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Morgen sind wir wild und frei E-Book

Stephanie Schuster

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Beschreibung

Drei mutige Frauen zwischen Emanzipation und Wahlrecht, Aufbruch und Abenteuer, Liebe und Freundschaft: Der neue mitreißende Roman von Bestsellerautorin Stephanie Schuster (»Die Wunderfrauen«) 1909: Viktoria schlägt sich mehr schlecht als recht als Sekretärin durch. Das Leben als ledige Mutter ist hart, ihre Träume werden von Pflichten erstickt. Bis sie Agnes und Elisabeth in den Alpen begegnet: Agnes studiert entgegen aller Widerstände als eine der ersten Frauen Architektur. Die junge Schneiderin Elisabeth sehnt sich nach einem Zuhause, in dem ganz allein sie bestimmen kann. Zu dritt schmieden sie den Plan, einen heruntergekommenen Berghof zu ersteigern. Einen Ort, an dem sie frei von gesellschaftlichen Zwängen leben können. Doch woher das Geld nehmen? Und schon bald darauf holt sie das Schicksal ein, und alles steht auf der Kippe.  Mehr von Stephanie Schuster: Die Wunderfrauen - Alles, was das Herz begehrt Die Wunderfrauen - Von allem nur das Beste Die Wunderfrauen - Freiheit im Angebot Die Wunderfrauen - Wünsche werden wahr Glückstöchter - Einfach leben Glückstöchter - Einfach lieben

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Seitenzahl: 633

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stephanie Schuster

Morgen sind wir wild und frei

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

1909: Viktoria schlägt sich mehr schlecht als recht als Sekretärin durch. Das Leben als ledige Mutter ist hart, ihre Träume werden von Pflichten erstickt. Bis sie Agnes und Elisabeth in den Alpen begegnet: Agnes studiert entgegen aller Widerstände als eine der ersten Frauen Architektur. Die junge Schneiderin Elisabeth sehnt sich nach einem Zuhause, in dem ganz allein sie bestimmen kann. Zu dritt schmieden sie den Plan, einen heruntergekommenen Berghof zu ersteigern. Einen Ort, an dem sie, frei von gesellschaftlichen Zwängen leben können. Doch woher das Geld nehmen? Und schon bald darauf holt sie das Schicksal ein, und alles steht auf der Kippe. 

 

Mehr von Stephanie Schuster:

Die Wunderfrauen - Alles, was das Herz begehrt

Die Wunderfrauen - Von allem nur das Beste

Die Wunderfrauen - Freiheit im Angebot

Die Wunderfrauen - Wünsche werden wahr

Glückstöchter - Einfach leben

Glückstöchter - Einfach lieben

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Stephanie Schuster lebt mit ihrer Familie und einer kleinen Schafherde auf einem gemütlichen Bio-Hof in Oberbayern. Sie arbeitete viele Jahre als Illustratorin, bevor sie selbst Romane schrieb – zuletzt die Bestseller-Serie »Die Wunderfrauen« und »Glückstöchter«. Sie engagierte sich in der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung, in einem »Eine-Welt-Laden« und setzt sich für fairen Handel ein.

Impressum

 

 

Am Ende des E-Books finden sich eine Figurenübersicht sowie ein Glossar des Bayerischen und des Rotwelschen.

Hinweis: Im historischen Kontext des Romans verwenden die Figuren auch zum Teil diskriminierende Sprache und Konzepte, die in den Jahren, über die sich die Handlung erstreckt, von der Mehrheitsgesellschaft größtenteils unreflektiert genutzt wurden.

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Redaktion: Hanne Reinhardt

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung: Hauptmann & Kompanie unter Verwendung von Motiven von Arcangel Images, Trevillion Images, Shutterstock und Unsplash

ISBN 978-3-10-491596-8

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Kofel

Eine Woche zuvor

Elisabeth

Viktoria

Agnes

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

Viktoria

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Agnes

Elisabeth

Viktoria

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Agnes

Elisabeth

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

[Aus: Viktorias Stadtpomeranzen-Buch]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

Viktoria

[Aus: Viktorias Bewerbung für die Münchener Post]

Agnes

Elisabeth

Viktoria

[Aus: Viktorias Kolumne für die Münchener Post]

Agnes

Elisabeth

[Aus: Viktorias Kolumne für die Münchener Post]

Viktoria

Elisabeth

1910

Agnes

[Aus: Viktorias Kolumne für die Münchener Post]

Viktoria

Agnes

Elisabeth

Viktoria

Agnes

Viktoria

Elisabeth

Agnes

[Aus: Viktorias Kolumne für die Münchener Post]

Viktoria

Romanshöhe

Agnes

Viktoria

Nachwort

Danksagung

Figurenliste

Bayerisches Glossar

Rotwelsch-Deutsches Glossar

Rezept für Schlutzkrapfen

Quellen

Für meinen liebsten Geschichten-Finder Thomas sowie all die wunderbaren Menschen in unserer Familie und unter den Leser*innen

Träume muss man festhalten, sonst fliegen sie davon.

Thomas Schuster

Modernsein heißt für die Frau, ein eigenes Gesetz in der Brust zu tragen.

Carry Brachvogel

Kofel

Oberammergau, 1909

Noch ein großer Schritt. Der Gipfel war zum Greifen nah. Mit einer Hand raffte sie den Rocksaum samt Unterkleid, mit der anderen packte sie einen Ast weiter oben und zog sich hoch. Der linke Stiefel verhakte sich. Sie ruckelte am Fuß, wollte ihn nachziehen und – steckte fest. Vergeblich versuchte sie ihn aus der Felsspalte zu lösen. Ein paar Steine lockerten sich und fielen dicht neben ihr ins Nirgendwo. Sie schaute ihnen nach und musste sofort die Augen schließen, bevor ihr schwindlig wurde. Unter ihr fiel der Berg senkrecht ab. Auf einmal gab es nichts mehr, außer ein paar Vorsprüngen in der Wand, um mit dem freien Bein Tritt zu fassen. Wo war der Weg geblieben, und wie in drei Teufels Namen war sie bloß hier heraufgekommen? Erneut versuchte sie den Fuß zu befreien, wankte, als sie hinter sich griff, und schrammte nur knapp an einer Kante vorbei. Ihre Schultertasche stieß an den Felsen. Es klirrte, schon tropfte Wasser heraus. So ein Mist, jetzt war bestimmt ihr Schreibzeug nass. Außerdem brannte ihr Schienbein. Behutsam beugte sie sich vor, um nachzusehen, wo sie sich aufgeschlagen hatte und ob ihr kostbar gewirkter Strumpf zerrissen war. Den hatte sie sich extra für diese Reise geleistet, ohne zu ahnen, dass es ein Abenteuer werden und wohin es sie führen würde. Verflixt und zugenäht! Prompt rutschte sie mit dem rechten Bein ab und ruderte mit den Armen. Ein bisschen wie Fliegen. Doch anders als im Traum trug die Luft nicht. Stattdessen prallte sie auf einen Stein, schrie auf und krallte sich an das nächstbeste Bäumchen, eine Kiefer, die hoffentlich schon fest verwurzelt war.

Das war knapp gewesen, um ein Haar wäre sie abgestürzt. Ihr Herz schlug wild, und in ihrem Gaumen pulsierte es. Ruhig. Erst mal durchatmen und wieder Kraft schöpfen. Sie drückte ihre Brille fest, die wäre ihr fast von der Nase gerutscht. Als hätte ihr Rock sie auffangen wollen, hatte er sich in ein paar Dornen verhakt. Dabei war er äußerst unkommod, bodenlang und enganliegend, überhaupt nicht zum Wandern geeignet und viel zu warm für die Jahreszeit. Auf dem Weg hatte sie ihn bereits mehrmals verflucht. Allerdings ging ihr langsam die Garderobe aus. Wie hätte sie auch ahnen sollen, was sie in der Sommerfrische erwartete? Viktoria war geübt darin, rasch zu entscheiden und Pläne umzuwerfen. Blitzschnell hatte sie sich alle Eventualitäten vorgestellt und damit gerechnet, bei einer Abendgesellschaft stenographieren zu müssen oder den Reichsrat bei einem Besuch zu begleiten. Also hatte sie alles Elegante eingepackt, was sie besaß. Das waren ohnehin nur zwei Kostüme, und die hatten in ihrem kleinen Koffer Platz. Doch seit ihrer Ankunft harrte sie im Dorf aus, saß hauptsächlich im ersten Stock eines Bauernhauses vor ihrer Schreibmaschine und wartete, dass Dr. Breuer eine Eingebung hatte. Und ganz offensichtlich war sie trotz aller Bemühungen nicht für alle Eventualitäten gerüstet. Sie hätte weniger auf den Prinzipal und mehr auf sich achten sollen. Dann wäre sie jetzt nicht in dieser Klemme, schwebend über dem Steilhang. Hoffentlich kehrte sie überhaupt lebend ins Tal zurück. Nicht auszudenken. Was würde aus Jakl werden?

Nun bereute sie, sich überhaupt auf diese Arbeit eingelassen zu haben. Tagelang getrennt von ihrem Sohn, und dann auch noch dieser verfluchte Berg. Dabei hatte sie bloß kurz eine Pause einlegen wollen. In ihren ersten freien Stunden seit sie in Oberammergau war. Eigentlich hatte sie sich für alpenerprobt gehalten, schon als Mädchen war sie viel in den Tegernseer Höhen herumgeklettert. Aber nach Jakls Geburt hatte sie trotz der täglichen Abhetzerei noch immer nicht ihre alte Figur und damit auch ihre Verfassung zurück. Sie stillte noch, und ihr Busen spannte, wenn sie nur an ihr Kind dachte. Besser, sie sorgte dafür, endlich aus dieser misslichen Lage zu kommen, um bald wieder bei ihm zu sein.

