Tödliche Veranlagung - Christopher Stahl - E-Book

Tödliche Veranlagung E-Book

Christopher Stahl

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  • Herausgeber: NWB Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Der erste Steuerberater-Krimi von NWB: Darius Schäfer, 54, ausgestattet mit einem mitunter etwas sarkastischen Naturell, ist Steuerberater im schönen Rheinhessen und immer für seine Mandanten da; selbst mitten in der Nacht, wenn sein Mandant und bester Freund Horst Scheurer anruft, weil er dringend Hilfe braucht. Als er seinen Freund später unter mysteriösen Umständen tot auffindet, begibt Schäfer sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter. Dabei gerät er in einen Strudel von verwirrenden Ereignissen, begegnet zwielichtigen Gestalten und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr. Im Laufe seiner Ermittlungen muss der von seinem Beruf geknechtete Schäfer feststellen, dass auch für ihn, den zahlen- und steuerrechtsgläubigen Analysten, über diesen Kriminalfall hinaus Emotionen und Intuition überlebenswichtig sind. Er darf aber auch schließlich das Leben vor dem Tod für sich entdecken.

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Seitenzahl: 258

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NWB Verlag GmbH & Co. KG, Herne

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch und alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahmen der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung des Verlages unzulässig.

Zum Buch:
Darius Schäfer, 54, ausgestattet mit einem mitunter etwas sarkastischen Naturell, ist Steuerberater im schönen Rheinhessen und immer für seine Mandanten da; selbst mitten in der Nacht, wenn sein Mandant und bester Freund Horst Scheurer anruft, weil er dringend Hilfe braucht. Als er seinen Freund später unter mysteriösen Umständen tot auffindet, begibt Schäfer sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter. Dabei gerät er in einen Strudel von verwirrenden Ereignissen, begegnet zwielichtigen Gestalten und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr. Im Laufe seiner Ermittlungen muss der von seinem Beruf geknechtete Schäfer feststellen, dass auch für ihn, den zahlen- und steuerrechtsgläubigen Analysten, über diesen Kriminalfall hinaus Emotionen und Intuition über-lebenswichtig sind. Er darf aber auch schließlich das Leben vor dem Tod für sich entdecken.
Zum Autor:
Christopher Stahl (Pseudonym) lebt mit seiner Familie in Rheinhessen. Er ist ein renommierter Autor von Praktiker-Literatur für Steuerberater. Tödliche Veranlagung ist sein erster Roman.
Der Schauplatz: Die Rheinhessische Schweiz
Das Gebiet zwischen Bingen, Mainz, Worms und Alzey wurde 1816 der Provinz Hessen zugeschlagen, später gehörte es zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Seinen heutigen Namen Rheinhessen erhielt es 1819. Im Rahmen der Länderneuregelung wurde es nach dem 2. Weltkrieg Rheinland-Pfalz angegliedert.
Es ist das größte zusammenhängende Weinanbaugebiet Deutschlands, dessen vielfältige Produkte (Müller-Thurgau, Kerner, Scheurebe, Bacchus, Huxelrebe, Silvaner, Riesling, Weißburgunder, Grauburgunder, Portugieser, Dornfelder, Blauer Spätburgunder) in der ganzen Welt getrunken und geschätzt werden.
Dem Teil Rheinhessens, der nördlich an das Pfälzische Bergland anschließt, hat man wegen seiner hügeligen Landschaft den bezeichnenden Namen Rheinhessische Schweiz gegeben.
Und hier, in dem Dörfchen Bernheim und seiner Umgebung, spielen die wesentlichen Ereignisse unserer Geschichte. Die Handlung ist fiktiv. Das Dörfchen Bernheim gibt es nicht und doch existiert es irgendwo. Auch den Personen des Geschehens könnte man überall begegnen. Sie und ihre Geschichte sind in der hier beschriebenen Prägung Produkte der Phantasie und demzufolge auch irgendwie Bestandteil einer realen Welt.

Sonntag, 8. September Prolog

Warum geschieht so etwas ausgerechnet mir? Ich weiß, dass in dieser Frage Selbstmitleid mitschwingt (was man mir aber nach den Ereignissen der letzten Wochen nachsehen mag) und dass es müßig ist, eine Antwort darauf zu erwarten. Daher habe ich gelernt, nicht nach dem Warum zu fragen, sondern nach dem Wozu. Und darauf habe ich eine Antwort gefunden: Alles scheint auf geheimnisvolle Weise vorbestimmt zu sein; zumindest hat alles seinen Sinn. Diese Antwort hat mich frei gemacht und mein Blick ist in eine Zukunft gerichtet, über die ich endlich allein entscheiden werde.
Vorgestern war die Beerdigung. Nur eine Hand voll Neugieriger hatte sich dazu auf dem Friedhof in Bad Kreuznach eingefunden. Die Presse hielt zum Glück dicht. Ich hatte alles so arrangiert, wie Horst es getan hätte: Blumenschmuck, das „Ave Maria” von Gounold von der CD. An einem der Kränze war die Stoffschleife verdreht, sodass ich die genaue Aufschrift nicht lesen konnte. Nur „… sehen uns wieder …”, war zu entziffern. Ich konnte mir vorstellen, von wem dieser letzte Gruß war. (Weiß der Teufel, wen er das hatte erledigen lassen.) Und auch das Wetter spielte mit: strahlend blauer Himmel, warm … Die Zeit, in der wir solche Tage gemeinsam genossen haben, scheint unendlich weit zurückzuliegen.
