Morgenreport - Martin Wolkner - E-Book

Morgenreport E-Book

Martin Wolkner

0,0

Beschreibung

Es ist 2002 und über eine Million Menschen feiern den EuroPride in Köln. In dieses Getümmel stürzen sich die drei besten Freunde Disco, Jazz und Spray. Sie sind junge Singles, schwul, lesbisch und hetero und definitiv in Flirtlaune. Ob beim Straßenfest in der Altstadt, beim Ausgehen auf CSD-Partys oder während der Parade am Sonntag, unweigerlich verlieben und verlieren sie sich in der Menge. Doch spätestens beim gemeinsamen Frühstück müssen sie einander von den Solo-Abenteuern berichten, die ihnen widerfahren sind... Direkt im Nachgang an den EuroPride verdichtete der damals 22-jährige Anglistik- und Germanistikstudent Martin Wolkner ("Vollmondbraut") in seinem erstgeschriebenen Roman "Morgenreport" wahre Begebenheiten und frische Eindrücke in dramatisierter Form. Somit darf das 2019 erstmalig erscheinende Frühwerk als authentischer Rückblick auf das Ausgehverhalten paarungswilliger queerer Großstädter in Zeiten vor Smartphones, Dating-Apps und sozialen Plattformen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



inspiriert von wahren Begebenheiten*

*Die in diesem Buch geschilderten Geschichten sowie alle Namen und Charaktere sind frei erfunden. Keine Identifikation mit tatsächlichen Personen (lebenden oder verstorbenen), Ereignissen, Orten und Produkten ist beabsichtigt oder sollte daraus abgeleitet werden. Die Darstellung von Alkoholkonsum beruht ausschließlich auf künstlerischen Abwägungen und soll nicht dafür werben. In der Anfertigung dieses Buches wurden keine Tiere verletzt oder getötet.

für Jan*

*Name geändert

Vielen Dank an Michael Zgonjanin, der die erste Pride-Veranstaltung in Köln, den Gay Liberation Day von 1979, mitorganisierte, damit den Grundstein für dieses Buch legte und noch so viel mehr ins Leben rief.

Über den Autor:

Martin Wolkner wurde 1980 im Ruhrgebiet geboren, studierte englische und deutsche Sprachwissenschaften, Film/Fernsehen sowie zusätzlich ein bisschen Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und University of Hull.

Er war als Übersetzer, Journalist, Filmkritiker, Untertitler und Leiter des Filmfests homochrom in Köln und Dortmund sowie des Litfests homochrom in Köln tätig.

2015 erschien sein Roman "Vollmondbraut" von 2009.

2019 folgte neben dem Roman "Morgenreport" von 2002 auch der Gedichtband "immer (noch) wahr – 80 Gedichte" sowie die Novelle "Wo Wolken enden" von 1999-2000, welche als "Where Clouds End" in Englisch verfügbar ist.

INHALT

Vorreport

Eine hitzige Hinfahrt

Ankunft in Kölle

Blaues Einkaufen

Frauendelikatessen unserer Kindheit

Fertigmachen für den Abend

Freitagnacht, Disco-Zeit

Resultate und Disco-Bekanntschaften

Samstagmorgenreport

Es kommt langsam in die Gänge

So was kommt nicht ins Gepäck

Kopfüber in die wichtigste Nacht

Die Nacht der Nächte

Auf der Suche nach meinem Glück

Odyssee durch Zeit und Raum

Der Report zum Sonntag

Auf zur Paradenbasisstation

Bunte Wagen und Menschen

Pride-Village, das Abschlussfest

Heimweg? Nur einer

Speisung junger Erwachsener

Das letzte Abenteuer

Montagmorgenreport

Das große Picknick

Nachreport

Vorreport

Verdammt, war das ein Sommer!

Und dieses eine Wochenende, das CSD-Wochenende, vielmehr das EuroPride-Wochenende in Köln, von dem ich hier berichten werde, hatte es ganz speziell in sich.

Wir waren jung, wir waren Singles und wir wollten einfach nur eine gute Zeit haben. Und die hatten wir – und wie!

Wir drei waren schon ein tolles Gespann: Jazz, Spray und ich.

Jazz ist meine beste Freundin, ein Jahr älter als ich und heißt eigentlich Jasmin. Jazz war natürlich zuerst eine simple Verkürzung, aber dann fanden wir Jungs heraus, dass sie Jazz-Musik von ganzem Herzen verabscheute und sich zumindest anfangs maßlos ärgerte, wenn wir sie so nannten. Aus dem Grund riefen wir sie nur umso häufiger bei diesem Spitznamen.

Leider – oder eigentlich zum Glück – war sie vor knapp drei Jahren zum Studium nach Köln gezogen. Deswegen, und weil sie ihrer Meinung nach in einem vorigen Leben in der Domstadt gelebt hatte, nannten wir sie auch mundartlich dat Cöllsche. Nachdem ich nur wenige vergangene Männergeschichten aus ihr hatte herauskitzeln können – sie hatte unter anderem eine kurze Affäre mit einem stinkreichen Jungunternehmer, der sie immer auf irgendwelche High-Society-Partys mitgeschleift hatte – verfiel sie sofort dem Charme der Homohauptstadt und einer ganz besonders hübschen jungen Dame, Sarah, mit der sie auf Anhieb zweieinhalb Jahre zusammenblieb. Das heißt, bis sich Sarah in diesem Frühjahr aus bislang unbekannten Gründen von ihr trennte.

Sarah begann am Montagmorgen nach einem extrem romantischen Wochenende Ende Mai zu weinen und erzählte Jazz nach einer halben Stunde Flennerei irgendeinen unsinnigen Stuss, der so viel wie eine Trennung darstellte. Jazz rannte aus ihrer Wohnung und rief mich umgehend an. Ich ließ, ohne zu zögern, meine Vorlesung sausen und fuhr sofort zu ihr nach Köln, um sie aus der Obhut einiger ihrer dortigen Freunde abzuholen, sie zu trösten und zu ihren Eltern in unserer gemeinsamen Heimatstadt im Ruhrgebiet zu fahren. Ich trommelte Spray an diesem Abend hinzu und wir versuchten, sie abzulenken, indem wir gemeinsam in jenes Kino gingen, in dem wir drei uns vor vielen Jahren bei einer Überraschungspremiere kennengelernt hatten, und dort eine Komödie nach Jasmins Wahl anschauten.

Alex ist mein bester Freund und durch und durch hetero. Seinen Spitznamen Spray hatten wir ihm verpasst, als er sich einmal eine komplette Dose Haarspray auf seinen Kopf sprühte, weil er sich eine Playmobil-Frisur machen wollte. Seine Frisur hatte wirklich so ausgesehen wie die jener Plastikfiguren, jedoch hatte ich große Befürchtungen gehegt, dass seine Haare abbrechen könnten. Als wir am nächsten Morgen in Jasmins Wohnung aufwachten, saß seine Frisur nach wie vor bombensicher, als wäre er aus einer Werbung entsprungen: "Ruhrpott – stürmische Nacht – perfekter Halt". Nachdem er sich fünfmal die Haare gewaschen hatte, war das Zeug noch immer nicht gänzlich entfernt.

Alex hat manchmal autoritäre Anfälle, weshalb wir ihn auch den Major nennen. Er war in jenem Sommer auf der Zielgeraden seiner Ausbildung als Landschaftsgärtner, hatte also noch nicht zum Militär gemusst. Ob er seiner Einberufung folgen oder wie ich verweigern würde, konnten Jazz und ich beim besten Willen nicht vorhersehen. Selbst Spray war sich manchmal nicht ganz so sicher, ob er zur Bundeswehr gehen sollte. Er hatte zwar einen Hang zu Machthierarchien, sah andererseits wenig Sinn in einem Zwangsdienst für ein Volk, dass keine offizielle Armee haben durfte und zwei Weltkriege angezettelt hatte.