Vorsichtig löste sie den Rock aus dem Weißdornbusch. Dabei rutschte sie erneut mit dem losen Bein ab, klammerte sich an den Felsen, bis sie wieder Halt fand. Das musste ein merkwürdiger Anblick sein, wie sie halb verdreht in der Wand hing. Zum Glück sah sie niemand. Außer den Gämsen dort drüben. Die stellten sich nicht so dämlich an, kraxelten wie selbstverständlich an den steilsten Stellen. Ihr selbst blieb nichts übrig, als auszuharren und auf ein Wunder zu hoffen.

Wie wäre es, wenn sie sich einfach aus dem Schuh heraushungerte? Doch an den Füßen nahm man bestimmt als Letztes ab. Lange konnte sie sich nicht mehr halten. Ihre verschwitzten Hände lockerten sich bereits. Sollte das ihr Ende sein? Nach allem, was sie bereits durchgestanden hatte? Dabei hatte sie sich das Leben doch gerade erst verdient. Sie hoffte auf einen Anfang, auf eine Chance, um sich und Jakl endlich etwas zu ermöglichen. Nein, das Ende kam immer erst zum Schluss, und der lag noch in weiter Ferne.

Sie lugte unter der Krempe ihres Florentiners hervor in den Himmel. Dem Sonnenstand nach musste es bald Mittag sein. Die Wolken verdichteten sich. Würde es Regen geben oder gar Schnee? Das kam im Juni in dieser Höhe durchaus vor. Über eintausenddreihundert Meter sei der Kofel, der das Dorf überragte, hatte die Bäuerin gesagt, bei der sie einquartiert war. Wenn Viktoria noch länger hier oben feststeckte, verwandelte sie sich vielleicht in die Hex’, von der die Bäuerin auch erzählt hatte. Halb als Frau, halb als Fels würde sie fortan wandeln. Alles Menschenwerk in ihrer Höhle direkt unterm Gipfel horten, und wenn sie gestört wurde, schickte sie Unwetter ins Tal. Solche Geschichten gefielen ihr, die sammelte sie in ihrem Notizbuch, zusammen mit allem, was sie erlebte und was sie beschäftigte.

Was gäbe Viktoria jetzt für mehr Gottvertrauen. Ihr fehlte der starke Glaube, wie ihre Tante ihn besaß. Otti hätte längst alle vierzehn Schutzpatrone angerufen, und bei der Menge hätte sich gewiss auch einer erbarmt. Sollte Viktoria es versuchen? Am besten fing sie mit der heiligen Katharina an, der Beschützerin der Frauen. Doch sie wusste nicht so recht wie und brachte kaum mehr als ein klägliches »Hilfe« über die Lippen. Ein Vogel antwortete mit einem durchdringenden Pfeifen. Es war eine Königsweihe mit rot leuchtendem Gefieder, die sie umkreiste. Herrlich anzusehen. So nah war sie noch nie einer gewesen, kannte den Greifvogel nur aus einer Abhandlung über Leonardo da Vinci, der den Vogelflug, besonders den der Milane, genau studiert hatte. Erfinderisch, wie Leonardo war, hätte er sich in ihrer Situation sicher zu helfen gewusst. Wahrscheinlich hätte er sich aus nichts eine Flugmaschine gebaut und wäre davongesegelt. Und auf was wartete sie? Erneut zerrte sie an ihrem Stiefel, ruckelte hin und her und versuchte, aus dem Schuh zu schlüpfen. Erreichen konnte sie ihren Fuß nicht, um die extra fest gezurrten Schnürsenkel aufzuknüpfen.

»Schau an, welches Zicklein hat sich denn hier verstiegen?«

»Am besten hältst du still, Fräulein, wir übernehmen.«

Viktoria starrte auf zwei Paar Stiefel und Hosenbeine. Männerhosen.

Eine Woche zuvor

Elisabeth

Oberstdorf

»Viele Wege führen zu Gott, mancher davon über die Berge.« Hochwürden Hollwecker begrüßte sie um fünf Uhr früh im Freien und wies sie in den Ablauf der Wallfahrt ein. Sein Atem bildete Wolken, die in der Luft hängen blieben. Es war noch eiskalt an diesem Junimorgen, und Liesl fröstelte in ihrem dünnen Kleid, das absichtlich weit geschnitten war, so dass sich jeder Windhauch darin fing. Ihren beiden Schwestern erging es ähnlich.

Leni, die Fünfzehnjährige, die sowieso kaum etwas auf den Rippen hatte, rückte näher heran. »Wann geht’s los?«, fragte sie. Bei ihr färbten sich bereits die Lippen blau.

»Gleich, nach dem Segen.« Rasch zog Liesl sie zu sich, und hakte auch Gundel unter, die ältere, die fast siebzehn war. Nun bibberten sie zusammen, trippelten auf der Stelle, damit wenigstens die Füße in den genagelten Schuhen warm blieben. Die meisten Bittgänger waren besser ausgerüstet, trugen Walkjanker oder bodenlange Umhänge, unter denen es mollig warm sein musste. Doch bei ihnen ging es nicht anders, das hatte Liesl ihren Schwestern erklärt. Jede weitere Schicht und jedes Stück mehr in den Rucksäcken würde ihnen bloß den Rückweg erschweren.

Trotzdem hatte sich Gundel geweigert, Oma Iffis altes Kleid anzuziehen, in das Liesl extra für diesen Zweck weitere, andersfarbige Stoffbahnen eingenäht hatte. »In dem Fetzen geh ich doch nicht nach Tirol.« Also war sie nochmal zurückgelaufen, hatte sich umgezogen und trug nun ihr Sonntagsgewand. Ein dunkelblaues Dirndl mit rot-weiß gestreifter Schürze, das Liesl ihr zum Namenstag genäht hatte und auf das Gundel so stolz war. Wie hätte Liesl ihr das ausreden können, zumal sie den Schwestern erst nach und nach erklären wollte, dass es bei diesem Ausflug nicht nur um die jährliche Abbitte ging. Mittlerweile waren sie alt genug, um auf diese Weise ihren Teil zum Familienunterhalt beizutragen, und Liesl hätte endlich Gelegenheit auszusteigen. Ihr reichte es, dem Nervenkitzel zum Trotz, den auch sie jedes Mal spürte. Das Zusatzgeschäft, das ihre Familie seit Generationen betrieb, zermürbte sie. Je älter sie wurde, umso mehr. Gerade hinterher, wenn alles überstanden und Gott sei Dank glimpflich ausgegangen war, schwor sie sich, dass dieses das letzte Mal gewesen war. Besonders angesichts des Leids, das ihrer Mutter dabei widerfahren war. Man sprach im Hause Pongratz nicht darüber, man nahm es hin, als wäre es der Preis, den man gelegentlich zahlte, um der Obrigkeit ein Schnippchen schlagen zu können. Sollte doch einer von ihnen verhaftet werden, wollte man so die anderen schützen. Wer nichts weiß, kann nichts verraten. Das war eine der vielen Weisheiten, in die Liesl wie selbstverständlich hineingewachsen war, von Jahr zu Jahr.

Von alldem ahnten Gundel und Leni hoffentlich noch nichts. Zu gegebener Zeit, im Laufe der Bergwanderung, sobald sie auf der anderen Seite waren, würde Liesl sie über alles Nötige in Kenntnis setzen. Heute war es so weit. Sie fingen an, und Liesl verließ die Familientradition. Es sei denn …? Nun, gab es nicht auch eine andere Möglichkeit? Nein, sie hatte sich im Namen der Familie bereit erklärt, sie war verantwortlich. Ein Zurück gab es nicht.

Sie schaute nach oben, flehte um Beistand. Von der Sonne war nichts zu sehen. Nebel drückte herab und verschluckte die Häuser ringsum. Sie kam sich vor, als wären sie Überlebende, die auf einer Insel gestrandet waren, wo sie sich anstatt um Palmen um die drei Lorettokapellen von Oberstdorf drängten. Gespannt harrten sie aus, um gleich ins Nirgendwo auszuschwärmen.

»Zusammenbleiben ist das oberste Gebot«, ermahnte sie Hollwecker. »Fallt beim Gehen nicht zurück. Wenn jemand nicht mehr kann oder austreten muss, habt keine Scheu und gebt Bescheid. Lieber rasten wir einmal mehr, als dass wir einen Absturz oder Angriff riskieren.«

»Wer will uns denn angreifen?« Gundel drückte sich dicht an Liesl.

»Niemand«, erwiderte sie. Gundels dichter Haarkranz kitzelte sie am Hals.