Dem Pfarrer waren die Hintergründe dieses sinnlosen Todes nicht nur aus der Zeitung bekannt. So wie ihn wünsche ich mir immer einen Vertreter seiner „Zunft”: einfühlsam, liebevoll, verzeihend – ohne Klage und Verdammen.
Ich bin froh, dass ich schon wieder so weit hergestellt bin, dass ich diesem Menschen, der mir einmal so nahe gestanden hat, das letzte Geleit geben konnte. Es war Teil meiner persönlichen Therapie und hat mir einen weiteren Schubs auf meinem Weg zum seelischen Gleichgewicht gegeben. Mit dem letzten Blumengruß habe ich auch den letzten Rest meiner Selbstzweifel ins Grab geworfen.
Jetzt sitze ich auf meinem Lieblingsplatz – einer Wiese oberhalb Bernheims, der Ortschaft, in der ich lebe. Mein Blick wandert über die sanften, rebenbewachsenen Hügel der Rhein-hessischen Schweiz und weiter über die Ausläufer des Soonwaldes bis dorthin, wo man, im Dunst leicht verschwommen, das Nahetaldreieck und den Rheingau sehen kann. An diesem warmen und sonnigen Sonntagvormittag im Frühherbst herrscht eine derart friedvolle Stille, dass man meint, sie körperlich greifen zu können. Einzig das Trällern der Feldlerchen und das vereinzelte Knallen der Wingertkanonen durchbrechen diese Andacht.
Kira, meine Berner Sennhündin, liegt neben mir und ist sichtlich zufrieden, dass sie mich endlich wieder nahe bei sich hat. Ihre Schwester Hanna strolcht etwa 50 Meter entfernt von uns und schnuppert den Feldmäusen nach. Karins Pferde auf der Koppel in ihrer Nähe würdigt sie mit keinem Blick. Der 10.000-Volt-Stromstoß, den sie sich als Welpe bei ihren zutraulichen Annäherungsversuchen am Elektrozaun einfing, hat sich für immer in ihr Gehirn eingebrannt. Ab und zu blickt sie kurz hoch, versichert sich in der Luft schnüffelnd, dass wir noch da sind, und wendet sich dann wieder beruhigt ihrem Hobby zu.
Sie hinkt dabei zwar ein wenig, scheint aber keine Schmerzen mehr zu haben. Nur eine kahl geschorene Stelle zeigt noch, wie groß das Ausmaß ihrer Verletzung war. Immer,wenn ich sie in den letzten Tagen so unbekümmert sehe, befällt mich ein warmes Gefühl der Dankbarkeit. Ohne ihren Instinkt, ihren Mut und ihre Treue würde ich nicht mehr leben. Und Horsts Mörder liefen frei und unbehelligt irgendwo herum.
Ab heute werde ich das Versprechen erfüllen, das ich einem sterbenden Menschen gegeben habe: Ich werde alles aufschreiben und dokumentieren, wie die ganze Sache wirklich abgelaufen ist, nichts auslassen und die ungeschminkte Wahrheit erzählen. Das bin ich nicht nur allen Beteiligten, sondern in erster Linie mir selbst schuldig.
Carlo wird sich noch eine weitere Woche um meine Steuerberatungskanzlei kümmern, damit ich die nötige Zeit zum Schreiben habe. Sein Chef hat ihm dafür unbezahlten Urlaub genehmigt.
„Aber in diesem Fall, Herr Dornhagen”, soll er mit unverhohlenem Stolz gesagt haben, „müssen wir als Finanzbehörde doch Schulter an Schulter mit den Kollegen von der anderen Seite zusammenarbeiten und sie unterstützen.” Kollegen! Dieses Wort hat er tatsächlich verwendet, ohne rot zu werden.
Die Glocken der Bernheimer Kirche verkünden den Beginn des Sonntagsgottesdienstes. Ich rufe Hanna zu mir und mache mich mit meinen Hunden auf den Heimweg, um meine letzte Aufgabe in dieser Sache anzugehen.

Donnerstag, 11. Juli I.

Carlo Dornhagen ist Außenprüfer im Finanzamt in Alzey, einem weinseligen Kreisstädtchen in Rheinhessen. Ruhig, fair und trotzdem integer ist Dornhagen die personifizierte Widerlegung gängiger Vorurteile gegenüber den Angehörigen dieser ministeriell sanktionierten AO-Mischpoche.
Und dieser Carlo Dornhagen war auf einmal wie ausgewechselt. Plötzlich trug er eine Brille, durch deren dicke Gläser er mich mit bizarr vergrößerten Augen zornfunkelnd und wild anstarrte. Er ähnelte der Romanfigur des Dr. Jekyll, die – zu Mr. Hyde mutiert – wie eine Furie wütete. Schaum trat vor seine Lippen; seine Finger wirbelten krakententakelngleich durch die Unterlagen meines Mandanten. Dabei murmelte er mehr oder weniger unverständliche Worte. Sie klangen wie „geldwerter Vorteil”, „Umsatzsteuerverkürzung” und „Mehrergebnis”.