An jenem Montagabend, als wir drei aus dem Lichtspielhaus heraustraten und unsere Mobiltelefone wieder anschalteten, klingelte nach einem kurzen Augenblick eines unserer Handys. Es war Sprays – eine SMS seiner Freundin Mareike, mit der er seit einem Jahr zusammen war. Sie schrieb: "ICH LIEBE DICH NICHT MEHR! ES IST AUS! ICH VERLASSE DICH! HOLE SA MIT MEINEM NEUEN SASCHA MEINE SACHEN AB. ER VERSTEHT MICH – DU NICHT!"

Da hatten wir gerade Jazz aufgepäppelt und mussten nun Spray auffangen. Er verlangte, sofort einen Trinken zu gehen, und ich gab mir die größte Mühe, ihn und die weiterhin selbstmitleidige Jazz abzulenken und aufzumuntern. Meine Mühe war vergebens, denn als die beiden stockbesoffen waren, bekamen sie erst recht einen Heulkrampf und ich musste sie mit viel Zerrerei in mein Auto bugsieren und zu Alex fahren.

Ich bin Ben. Hin und wieder werde ich von Spray Kleiner genannt. Er ist zwar ein klitzekleines Stückchen größer als ich, aber ein Jahr jünger. Meistens bin ich für die beiden jedoch Disco. Warum, das weiß ich nicht mit Gewissheit, den bislang wollten die beiden mich nicht in ihr Geheimnis einweihen. Es könnte daran liegen, dass ich ihnen mal einen Disco-Toaster gezeigt habe (fragt lieber nicht!). Ausschlaggebender war aber höchstwahrscheinlich, dass ich die beiden schon lange vor Jazz' Konvertierung ständig in irgendeine Disse mitschleifen wollte. Als ich die beiden wegen Hildegard Knef endlich so weit hatte, mit mir zum überwältigenden Gay Happening in die Königsburg zu gehen, gab es keinen Halt mehr und ich konnte sie zu jeder Homoparty in der Gegend mitnehmen: Ob zur guten alten Boys im Bahnhof Langendreer, zur ledrig-harten Mandanzz in der Zeche Carl, Cruise & Queer im Ringlockschuppen, Doppelherz in der Lindenbrauerei, Freezone in der alten Thier-Brauerei, zur punkigeren bang! in Oberhausen, auch mal zur Don't Tell Mom! in Bonn oder zur Emergency in Münster und selbstverständlich ins neue Lulu III in Köln. Jedes Wochenende gab es irgendwo anders etwas zu feiern. Und wenn wir unter der Woche noch immer nicht genug hatten, gingen wir manchmal mittwochs ins Kölner Neuschwanstein, donnerstags ins legendäre Café Rosa Mond in Düsseldorf, welches älter als selbst dat Cöllsche war, oder an Freitagen zur 70er-80er-Party, denn dann war das Stargate in Bochum am erträglichsten. Wir waren viel unterwegs, sehr viel, denn die riesige Metropolregion Rhein-Ruhr war unsere Dorf.

Spray liebte die Atmosphäre und meistens auch die Musik auf den Schwulenpartys und gierte förmlich nach mehr. Leider konnte ich ihnen das alte Lulu II nicht mehr zeigen. Das hätte ihm gefallen. Eine meiner ernsthafteren Theorien ist, dass Mareike, nie um eine Ausrede mitzukommen verlegen, Alex insgeheim zu schwulenfreundlich fand, um ihn für hetero zu halten. Mein Freund hingegen ging gerne mal mit, aber der war ja auch schwul.

Am Dienstag nach jenem schwarzen Montag besuchte ich wieder regulär die Uni und fuhr anschließend freudig zu Dennis nach Duisburg, um mit ihm unser beider Rekordjubiläum von elf Monaten zu zelebrieren. Ich hatte extra eine besondere Überraschung für ihn im Gepäck, er allerdings für mich eine noch viel größere in petto: An der Tür nahm er mich in den Arm, drückte mich so fest, als wolle er mich nie wieder loslassen, hieß mich dann aber hinzusetzen. Er fragte, ob ich bemerkt hätte, dass er mich nicht geküsst hatte. In böser Ahnung begann ich zu heulen und er sagte mir, ich sei zwar der einzige Mann, mit dem er sich vorstellen könne, für immer zusammen zu bleiben, aber nicht zu dieser Zeit; ich wäre ihm noch zu jung und nicht unabhängig genug. Er war immerhin schon achtundzwanzig und fertigstudiert.

Nach einigen lethargischen Stunden auf Dennis' Sofa raffte ich mich entschlossen auf. Es war schon spät. Ich fuhr direkt zu Sprays schmucker kleiner Wohnung, die seine Eltern bezahlten. Jazz war bei ihm und sie hielten gerade ein Nachtmahl bei alten Schnulzen auf Video ab. Ich klagte meinen Kummer bei einer Tasse heißen Kakaos und durfte mir den nächsten Film aussuchen. Ich wählte 'Die Farbe Lila' und greinte den ganzen langen Film und die ganze Nacht durch.

Vielleicht war es nur ein Zufall, dass wir drei praktisch zur gleichen Zeit Singles wurden, aber wir vermuteten eher, dass es an den Sternen lag, denn in unserem Freundeskreis gingen noch so einige andere Beziehungen in dem Zeitraum kaputt. Einen weiteren Hinweis dafür fanden wir ein paar Tage darauf in der Überschrift einer Boulevardzeitung, in der stand, dass zu dieser Zeit fast die gleiche Sternenkonstellation herrschte wie im Spätsommer davor, als die Türme des World Trade Centers nach der Flugzeugattacke lebensmüder Terroristen wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen waren und uns wie den Rest der Welt in Angst und Schrecken gestürzt hatten.

Nach ein paar Tagen Trauerzeit saßen wir samstags wieder in Jazz' Miniapartment zusammen und standen vor einer Entscheidung: weiterhin Trübsal zu blasen oder das Leben zu genießen, auszugehen und Spaß zu haben. Wir entschieden uns fürs Tanzen. Bei keinem von uns brauchte dies viel Überzeugungsarbeit. Zwar fiel es uns an diesem Abend noch recht schwer, unsere neugewonnene Freiheit zu genießen, aber es war ein Anfang.

Wir entschieden uns, etwas in unserem Leben zu ändern: Jazz, typisch für Frauen nach einer Trennung, ließ sich ihre Haare ganz kurz schneiden und blonde Strähnen hineinfärben; weil Spray meinte, er müsse mal etwas unternehmen, um Frauen besser zu verstehen, begann er Reitunterricht zu nehmen; und ich stürzte mich in die Lektüre interessanter Bücher über Buddhismus, um Zen-Gelassenheit zu finden, und trank nach vielen Jahren – ich war sonst meist der Chauffeur vom Dienst – zum ersten Mal wieder Alkohol beim Weggehen, da wir viel häufiger in Köln ausgingen und dort kein Auto benutzten.

Spray und ich hatten unsere Exen nach der Trennung nicht mehr wiedergesehen, weil wir ja vermehrt in Köln unterwegs waren, wo man weder Mareike noch Dennis antraf. Zudem wohnte Dennis in einer ganz anderen Stadt als ich und Spray verstand sich darauf, jene Orte und Freunde zu meiden, wo Mareike gewohnheitsmäßig abhing. Bei Jazz gab es hingegen einige Szenen, weil sie Sarah nicht verbieten konnte, in Köln wegzugehen, und sich ihre Wege einige Male kreuzten, wo alte Emotionen hochkochten, Eifersüchte brodelten und neue Vorwürfe aufgetischt wurden. Manchmal fand man die beiden nach einem Streit auch in einer Ecke – einmal sogar mitten auf der Tanzfläche – knutschend ineinander verschlungen; manchmal mussten Freunde die beiden auseinander bringen, damit es zu keiner Schlägerei kam. Es war für die beiden eben nicht so einfach, mit langgehegten Gefühlen abzuschließen, und die ungeplanten Wiedersehen rissen die Wunden immer wieder auf.

