nicht ihre Art!” Gertrud sah dabei aber nicht mich an, sondern Heribert, wobei ihre Mimik vom Zweifel zur Verwunderung wechselte. „Sagen Sie, sind Sie etwa der Heribert Koman, bei dem meine Tochter ihr Polizeipraktikum absolviert hat? Na, sie müssen es sein. Es wird ja kaum mehrere Hauptkommissare in Alzey mit demselben Namen geben.”
„Das stimmt, Frau Faber”, er neigte sich ihr leicht zu, „Ihre Tochter Renate war vor sechs Jahren auf meiner Dienststelle. Ich erinnere mich sehr gut an sie.”
Ich traute meinen Ohren nicht. „Weshalb hast du mir denn davon gestern nichts gesagt.”
„Ganz einfach”, grinste er schief. „Hattest du mich über meine Telefondurchwahl erreicht? – Nein, denn dein Anruf wurde auf die Zentrale umgeleitet, weil ich gerade in einer Vernehmung war. Und erinnerst du dich, was der diensthabende Kollege dich fragte?”
„Mhm, er wollte wissen, ob es dringend sei. Und ich sagte, dass es unaufschiebbar sei und ich dich nur ganz kurz etwas fragen müsse.”
„Also hat er dich mit mir verbunden. Du hast gesagt, worum es geht, und ich habe versprochen, heute vorbeizukommen, aber in dieser Situation hatte ich nicht noch Zeit, dir zu erklären, dassRenate mehrere Monate bei mir in der praktischen Ausbildung war.”
„Ein kleiner Hinweis nur …”, nörgelte ich.
„Darius, du solltest wirklich ab und zu meinen Job machen. Willst du gestört werden, wenn du ein Mandantengespräch hast?”
„Rhetorische Frage”, wehrte ich ab.
„Na also.” Er besann sich wieder auf das Wesentliche unseres Besuches. „Entschuldigung, Frau Faber, Herr Schäfer ist manchmal so nervtötend detailversessen. Kann es einfach nicht ertragen, wenn er nicht alles weiß.”
„Ist schon in Ordnung”, Gertrud lächelte zum ersten Mal, „Ich kenne Darius schon länger. Sie dürfen es ihm aber nicht übel nehmen. Das liegt an unserem Beruf.”
Heribert blickte nachdenklich erst sie, dann mich an. „Mhm, vermutlich haben Sie Recht; damit redet er sich auch immer raus. Aber kommen wir zu dem Grund unseres Besuches.”
„Sie haben Recht. Also, das letzte Lebenszeichen meiner Tochter war dieser Anruf bei mir am 29. März. Da sagte sie, sie benötige ein paar Tage, um Abstand zu gewinnen, und sie würde sich bald wieder melden. Außerdem bat sie inständig darum, dass wir ihren Entschluss respektieren und nicht nach ihr suchen sollten. Sie käme schon alleine zurecht.”
„Wen meinen Sie mit ‚wir‘?”
„Mich, ihren Mann und dessen Familie. Sie wohnt ja in Bernheim auf dem Weingut.”
„Und wie steht ihr Mann zu der Sache?”
„Er meint, wir sollen abwarten. Renate würde sich bestimmt bald wieder ‚einkriegen‘. Außerdem will man nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt.”
„Man?” fragte ich.
„Ich denke, mit man ist hauptsächlich Johann Preuß gemeint.” Heribert fragte nach den Familienbeziehungen
„Da ist Benjamin, Renates Mann, der Sohn von Günther und Gerlinde Dohne. Gerlinde ist die Tochter von Johann und TheaPreuß. Thea ist vor 28 Jahren mit meinem Mann bei einem Betriebsunfall auf dem Gut umgekommen.” Sie seufzte kurz. „Ist lange her, aber ich vermisse ihn immer noch. Gerade jetzt, in dieser Situation.”
„Johann Preuß”, erklärte ich Heribert, „ist der Patriarch. Er hat das Weingut aufgebaut. Aber viel mehr weiß selbst ich als Dorfbewohner nicht. Die Preußens leben sehr zurückgezogen.”