Noch vor einer halben Stunde hatte ich neben ihm am Schreibtisch im Prüferzimmer meiner Steuerberatungskanzlei gestanden. Gemeinsam hatten wir die Unterlagen, zu denen er einige Fragen hatte, begutachtet. Das Gesicht mir zugewandt hatte er zugehört und verständnisvoll genickt. Bedächtig und aufmerksam hatte er meine Erläuterungen registriert; eben so, wie ich es von ihm gewohnt war.
Was war nur plötzlich in ihn gefahren, dass Dornhagen sich so aufführte? Er, den ich doch bisher immer nur freundlich und umgänglich erlebt hatte! Was hatte ich getan, um seinen Zorn über mein unschuldiges Haupt zu entladen? Oder war ich gar nicht so unschuldig?
Mich beschlich das beunruhigende Gefühl, er kenne die privaten, vor allem aber beruflichen Abgründe meiner Seele. Hatte ich nicht erst kürzlich wieder einen Mandanten mit der Floskel: „Na ja, wir lassen das mal so stehen und warten ab, ob das bei der Betriebsprüfung auffällt”, zu beruhigen versucht? Aber das macht schließlich jeder, das ist doch eine Bagatelle!
Trotzdem, die Ungewissheit beunruhigte mich und meine Unruhe eskalierte zu Panik. Was hatte er rausgefunden? Ein heftiger Schweißausbruch und Herzrasen signalisierten den Höhepunkt meines Adrenalinausstoßes.
Verunsichert wandte ich mich ihm zu. Ich musste feststellen, was die Ursache dieses ungewohnten Auftritts Dornhagens war. Da klingelte das Telefon.
Dabei hatte ich meine Sekretärin, Frau Dengler, ausdrücklich gebeten, keine Telefonate in das Prüferzimmer durchzustellen. Hier ein Betriebsprüfer in Werwolfgestalt, draußen eine unzuverlässige Sekretärin – kein Wunder, dass ich seit Monaten von eklatanten Schlafstörungen geplagt wurde!
Das Telefon wurde lauter, realer. Zuerst hörte ich es noch wie im Fieberwahn, hohl, dumpf, bedrohlich – wie ein Nebelhorn. Langsam, wie in Zeitlupe, sah ich mich selbst auf den Apparat zugleiten, ohne Bodenberührung, wie einen Geist.
Mit bleiernem Arm ergriff ich den Hörer: „Ja?”
Meine Stimme war belegt, ein Schleimbrocken saß quer, ich räusperte mich und setzte nochmals an:
„Ja, Schäfer?”
Ich war nun wacher und setzte mich auf. Der Albtraum mit Dornhagen war verscheucht und ein noch größerer sollte seinen Anfang nehmen. Ich wusste es nur noch nicht.
„Darius, hier ist Horst.”
Ich konnte zunächst die sich überschlagende Stimme meines Freundes nicht einordnen. „Wer?”
„Horst, verdammt noch mal, Horst Scheurer!”
Ein Seitenblick auf meinen Radiowecker gab mir die ärgerliche Gewissheit: Es war 3 Uhr 27. Nun war ich hellwach. Und nicht nur das. Ich war zornig!
„Du solltest Bescheuert und nicht Scheurer heißen; es ist halb vier, du Tränentier! Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich aus dem Tiefschlaf zu reißen.”
Einerseits hätte ich Horst zwar dafür dankbar sein müssen, dass er mich vor der Fortsetzung dieses bizarren Traumes bewahrt hatte, aber andererseits fiel es mir schwer, das in diesem Augenblick zuzugeben. Stattdessen geriet ich langsam in Fahrt.
In Momenten wie diesen bestätigte sich das Urteil, das irgendjemand einmal mit einem Seufzer tiefster Verzweiflung über mich gefällt hatte: „Schäfer, wenn Sie Diplomat wären, hätten wir schon den Dritten Weltkrieg hinter uns!”
Ich fuhr also mit meiner Tirade fort: „Es ist mir sehr wohl bekannt, dass nach gängiger Meinung jeder Steuerberater mit einem goldenen Löffel im Mund herumläuft und dass er das nur ausgebeuteten Mandanten wie dir zu verdanken hat. Ich bin halt ein professioneller Schmarotzer, der sich an der undurchschaubaren Steuergesetzgebung dumm und dämlich verdient.
Ich weiß auch, dass ich für diese Mandanten immer und jederzeit verfügbar sein muss. Ob während der Tagesschau, bei der Geburtstagsfeier, bei der Bescherung an Weihnachten oder beim Poppen. Jeder kann mich stören, wann immer es ihm einfällt. Selbst eine Prostituierte hat einen geregelteren Feierabend als ich! Aber ich bin ja selbst dran schuld. Musste ich auch unbedingt die Kanzlei meines Vaters mit seiner ver­wöhnten Klientel übernehmen? Schreiner, Maurer oder Kneipier sind schließlich auch ehrenwerte und wunderschöne Berufe.
Aber du, mein Sohn Brutus, von dir dachte ich, dass du mein Freund bist und, dass wenigstens du mir meine Nachtruhe gönnst. Ich hoffe im Interesse dieser soeben zitierten Freundschaft, dass du einen guten Grund für deine Dreistigkeit hast.”