Das ganze späte Frühjahr war aus den Fugen. Zu diesen Beziehungskisten ereignete sich noch einiges anderes, das uns neu war, uns forderte oder Laune bereitete. So waren Jazz und ich beispielsweise in den Studentenstreiks im Juni gegen die von der NRW-Regierung geplanten Studiengebühren aktiv, liefen mit anderen über die Straßen von Köln, Düsseldorf, Duisburg und Bochum, besetzten Parteibüros (ja, echt!) oder machten uns während der mehrwöchigen Streiks mit Spray ein paar schöne Tage bei einem verlängerten Wochenende im sonnigen Amsterdam.

Ja, zugegeben, nicht alles war gut in diesem Jahr. Einige Wochen vorher gewann eine vergessenswürdige lettische Sängerin den ESC mit einem Lied, dessen Refrain wie eine Latinopop-Raubkopie von "Daylight in Your Eyes" klang, wohingegen die Eurovisionsnation nach einigen deutschen Top-Ten-Jahren dank Guido, Stefan, Michele sowie der Türkpop-Eintagsfliege Sürpriz mit einem Ralph-Siegel-Lied blamiert wurde, das Corinna May vortrug. Zwischenzeitlich verspielte zudem das deutsche Team das WM-Finale in Japan gegen Brasilien, aber wen interessierte schon Fußball?

Doch dann begannen am 15. Juni die EuroPride-Wochen in Köln. Wir waren an diesem Tag allerdings auf einer Studi-Demo in Duisburg – ohne Dennis zu begegnen. Darum legten wir erst am Sonntag mit einem Tag Verspätung auf der Angel-Party im Downtown los. Dies läutete all dem unwichtigen Stuss zum Trotz den schönsten und amüsantesten Sommer ein, den wir je erlebt hatten und bei dem das CSD-Wochenende eigentlich nur einen von vielen Höhepunkten darstellte.

2002 war unser Sommer!

Eine hitzige Hinfahrt

Spray und ich saßen im Auto. Spray fuhr und ich genoss es, Beifahrer zu sein, denn wir standen im Stau. Zum Glück lief tolle Musik im Radio, die Sonne schien und wir unterhielten uns gut.

Na ja, um der Wirklichkeit gerecht zu werden, sollte ich es wohl etwas anders beschreiben: Der Stau war mehr ein zäh fließender Verkehr, aber so zäh wie das Kaugummi sein musste, an dem Spray sich seine Zähne abbiss, ein ständiges stop and go. Gewohnheitsmäßig fuhren wir nur auf der linken Spur, ob Vollgas ohne Stau oder kriechend wie jetzt. Die Sonne brannte durch die Windschutzscheibe und ließ uns schwitzen. Außerdem war ich der schlimmste Beifahrer, den man sich nur vorstellen kann, unerträglicher als eine geifernde Schwiegermutter.

Dies war einer der ersten richtig warmen Frühsommertage. Wir waren dieses plötzlich angenehme Wetter noch nicht gewöhnt und es heizte das Dach und somit den Innenraum auf, so dass wir es weniger angenehm empfanden, als es eigentlich war. Ich hatte mich schon aus meinen Klamotten gepellt und sie blindlings auf dem Rücksitz verteilt. Im flotten Tempo der Musik schwang ich meinen Körper hin und her, was mich noch mehr aufheizte. Aber Spray war es noch unerträglicher in seinem Pullover.

"Übernehm mal das Steuer!", kommandierte er, ließ das Lenkrad los und zog sich mit viel Fummelei den Pulli über den Kopf, während ich gezwungenermaßen zu tanzen aufhörte und an das Lenkrad griff, um den Wagen unter Kontrolle zu halten, denn Spray war gerade wieder angefahren und nun eierten wir hinter der Kolonne her. Spray nestelte an den Ärmeln herum und warf, nachdem er es endlich abgestreift hatte, sein Kleidungsstück sorglos über die Schulter und übernahm wieder das Steuer des gebrauchten Landrovers – er musste ja schließlich auch mal sperrige Pflanzen transportieren. Ich war meinen Kleinwagen so sehr gewohnt, dass es mir vorkam, als säßen wir in einem LKW oder Panzer.

Ich beobachtete meinen Kumpel von der Seite, begutachtete singend sein Profil. Das Gesicht war ideal für einen Scherenschnitt, nur die Nase war einen kleinen Tacken zu eckig, aber es passte einfach zu ihm. Sein Körper war gut trainiert, weil er wusste, dass die Frauen das mochten. Und tja, wir Schwulen ja auch.

"Was ist denn das, Spray? Bist du aber schlampig!" Ich hatte ein Loch unter Alex' Arm gefunden und bohrte darin herum, ihn in die Seite pieksend.

"Hey hey, lass das, Kleiner! Du irritierst mich!", ermahnte er mich.

Ich war euphorisch und pulte weiter. Spray zuckte und warf mir einen grimmen und zugleich lachenden Blick zu.

"Du bist doch sonst immer so gut angezogen. Oder ist die Lüftung der neueste Schrei der Designersommermode?"

"Lass doch! Ich muss auf den Verkehr achten."

"Aber ich bin doch am Steuer!"

Wir ärgerten uns zu gerne gegenseitig. Deswegen ließ ich nur widerwillig gut sein und wandte mich ebenfalls der Straße zu.

"Breeeems!", rief ich, als ich sah, mit welcher Geschwindigkeit wir auf die Stoßstange vor uns zurollten. Mein Herz begann wild zu pochen, als das Adrenalin durch meine Adern schoss, und trat mit meinem rechten Fuß auf das nicht vorhandene Bremspedal.

Alex lachte. Während er das Auto gemächlich zum Stehen brachte, erzählte ich ihm abermals die Geschichte meines Auffahrunfalls und staunte, dass es noch nicht geknallt hatte. Ich hätte schwören können, dass unsere Stoßstange schon längst mit der des Fahrzeugs vor uns verschmolzen war, so nah hingen wir hinter dem Vordermann. Er lachte noch lauter. Wie gesagt: Es machte uns Spaß, uns gegenseitig zu necken.

"Wow, danke, du bist wirklich ein guter Freund und so rücksichtsvoll, danke, danke!", sagte ich und versuchte, böse und strafend auszusehen. Er hielt in seinem Lachen inne, sah mir tief in die Augen, als wolle er darin lesen, und wir verfielen beide in ein herzliches Lachen.

"Wenn das so weitergeht, sterbe ich noch tausend Tode, bis wir angekommen sind. Scheiß Stau!", fluchte ich vor mich hin. Dann fiel mir etwas auf und ich sah mich um. "Können wir denn nicht die nächste Ausfahrt schon raus und über Landstraße in die Stadt reinfahren?"

"Das müsste gehen", bestätigte der Kommandeur unseres Schlachtschiffes und bahnte sich drängelnd einen Weg durch die schleichende Blechmasse rüber zur rechten Fahrbahn.

Die Spur der Ausfahrt Köln-Niehl war komplett frei und wir drehten mutterseelenallein unsere Runde aufwärts, um auf die Industriestraße Richtung Innenstadt zu gelangen. Stolz auf unsere Gerissenheit fuhren wir ungehindert auf der dreispurigen Umgehungsstraße, bis wir hinter der ersten Kurve wieder in einen Stau gerieten.

"Was wollen die denn alle in Köln?", fragte ich erstaunt, ohne eine Antwort zu erwarten, "Können die nicht einfach zuhause bleiben?" Wir sahen uns schmunzelnd an.

"Weißt du, was da nur noch helfen kann?" grinste Spray und zog forsch etwas aus dem Handschuhfach, griff hinter seinen Sitz, drückte zwei Tasten an seinem Radio und fette Disco-Hymnen dröhnten von CD aus den Lautsprechern und den heruntergelassenen Fenstern – natürlich nur wegen des Wetters und nicht wegen der Leute in den Nachbarwagen. Der Beat erfasste und ließ uns unbezähmbar in Sprays Kiste herumzappeln. Ein paar junge Mädchen in einem Wagen, der neben uns aufschloss, sahen neugierig herüber.

Ich stieß Spray mit dem Ellbogen an: "Wären die nichts für dich?"

Er schüttelte energisch den Kopf, die Mundwinkel verzogen und die Augen verdreht, als wäre er von Picasso gemalt: "Bäh! Nee du, die nicht!"