„Die gesamte Familie Dohne verhält sich so”, seufzte Gertrud erneut. „Oder hat Renate dich auch nur ein einziges Mal in deiner Kanzlei besucht, obwohl sie über zwei Jahre bei dir gearbeitet hat?”
„Nicht, dass ich wüsste.”
„Wer wohnt noch auf dem Weingut?”, fragte Heribert.
Gertrud überlegte kurz und zählte dann auf: „Da ist noch Benjamins älterer Bruder Andreas, verheiratet mit Marlies, einer geborenen Strack. Sie entstammt einer Weinbaufamilie in Eckelsheim. Und dann natürlich Johann Preuß. Obwohl er nach seinem Unfall vor 20 Jahren seiner Tochter Gerlinde den Betrieb übertragen hat, bestimmt er weiterhin das Geschehen auf dem Weingut. Der Mann ist noch topfit und regiert mit seinen 87 Jahren aus dem Rollstuhl heraus die gesamte Familie. Und die reagiert brav und unkritisch, wie auf Knopfdruck.”
„Klingt so, als ob du mit der Wahl deiner Tochter nicht so ganz einverstanden bist.”
„Ach weißt du, Darius, wenn man ein Mandat seit so vielen Jahren betreut, offenbart sich einem einiges. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.”
Heribert hatte sich Notizen gemacht und stellte noch eine Lücke fest.
„Was ist denn mit der zweiten Tochter, dieser Marga, bei der Renate übernachtet hat?”
„Die hat ein eigenes Haus in Bernheim. Mit ihrer Familie hat sie kaum mehr Kontakt. Eigentlich überhaupt nicht.”
„Weshalb nicht?”
„Keine Ahnung, Herr Koman. Dieses Thema ist ebenso tabu, wie die Ursache für Johanns Behinderung. Es wird gemunkelt, dass Marga als Teenager schwanger war und damit nach Ansicht ihres Vaters Schande über die Familie gebracht hat.”
„Leben wir noch im Mittelalter? Ist die Erde etwa doch eine
Scheibe?” Heribert schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Er ist halt ein typischer Patriarch, im 1. Weltkrieg geboren und auf dem Dorf aufgewachsen. Was will man da anderes erwarten? Und alles, was sich ungünstig auf den Namen Preuß und inzwischen auch Dohne auswirken könnte, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen – nur kein Aufsehen.”
„Das wird dann auch wohl der Grund dafür sein, dass keine Vermisstenanzeige bei uns eingegangen ist”, stellte Heribert fest.
„Johann Preuß hat Dr. Roland Katzenborn konsultiert, den Familienanwalt in Bad Kreuznach. Der bestätigte ihm, was er wohl wissen wollte: Aufgrund der bekannten und belegbaren Tatsachen läge ein freiwilliger und selbstbestimmter Entschluss, kein Verbrechen und offenbar auch keine Gefahr für Renate vor. Außerdem sei sie volljährig. Also müsse man die Polizei nicht informieren und könne nach eigenem Gutdünken verfahren. Er empfahl, eine Detektei einzuschalten, mit der er bereits gute Erfahrungen gemacht hätte. Wie sehen Sie das, Herr Koman?”
„Zu allererst bin ich absolut skeptisch bei Vorschlägen, die von einem Herrn Dr. Roland Katzenborn kommen. Gegen ihn liefen bereits mehrere Ermittlungsverfahren.”
„Was hat der denn gedreht? Ich kenne ihn nämlich auch. Nicht direkt, einige meiner Mandanten beauftragen ihn gelegentlich”, fragte ich dazwischen.
„Darüber darf ich dir keine Auskunft geben.”
„Aber dass gegen ihn Ermittlungsverfahren liefen, darfst du erzählen?”
„Herrje, Darius!” Heribert verdrehte entnervt die Augen, „jedenfalls sind alle Verfahren im Sande verlaufen. Er scheint einflussreiche Freunde zu haben.”
Er wandte sich wieder Gertrud zu: „Ich erkläre Ihnen zuerst die Rechtslage, dann unterhalten wir uns darüber, was wir trotzdem unternehmen können.”
Gertrud nickte und ich war gespannt, mit welcher Überraschung unser deutsches Recht in diesem Fall, den ich natürlich nicht objektiv betrachten konnte, aufzuwarten hatte.