Das Stakkato, in dem ich diesen Monolog hielt und das selbst einen Pater Leppich in seinen besten Zeiten zu einem Aphasiker deklassiert hätte, zwang mich, meinen Redefluss zu unterbrechen, um Luft zu holen.
„Darius”, nutzte Horst die kurze Pause, „die Sache ist ernst!”
Ich wurde hellhörig. Es hätte Horsts Art eher entsprochen zu „hinterfragen”, wann bei mir das letzte Mal die potenzielle Möglichkeit bestanden hätte, mich beim Liebesspiel zu stören, und mir vorzuwerfen, dass es bei mir keine halbwegs zivilisierte, intelligente und geistig funktionierende Frau länger aushielte, als meine gefechtsmäßige und taktische Balzzeit dauerte.
„Darius, ich habe gewaltige Probleme. Die machen mich fertig. Mit denen ist nicht zu spaßen. Die wollen mir ans Leder!”
Seine anfänglich noch ruhige Stimme bekam etwas Gehetztes, das eine erschreckende Steigerung erfuhr und mir bei dem ansonsten so unbekümmerten Horst fremd war. Er musste ganz schön in der Bredouille stecken.
„Ich brauche deine Hilfe”, sagte er eindringlich, „sofort … bitte. Steh auf, mach mir einen Cappuccino! Ich bin schon auf dem Weg zu dir.”
Bevor ich nachfragen konnte, ob es sich um das Thema unserer Unterredung von letzter Woche handelte, hatte er bereits aufgelegt.
Es konnte ja eigentlich nur um die eine Sache gehen. Ich hatte ihn nachdrücklich davor gewarnt, sich auf derartige Geschäfte einzulassen, noch dazu mit solchen Gestalten, wie er sie mir geschildert hatte. Von irgendwem hatte er sich auch noch das Geld leihen wollen.
Horst lernte immer wieder fragwürdige und obskure Typen kennen. Er schien dazu verdammt zu sein, ständig Lehrgeld zu zahlen, ohne jemals etwas dazuzulernen.
Horst wohnte in Bad Kreuznach in Richtung Bad Münster am Stein, in der Nähe der Salinen. Bei Nacht brauchte er maximal 15 Minuten bis zu mir. Also sprang ich aus dem Bett, nahm eine Dusche und zog mir das über, was gerade so im Schlafzimmer verteilt herumlag.
Ich lächelte, als ich dabei an Beatrice denken musste. Sie hätte mir jetzt wieder eine ihrer unsterblichen Szenen gemacht, wenn sie diesen „widerlichen Schweinestall”, wie sie mein planvolles Kleidungschaos zu bezeichnen pflegte, gesehen hätte. Anfänglich hatte ich sie noch damit aufgezogen, indem ich ihre schauspielerischen Leistungen gewürdigt und sie als „rheinhessische Duse” bezeichnet hatte. Das hatte sie jedoch nur noch mehr in Rage gebracht. Aber ich hatte das damals nicht so ernst genommen. Oh, wie sehr ich doch jetzt diese Ausbrüche vermisste, die ich zum Ende unserer 22-jährigen Ehe gar nicht mehr erheiternd gefunden hatte, die ich letztlich verabscheut und gefürchtet hatte. Ach, Beatrice! Ich seufzte schwer. Nicht nur im Haus war es so still und leer, seitdem sie fort war, auch in mir.
Ich ging nach unten in die Küche. Im Flur kam ich an Hanna und Kira, meinen Hunden vorbei. Sie wussten, dass es noch nicht Tag war, sonst hätten Sie vor unbändiger Wiedersehensfreude mit ihren schweren Ruten den Bauernschrank traktiert wie die Bassdrum eines Schlagzeuges. Ihr Chef warschließlich endlose viereinhalb Stunden in dem geheimnisvollen Obergeschoss, das sie noch nie hatten betreten dürfen, verschwunden gewesen. Aber so blickten sie nur schläfrig auf, wedelten ein schwaches Erkennungszeichen, klappten die Augenlider nach unten und setzten mit ruhigem und gleichmäßigem Atmen ihren wachsamen Schlaf fort.
Die Kaffeemaschine anzuwerfen war ein Routinegriff. Die Milch würde ich erst in zehn Minuten aufschäumen, weil sie sonst wieder zusammenfallen würde.
„Ja, wer bin ich denn eigentlich?”, hörte ich mich plötzlich laut sagen. Und nicht nur ich, sondern auch meine Hunde reagierten verstört. Ihre Köpfe ruckten aufmerksam nach oben.
„Habe ich eine Halbweltkneipe, dass man mich mitten in der Nacht anruft und auch noch Bestellungen aufgibt?!” Ich stemmte meine Fäuste in die Hüften und stapfte in der Küche auf und ab wie ein trotziges Kleinkind.
„Einen Cappuccino hätten der Herr gerne! ‚Mach mir einen Cappuccino‘, haben Hochwohlgeboren befohlen. ‚Mir‘, hat er gesagt, nicht ‚uns‘. Vielleicht auch noch abgefeilten Würfelzucker in den Allerwertesten gepustet?”