"Ich finde die eigentlich ganz lustig. So wie die glotzen, komm ich mir wie ein Rockstar vor. Ist die eine am Rücksitz nicht niedlich?"

Alex fügte seiner Grimasse ein Stirnrunzeln hinzu: "Was weißt du denn schon davon?"

"Was soll das denn heißen?", empörte ich mich. "Glaubst du etwa, wir Schwestern könnten die Schönheit von Frauen nicht bewerten? Wir sitzen im obersten Gerichtshof der Schönheit! Wo habt ihr Heten das wohl her, euch zu pflegen und auf euer Äußeres zu achten? Glaubst du, das wäre euch von allein eingefallen? Das verdankt ihr alles meinesgleichen!"

Demonstrativ griff er nach etwas auf seinem Armaturenbrett, das wie ein dicker Kugelschreiber aussah, zog die Kappe ab und begann auf seinen Nägeln zu malen. Erst sein linker Daumen, dann der Zeigefinger und der Mittelfinger.

"Nein! Was hast denn du da, Spray?", entfuhr es mir.

"Was glaubst du wohl? Einen Nagelhautentfernerstift", erwiderte er und hielt mir den zuletzt bemalten Mittelfinger unter die Nase – einerseits damit ich ihn begutachtete, andererseits natürlich um mir seine Meinung unmissverständlich mitzuteilen. Ich griff mit beiden Händen um seine und zog sie unsanft verdrehend vor mein Auge, um das Ergebnis seiner Mühen in vollen Pracht zu erkennen.

"Du, da ist ja gar nichts zu sehen. Nicht einmal ein Film von Flüssigkeit. Dieses Ding ist ja nur Schrott!"

"Ach was, du hast ja keine Ahnung, Kleiner. Man trägt das auf, wartet etwas und kann dann die Nagelhaut leichter zurückschieben. Und du willst mir erzählen, dass wir die Körperpflege von euch hätten? Dass ich nicht lache!"

Um es ihm jetzt zu beweisen, griff ich ohne eine Entgegnung nach hinten in meinen Rucksack und kramte meinen Nagelhautpflegestift heraus. Ich setzte mich bequem hin mit meinen Füßen auf dem Armaturenbrett, zog die Kappe ab und begann meinerseits, mir die Nagelhaut mit dem Stift zu bemalen.

"Angeber! Ihr Tucken müsst auch immer das letzte Wort haben", äußerte mein Heterofreund und riss meine Hand an sich. "Schau an, bei dir erkennt man ja genauso wenig."

"Da kannst du mal sehen! Wie es scheint, haben wir uns beide von der Kosmetikindustrie verblenden lassen."

Ich beendete unsere Käbbelei und da saßen wir nun nebeneinander, kritzelten mit unseren Stiftchen auf unseren Fingern rum und zuckten hin und wieder zum Rhythmus der Musik.

Die Mädchen, die vorher neben uns gestanden hatten, waren nun einige Fahrzeuge hinter uns, wie mir ein Blick rundum verriet. Aber deren Seite fuhr gerade ein Stückchen weiter und so kam es, dass sie wieder neben uns hielten. Die drei waren kaum über achtzehn. Vielleicht war auch nur diejenige am Steuer überhaupt schon so alt und hatte erst vor ein paar Tagen ihren Führerschein gemacht. Das Auto, welches sie fuhr, war ganz gewiss vom Papa ausgeliehen: ein sportliches BMW-Cabrio, das tief unter uns lag. Das Verdeck war abgenommen und ihre Haare flatterten glitzernd im Sonnenschein.

Ich beugte mich zu Alex herüber und flüsterte: "Wie schaut’s nun mit der Hinteren aus? Hast du es dir anders überlegt?"

Wir drehten beide die Köpfe zu ihnen herüber, die Stifte noch immer an den Händen. Die Mädchen kicherten und sahen sich verschwörerisch an. Ich blinzelte der Maid auf dem Rücksitz zu und sie drehte sich schüchtern weg, blickte aber sofort wieder verstohlen zu mir herüber. Ich musste grinsen. Beide Spuren setzte sich gleichzeitig in Bewegung und Alex sowie das Mädchen neben uns rollten weiter.

Just in diesem Moment ging eins der Lieder zu Ende und es stürzte eine einsekündige Synthesizer-Kaskade über uns los, die sofort verriet, welches Lied nun folgte: 'Girls Just Want to Have Fun'. Spray ließ, so wie ich auch, unverzüglich den Stift, der noch an seinen Fingern hing, auf seinen Schoß fallen, langte zum Radio, wo sich unsere Hände trafen, und machte die Musik so laut, dass sie die aus den Cabriolautsprechern nebenan locker übertönte und jedes Wildtier im Gebüsch neben uns aufscheuchte. Gemeinsam legten wir zwei einen ungestümen Tanz auf die Sitze und alles weitere geschah in weniger als einer Minute.

Die Mädchen gafften, kicherten, wie es verliebte Teenager tun, und tuschelten miteinander, während wir lauthals mitsangen. Auf unserer Spur ging es schneller voran und so ließen wir die drei Süßen immer weiter hinter uns. Und wir krächzten: "I come home in the morning light ."

Ich streckte meinen Kopf aus dem Fenster und schaute zurück zu den Mädels. Die drei unterhielten sich angeregt, so als beredeten sie etwas von enormer Wichtigkeit. Die Jungfrau am Steuer sah ich nur im Profil, da sie zu ihren Freundinnen gedreht saß. Die drei waren echt niedlich, fand ich und grinste, während ich aus dem Auto gebeugt krakeelte: "Oh, girls just wanna have fun."

Ich kletterte gerade zurück auf meinen Platz, weshalb ich nur noch aus dem Augenwinkel sah, wie die Beifahrerin in meine Richtung zeigte. Ich hatte mich schon wieder zu Spray gewandt und bemerkte: "Schade, jetzt sind sie weg. Das hat eigentlich Spaß gemacht", als es hinter uns krachte, wir alarmiert zusammenzuckten und Alex das Gefährt zum Stehen brachte. Wir glotzten den Bruchteil einer Sekunde ungläubig, bevor wir weiterkullerten.

"Oh je!

Spray bemerkte trocken: "Denen hast du aber ganz schön den Kopf verdreht, Kleiner!"

Wir brachen in schallendes, schadenfreudiges Gelächter aus, denn die Mädels waren mit ihrer überteuerten Karre dem Vordermann hinten draufgefahren, als sie miteinander getuschelt hatten. Nun saß die Fahrerin geschockt hinter dem Lenkrad, während ihre Freundinnen wie Furien fluchten und schimpften.

"That's all they really want, some fun."

Mein erster Lachkrampf wich einem "Hups!" und einem wachsenden schlechten Gewissen. Alex sah es mir wohl an und nahm mir den Wind aus diesem Segel: "Hey, selbst schuld, wenn sie sich von den anderen Küken ablenken lässt, sag ich nur! Mach dir mal keine Gedanken. Papis Versicherung wird für den Schaden aufkommen. Ist zwar ein recht hohes Lehrgeld, aber warum gibt man auch einem jungen, unerfahrenem Ding so eine Flunder unter ihren süßen Hintern?"

"Also fandest du sie auch niedlich, ich wusste es! Ich kenn dich und deinen Geschmack. Du kannst mir nichts vormachen."

Spray hob demonstrativ seinen Stift vom Schoß auf und fuhr fort mit seiner Maniküre, als wäre nichts geschehen. Ich warf noch einen kurzen Blick in den Rückspiegel, ehe ich nach meinem griff, der in den Fußraum gefallen war. Ich redete mir ein, dass alles wieder in Ordnung wäre, während wir weiter in die Stadt reinfuhren und den vom Unfall der Mädels verschlimmerten Stau allmählich hinter uns ließen.

Ankunft in Kölle

Spray parkte das Auto direkt vor Jasmins Haus. Wir hatten Glück und brauchten gar nicht lange nach einem freien Parkplatz suchen, was für diese Gegend alles andere als normal war. Für gewöhnlich fuhren wir zehn Mal um den Block und parkten dann doch vier, fünf Straßen weit entfernt. Aber heute war uns Fortuna hold.