»Ja, die Pongratz-Madln sind auch hier, schau an, was für eine Augenweide, eine schöner wie die andere.« Ein großer bärtiger Mann hangelte sich durch die Gruppe und lupfte den Jägerhut, auf dem ein Gamsbart wackelte. Es war Hubert Wegscheidt, den Liesl schon vom letzten Jahr kannte. Mit seinem Aufzug ähnelte er dem Prinzregenten, auch wenn Hubert um einige Jahrzehnte jünger sein durfte als Seine Königliche Hoheit, die bereits auf die neunzig zuging. Der bayerische Herrscher, Prinzregent Luitpold, gab sich gerne volksnah in Tracht, und er war das Schönheitsideal jedes älteren Mannes. »Dieses Jahr mit Verstärkung, Liesl?« Sie nickte, stellte ihm ihre Schwestern vor. Hurtig ließ Hubert den Schellenkranz, den er in der Rechten hielt, in der Manteltasche verschwinden und schüttelte ihnen allen kräftig die Hand. »Zammg’frorene Klupperl habt’s. Meiomei. Wollt ihr euch nicht wärmer anziehen, bis es auf die knapp zweitausend raufgeht?«

»Wir vermeiden lieber unnötigen Ballast. Du wirst sehen, so sind wir schneller auf dem Maedelejoch als du.« Im Stillen bereute Liesl es jedoch, dass sie nicht wenigstens ihre Strickjacken mitgenommen hatten. Im Gegensatz zu ihnen trug Hubert einen weiten, langen Lodenmantel mit breitem Kragen, den er bis zur Hutkrempe hochgezogen hatte. Im Rockschoß waren sogar Extrabahnen eingearbeitet worden. Der Mantel schien eine Spezialanfertigung zu sein, oder er hatte vorher einem korpulenteren Herrn gehört. Derjenige musste ein Riese von einem Mannsbild gewesen sein. »Vertrittst du mit deinen Schellen heute den Oberministranten?« Bei jeder Bewegung bimmelte es gedämpft in Huberts Manteltasche.

»Ist nur zur Abschreckung, für den Fall, dass uns Wölfe und Bären begegnen.«

»Gibt’s die da oben?« Auch Leni klammerte sich jetzt an Liesl.

»Keine Angst, ich hab noch nie welche gesehen, wilde Tiere meiden Menschen, noch dazu eine ganze Gruppe wie uns«, versuchte sie sie zu beruhigen.

»Und der Herrgott beschützt uns auch.« Gundel wies auf das Kruzifix an der Stange, das ein Oberstdorfer vorantragen würde.

»Der Jesus ist aber gwampert«, flüsterte Leni. »Schaut mehr wie der Herr Pfarrer mit seinem Bierbauch aus. Wer hat denn den geschnitzt?«

»Pssst.« Liesl unterdrückte ein Schmunzeln. »Ein Oberammergauer nicht.«

»Und der Papa schon gar nicht«, ergänzte Gundel.

»Lasset uns beten.« Endlich fand Hollwecker ein Ende, bevor sie noch auf dem Kirchplatz festfroren, und alle fielen ins Vaterunser ein.

 

Der Nebel erschwerte die Sicht, als sie losmarschierten. Was für ein Sommerbeginn. Immerhin regnete es nicht. Dabei war das Wetter im siebzehnten Jahrhundert der ursprüngliche Auslöser für die Wallfahrt gewesen: Als die Dürre den Bauern die Existenz zu nehmen drohte, hatten sich die Bayern mit dem Gottessohn samt Fahnen auf den Weg nach Tirol gemacht und den Herrgott dabei um Regen angefleht. Davon zeugte ein Ölgemälde, das in einer der Lorettokapellen hing. Heute hofften die Pilger lieber, trockenen Fußes über den Allgäuer Hauptkamm zu gelangen. Sie durchquerten das Trettachtal. Sieben Stunden Fußmarsch lagen vor ihnen. Liesl und ihre Schwestern hatten am Vortag bereits von Oberammergau bis zur Grenze neun Stunden zurückgelegt. Teils durften sie auf einem Fuhrwerk mitfahren, teils mussten sie auf Schusters Rappen weiterziehen, von Dorf zu Dorf. Um sich von den ersten Strapazen zu erholen und auf das, was noch auf sie zukam, gut vorbereitet zu sein, übernachteten sie in einem Gasthof. Für Gundel und Leni war es das allererste Mal.

»So etwas machen doch nur die feinen Leute.« Leni hatte sie angestrahlt. Seit kurzem war sie Lehrmädchen in einer Bäckerei, musste jeden Tag um drei aufstehen und bis sechs Uhr abends durchhalten. Für den Bittgang hatte sie extra freibekommen, und sie genoss die Zeit in vollen Zügen, trotz der Anstrengungen.

»Wer sagt, dass wir nicht fein genug sind?« Liesl zog die schwere Eichentür zur Traube auf, und sie betraten den dunklen Flur. »Wer hart arbeitet, hat sich etwas Spaß verdient. Vielleicht sollten wir heute Abend tanzen gehen?«

»Tanzen? Du scherzt.« Nun riss auch Gundel die Augen auf, und Liesl lächelte.

Das Foyer wirkte verlassen. Stühle lehnten an den Tischen, manche waren aufeinandergestapelt. Aber es roch nach Kraut und Braten, und über dem Tresen hing eine brennende Talglampe, die den Raum spärlich erleuchtete. Liesl bediente die kupferfarbene Klingel, die auf der Theke stand. Doch niemand reagierte.

»Warum übernachten wir nicht bei Traudl und Andi?« Gundel sprach aus, was in ihrer Familie tabu war.

»Traudl ist krank, wir würden ihr nur zur Last fallen, und mit Andi sprechen wir nicht mehr«, erinnerte Liesl sie. Eigentlich hatte sie gedacht, dass ihre Schwestern das wussten. Andreas war der Älteste der Geschwister, die Verbindung zu ihm hatten sie abgebrochen. Einerseits, weil er zum Zoll gegangen war. So etwas tat man als Einheimischer nicht, man ging nicht zu den Grenzern, schon gar nicht als Pongratz. Doch es musste noch einen anderen Grund geben, den Liesl nicht kannte. Sie konnte nur spekulieren. Keiner sprach darüber, nicht mal Flo, der Zweitälteste, der mit Andi einst sehr vertraut gewesen war, ja, geradezu angehimmelt hatte er ihn. Der große Bruder halt. So ähnlich ging es Liesl jetzt mit Flo, nur dass sie hoffte, dass er sich ihres Vertrauens auch würdig erwies.

Seit Andi geheiratet hatte, lebte er in Oberstdorf, wo er als Grenzsoldat arbeitete. Seine Frau war lungenkrank, wie sie gehört hatten. So etwas sprach sich auch über die hundert Kilometer herum. Das ganze Familiendrama lag sieben Jahre zurück, zwei Jahre nach der Jahrhundertwende. Liesl war siebzehn gewesen, als Mutter schwer verletzt wurde, und musste als älteste Tochter all ihre Pflichten übernehmen. Vielleicht hing es auch damit zusammen. Andi hatte sie verlassen, als sie ihn am meisten gebraucht hätten. Gundel und Leni waren damals noch klein gewesen und Mutter wieder schwanger. »Erinnert ihr euch überhaupt noch an ihn?«

»Ich schon«, sagte Gundel. »Ich war zehn, und was er getan hat, vergesse ich ihm nie.«

»Ich auch nicht, niemals«, pflichtete Leni bei.

»Wieso, was meint ihr?« Liesl horchte auf. Wussten sie am Ende mehr als sie?

»Na ja, das mit der Mia.«

Sie nickte, das war auch schlimm gewesen. »Bewiesen ist es nicht.«

»Aber du hast doch auch den Rauch aufsteigen sehen.« Es stimmte, Gundel hatte sich alles ganz genau gemerkt. Liesl wusste noch, wie verzweifelt sie tagelang alle die dreifarbige Katze gesucht hatten. Überall im Dorf, jeden Stadel hatten sie durchkämmt, alle Nachbarn gebeten, im Keller nachzusehen, sogar die Bahnstrecke Richtung Murnau waren sie abgegangen. Erschöpft kehrten sie schließlich zum Haus zurück. Die Kleinen weinten auf dem Hof, riefen weiterhin verzweifelt nach der Katze. Jeder in der Familie hatte die zutrauliche Mia geliebt, die sich sogar im Puppenwagen spazieren fahren oder mit Mullbinden einwickeln ließ, wenn sie Krankenhaus spielten. Nachts schlief Mia abwechselnd in den Betten der Kinder und gab Töne von sich, als wollte sie sich doch noch herablassen, die Menschensprache zu lernen.

Andi kam über den Hof geschlendert. »Was habt ihr bloß alle?«, fragte er mit aufgekrempelten Hemdsärmeln. Er trug die Lederschürze, in der er Vater beim Schnitzen half.

»Wir suchen die Mia«, posaunte Leni mit ihren neun Jahren heraus, als ob das nicht längst jeder begriffen hätte.

»Vielleicht ist sie hier drin.« Breit grinsend blieb er vor dem alten Hühnerverschlag stehen. Seit sie kein Federvieh mehr hatten, war der voller Gerümpel. Widerwillig trat Andi zur Seite, als Liesl die Klappe aufhakte. Leises Miauen erklang. Sie schob eine verrostete Schaufel, den Futtertrog und alte Farbkanister zur Seite und zog Mia heraus. Struppig und abgemagert.

»Du Lump«, entfuhr es Mutter, die sich hochschwanger mit Ulli an der Suche beteiligt hatte. »Fast bereu ich es, dass ich dich zur Welt gebracht hab.« Zum ersten Mal, soweit sich Liesl erinnern konnte, bot sie damals ihrem ältesten Sohn die Stirn. Vater schwieg wie üblich, und Andi feixte. Aber Hauptsache, die Katze war noch am Leben. Gemeinsam päppelten sie Mia wieder auf. Kurz danach verschwand sie endgültig, und nicht nur Liesl roch, wie Knochen und Fleisch verbrannt wurden. Im Ofen in der Waschküche.