Provokative Rhetorik nennt man das. Manche nennen es in Verkennung der Sachlage Sarkasmus und erkennen nicht die Schutzfunktion, sondern sehen darin eine Kriegserklärung. Diese Art der Reaktion ist eine meiner charakteristischen Eigenarten, die meinen Freundeskreis auf die überschaubare Anzahl von einer Person reduziert hält. Sie ist Teil meiner Mentalität und hilft mir über so manches hinweg. Sie hilft mir – ganz einfach!
Und dann funktionierte es auch schon: Eben noch verärgert, musste ich jetzt lachen und machte mich an Horsts Bestellung. Er musste nun jeden Augenblick kommen. Ich horch­te nach draußen auf die Straße, um ihn nicht zu überhören. Um diese Zeit sind nur selten Autos bei uns im Ort unterwegs. Die Nachbarn schliefen und ich wollte nicht, dass Horsts Ankunft unnötigen Lärm machte.
Aber er kam nicht. Inzwischen war es schon vier Uhr. Ich saß am Küchentisch, hatte meinen ersten Cappuccino bereits ausgetrunken und wartete auf meinen übelsten Mandanten und einzigen und besten Freund.
Eine vertraute und dennoch merkwürdige Stimmung bemächtigte sich meiner: der Übergang zwischen Nacht und Tag – diese scheinbare Unwirklichkeit, dieses Gefühl, sich in einem Niemandsland zwischen lebendiger Realität und einer irrealen Scheinwelt zu befinden. Teilweise liebte ich diese Empfindung als vertrautes Relikt meiner im Unterbewusstsein verschütteten Kindheit; teilweise bedrückte sie mich, da sie klares und nüchternes Denken nicht zuließ. Ängste lenkten meine Gedanken. Horst müsste doch schon längst da sein.
„Die machen mich fertig. Mit denen ist nicht zu spaßen”, hatte er am Telefon gesagt, „die wollen mir ans Leder!”
Das war doch nichts weiter als eine Phrase, fuhr es mir durch den Kopf, damit hatte er gewiss nur gemeint: „Die bestehen auf ihrer Vereinbarung mit mir und wollen jetzt schnellstmöglich ihr Geld zurück.”
Oder war das vielleicht doch kein Gefasel und die Sache war ernster, als ich zuvor noch gedacht hatte? Ich wählte seine Handynummer mit dem Resultat, dass mir eine sinnliche Frauenstimme anriet, eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen.
Ob ich zu Hause bei ihm anrufen sollte? Dann würde ich aber Helen wecken und beunruhigen. Er hatte sie bei seinem Telefonat mit keinem Wort erwähnt, also konnte ich davon ausgehen, dass sie immer noch nicht in seine Transaktioneneingeweiht war, obwohl ich ihn ausdrücklich darum gebeten hatte. Wenn sie aber nun auch in Gefahr war? Verdammt, Horst, in welche Situation bringst du uns, bringst du mich?! Vor allem aber: Wo bleibst du?
Ich sah aus dem Küchenfenster. Inzwischen war es so hell geworden, dass ich die Weinberge, die an unsere Ortschaft grenzen, ausmachen konnte. Ihre Konturen hoben sich mehr und mehr von dem fahler werdenden Nachthimmel ab.
Während ich noch rätselte, was ich tun konnte, erlöste mich endlich die Haustürklingel aus meiner wirren Grübelei. Erleichtert streckte ich den Kopf aus dem Fenster, um Horst mit einer „innigen” Anzüglichkeit zu empfangen.
„Sag mal …”, weiter kam ich nicht, denn nicht Horst, sondern ein Streifenwagen parkte vor meinem Hoftor und ein Polizist war ausgestiegen, der mich mit ernstem Blick fixierte.
„Polizeiobermeister Doss”, stellte sich der Herr in Grün knapp vor. Er tippte dabei mit ausgestrecktem Zeigefinger einen knappen Dienstgruß in Ermanglung seiner Mütze an die rechte Schläfe. Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig.
„Sind Sie Herr Schäfer?”, fragte er, „Steuerberater Darius Schäfer?”, fügte er ebenso süffisant, wie unnötig, meine Berufsbezeichnung hinzu. Es gibt scheinbar immer noch genug Leute, für die wir eine exotische Randgruppe darstellen, der man mit einer offenbar genetisch verankerten Distanz begegnet.
„Der und das bin ich”, konterte ich die überflüssige Provokation, indem ich den sächlichen Artikel betonte.
„Kennen Sie einen Horst Scheurer?”, fragte Doss sofort eine Spur höflicher.
„Ja! … Was ist passiert, verdammt noch mal?!” Ich explodierte beinahe vor Ungeduld.
Noch bevor er allerdings antworten konnte, quälte sich ein undefinierbares Etwas aus dem Inneren des Streifenwagens und entfaltete sich zu der imponierenden Größe von etwa 1,95 Meter. Irgendwie kamen mir die schätzungsweise 120 Kilo im Halbdunkel bekannt vor. Ein Stein plumpste von meinem Herzen, als ich zur Komplettierung des verschmutzten und zerzausten Grizzlybären auch gleich darauf die vertraute Stimme hörte.