Die Sonne brannte und es war klar, dass wir die Pullis nicht wieder anziehen würden. Jedoch waren unsere T-Shirts nicht geeignet, um unter Menschen zu gehen. Sprays hatte besagtes Loch unter seiner Achsel und ich hatte ein altes, ausgeblichenes T-Shirt an, dass ich sonst nur unter Pullis trug – die Verfärbungen unter den Achseln machten es, wie die vielen Filzknubbel auch, äußerst unansehnlich. Wir mussten uns umziehen, rissen dazu die hinteren Türen auf und kramten in unseren Klamotten, hielten uns gegenseitig T-Shirts und Hemden hin und fragten einander, was wir davon oder davon hielten. Er hatte gewohnheitsgemäß eine exklusive und massige Auswahl von Designerstücken im sperrigen Gepäck, die alle etwas für sich hatten. Ich hingegen bevorzugte einfache, unifarbene Kleidung ohne viel Schnickschnack, weshalb mir die Auswahl aus meinem kleineren Rucksack deutlich einfacher fiel. Und wenn ich doch mal Lust auf etwas Ausgefalleneres hatte, dann lieh ich es mir selbstverständlich von Spray, obwohl die Sachen an meinem Körper etwas weit und damit sehr nach 90er aussahen.

Letztendlich fand Spray mit viel Überzeugungsarbeit meinerseits etwas. Ungeniert, wie wir waren, zogen wir uns direkt an der Straße mit aufgerissenen Wagentüren um. Wir zogen die schäbigen T-Shirts über unsere Köpfe und entblößten unsere Oberkörper: Sprays war gut durchtrainiert und sonnengebräunt von seiner Arbeit unter freiem Himmel, meiner war eher schlank – oder schmächtig, wie Spray mich gerne beschrieb – und durch noble Blässe gekennzeichnet, weil ich in zu vielen Vorlesungen saß. Während ich mein frisches und vorzeigefähiges Polohemd über den Kopf zog, wurde ich beinahe von einem Fahrradfahrer überfahren, während die Autofahrer rücksichtsvoll einen großen Schlenker um Spray machten. Ich schnappte mir den Rucksack sowie meine zusätzliche Armeeumhängetasche – manche mochten sie anders bezeichnen –, in der ich all mein wichtiges Kleinzeugs mitschleppte.

"Oh, Kleiner, du nimmst dein Handtäschchen mit? Super! Dann kannst du sicherlich auch mein Portemonnaie und Telefon einstecken, oder?", befehlfragte Alex und drückte mir beides in die Hand. Grinsend und die Augen verdrehend schob ich es in die Tasche. Spray schloss in der Zeit den Wagen zu und schon ging es auf zur nächsten, etwa zehn Fußminuten von Jazz' Haus entfernten U-Bahnstation.

"Kannst du mir mal eben mein Telefon geben, dann ruf ich dat Cöllsche an und frag sie, wo sie gerade ist", verlangte Spray. Grummelnd zog ich es wieder aus meiner Tasche und reichte es ihm.

Er tippte auf ein paar Tasten und hielt das Gerät an sein Ohr: "Hi Jazz, wo bist du gerade? … Nein, wirklich?! … Wow, klar, wir sind gleich da. … Ja, machen wir. Und mach so lang eine Pause, bis wir da sind, okay? … Gut, bis gleich!" Er hielt mir das Ding hin und scheuchte mich: "Jetzt aber los! Die sind schon wild am Feiern. Wir verpassen den ganzen Spaß!" Spray legte einen Zahn zu und trieb mich an.

"Dann müssen wir also auch schon mit dem Schnasseln anfangen?!"

Kurz vor der Station hielt er mich an und verlangte diesmal sein Portemonnaie. Ich kramte es ihm knurrend raus und er verschwand um die Ecke in einen Kiosk, den ich vorher immer übersehen hatte. Alex kam flugs mit vier Flaschen Kölsch unterm Arm zurück, zwei davon bereits geöffnet, und drückte mir sowohl Geldbörse als auch eine der Flaschen in die Hand. Während er mich zur Eile anstachelte, hantierte ich an meiner Tasche, bedacht mit Sprays Schritttempo mitzuhalten, das Portemonnaie einzustecken und das Bier nicht zu verschütten.

"Ich hab den ganzen Tag lang noch nichts gegessen!", sträubte ich mich ein wenig. Ich war echt nicht der große Trinker.

"Das trifft sich gut: ich auch noch nicht. Dann wirkt das Bier wenigstens schnell und wir können den Vorsprung, den Jazz hat, wettmachen."

Durch die Büsche konnte man erkennen, dass die U-Bahn, die hier noch oberirdisch fuhr, in diesem Moment auf die Station zufuhr. Spray, der schon einige Schritte vor mir war, drehte sich zu mir um, schrie: "Jetzt gib Gas!" und rannte los. Ich hatte Mühe mitzuhalten, ohne das Kölsch zu stark zu schütteln. Spray hielt an der Hauptstraße, weil ein Auto vorbeifuhr, und ich holte ihn ein, sprang sogar schon auf die Straße, vor hupende Autos und auf die Station zu, bevor er nachkommen konnte. Der Schaffner öffnete extra für uns erneut die Türen, was man echt nicht alle Tage erlebt. Wir kauften uns ausnahmsweise Fahrscheine, sanken auf zwei freie Plätze, schnauften und lachten.

"Das klappt ja wie am Schnürchen", freute sich Spray und hielt seine Flasche hoch: "Na, Prost! Auf Kölle und ein lustiges Wochenende!"

"Richtig! Prost!"

Wir stierten uns in die Augen und unsere Flaschen klirrten gegeneinander. So vergnügt, wie wir waren, und mit dem Alkohol in den Händen, dachten die anderen Fahrgäste bestimmt, wir wären bereits total knülle. Man konnte es ihren Gesichtsausdrücken entnehmen. Vielleicht waren die Metropoler auch nur hochgradig gestresst von Arbeit und Wetter. Ein dunkelhäutiger junger Mann, der an der Seite mit Blickrichtung zu uns saß, schaute gezwungen durch die Scheibe gegen die Betonmauern des Tunnels, in den wir eingefahren waren, und hin und wieder furchtvoll zu uns herüber. Das tat mir ein bisschen leid und trübte meine Stimmung einen Moment lang, denn ich begriff nicht, warum unsere ausgelassene, gute Stimmung bedrohlich auf andere wirken konnte.

Aber wir hatten bereits den Dom erreicht und so sprangen wir aus der Bahn und eilten die Rolltreppe hinauf. Mehrere Stufen vor uns stand ein Paar, außerordentlich eigenwillig gekleidet. Spray wandte sich zu mir: "Siehst du die polangen Haare. Erinnert an Frau Heinrich, findest du nicht?"

"Schon, nur der Spliss! Die sollte schleunigst zum Spezialisten gehen, um zu retten, was zu retten ist."

Ich hatte wohl zu laut gesprochen. Die beiden jungen Frauen, die zwischen uns und dem Paar standen, blickten sich musternd zu uns um.

"Oh, Tschuldigung, euch hab ich nicht gemeint. Eure Haare sind perfekt!", beruhigte ich die zwei Etepetetepüppchen, die sich pikiert wegdrehten.

Spray warf mir einen mahnenden Blick zu, beschämt von meiner Direktheit, und ich hielt die Klappe. Die Rolltreppe beförderte uns ans Tageslicht.

Oben angekommen, badeten wir einen Moment lang in Betrachtung des Doms, dem wir freudestrahlend salutierten, und tranken unsere ersten Flaschen leer. Spray spendierte uns die zweite Runde, die er mit seinen kräftigen Händen bis hierher getragen hatte. Mit einem Feuerzeug aus meiner Tasche kämpfte ich gegen die Kronkorken, um die Flaschen zu öffnen, zerbrach dabei fast meine Waffe im Trinkerkrieg, weil ich es im falschen Winkel ansetzte, und quetschte mir die Finger. Beim zweiten Versuch funktionierte es schon wesentlich besser. Spray beobachtete mich dabei und amüsierte sich köstlich.