»Bin schon da, bin da.« Eine Tür flog auf, und eine kleine ältere Frau trat hinter den Tresen, wo sie halb verschwand. Sie band sich noch ein fein gewebtes Gespinst über die auf Metallrollen gedrehten Haare und war mit einem Schlag deutlich größer. »Bittschön, die Damen?« Sie musste auf einen Schemel gestiegen sein.

»Grüß Gott, wir hätten gerne ein Doppelzimmer«, sagte Liesl.

»Ihr seid’s aber drei Stück Persona.« Das A dehnte sie, wohl im Fachjargon der Gastronomiebetreiber.

»Aber Schwestern, uns genügt ein Doppelbett.«

»So, so, jeder zählt und zahlt, wo kämen wir sonst hin. Wir sind schließlich keine Schlafgängerpension.«

Liesl glaubte schon, sie würden hochkant hinausgeworfen, doch dann zog die Traubenwirtin ein großes Buch hervor, schlug es auf und fuhr mit dem breiten Zeigefinger die Einträge entlang. Es tropfte von ihren Haaren auf die Seiten. Sie wischte darüber und verschmierte die Schrift. »Ihr habt Glück, gestern ist eine Berliner Familie abgereist. Also ist das Dreibettzimmer wieder frei. Das Kinderbett ist aber nur eins vierzig lang.« Sie musterte die Mädchen und blieb bei Gundel hängen, dabei war Leni die jüngere, aber sie reichte Liesl bereits bis zur Nasenspitze und war mit Gundel gleichauf, um die eins sechzig, mindestens.

»Das reicht.« Zu Hause hatten sie meistens ein jüngeres Geschwisterkind oder ein Haustier um die Füße herumliegen. Lang ausgestreckt schlief niemand bei den Pongratz. Allein in einem Bett, egal ob kurz oder lang, war also ohnehin Luxus pur. Liesl fragte nach dem Preis.

»Mit Frühstück eins achtzig die Nacht.«

»Und ohne?« Proviant hatten sie dabei.

»Eins siebzig.«

Na ja, das machte das Kraut auch nicht fett, besser, sie sparten die Brote für die lange Wanderung auf. »Dann mit Frühstück, bitte.«

Gundel und Leni freuten sich sichtlich.

»Wie lange bleibt ihr?«

»Nur diese Nacht.« Liesl holte den Geldbeutel aus dem Rucksack. »Kann ich gleich zahlen? Wir müssen morgen um halb fünf schon wieder fort.«

»Dann doch ohne Frühstück, das gibt’s bei uns erst ab sechs. Oder seid ihr von den Wallfahrern? Für die legen wir Brotzeitpakete bereit.« Was für ein Entgegenkommen, sie bedankten sich. Die Wirtin trug ihren Namen ein, und als Liesl die Summe beglichen hatte, erhielt sie einen großen Schlüssel. »Zweiter Stock, das dritte Zimmer rechts. Toilette und Wannenbad sind am Ende vom Gang. Den Nachttopf morgens, bevor ihr aufbrecht, noch selbst leeren, aber bittschön nicht zum Fenster hinaus. Braucht ihr Handtücher? Fünf Pfennige das Stück.«

»Eins reicht.« Liesl gab ihr die Kupfermünze. Die Treppe knarrte, als sie hinaufstieg. Andächtig flüsternd, als befänden sie sich in einer Kirche, folgten ihr Gundel und Leni. Der Flur war mit Teppichen ausgelegt, überall roch es nach Tabak. Wider Erwarten wirkte das Dachzimmer freundlich hell, es war mit blau-weißen Blumen tapeziert. Allerdings war es mit den drei Betten so gut wie ausgefüllt, bloß ein kleines Tischchen mit drei Stühlen hatte noch Platz gefunden und in der Ecke ein Metallgestell für Krug und Waschschüssel.

Die jüngeren Schwestern juchzten, als wären sie in einem Palast untergebracht. Sofort räumten sie die wenige Habe aus ihren Rucksäcken in den Wandschrank. Obwohl sich das für die paar Stunden kaum lohnte, ließ Liesl ihnen die Freude. Sie zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das Kastenfenster, um die abgestandene Luft hinauszulassen. »Schaut mal, das große Gebäude da drüben ist das Parkhotel Luitpold.« In der Abenddämmerung sah es mit seinen drei Stockwerken, dem Fachwerk, dem Turm und den bemalten Fensterläden unendlich prächtig aus. Sie meinte sogar, Musik zu hören, stellte sich vor, sie wäre einer von den Gästen, würde vielleicht von einem eleganten Herrn im Frack ausgeführt. Unter einem großen Glaslüster würden sie sitzen, an einem Tisch, der nur für zwei gedeckt war, und lauter Delikatessen probieren. Zu diesem Anlass trüge sie gewiss etwas Selbstgenähtes. Kein Dirndl, sondern etwas Extravagantes. Auf einmal sah sie es genau vor sich: ein Kleid mit Bein, halb Rock, halb Hose, fließend weit geschnitten und ab der Taille doch passgenau.

Ihre Schwestern waren noch mit dem Schrank beschäftigt. »So schaut doch mal her. Dort soll es eigene Salons für die Gäste geben, fließend warmes und kaltes Wasser in den Zimmern, elektrisches Licht und sogar Fernsprechapparate.« Endlich kamen sie ebenfalls ans Fenster, zwängten sich zu ihr in die Nische. »Da, wo die vielen Lichter brennen, ist der Ballsaal. Bestimmt wird schon getanzt.« Sie schnappte sich Leni, summte eine Walzermelodie und drehte sich mit ihr. Dabei schrammten sie den Bettpfosten und plumpsten in das dicke Plumeau. Ein paar Federn flogen.

»Wen würdet ihr antelephonieren, wenn wir auch einen solchen Apparat im Zimmer hätten?« Leni schmiegte sich in die dicken Kissen.

Liesl überlegte, auf Anhieb fiel ihr niemand ein. »Soviel ich begriffen habe, kann man bloß jemanden anrufen, der ebenfalls einen Apparat besitzt, und derjenige muss dann auch noch zu Hause sein und abheben, wenn’s läutet.«

»Aber ich weiß jemanden.« Gundel holte Schwung und sprang neben sie, dass der Bettkasten krachte. »Einen Grafen, einen Telegraphen natürlich.« Sie lachten. Damit war entschieden, wo sie schliefen. Das Kinderbett hatte die Traubenwirtin am nächsten Tag jedenfalls nicht neu beziehen müssen.

 

Nach dem Anstieg hinter Spielmannsau, als auch der erste Rosenkranz gesprochen war, durfte jeder der Wallfahrer seinen eigenen Gedanken nachhängen. Mittlerweile hatte sich der Nebel gelichtet, die Sonne brannte aus einem wolkenlos blauen Himmel herab. »Schaut mal, ein Türkenbund.« In einer Senke hatte Liesl eine kleine rosagefleckte Blume auf der Wiese entdeckt. »Und da ein Stengelenzian.« Sie versuchte, ihre Schwestern bei Laune zu halten, doch die hatten längst ihre eigene Gaudi, steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Noch roch für sie alles nach Abenteuer.

Bis jetzt hatte Liesl es bewusst vermieden, sie in mehr als nötig einzuweihen. Die Gefahren an der Grenze waren auch ohne ihr Vorhaben groß. Immer wieder kam es zu Lawinenabgängen, Steinschlag und Unwettern. Seit der Pilgerweg existierte, hatte es einige tödliche Unfälle gegeben. Die Holztafeln entlang des Weges zeugten davon. Unter Aufbietung großer Malkünste wurde kundgetan, dass der Meiser Fonse 1876 in die Schlucht gestürzt war, und eine Biegung weiter, wo ein entwurzelter Baum lag, hatte 1882 den Tschurschenthaler Edi der Blitz niedergestreckt.

Jeder aus der Gruppe hielt an den Marterln kurz inne und bekreuzigte sich. Auch Liesl. Obendrein versuchte sie ihre Angst zu zähmen, die war freilich ganz anderer Natur als die Angst davor, beim Erklimmen des Berges auf wilde Tiere zu stoßen. Vielleicht ahnten sie doch ganz von allein, was sie vorhatten, schließlich waren sie mit den Geschäften aufgewachsen. Dass ein Schnitzer allein mit seinen Schnürkasperln, Kruzifixen und Krippen seine Frau und sämtliche Kinder durchbrachte, war kaum denkbar. Zumal in Oberammergau mehr als hundert Familien diesem Kunsthandwerk nachgingen und damit die Konkurrenz groß war.

Für Liesl lag der Ausstieg nun in greifbarer Nähe. Fortan wollte sie ein ehrliches Leben als Schneiderin führen, ohne die ständige Furcht vor Verhaftung. Ihr graute es schon vor dem Donnerwetter, wenn sie es ihren Eltern mitteilte, und auch vor Flo.

Ihr Bruder sah das Ganze nach wie vor als Spiel. »Wir zwacken uns doch nur da etwas ab, wo es sowieso im Überfluss vorhanden ist. Und wir bringen sogar mehr ins Reich. Wem schaden wir schon, Liesl«, hatte er gesagt, als sie ihm von ihrer Seelenpein erzählte. »Dem Prinzregenten und seinen Vasallen? Glaubst du, die scheffeln und mauscheln nicht alle, wo und wie sie können, horten die Goldklumpen wie unsereins das trocken Brot?«

»Das heißt aber nicht, dass wir genauso handeln dürfen«, warf sie ein.