„Was soll der Unsinn, ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir hier richtig sind! Aber trotzdem herzlichen Dank, dass Sie mich hierher gefahren haben. Den Wagen lasse ich gleich morgen früh abschleppen. Dort, wo er jetzt ist, stört er den Verkehr ja nicht.”
„Horst!”, rief ich und reckte mich noch weiter aus dem Fenster. „Was denkst du dir eigentlich? Was um alles in der Welt hast du angestellt?”
Ich erschrak vor mir selbst: Ich stellte mich doch tatsächlich an, wie eine angekratzte Ehefrau, deren Mann sich die ganze Nacht herumgetrieben hatte. Es fehlten nur noch die Lockenwickler auf meinem Kopf und das Nudelholz in der Faust. Aber so schnell konnte ich mich nicht aus der Rolle befreien, in die mich meine Sorge um Horst getrieben hatte.
„He, he”, brachte mich Horst wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Tranquillo hombre, cool down, take it easy, kühl dich ab”, übersetzte er frei.
Dann wandte er sich wieder dem Polizisten zu, der verdutzt und gleichzeitig belustigt unserer Konversation lauschte, die wohl auch ihm wie das Ritual eines alternden Ehepaares vorkommen musste.
„Also, nochmals danke und hier, für die Kaffeekasse in eurer Dienststelle.” Dabei kramte er in seiner Jackentasche,zog ein Bündel zusammengerollter Geldscheine hervor und zupfte eine 20-Euro-Note heraus.
Der Polizeibeamte nahm sie ohne Zögern, reichte sie seinem Kollegen am Steuer weiter und setzte sich mit einem fröhlichen: „Allez dann, gute Nacht – oder besser: guten Morgen” auf den Beifahrersitz.
Er beugte sich aber doch noch einmal an seinem Kollegen vorbei aus dem Fenster an der Fahrerseite. „Und vergessen Sie nicht, mit dem Landwirt, dem Sie den Acker zerpflügt haben, Kontakt aufzunehmen. Gleich heute Vormittag, bevor wir es tun!”
Sie warteten Horsts Bestätigung nicht ab. So nickte dieser ins Leere, während sie anfuhren und um die nächste Ecke in Richtung Dorfbrunnen verschwanden.
Im Licht meiner Küche konnte ich nun das volle Ausmaß von Horsts befremdlicher Aufmachung bewundern. Nicht nur Jackett, Hose und Schuhe waren mit frischem, matschigem Ackerboden dekoriert, auch Hände und Gesicht trugen die Spuren eines intensiven Kontaktes mit rheinhessischer Scholle. Meine Hunde hatten Horst natürlich freudig begrüßt. Zum einen, weil sie ihn kannten, vor allem aber, weil er – zumindest für Hundenasen – so wunderbar duftete. Irgendwie machte sich ein dezenter Stallgeruch breit.
„Komm”, drängte ich ungeduldig, „jetzt sag schon, was war los?”
„Erst meinen Capuccino!” Er spielte genüsslich seinen Informationsvorsprung aus.
„Wie heißt das Zauberwörtchen mit den zwei t?” versuchte ich wenigstens einen Teil meiner Autorität zu wahren. „Aber flott!”
Er musste meinem Gesichtsausdruck entnommen haben, dass er haarscharf an der Grenze entlangschrammte, es sichmit mir zu verderben. Also machte er eine untertänige, um Verzeihung heischende Geste und hielt den Mund. Er nahm die hingehaltene Tasse mit dankbarem Nicken entgegen und trank sie ohne Rücksicht auf die Temperatur des dampfenden Gebräus laut schlürfend und mit großen Schlucken aus. Dann leckte er sich den Milchschaum von den Lippen, streckte sich und begann endlich zu erzählen.
„Ich bin nach unserem Telefonat sofort weggefahren. In der engen Kurve hinter dem Gestüt zwischen Neu-Bamberg und Wonsheim kam mir auf meiner Seite ein Sportwagen entgegen. So ein Zweisitzer, mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Weißt du, diese Xenonleuchten, von denen es heißt, man würde es sich nur einreden, dass die einen fast erblinden lassen. Ich habe selbst aufgeblendet, gehupt und versucht zu bremsen – keine Reaktion. Ich muss wohl vor Schreck abgerutscht sein. Meine Bremsen sind schließlich o. k. Der andere hat wohl gepennt oder war betrunken.”
„Konntest du den Fahrer erkennen oder das Nummernschild?”, unterbrach ich ihn.
„Nein, das ging alles zu schnell. Ich konnte gerade noch meinen Wagen nach rechts in den Acker ziehen. Ich war ja selbst zu schnell, sonst hätte ich mich kaum überschlagen. Ich blieb auf dem Dach liegen. Direkt gegenüber vom Ajaxturm, am Galgenberg.”
Er schüttelte den Kopf und sagte wohl mehr zu sich selbst: „Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl: Plötzlich absolute Stille und man glotzt völlig perplex, mit den Füßen nach oben, in einen schwarzen Plastiksack.”
„Mann”, schluckte ich, „und dir ist nichts passiert?”
„Nö, außer dem beißenden Geruch der Gaspatrone des Airbags in meiner Nase und einem Bluterguss durch den Sicherheitsgurt, habe ich nichts abbekommen. Natürlich einpaar Schrammen beim Aussteigen. Ich übe ja nicht jeden Tag, meinen Wagen auf allen Vieren zu verlassen. Aber ich arbeite daran.”