Wir stießen an und marschierten über die Domplatte und den Roncalliplatz in Richtung Altstadt durch die Masse von Touristen, die das gotische Monstrum fotografierten. Auf dem Alter Markt war eine Bühne aufgebaut, auf der das Programm vor einem noch kleinen Publikum präsentiert wurde. Es war ja erst Freitagnachmittag. Wir schlenderten an den Ständen vorbei und stiegen die westliche Treppe zum Rathausplatz hinauf, wo eine Open-Air-Disco sowie einige Sauf- und Fressstände aufgebaut waren. Es waren bislang nur sehr wenige Leute dort und nippten an ihren Getränken. Jazz stand in der Runde einiger ihrer Freundinnen und bemerkte uns nicht, als wir uns ihr näherten. Wir schlichen uns von hinten an sie heran und fielen ihr urplötzlich um den Hals.

Jazz schrie auf, fuhr erschrocken herum und sprang uns sofort froh an: "Hey, was... Ach, Spray, Disco, ihr seid's! Schön, dass ihr endlich da seid! Wir feiern schon den ganzen Tag lang. Um zehn fing das Vorglühen an."

"Ihr Kölner!", entfuhr es mir ein wenig abwertend.

"So wenig Leute wir hier waren und sind, können wir getrost in zukünftiger Rückschau sagen, dass wir das Altstadtfest begonnen haben", fuhr Jasmin unbeirrt fort. Bei ihr standen Toni und Bert, zwei Freundinnen von ihr, die sich ständig wegen irgendwelcher Frauen in den Haaren hatten. Wir begrüßten sie freundlich.

"Dann müssen wir also, so wie es aussieht, noch einiges mehr aufholen. Trink dein Kölsch leer, Kleiner, und ich spendier uns 'ne Runde Caipirinha", kommandierte der Major, stürzte mit einem Schluck den Restinhalt seiner Flasche herunter, knallte sie auf einen der Tische, welche herumstanden, und wartete ungeduldig mit dem Fuß klopfend. Aus welchem Grund auch immer sah er mich total dämlich an.

"Worauf wartest du denn? Nu kusch schon!", winkte ich ihn weg.

"Ohne dass du mir vorher mein Geld gibst, wird daraus nicht viel!"

Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn: "Uff, na klar, einen Moment!", und kramte es heraus. Er riss es mir förmlich aus der Hand und stampfte davon. Jazz und ich grinsten uns an.

"Und Jazz, wie geht's dir? Schon angeheitert?"

Sie drehte die Augen gen Himmel, knautschte ihren Mund und grummelte etwas vor sich hin. Dann fiel sie mir um den Hals und lallte mir ins Ohr: "Voll wie eine Haubitze. Du darfst mich nichts mehr trinken lassen, ist das klar?"

"Geht klar!" Ich legte meine Arme um sie und drückte und wiegte sie.

"Nicht! Wer weiß, was sonst passiert", wehrte sie sich. Ich ließ dat Cöllsche los und sie lachte, ihre Sharon-Stone-Augen enorm aufgerissen, weil sie plötzlich etwas oder jemanden hinter mir bemerkte.

"Was ist los?", wollte ich wissen, besorgt und neugierig natürlich.

"Dreh dich bloß nicht um!", sagte sie und wie es in solchen Situationen nun mal ist, war ich schon drauf und dran, mich umzuwenden. Sie bemerkte es, hob ihre Hand und hielt mein Gesicht.

"Nicht! Du wirst es bereuen! Oh … oh nein, ich befürchte, es ist eh zu spät! Er hat dich gesehen. Da ist er schon!", kommentierte sie, was sie sah und grimassierte ihr Gesicht, bis es nicht mehr schön war. Die Gefahr witternd, wendete sie sich bequem an eine Freundin von ihr und begann ein sorgloses Gespräch, wohingegen ich schutz- und ahnungslos dessen harrte, was sich von hinten unheilvoll anschlich.

"Hallöchen Ben, was für ein Zufall, dass ich dich hier sehe."

Ich erkannte die Kastratenstimme mit der Mozartmelodie sofort: Günter, der aufdringliche Alp einer durchtanzten Nacht, so schrecklich wie sein Name oder seine Stimme. Kein Mensch löste mehr Abscheu in mir aus als er, nicht einmal Spinnen oder Schlangen.

"Ähem, hi. Ja, äh, wirklich, was für ein Zufall!"

Er machte Anstalten, mich zu umarmen oder mich gar mit einem Küsschen zu begrüßen. Geistesgegenwärtig, wie ich war, – und verzweifelt! – wand ich mich hin und her: "Äh, weißt du … Ich hab, äh … eine Mandelentzündung. Ganz fies! Ist sehr ansteckend! Wir sollten besser…"

"Ach, das macht doch nichts!" erwiderte Günter und versuchte es abermals. Ich hielt ihn an den Schultern auf Distanz.

"Nein, wirklich! Es wäre besser…"

Er spürte meinen Widerwillen und beließ es dabei, mir die Hand zu reichen. Mit viel Überwindung und dem inneren Zureden, etwas Gutes für die Menschheit zu tun, gab ich ihm die Hand, schließlich hatte ich auch ein bisschen Mitleid mit ihm.

"Und was machst du so?", wollte er wissen. Sein Gesicht war mir unheimlich nahe. Ich empfand seine Nähe als schamlos und in meine Privatsphäre eindringend, im Großen und Ganzen einfach nur unangenehm. Ich trat einen kleinen Schritt zurück, aber er beugte sich penetrant gleichfalls vor, so dass kaum Zwischenraum gewonnen war.

"Weißt du, ich bin eigentlich im Klausurenstress. Für die Uni, du weißt schon! Ich hab mich nur mit, ähm … viel Überredung hierhin schleppen lassen. Und in den Ferien steht noch eine wichtige Hausarbeit an", log ich, um nicht in eine seiner Fallen zu tappen, die er sicherlich schon vorbereitet hatte.

"Das ist aber außerordentlich schade! Ich hatte sehr gehofft, vielleicht mal wieder mit dir tanzen oder dich mal treffen zu können."

Da war sie auch schon! Puh, ich hatte noch mal tierisch Glück gehabt dank meiner Menschenkenntnis, dachte ich bei mir. So konnte ich ganz unschuldig – und selbstnatürlich voll echten Bedauerns – seine Hoffnung zerschlagen: "Das tut mir sehr leid, aber die Uni ist extrem wichtig. Vielleicht später einmal." Ich hatte mich wie blöde umgekuckt und in dulci jubilo festgestellt, dass Alex endlich zurückkam. Meine Chance, Günter loszuwerden: "Es tut mir auch schrecklich leid, aber ich muss zu meinen Freunden zurück. Die haben mir was zu Trinken mitgebracht. Wir laufen uns bestimmt über den Weg, okay?"

Ohne zu zögern und unter Umständen in ein weiteres Gespräch gezogen zu werden, machte ich mich mit einem lockeren "Bye!" aus dem Staub. Spray hielt mir schon den Cocktail entgegen und schmunzelte belustigt. Auch Jazz konnte ihr Lachen kaum verkneifen.

"Und wann heiratet ihr?", spottete Alex und Jazz brach in schallendes Gelächter aus. Sie kriegte sich nicht wieder ein und drückte mir ihr Glas in die freie linke Hand, damit sie es nicht verschüttete.

"Und werdet ihr euch treffen, du und … Günter?"

"Nein, werden wir nicht, Spray!", erwiderte ich verärgert, "Ich hab ihn abgewürgt, so schnell es ging. Ich find den Kerl einfach nur widerlich!"

"Trotzdem hast du mal mit ihm getanzt, oder etwa nicht?" Spray machte mich langsam richtig wütend. Immer musste er mir einen reinwürgen.

"Das war vor vier Jahren: Ich war achtzehn, naiv und vor allem das erste Mal richtig angetrunken. Und er hatte Frischfleisch gewittert. Wir haben nur geknutscht, okay? Und wenn ich jetzt daran denke, krieg ich Herpes", wütete ich los. Jazz war still geworden und schaute unserem Disput mit großen Augen zu.