Doch Flo war um nichts in der Welt davon abzubringen. »Du musst nur darauf achten, dass du keinem vor die Flinte läufst.«

»Wie Mama?« So wollte sie auf keinen Fall enden. Aber auch nach dem Ausstieg würde sich für Liesl nicht alles ändern. Fortan würde sie vielleicht nicht mehr um sich selbst bangen, jedoch weiterhin um ihre Geschwister. Trotzdem, sie hatte es sich genau überlegt. Sie wollte Schluss machen. Wie das genau ablaufen sollte, lag noch jenseits ihrer Vorstellungskraft. Darum hoffte sie, dass sie auf der Wallfahrt eine Eingebung hatte. Vielleicht sollte sie eine Zeitlang das Kreuz vorantragen und den Herrgott bitten, es ihr leichter zu machen? Doch darum rissen sich bereits andere. Es schien, als sehnte sich jeder nach Erlösung.

Noch hatte Liesl kaum eigenes Geld, sinnierte sie weiter. Bis auf das bisschen Schmu, das sie sich nach jeder Arbeit auf der Stör abzwackte. Den Rest lieferte sie brav zu Hause ab, wie es sich gehörte. Wenigstens hatte sie auf diese Weise Flos Lehrgeld mitfinanziert. Er hatte den Absprung bereits geschafft und eine gut bezahlte Stelle als Koch in einem Mittenwalder Grandhotel ergattert. Dafür war sie gern von Hof zu Hof gezogen, hatte sich mit Näharbeiten durchgeschlagen und versucht, mit einer oft genug schwierigen und geizigen Kundschaft zurechtzukommen. Genau das würde sie auch weiterhin tun, nur zukünftig für ihre eigene Unabhängigkeit.

Sie erreichten den Sperrbachtobel und hangelten sich über eine schmale Holzbrücke. Von oben tropfte das Wasser in Schleiern den Berg hinab. Dahinter ging es weiter steil hinauf. Die Steine waren glitschig, der Weg nur schwer passierbar. Gerade als Hollwecker sie aufforderte, einander die Hand zu reichen und eine Kette zu bilden, glitt der Kreuzträger aus und fiel auf den Pfarrer. Der wollte sich an der Wand abfangen, schubste dabei jedoch die nachfolgende Pilgerin um, eine ältere Dame aus Pfronten, die sich rasch an ihre Kusine krallte. Doch auch die geriet ins Wanken. Gundel wollte den beiden ausweichen, trat zur Seite, rutschte vom Pfad ab und drohte um ein Haar abzustürzen. Rasch packte Liesl sie am Arm, stieß dabei an Leni, die dicht hinter ihr ging und nun ebenfalls strauchelte. Wie Dominosteine wären sie nacheinander umgefallen, hätte nicht Hubert Wegscheidt, als Fels in der Brandung, sie abgefangen und wieder auf die Beine gestellt.

»Gelobt sei Jesus Christus«, riefen alle miteinander aus, als sie die Kemptner Hütte in eintausendachthundertsechsundvierzig Metern sicher erreicht hatten.

»Und unser Hubertl als Retter ebenfalls«, ergänzte Hollwecker.

Nach einer kurzen Rast, bei der sie ihren Proviant vertilgten und frisches Quellwasser tranken, zogen sie weiter. An der Grenze zu Österreich wartete niemand. Keiner war auf Posten an dem kleinen Unterstand, der mehr für die Soldaten als für die Wanderer aufgebaut worden war, damit sie bei Wind und Wetter Unterschlupf fanden. Liesl hielt nach den Zöllnern Ausschau, die schritten wahrscheinlich das Gebiet ab und würden erst am nächsten Tag auftauchen, wenn es etwas zu kontrollieren gab. Offiziell existierten drei Wege nach Österreich, doch insgeheim gab es Dutzende mehr, wie jeder wusste, der am Alpenrand aufgewachsen war. Man musste nur die richtigen Haken schlagen, abbiegen, wo scheinbar kein Pfad verlief, dann gelangte man auf vielerlei Wegen auf die andere Seite. Als es bergab ging, sahen sie schon von weitem die Holzgauer, die ihnen das letzte Stück entgegenkamen. Im Herbst, wenn der Sommer zu Ende war, würde sie es von Bayern aus genauso halten.

Liesl tat, als müsse sie ihre Schuhe binden, und blieb mit ihren Schwestern ein wenig zurück. Nun gab es keinen Aufschub mehr. »Ihr wisst, dass wir in Tirol ziemlich viel einkaufen werden«, fing sie an. »Die Sachen sind aber nicht für uns.« Die Liste ihrer Auftraggeber war lang. Es hatte sich herumgesprochen, dass die Pongratz gute Ware lieferten, deshalb waren sie auch zu dritt. »Morgen, wenn wir zurückgehen, werden wir alles, was wir gekauft haben, nicht im Rucksack, sondern am Leib tragen, und zwar so, dass die Grenzer keinen Verdacht schöpfen.« In Österreich war Weißwäsche günstiger, und so gut wie jede bayerische Hausfrau verlangte danach. Das, was sie von den Stücken zollfrei weiterverkauften, summierte sich und lieferte unterm Strich mal ein paar neue Schuhe für die Geschwister, mal einen Stapel Porzellanteller oder andere Dinge, die nicht allein durch den Verkauf von Vaters Schnitzwerk bezahlt werden konnten.

»Und wenn sie uns abtasten?« Leni wirkte trotz der Strapazen des steilen Anstiegs keineswegs ausgelastet, sie hüpfte wie ein junges Geißlein um die Schwestern herum.

»Die Grenzer sind es gewohnt, dass wir Wallfahrerinnen dicker nach Hause zurückkehren, als wir losgegangen sind. Mei, in Tirol gibt’s halt so gute Sahnetorten, wer kann sich da beherrschen. Trotzdem müsst ihr auf der Hut sein und dürft euch nichts anmerken lassen.« Eine Leibesvisite hatte bisher noch nie stattgefunden, soviel Liesl wusste. Plötzlich stutzte sie. Gundel und Leni nahmen die Angelegenheit hin, als ob sie selbstverständlich wäre. »Sagt mal, habt ihr gewusst, was wir vorhaben?«

»Natürlich«, gab Gundel zu. »Meinst, wir sind so aufs Beten aus?«

»Wir haben nur spekuliert, wann’s endlich losgeht und wir dabei sein dürfen«, ergänzte Leni.

»Und wie lange du es noch vor dir herschiebst, bevor du uns endlich alles erklärst«, setzte Gundel obendrauf.

Wider Willen stieg ein Schmunzeln in Liesl auf. Bloß warum hatte sich Gundel, wenn sie doch angeblich Bescheid wusste, nicht an die Abmachung gehalten und das alte Kleid angezogen? Für diese Frage war es nun eh zu spät, also verkniff Liesl sie sich.

 

Noch mal einzukehren oder in einem Gasthof zu übernachten, konnten sie sich nicht leisten. Das brauchten sie auch nicht. Die Holzgauer hatten den Pilgern im Pfarrsaal Feldbetten bereitgestellt und verteilten nach der gemeinsamen Andacht Suppe und Brot. Müde wie sie waren, schnarchten bald alle. Am nächsten Morgen schwärmten die Schwestern zu den bekannten Adressen aus. Mal wartete ein Hausierer mit seinen Angeboten auf einem Bauernhof, mal gab es im Hinterzimmer des Kramerladens Stapelware. Scheinbar wusste man hier genau, wann die Piefkes kamen und größere Posten abnahmen.

In Kürze hatten sie die Liste abgearbeitet. Die erhaltene Ware galt es nun zu verstauen, und zwar am eigenen Leib. Das war leichter gesagt als getan. Sie verschanzten sich hinter dem Pfarrhof. Gundel versuchte sich die Handtücher um die Oberschenkel zu binden, doch die waren aus Flanell und rutschten, kaum, dass sie ein paar Meter zur Probe gegangen war. Liesl faltete sie besser ineinander und heftete sie mit einem Faden an der Innenseite von Gundels Unterrock fest. Ja, jetzt hielt es hoffentlich. Auch wenn Gundel nun fast breitbeinig gehen musste.

Leni stopfte sich gleich mehrere Kopfkissen um die Taille und in die Bluse. »Na, wie seh ich aus? Wie die Großbäuerin aus Schnäuzlreuth mit Extrabalkon?« Mit geschwellter Brust stolzierte sie um den kirchlichen Kräutergarten. Liesl übernahm den Rest, und das war ein hoher Stapel. Erst schlang sie sich die Bettwäsche um den Bauch und steckte sie mit den amerikanisch patentierten Sicherheitsnadeln fest, die ihr Oma Iffi vermacht hatte. Sie war auch Schneiderin gewesen, hatte sie von klein auf mit auf die Stör genommen und ihr alles beigebracht. Danach kamen die Geschirrtücher und Stoffservietten an die Reihe. In mehreren sorgfältig übereinandergelegten Schichten halfen ihr Gundel und Leni, sich alles um die Oberarme zu wickeln und dann zurück in die Dirndlbluse zu schlüpfen, was ein Kraftakt war. Die vormals pludrigen Ärmel waren am Ende prall ausgefüllt. Ins Schwitzen wiederum durften sie nicht geraten, was fast ein Ding der Unmöglichkeit war.

Aber noch war der Morgen kühl. Unter den Pilgern fielen sie nicht weiter auf, gerade dass man ihnen, ob ihrer Verwandlung, ein Lächeln schenkte. Auch andere marschierten stärker beladen in die Heimat zurück, als sie aufgebrochen waren. Die Kusinen aus Pfronten wirkten ebenfalls voluminöser, waren dazu noch leicht beschwipst und trällerten sämtliche Volkslieder, die ihnen einfielen, und darunter waren nicht wenige reichlich weltlich angehaucht. Der religiöse Teil war geschafft, Pfarrer Hollwecker war in Holzgau geblieben. Er hatte am Abend etwas zu tief ins Glas gesehen und schlief anscheinend seinen Rausch aus. Kurz vor der Grenze kam Wind auf und blies ihnen die Röcke hoch.