Dabei öffnete er sein Hemd und präsentierte mit unverhohlenem Stolz seine Blessuren.
Ich wunderte mich, wie er dabei so gelassen bleiben konnte und beneidete ihn irgendwie um diese Kaltblütigkeit.
„Und dein unappetitliches Aussehen?”, hakte ich nach.
„Na ja”, gestand er, „ich bin mehrmals auf dem Weg zurück auf die Straße im Matsch ausgerutscht. Immerhin hat es mehrere Tage geregnet und Kühe standen da offenbar auch bis vor wenigen Tagen. Ich habe dann mit dem Handy die Polizei angerufen. Den Rest kennst du. Der Wagen dürfte übrigens reif für den Autofriedhof sein.”
Als er das Wort Friedhof aussprach, dämmerte ihm offensichtlich, was für ein Glück er gehabt hatte. Plötzlich kippte nämlich seine Stimme um, seine Haut wurde fahl, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und seine Hände fingen an zu zittern. Irgendwann kommt der Schock, dachte ich mit einem irritierenden Anflug von Genugtuung. Bei ihm mit Zeitverzögerung, aber dafür mit voller Macht.
Das ersparte uns beiden meine Frage, weshalb er nicht auch mich informiert hatte; schließlich hatte er mich mitten in der Nacht geweckt.

II.

Eine Stunde später saß er mir nach einem heißen Bad anscheinend ruhig und gelassen in meinem Bademantel und frischer Unterwäsche gegenüber. Ein weicher, spanischer Brandy tat ein Übriges zu seiner körperlichen und seelischen Rekonvaleszenz.
„So, Horst, jetzt kotz dich aus. Es ist jetzt kurz vor sechs. Ich habe mir gestern Abend eine Flasche Dornfelder zu viel angetan und zu spät und zu schwer gegessen. Wenn es hoch kommt, habe ich drei Stunden geschlafen. Um acht muss ich in der Kanzlei auf der Matte stehen. Außerdem habe ich ab heute eine Betriebsprüfung im Haus.”
Unversehens musste ich grinsen, da sich Fragmente des Traums mit Carlo Dornhagen in meine Erinnerung schlichen. Der hatte sich nämlich tatsächlich für heute angesagt und blieb mindestens eine Woche. Jedoch jetzt ging es um Horst und nicht um eine Betriebsprüfung.
„Erzähl nun endlich, weshalb du mich so dringend sprechen wolltest”, forderte ich ihn ungeduldig auf.
Horst schloss die Augen. Er schien seine Gedanken zu sortieren. Dann setzte er mit inzwischen mehrstündiger Verspätung an: „Als mein Freund und Steuerberater kennst du meine finanzielle Situation besser als jeder andere. Du weißt, dass ich keine glückliche Hand habe und im Laufe der Jahre Hunderttausende in den Sand gesetzt habe.”
Ich nickte. „Betriebswirtschaftlich könnte man sagen, dass du per Saldo mehr ausgegeben als eingenommen hast. Du kannst von Glück sagen, dass du mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen bist.”
„Ich habe zwar noch ein paar Reserven in Aktien, aber die sind momentan im Keller. Die möchte ich eigentlich zurzeitnicht weiter antasten. Und bis ich die Bundesschatzbriefe, die mein Vater noch angelegt hatte, frei bekomme, dauert es Monate. Ich habe kürzlich erst noch die Laufzeit verlängert.”
„Euer Haus in Kreuznach ist zu fünfzig Prozent belastet”, unterbrach ich ihn. „Und das Ferienhaus auf La Palma kannst du eigentlich nur dadurch halten, dass deine Agentur in Los Llanos es gut ausgelastet an Feriengäste vermieten kann.
Mit anderen Worten: Du besitzt zwar noch Vermögenswerte, aber um deine Liquidität ist es schlecht bestellt”, versuchte ich seinen finanziellen Status quo auf den Punkt zu bringen.
„Der einzige Lichtblick ist meine hohe Lebensversicherung. So ist wenigstens Helen versorgt, wenn es mich mal erwischt.
Du weißt auch, dass ich seit Jahren mit allen möglichen Jobs und Kontakten versucht habe, wieder eine gesunde finanzielle Basis zu schaffen. Das einzige, was bis jetzt funktioniert hat, ist, dass ich wenigstens die laufenden Ausgaben immer wieder bedienen und so die Fassade aufrecht erhalten konnte, sodass Helen noch nichts gemerkt hat. Aber dazu muss ich ständig irgendwo ein Loch aufmachen, um ein anderes zu stopfen.”
„Und deine Außenstände, die seit Jahren vor sich hindümpeln? Die summieren sich auch ganz schön.”
„Du weißt, das ist nicht mein Ding, dauernd irgendwelchen Leuten hinterherzulaufen. Die speisen dich doch nur mit Ausreden ab. Die haben wiederum von irgendwem anders Geld zu bekommen. Du kannst doch bei deiner Klientel selbst ein Lied davon singen.”
Horst seufzte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Auf Dauer halte ich das jedenfalls nicht aus. Immer wieder das Versteckspiel vor Helen, immer wieder mit Haken und Ösen operieren, wenn Sie irgendwelche teuren Wünsche hat. IhrAuto, die Kleider, Kosmetik … und neuerdings ernähre ich noch einen Herrn Patrick Göllner.”