"Und dann hast du ihm deine Telefonnummer gegeben!"

"Als ich wieder zu mir kam und mir bewusst wurde, was ich gerade getan hatte, wollte ich ihn einfach nur noch loswerden, egal wie! Ich dachte zu der Zeit, das wäre eine gute Idee"

"Wie oft hat er gleich noch mal bei dir angerufen?"

"Fang nicht wieder damit an, Alex! Ich bin froh, dass ich es halbwegs verdrängt habe. Die Begegnung gerade war schon schlimm genug."

"Ich hab es schon wieder vergessen. Sag mir bitte noch einmal, wie oft er dich angerufen hat!" Spray ließ einfach nicht locker. Irgendetwas führte er im Schilde, irgendetwas wollte er beweisen, dachte ich. Dennoch fühlte ich mich im Rechtfertigungsmodus.

"Das erste halbe Jahr regelmäßig, dann hat er vermutlich eingesehen, dass er auf Granit beißt, und mich in Ruhe gelassen."

"Außer, wenn er dich wiedergesehen hat."

"Ja, dann hat er wieder eine Zeit lang angerufen."

"Warum spielst du ihm dann jedes Mal wieder etwas vor? Sei doch einmal ehrlich zu ihm! Das wird ihm und dir gut tun, glaub mir, Kleiner!" Darauf wollte er also hinaus. Ich ärgerte mich, aber irgendwie hatte er ja auch Recht, obwohl ich das nicht zugeben wollte.

Ich sah zu Jazz, die noch immer still und beobachtend neben uns stand. Auch Spray wandte sich zu ihr. Sie schaute von einem zum anderen, dann zu Boden, wieder zu uns und bekam abrupt und scheinbar ohne Grund einen Lachkick. Wir Männer blickten uns verständnislos an. Spray zuckte mit den Achseln und hielt feixend seinen Caipirinha zu einem Toast hoch: "Auf ein amüsantes Wochenende!"

"Auf schlechten Sex!", toastete ich und erntete befremdliche Blicke der beiden, die mich zu einer Erklärung aufforderten: "Ich will euch doch nur foppen."

"Solang es nur das ist!", seufzte Spray erleichtert. "Mit diesem f-Wort kann ich leben."

"Na, wenn das so ist: auf schlechten Sex!", witzelte Jazz, die etwas ruhiger geworden war und ihr Glas wieder an sich genommen hatte. Bei ihrer Bemerkung wurde sie jedoch erneut von einem hervorbrechenden Lachanfall geschüttelt.

"Ich sollte dich doch davon abhalten, noch mehr zu trinken", murmelte ich ihr zu, doch sie hielt ihren Cocktail ebenfalls hoch und wiederholte Sprays Toast: "Auf ein äußerst amüsantes und aufregendes Wochenende und schlechten Sex!"

"Jazz!?", mahnte ich ein zweites Mal.

"Ach, lass doch dat Cöllsche, wenn et will!"

"Na gut, auf unser Wochenende und schlechten Sex!"

Wir drei stießen in unserer kleinen Runde an, nahmen jeder einen Schluck durch die kurzen Strohhalme und prosteten anschließend Jazz‘ Freundinnen zu.

"Wow, der ist lecker, aber verdammt stark. Haben die da extra viel Rum reingetan?"

Über einen hervorragenden Pflasterstein stolpernd verlor Jazz unerwartet ihr Gleichgewicht, als sie einen Schritt zur Seite machen wollte, schüttete sich etwas von ihrem Drink über die Bluse und schrie ein fluchendes "Verdammt!" aus.

Spray nahm ihr sofort das Getränk weg: "Es ist wohl doch besser, wenn du nichts mehr trinkst."

"Was?! Nein, gib es her! Ich schaff das schon!"

"Nein, gib es ihr nicht!", unterstützte ich Spray und musste mir dafür ein paar deftige Flüche von Jazz anhören.

"Hör zu, Jasmin, du wirst erst mal ein bisschen ruhiger und nüchterner und dann kriegst du vielleicht wieder was zu trinken. Ist das klar?" Spray konnte derart dominant und streng werden, dass ich es manchmal mit der Angst zu tun bekam.

"Jawoll, Herr Major!", frotzelte Jazz und machte diesen militärischen Hand-an-die-Stirn-schmeiß-weg-Salut.

Spray und ich tranken unsere eigenen Drinks und teilten uns den von Jazz, ließen sie aber auch einige Male daran schlürfen. Sie versuchte dabei, so große Züge wie möglich zu nehmen, aber Spray verstand sich darauf, sie nicht zu lassen.

Die Stimmung war geringfügig beeinträchtigt von den Günter- und Caipirinha-Affären, folglich bemühte ich mich darum, die beiden wie auch mich abzulenken und aufzuheitern: "Hey ihr zwei, was haltet ihr davon, wenn wir dort die Tanzfläche erobern und die Hüften schwingen?"

"Aber die Tanzfläche ist vollkommen leer!", wusste Spray einzuwenden.

"Disco, das ist eine wunderbare Idee!", fand Jazz und nahm mich bei der Hand. Sie machte kehrt und forderte Alex auf mitzukommen. Der sträubte sich jedoch und nur mit vereintem Zureden und Mitzerren gelang es uns, ihn zum Tanzen zu bewegen. Als wir zu schunkeln anfingen, begann eine Reihe von wunderbar groovigen Liedern und schon nach einigen Minuten trauten sich auch andere Leute zu uns aufs Parkett – erst einige, die kaum Sinn für Rhythmus und Bewegung hatten, aber spätestens bei Shakiras 'Whenever, Wherever' zunehmend auch begabtere, bei denen es Spaß machte, ihnen beim Tanzen zuzusehen. Meine Beobachtungsgabe zeichnete sich durch ihre ästhetische Unbestechlichkeit aus.

Blaues Einkaufen

Zwischenzeitlich hatte ich für Spray und mich noch eine Runde Caipirinha besorgt und da wir beide nichts anderes in den Magen bekommen hatten, waren wir schon gut angeschäkert. Nach etwa einer halben Stunde ununterbrochenen Tanzens blieb Jazz unvermittelt stocksteif stehen. Nunmehr hatte bei ihr der Alkohol ein wenig in seiner Wirkung nachgelassen und sie schien wieder besser überlegen zu können. Spray und ich hefteten unser Augenmerk auf sie.

"Du hast etwas vergessen, stimmt's?", wollte ich neugierig wissen.

"Leute, ich hab nichts eingekauft!", stellte sie mit Erschrecken fest. "Ich wollte eigentlich heute Nachmittag Lebensmittel besorgen, aber dann hab ich hier Wurzeln geschlagen. Das ist mir gerade aufgefallen und ich hab mich gefragt, was wir denn das Wochenende lang essen sollen. Wenn wir zu jeder Mahlzeit irgendwo essen gehen, zahlen wir uns ja dumm und dusselig."

Auch wenn unsere Eltern uns gelegentlich mal etwas zusteckten – Sprays mehr als Jazz' und meine –, so waren wir doch Studenten und Azubis, die ihr Geld ein wenig zusammenhalten mussten.

"Wir können doch immer noch morgen einkaufen gehen", unterbrach sie Alex.

"Die Geschäfte bei mir machen aber schon um zwei Uhr zu. Wer weiß, wann wir morgen aufstehen und wie wir uns fühlen, wenn wir heut Nacht Party machen gewesen sind."

Dass sie überhaupt zu solch langen Sätzen fähig war, wunderte mich.

"Dat Cöllsche hat recht. Außerdem wäre es doch viel gemütlicher, wenn wir morgen nach dem Aufstehen in Ruhe und aller Bequemlichkeit frühstücken könnten. Wie viel Uhr haben wir denn gerade?"

Jazz schaute auf ihre Uhr, die Spray irgendwann einmal in einer Umkleide gefunden und ihr geschenkt hatte: "Zwanzig vor sieben."

"Wir könnten doch noch locker jetzt zu einem Supermarkt gehen."