»Was, wenn wir erwischt werden?« Leni bekam es nun doch mit der Angst zu tun.

»Werden wir nicht«, sagte Liesl.

»Aber was, wenn doch?« Auch Gundel wurde es zweierlei.

»Dann seid stumm, egal, was sie euch fragen, und überlasst mir das Reden.« Einen genauen Plan hatte sie ebenso wenig, sie hoffte auf Glück oder den heiligen Antonius, der angeblich unsichtbar machte. Je mehr sie sich der Grenze näherten, desto aufgewühlter wurde auch sie. Doch sie versuchte, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen.

Diesmal war das Häusl von zwei Männern bewacht, die sich großzügig zeigten und den ersten Schwung ihrer Gruppe ohne Schikane abfertigen. Das machte Liesl Mut. Andi war zum Glück nicht dabei. Wer wusste schon, ob er sie nicht besonders scharf gefilzt hätte. Den jüngeren der beiden Zöllner, den mit der Brille, kannte sie noch vom letzten Jahr. Er war Assistent, aus München abbestellt und noch in der Ausbildung, wie er ihr erklärt hatte. Er hieß Kurt Feistl und musste etwa in ihrem Alter sein, vielleicht auch schon an die dreißig. Jedenfalls hatte ihm der Kuchen geschmeckt, den sie ihm letztes Jahr mitgebracht hatte, und sie hatten ein paar Sätze gewechselt, wenn auch stockend und ein wenig schüchtern.

»Grüß Gott, die Herrschaften, hat jemand etwas anzumelden?« Nun pickten sie sich offenbar doch einige heraus. Die betagten Kusinen zeigten ein Stück Speck vor, wesentlich kleiner als die dicken Schwarten, die sie unter ihren Jankern verbargen. Der Speck wurde gewogen und fiel unter den Freibetrag, die Damen durften passieren. »Heiliger Antonius, bitte für uns, jetzt, wo die Stunde unserer Not ist«, murmelte Gundel.

Als Nächstes war Hubert dran. »Taschen ausleeren«, forderte ihn Kurt Feistl schon von weitem auf, ehe Hubert sich erklärte. Umständlich legte er den Schellenkranz auf den Tisch. Von seinem Mantelsaum tropfte es.

»Was haben wir denn da?« Der ältere Zöllner, in seiner hechtgrauen K.-u.-k.-Uniform mit Fasanenfedern auf der hohen Kappe, trat hinter ihn, die Hand am Gewehr. Sein Blick blieb an Liesl hängen. Sie begann zu schwitzen, spürte, wie ihr das Wasser in den Blusenkragen lief. Ihr Herz pochte so stark, dass er es trotz ihrer Polster sehen musste. Innerlich flehte sie, bitte Antonius, nur dies eine Mal noch, mach uns unsichtbar.

»Schwache Blase, die Herrn«, war Huberts Erklärung für sein Malheur. »Ich hab’s nicht mehr halten können.«

»Ganz schön scharf, dein Urin. Mantel öffnen. Sofort, und dann heraus damit«, lautete der Befehl. Hubert gab sich geschlagen und knöpfte den Loden auf. Auf der Innenseite befanden sich lauter Taschen, in denen er sich das reinste Schnapslager angelegt hatte. Flaschen in allen Größen und Formen steckten im Futteral. Eine nach der anderen musste er herausrücken, bald war das Tischchen zu klein. Sogar die tropfenden Scherben, auf denen noch das Etikett zu erkennen war, hatte er abzuliefern.

»Weitergehen, weitergehen.« Kurt Feistl, der zusätzlich zu seiner eigenen Brille auf den Schirm seiner Kappe noch eine Art Pilotenbrille mit dunklen Gläsern geklemmt hatte, winkte den Rest der Gruppe durch. Dabei nickte er Liesl mit rot verfärbten Wangen zu. Vielleicht war das von der Aufregung, weil ihnen so ein großer Fang ins Netz gegangen war, und seine Verlegenheit hatte nichts mit ihr zu tun. Aber auch sie schenkte ihm ein Lächeln und schob Gundel und Leni hinter sich vorbei. Nun hatte Hubert sie zum zweiten Mal gerettet. Wer wusste, ob sie ohne ihn davongekommen wären.

»Was geschieht mit ihm?«, wollte Leni wissen, als sie außer Hörweite waren.

»Er wird verhaftet und vermutlich eingesperrt«, sagte sie knapp. Die Schauergeschichten, die sie von den Zuständen in den Gefängnissen gehört hatte, wollte sie nicht preisgeben. Sollten sie umkehren und versuchen, ihm beizustehen? Dann wären dem Zoll gleich vier dicke Fische ins Netz gegangen. Nein, so schrecklich es war, einen von ihnen hatte es erwischt, das war Risiko und Schicksal beim Schmuggeln. Er büßte sozusagen für sie alle mit. Gelobt sei Hubert Wegscheidt!

Bedrückt gingen sie weiter. Nach und nach zerstreuten sich die Wallfahrer, und die Abstände zueinander wurden größer. Liesl konnte es kaum fassen, dass es geschafft war, auch Gundel und Leni ergriff der Übermut, und die Sorge machte purer Lebenslust Platz. Trotz ihrer kugeligen Leiber rannten sie voraus. »Obacht, sonst überschlagt ihr euch noch«, rief sie. Schmutzig werden durfte die Weißwäsche nicht. Andererseits konnte sie es ihnen nicht verdenken, ihren ersten Auftrag hatten sie gemeistert. Ihr ging es ähnlich, auf einmal war die Last, von der sie am meisten trug, nur noch halb so schwer.

Sobald sie in Oberstdorf waren, würden sie die Ware auf die Rucksäcke verteilen und sich um eine Mitfahrgelegenheit kümmern. Zum Schloss Linderhof, das auf der Strecke Richtung Oberammergau lag, waren neuerdings auch Kraftfahrzeuge unterwegs. Was für eine herrliche Vorstellung, mit so einer Maschine mitzufahren. Sie hörte Gundel juchzen, bevor ihre Schwestern hinter der nächsten Biegung verschwanden.

»Wartet auf mich!« Liesl hatte Mühe, ihnen zu folgen. Am liebsten wäre sie schon jetzt ihren Ballast losgeworden. Außer Atem hielt sie am Waldrand kurz inne. Ein Tuch war ihr aus dem Ärmel gerutscht. Plötzlich packte sie jemand von hinten und zerrte sie rückwärts zwischen die Bäume.

»Nicht, lassen Sie das« war alles, was ihr einfiel. Das sollte wohl ein Scherz sein. Äste brachen unter ihren Schritten. Waren da noch andere? Nach dem grellen Sonnenlicht dauerte es ein paar Augenblicke, bis sie im Wald etwas erkennen konnte. Dem Geruch und der Größe nach war es ein Kerl wie Hubert, aber der war doch gerade eben verhaftet worden, oder war er entkommen? Der Mann schwitzte stark, und in seinem Gestank lag etwas Vertrautes. Merkwürdig. Sie stolperte über eine Wurzel, drohte zu fallen, doch er zerrte sie samt allem, was sie bei sich trug, wieder auf die Beine. Sie wand sich unter dem Klammergriff, spürte die Schnallen der vielen Ledertaschen, die er am Gürtel trug, im Rücken. Sicher war auch eine Pistole darunter.

Plötzlich wusste sie, wer es war. Aber warum so grob?

»Du? Was soll das? So hör schon auf, du tust mir weh. Ich bin’s doch.«

»Halt’s Maul! Oder hast du etwa geglaubt, dass du davonkommst?«

Viktoria

München – Maxvorstadt

So leise wie möglich stieg sie mit ihrem Kind im Arm durch den Hausflur hinauf. Die Treppe in den ersten Stock knarrte. Darüber, in der Beletage, wo Prinzipal Schall mit seiner Gattin residierte, knallte eine Tür. Jakl wachte auf und schluchzte. »Schlaf weiter«, flüsterte sie, schob ihrem Sohn das Mützchen hoch, das ihm ins Gesicht gerutscht war, und küsste ihn.

Sie lauschte, ob sie jemand bemerkt hatte. Besser, sie ging rasch hinein. Jakl fest an sich gedrückt, schloss Vicki die Tür zum Bureau auf, zog sie hinter sich zu und drehte am Schalter. Licht flammte auf. Sie öffnete die schweren Samtvorhänge. Kurz schaute sie durchs Fenster auf die Westenrieder Straße, die noch im Halbdunkel lag, zur Pfandleihanstalt gegenüber. Was die Menschen wohl dorthin brachten? Sie selbst hätte nichts von Wert, außer ihrer Schreibmaschine.

Ein Pferdefuhrwerk, beladen mit den Fässern einer Brauerei, rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Kühl war es im Raum, zu kühl für Jakl. Sie musste achtgeben, dass er nicht krank wurde. Erst mal bereitete sie ihm ein Nest aus ihrem Mantel und ein paar Kissen in einem Sessel. Mit roten Bäckchen nuckelte er im Schlaf. Vorsichtig schob sie den Sessel vom Teppich ins Eck hinter ihren Schreibtisch, darauf bedacht, keine Kratzer im Parkett zu machen.