„Wer ist denn das?”
„Ihr privater Tennislehrer. Ziemlich bornierter Typ. Seit neustem lässt sie sich von diesem Luftschiffer dreimal in der Woche über den Platz jagen.” Seine Ansicht, dass Göllner wohl ein einfältiger Dummschwätzer war, unterstrich Horst mit einer Scheibenwischer-Handbewegung in Höhe seiner nach oben verdrehten Augen.
„Das muss doch alles bezahlt werden”, klagte er. „Und weißt du, was für mich dabei das Schlimmste ist? – Immer wieder die Angst, dass die Seifenblase platzt und Helen mir nicht mehr vertraut und mich verlässt. Das macht mich verrückt.”
„Horst, was soll das Gejammer”, unterbrach ich ihn unwirsch. „Das haben wir doch schon so oft diskutiert. Du kannst nicht mit Geld umgehen und verbaselst jeden Job. Ich habe dir zigmal geholfen, mich für dich stark gemacht und dabei immer wieder meiner eigenen Reputation geschadet, wenn du dann doch alles hingeworfen hast. Erinnere dich bitte an deine letzte Rechtfertigung, nachdem du die Sache mit dem Anzeigenblatt in den Sand gesetzt hast: Du magst nicht von 8:00 bis 18:00 Uhr arbeiten, hast du gesagt, wenn davon die ersten sechs Stunden fürs Finanzamt sind. Bei einem solchen Schwachsinn fehlen selbst mir die Worte. Ich kann und will dir nicht mehr helfen.”
„Diesmal geht es nicht um einen Job”, sagte er und schüttelte heftig den Kopf. „Diesmal geht es um … mein Leben!”, fügte er mit fast unhörbarer Stimme hinzu.
„Geht es nicht ein bisschen weniger theatralisch?”, fragte ich etwas genervt.
„Ich muss einen Verlust von 95.000 Euro verkraften. 40.000 davon sind von mir. Den Rest muss ich in den nächsten Ta­gen zurückzahlen.” Horst stieß die einzelnen Sätze so heftig hervor, dass man den Eindruck hatte, er meinte sich damit von ihrer Bedeutung befreien zu können.
„Wo ist das Geld gelandet? Warst du doch wieder in Wiesbaden in der Spielbank?”, forschte ich ungehalten nach.
„Nein, vom Roulette bin ich weg und von den Karten auch. Das ist doch nun wirklich zig Jahre her. Zum Glück habe ich rechtzeitig heilsame Erfahrungen gemacht. Das weißt du doch!”
Ich wusste, dass Horst zwar in der Lage war, mir etwas zu verschweigen, aber angelogen hatte er mich noch nie. In diesem Punkt konnte ich ihm bedenkenlos vertrauen. Dennoch beruhigte mich seine Antwort nicht. Da war nämlich noch diese andere Sache. Und dann bestätigte er auch schon meine Vermutung.
„Die haben mir den großen Schlag versprochen. Eine todsichere Sache, haben sie gesagt, die mich auf einmal aus dem ganzen Schlamassel herausgeholt hätte.”
Kurzfristig blitzten seine tief blauen Augen auf und er zeigte das strahlende, entwaffnende Lächeln, mit dem es ihm immer wieder gelang, Menschen für sich einzunehmen und über seine Schwächen hinwegsehen zu lassen.
Er holte tief Luft und fuhr fort: „Darius, ich wollte es mir, dir und allen zeigen. Warum sollte ich nicht auch einmal Glück haben? Bei anderen geht das doch auch. Die haben mir das genau vorgerechnet. Da konnte eigentlich gar nichts schief gehen. Das stand auch so in dem Prospekt: Abgesichert durch den AVT-Fond, der vom AVT-Aufsichtsrat genehmigt und betreut und über Bankgarantien rückversichert worden ist.”
Als der liebe Gott die Blauäugigkeit verteilt hat, musst du der einzige Abnehmer gewesen sein, dachte ich.
„Aber dann war es genau so, wie du es mir gesagt hast. Erst geringe Einsätze mit schnellen und hohen Gewinnen. Dann hohe Einsätze mit Verlusten. Für die Bankgarantien musste ich auch noch blechen, und das nicht zu knapp. Insgesamt waren es 30.000 Euro. Um die auszugleichen gab es dann den todsicheren Tipp. Und mit dem habe ich weitere 35.000 auf einen Schlag in den Sand gesetzt.”
„Also, tatsächlich Warentermingeschäfte mit diesen Österreichern, die dir am Telefon diesen Schwachsinn erzählt haben?”, stieß ich ärgerlich hervor.
Er nickte müde.
„Was war es denn?”, fragte ich bissig, „amerikanische Hähnchen? Ungarische Schweinehälften? Belgische Braugerste?”
Horst nahm die Frage ernst: „Russischer Kaviar, Beluga-Kaviar, 45 Prozent garantierte Rendite!”
„Das darf doch nicht wahr sein”, stöhnte ich.
„Siehst du”, triumphierte Horst, „das reißt dich vom Hocker, da hättest du doch auch zuggegriffen!”