Eine Weile stocherte sie im Kanonenofen, dessen Rohr sich über die Wand zog, und legte Briketts nach. Bald prasselte das Feuer, und eine angenehme Wärme breitete sich aus.

Vicki legte den Hut ab, zog die Handschuhe aus. Bevor sie sich an den Schreibtisch setzte, rückte sie Bluse und Rock gerade, drückte auf den Schalter der Lampe mit dem grünen Glasschirm und schlug die Mappe auf. Als Erstes verschaffte sie sich einen Überblick. Ihr gefiel es, morgens, bevor der Betrieb losging, schon im Bureau zu sein. Ihr Vorzimmer war im Vergleich zu ihrer Kammer in der Au der reinste Salon. Um diese Zeit kam noch keiner aus der Buchbinderei, die sich im Parterre befand, mit irgendeinem Anliegen herauf. Weder klopfte eine Kundschaft, noch läutete das Telephon, das der Herr Prinzipal als einer der wenigen betuchten Teilnehmer am Fernsprechnetz sein Eigen nannte.

Sie hob den Deckel ihrer Maschine ab und schob ihn unters Regal. Dann strich sie über die Tasten, holte einen Pinsel aus der Schublade und tupfte den Staub von der Walze. Bei nächster Gelegenheit sollte sie die Typen reinigen. Die Mercedes war ihr ganzer Stolz und sicherte ihnen die Existenz. Letztes Jahr hatte ihr Jakobs Vater Geld gegeben, zusammen mit einer Adresse. Statt zur Engelmacherin zu gehen, hatte sie sich die Schreibmaschine gekauft. Sich den Rest der Schwangerschaft beim Üben die Finger wund getippt. Kurz vor Jakls Geburt beherrschte sie das Zehn-Finger-System und schaffte zweihundert Anschläge pro Minute. Prinzipal Schall war von der Neuerung angetan, als sie sich samt Mercedes bei ihm vorstellte. Besonders von der Möglichkeit der Vervielfältigung dank Kohlepapier. Vickis Vorgängerin hatte ausschließlich handschriftliche Briefe verfasst.

Zeit, loszulegen. Sie holte einen Rechnungsvordruck aus der Schublade, zog ihn ein und begann zu tippen. Dabei schaute sie immer wieder zu Jakob. Er schlief selig in seinem Nest, trotz des Lärms, den sie mit jedem Buchstaben und jeder Zahl machte. Scheinbar beruhigte ihn das Klappern und Klingeln, Schnurren und Rattern der Mercedes. Kein Wunder, er war es gewohnt. Mit seinen roten Bäckchen und seinem Flaumhaar, das unter der Mütze hervorlugte, war er zum Anbeißen niedlich und ihr größtes Glück. Leider hatte er fast die ganze Nacht geweint und sie dementsprechend wenig geschlafen. Gott sei Dank war das Fieber zum Morgen hin gesunken. Bestimmt zahnte er nur, sie hoffte es jedenfalls.

Was, wenn er doch ernsthaft krank war? Kurz lauschte sie auf seinen Atem, doch der hörte sich gleichmäßig an. Und jetzt froaßelte Jakl sogar, wie Tante Otti es nannte, wenn seine Mundwinkel im Schlaf zuckten, als ob er lächelte. Offenbar träumte er von was Lustigem. Vicki atmete tief durch. Dann hatte das, was er bei der Nachbarin erlebt hatte, hoffentlich keine Spuren hinterlassen. Ans Geländer im Hausflur gebunden hatte Vicki ihn vorgefunden, als sie ihn am Abend zuvor abholen kam. Mit einem Strick um den Bauch, wie ein Wachhund. Dreckverschmiert hatte Jakob sie angegrinst, wollte sich gerade noch mehr aus den Ritzen der Dielen herauskratzen und in den Mund stecken, als sie die Treppe hochstürmte und ihn erlöste.

»Ich war doch bloß kurz im Speicher zum Wäscheaufhängen«, behauptete die Witwe Salzer, als Vicki sie zur Rede stellte. »In der Küche kann ich ihn nicht lassen, da kriecht er mir noch zum Herd und fasst in die Glut.« Nicht mal gewickelt worden war er. »Mei, ich komm halt einfach nicht hinterher, Fräulein.«

Zusätzlich zu ihren drei eigenen versorgte die Witwe noch zwei weitere Kostkinder, wobei man in ihrer Ein-Zimmer-Behausung im Herbergsviertel eher von Aufbewahren als von Versorgung sprechen musste. Hätte Vicki das doch nur vorhergeahnt. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als der Witwe zu vertrauen. Tagsüber musste sie ihren Sohn irgendwo unterbringen. Die vorige Koststelle, bei einer ständig hustenden und schnupfenden Amme, war auch nicht besser gewesen. Bis sie eine neue fand, hatte sie deshalb keine andere Möglichkeit gesehen, als ihr Kind mit ins Bureau zu nehmen.

Sie tippte schneller, übertrug die einzelnen Posten, die Schall auf einen Zettel gekritzelt hatte, ohne auf die Tasten zu sehen, ins Formular. Moment, war das ein A, im Sinne von à als Mengenangabe, oder war das ein U mit Punkt, als Abkürzung für Umfang? Welcher, der einer Papierrolle? Der Prinzipal schmierte aber auch. Vicki hielt den Zettel ins Licht, hörte über sich Schritte. Auf dem Regulator war es erst halb sieben. Vermutlich kam Schall früher als sonst herunter und verlangte sie zum Diktat. Wie sie ihm das mit Jakl erklären sollte, wusste sie noch nicht. Sie hoffte auf Milde. Erneut ertönten Schritte, dann ein dumpfer Schlag, als ob im Stockwerk über ihr etwas heruntergefallen war.

Jakob schreckte auf, verzog den Mund und fing zu weinen an. »Da war nichts.« Sie beugte sich zu ihm und streichelte ihn. »Schlaf mein Kindchen, schlaf mein Schäfchen …« Rasch stimmte sie das uralte Lied an, das ihre Mutter immer gesungen hatte, und hoffte, dass er wieder einschlief. Aber Jakob streckte die Ärmchen aus der Decke, quengelte weiter und wollte hochgenommen werden. »Du hast doch nicht schon wieder Hunger?« Sie hatte ihn fast die ganze Nacht gestillt. Na, gut. Seufzend knöpfte sie ihre Bluse auf und legte ihn an. Jakob trank, hielt mit der Brustwarze im Mund inne und grinste, als ob er sich freute, dass er so einfach und schnell seinen Willen durchgesetzt hatte. »Du bist mir einer.« Sie spürte seine Händchen auf ihrer Haut am Rücken. Es gab nichts Schöneres als ihn und ihre Zweisamkeit.

Jemand riss die Tür auf. »Siehst du, ich hab’s dir gesagt, ich hatte recht. Die Kokotte hat ihr Balg dabei.« Es war die Frau Prinzipal. Wie eine Furie stob sie herein. »Und so etwas soll deine Empfangsdame sein? Ich hab sie vorhin gesehen, als sie hochgeschlichen ist. Oder haust sie hier sogar?« Sie schaute sich um. »Jedenfalls hockt sie hier mit entblößtem Obergestell. Ekelhaft, wenn das die Kunden zu Gesicht kriegen! Adam, so tu doch was.«

Hinter seiner Frau trat Schall ein, wenigstens er grüßte zuerst. Vicki hatte Jakob längst abgedockt und sich bedeckt. »Guten Morgen zusammen, bitte verzeihen Sie.« Sie stand auf. »Es ist nur eine Ausnahme, bloß heute, versprochen, ich hatte keine andere Wahl, und …« Vicki hielt inne, sie wusste, sie redete sich hier um Kopf und Kragen. Jakl maulte, so plötzlich von der Brust gerissen, ein Milchfaden lief ihm übers Kinn. Sie legte ihn sich auf die Schulter und ging umher, klopfte dabei sacht seinen Rücken. Prompt spuckte er in hohem Bogen auf den Teppich, bespritzte der Prinzipalin die Schuhspitzen, die unter der schwarzen Spitzenbordüre ihres Rocks hervorlugten.

»Oh, Verzeihung. Ich reinige das sofort. Warten Sie.« Vicki wollte Jakl ablegen, zögerte noch, wusste nicht, wohin mit ihm.

»Minerva, du kannst nach oben gehen, ich regle das.« Sanft schob Schall seine Gattin, die noch nach Atem rang, zur Tür hinaus und reichte Vicki ein Schnäuztuch.

»Danke.« Sie wischte erst Jakob damit sauber und dann alles andere, so gut es ging. »Wie gesagt, Herr Schall, es tut mir leid. Ich …« Das Muster des Teppichs verbarg das meiste. Halb so schlimm.

»Hören Sie auf, das kann später die Putzfrau erledigen. Setzen Sie sich.«

Das tat sie, mit Jakob auf dem Schoß. Schall nahm auf einem der Besuchersessel ihr gegenüber am Fenster Platz. »So, so, Sie sind also Mutter, aber doch hoffentlich zumindest verlobt?«

Sie verneinte. Mehr zu erklären gab es nicht, jedenfalls nicht dem Prinzipal gegenüber.

»Das ist aber ein goldiges Butzerl, wie alt?«

»Bald sieben Monate, Jakob heißt er.«

»Ich gratuliere. Ich hätte auch gerne einen Sohn gehabt, aber leider …« Er strich sich über die Bartspitzen und schlug die Beine übereinander.

»Wollen Sie ihn mal halten?« Hoffentlich war das Schlimmste noch abzuwenden, doch er schüttelte den Kopf.

»Besser nicht, sonst lasse ich ihn noch fallen, unerfahren, wie ich mit Kleinkindern bin.« Er streckte die Hände aus, als wollte er sie abwehren, falls sie ihm zu nahe kam. »Reden wir lieber über das Wesentliche. Abgesehen davon, Fräulein Widhopf, dass Sie mein Frühstück unterbrochen und Minerva zu Tode erschreckt haben.« Er holte Luft. »Warum um Himmels willen schleichen Sie sich in aller Herrgottsfrühe schon ins Bureau? Zuerst dachten wir, es wäre ein Einbrecher und wollten die Polizei verständigen.«

Ach, das war das Problem! Erleichterung durchflutete sie, vielleicht war doch noch nicht alles verloren. »Es war Ihre Idee, erinnern Sie sich? Sie haben mir einen Schlüssel anvertraut und gesagt, damit ich kommen und gehen kann, wann ich will.«

»Mag sein, aber gemeint habe ich eher, dass Sie dennoch die Geschäftszeiten einhalten und hinter mir zusperren. Sie haben doch nicht wirklich hier genächtigt?« Er betrachtete das Nest im Sessel mit Jakobs Deckchen und ihrem zerknautschten Mantel.

»Nein, wir wohnen nach wie vor zur Miete in der Quellenstraße.« Es war mehr zur Untermiete, ein einziges Zimmer, kaum sieben Quadratmeter groß.

»Aber ich wusste nichts über …« Er deutete auf Jakob. »Also, Ihren …« Jetzt rang er mit sich. »Familienstand. Sie haben mich belogen. Ich bin enttäuscht von Ihnen. Es tut mir leid, deswegen muss ich Sie …«

»Sie hätten mir die Stelle nie gegeben, wenn Sie von meinem Kind gewusst hätten«, unterbrach sie ihn mit dem Mut der Verzweiflung. »Ich leiste doch gute Arbeit, oder nicht?« Erst am Vortag hatte er sie gelobt, als sie aus seinem Gestammel beim Diktat einen brauchbaren, ja eloquenten Brief an den erlauchten Advokaten Brockhoff verfasst hatte, der alle Drucksachen seiner Großkanzlei bei Schall herstellen und binden ließ. »Bitte«, setzte sie noch hinzu. Sie brauchte diese Arbeit. Vicki holte den kleinen, abgewetzten Stoffelefanten aus dem Nest und hielt ihn Jakob entgegen, schuckelte ihn auf den Knien. Er gluckste, brabbelte »Ete« und grapschte nach ihm. Es klang fast, als wollte er ihre Bitte unterstreichen.

Schall klopfte auf die Armlehnen des Stuhls, als würde er einen Punkt eintippen, und erhob sich.

»Wahrlich, eine Schreibkraft wie Sie ist schwer zu finden, aber ich habe einen Ruf zu verlieren.«

War das nicht ein bisschen hoch gegriffen? Was scherte es die Kundschaft, in welchen Verhältnissen die Angestellten lebten, solange die Bestellung zu ihrer Zufriedenheit ausfiel? Das Telephon läutete. Nicht ihr Apparat im Vorzimmer, sondern Schalls eigener Anschluss in seinem Bureau.

»Machen wir es kurz, Fräulein Widhopf.« Er drehte an seinem Ehering. »Mir sind die Hände gebunden, ich muss Sie entlassen. Fristlos. Dafür kann ich Ihnen ein gutes Zeugnis schreiben. Kommen Sie Ende der Woche, um Ihre Papiere abzuholen, bis dahin werde ich hoffentlich jemand Neues finden.« Er eilte nach hinten, wo es weiter klingelte.

Eine Zeitlang blieb Vicki wie angenagelt sitzen und überlegte. Wollte diesem Gefühl von Taubheit etwas entgegenbringen. Was sollte sie tun? Warten, bis er sein Gespräch beendet hatte, und ihn noch mal anflehen? Einfach aufgeben und gehen? Eine Widhopf gab nicht auf. Sie hörte schon ihren Vater, wenn sie ihm davon erzählte. Trommeln, trommeln, trommeln, das war sein Lebensmotto, sich immer wieder Gehör verschaffen. Nur so kam man zu etwas. Aus der Ferne war es leicht, Moralpredigten zu halten. Doch sie wusste es selbst, spürte tief in sich, dass sie kämpfen musste. Das wäre doch gelacht. Sie hatte schon so viel geschafft, schlug sich bereits durch den zweiten Beruf, und das mit gerade mal sechsundzwanzig, noch dazu als Frau. Wer weiß, wohin ihr Weg sie noch führen würde. Aber man musste sich seine Kämpfe gut aussuchen, und hier war vielleicht nicht der richtige Ort dafür. In diesem Bureau, in dem man sie beliebig austauschte, wo sie die Gattin des Prinzipals nach vier Monaten immer noch nicht direkt ansprach, sondern sie in der dritten Person beschimpfte, als wäre sie eine Dienstmagd vom untersten Rang. Vicki setzte ihren Sohn auf den Teppich, wo er mit »Ete« weiterspielte, bis sie ihre Sachen zusammengepackt hatte.

Sie verschloss die Mercedes mit dem Deckel, der einen Tragegriff hatte, hakte die beiden Bureauschlüssel von ihrem Bund und legte sie auf die Schreibtischplatte, auf der vorher ihre Maschine gestanden hatte. Dann nahm sie ihr Kind auf die Hüfte und ging. In der Nische unter der Treppe hatte sie den Kinderwagen abgestellt. Ausnahmsweise quengelte Jakob nicht, als sie ihn hineinlegte. Die Schreibmaschine stellte sie zu seinen Füßen, was das Gestell gehörig niederdrückte. Erst ließ der Wagen sich kaum bewegen, dann quietschte er verdächtig auf den Fliesen, und die Räder wackelten, als sie ihn kräftig anschob. Hoffentlich brach die Achse nicht unter dem Gewicht. Das konnte sie jetzt nicht auch noch brauchen. Sie stemmte sich gegen die schwere Haustür und machte sich daran, den Wagen über die drei Stufen nach draußen zu bugsieren, ohne, dass alles kippte und Jakob herausfiel.

»Warten Sie.« Buchbinder Schrimp, ein älterer Herr, der an einer Nackenversteifung litt und nur schwer den Kopf heben konnte, kam ihr aus der Werkstatt zu Hilfe und packte mit an.

»Ist das Ihr Kleines, ich wusste nicht, dass Sie …?«

Sie taten alle so, als wäre sie die erste Frau auf der Welt, die ein Kind bekommen hatte. Allerdings war Herr Schrimp stets freundlich zu ihr gewesen. Überhaupt hatte sie sich in der Firma Schall wohl gefühlt. Die Arbeit als Schreibkraft war zwar kein Ersatz fürs Unterrichten, das sie Jakob zuliebe hatte aufgeben müssen. Aber immerhin hatte sie mit Schreiben und mit Leuten zu tun gehabt, was ihr lag. Allein im stillen Kämmerlein zu versauern, würde ihr nicht behagen. Abgesehen davon, dass sie Geld verdienen musste. Also ging heute alles von vorne los. Sie war wieder auf der Suche.

Oben wurde ein Fenster aufgerissen. »Frau Widhopf, kommen Sie doch bitte noch mal rauf.« Es war Schall. Was wollte er noch? Hatte sie etwas vergessen? Vicki zögerte, schaute Schrimp an, der den Kinderwagen auf dem Gehsteig abgesetzt hatte. Jakob in Schräglage juchzte, als befände er sich in einer Schiffschaukel, und streckte die Beinchen hoch.

Schon hörte sie Schritte auf der Treppe, Schall hastete herunter und holte sie ein. »Ein Glück, dass ich Sie noch erwische. Morgen, Herr Schrimp.«

»Schön’ guten Morgen, Herr Prinzipal.«

Sie stellten Jakob samt Wagen draußen ab, und Schrimp lupfte seine Kappe zum Gruß, was durch seine Verkrümmung gleichzeitig wie eine Verbeugung wirkte. Vicki dankte dem Buchbinder, bevor er wieder in der Werkstatt verschwand.

»Ich hätte ein Angebot für Sie.« Schall strahlte sie an. »Von meinem Freund Breuer, also Dr. Breuer.«

»Hat ein Arzt mehr Verständnis für die Situation einer ledigen Mutter und will mich als Stenotypistin einstellen?« Vicki sprach aus, was sie dachte, zu verlieren hatte sie nichts mehr.

»Äh, Breuer ist kein Mediziner, es handelt sich um den Reichsrat, er ist Doktor des Rechts.«

Ach, der, sie nickte, jetzt fiel es ihr ein. Breuer war einer der Kunden, der all seine selbstverfassten Ergüsse binden ließ. Darunter Gedichte über das Weib und die Natur, in denen sich ein Darunter auf Wunder reimte und die er alle mit »JvB« signierte.

»Sie sollen ihn in die Sommerfrische begleiten, nach Oberammergau, wo er an seiner königlichen Landtagsrede feilen will. Er hat mich gefragt, ob ich jemanden wüsste, der mehr als eine Tippmamsell sei.« Was für ein Kompliment, hoffentlich bezog sich das verlangte Mehr nur aufs Schreiben. »Sie können so etwas, Fräulein Widhopf. Ihnen fallen bestimmt die richtigen Wendungen ein. Also, wie wäre es? Ihren Stundenlohn rechne ich hinterher ab, dazu freie Kost und Logis. Das Ganze natürlich ohne …« Er wies auf Jakl. »Dafür wird sich doch eine Lösung finden, oder?«

Agnes

München – Haidhausen