"Sehr gut! Mein Magen ist schon ganz flau und besonders Madame sollte was Festes zu sich nehmen. Also los! Worauf warten wir noch?", pflichtete mir Spray bei und schob uns von der Tanzbühne.

"Ich müsste vorher noch das Bier wegbringen", beichtete ich verlegen.

"Zu welchem Supermarkt wollt ihr denn?", fragte uns dat Cöllsche, während wir die paar Stufen der Tanzfläche herunterpurzelten. Ich blieb am Ende der Stufen stehen und hielt mich am Geländer fest.

"Ich bin schon besoffen!", offenbarte ich.

"Jazz, bei dir um die Ecke ist doch ein Supermarkt. Wie wär's, wenn wir dahin fahren. Dann brauchen wir die Tüten nicht durch die ganze Stadt zu schleppen", schlug Spray wohlüberlegt vor.

"Schon, aber der macht schon um sieben zu."

"Ich möchte schwul einkaufen gehen. Lasst uns zu dem schwulen Supermarkt! Da laufen sicher ganz tolle Männer rum", forderte ich.

"Tucke!", entfuhr es Spray scherzhaft.

"Der ist doch außerdem an den Ringen. Das ist jetzt ein bissi weit weg", wendete unsere Stadtführerin ein.

"Och nein! Wir können doch die U-Bahn nehmen." Ich ließ nicht locker.

"Die fährt von hier nur bis zum Neumarkt, dann müssten wir dort umsteigen. Oder wir müssten zum Dom laufen und dann wieder vom Friesenplatz die Ringe runter."

"Hört mal, ihr zwei: Lasst uns doch erst mal losgehen. Unterwegs wird uns schon was einfallen. Zeitlich sollte es wohl zu schaffen sein, in einer Stunde zum Rudolfplatz und durch den Supermarkt zu kommen, wenn Disco unbedingt möchte. Aber dann sollten wir jetzt aufbrechen!" Vorhin war Spray so streng gewesen und nun unglaublich wohlwollend. Manchmal kam ich da nicht ganz hinterher. Aber in diesem Moment war mir das egal, Hauptsache, wir kamen noch zu diesem Supermarkt am historischen Westtor. Nachdem ich mit Jazz austreten war, hakte ich mich bei den beiden ein und schleifte sie hinter mir her zur Hohe Straße, wo wieder schier unermessliche Mengen von Touristen unterwegs waren.

"Scheiß Touristen!", fluchte ich im Spaß, weil wir ja selbst welche waren, zumindest Spray und ich. Ich sah Jazz an, die etwas deplatziert glubschte, lehnte mich an ihre Schulter und offenbarte wiederholt in Hoffnung auf ein bisschen Zuwendung: "Ich bin so betrunken!"

"Ich auch, Kleiner!", kam Sprays Stimme von hinten, als er sich zwischen einem Kinderwagen und einer Oma hindurchzwängte.

"Und ich erst, Kinderchen! Und ich erst … Seit heute Vormittag. Uiuiuiuui!"

Wir drei klammerten uns aneinander fest und wurden von der Menge an den Schaufenstern vorbeigetragen, zu denen wir hin und in denen wir umher schauten. Als stünden wir auf einem Laufband, ging es die Hohe Straße entlang zur Schildergasse. Am dortigen Steinphallus stand ein Pantomimenkünstler, vor dem sich eine Traube von Schaulustigen gesammelt hatte und der aussah wie Vinnie, der Handlanger von Pizza, aus dem Film 'Spaceballs'.

"Dort vorne ist ein Sportgeschäft. Lasst uns mal eben reingehen oder hast du mittlerweile eine zweite Isomatte, auf der ich schlafen könnte?", richtete Spray seine Frage an Jazz.

"Nee, du, ich hab nur die eine, aber da werdet ihr zwei nicht genügend Platz drauf finden."

"Och, ich glaube, da lässt sich schon was deichseln, nicht, Spray?", zwinkerte ich ihm zu.

"Ähä! Ich glaub, es ist besser, wenn wir hier dennoch einen Blick reinwerfen." Anwiderung vorspielend ging er rückwärts auf den Eingang des Geschäftes zu und wir zwei folgten ihm. Die Leute wichen ihm aus eigenem Antrieb aus. Jasmin und ich versuchten, in seinem Windschatten zu gehen, mussten uns aber mehr Gedrängel und Zusammenstöße gefallen lassen.

Der Laden war verhältnismäßig leer und wir drehten unsere Kreise durch das Erdgeschoss auf der Suche nach den Campingartikeln. Ein Verkäufer bemerkte unsere Orientierungslosigkeit – oder er wollte einfach etwas verkaufen –, kam auf uns zu und bot uns seine Hilfe an: "Kann ich Ihnen weiterhelfen?"

"Ja, wir suchen Isomatten", antwortete Spray.

Gewiss hatte der Verkäufer bemerkt, dass wir nicht nüchtern waren, schließlich rochen wir drei nach Alkohol. Jazz und ich standen hinter Spray und nestelten gibbelnd an unseren Oberteilen herum. Er ließ sich nichts anmerken und verwies uns auf die erste Etage. Spray ging vor uns zur Rolltreppe und wir beiden trotteten ihm nach.

Auf der Rolltreppe, drohend ein paar Stufen über uns erhoben, erkundigte sich Spray, was mit uns beiden los wäre. Wir glotzten ihn an und fielen uns mit einem Schrei auflachend um den Hals. Ich spürte deutlich das Aufhüpfen von Jazz' Busen unter den Lachsalven. Wir gaben ihm keine Antwort.

Im oberen Stockwerk angekommen, ging Alex schnurstracks auf die Isomatten/Schlafsack-Abteilung auf der rechten Seite zu. Ich sang Jazz "Mir geht's so gut, weil ich ein Mädchen bin, weil ich ein Mä-hä-hä-hädchen bin!" ins Ohr und bummelte mit ihr zwischen den Verkaufstischen und -regalen. Flugs hob sie etwas Komisches hoch, das unsere Fantasie anregte: ein faltbares Etwas, ähnlich einem Papierlampenschirm, allerdings aus einem Netzstoff, mit einem etwas größeren Loch an der Unterseite.

"Wofür ist denn das?"

"Disco, kannst du es dir nicht denken? Das ist natürlich der neuste Hutmodenschrei dieser Saison in der Camping-Haute-Couture", sponn sie strahlend.

"Ich bin begeistert. Nun weiß ich nicht, ob ich es heimlich für mich kaufen soll, um extrem in zu sein, oder ob wir es dem Modemajor zeigen sollen. Das passt zweifelsohne zu seiner Kollektion."

Ich fand es toll, wie wir uns im besoffen Kopf leicht über derartige Dinge amüsieren konnten. Im Grunde taten wir das aber auch, wenn wir nüchtern waren.

Spray winkte uns heran: "Die einfachsten Matten kosten hier 10 Euro. Ist der Preis okay oder findet ihr das nicht auch ein bisschen zu viel für ein Stück Schaumstoff? Ob wir noch mal schnell drüben im Kaufhaus schauen können?"

"Und was wird dann aus dem Supermarkt? Wir wollten schwul einkaufen gehen!"

"Das schaffen wir schon, Kleiner. Wir gehen nur ganz kurz rüber. Dauert auch nicht lange."

"Na gut. Dann aber zack-zack!", drängte ich.

Zurück ins Erdgeschoss ging es nicht über eine Rolltreppe, die wir verwundert suchten, sondern über Stufen an der Seite, die wir gezwungenermaßen herunterpolterten. Die Verkäufer und ein Pärchen, welches das Geschäft betrat, sahen uns verdutzt an und nach, als wir die untersten Stufen beinahe herunterstürzten, weil dat Cöllsche abrutschte und mit einem Aufschrei gegen uns treppab gehenden Gentlemänner fiel. Spray konnte uns mit seinen starken Armen auffangen. Am Fuß der Treppe machten wir Bestandsaufnahme, sammelten uns und zupften uns zurecht. Unter abschätzigen Blicken verließen wir die Verkaufsräume des Sportgeschäftes mit viel Aufsehen, weil Jazz und ich lauthals über das abgewendete Unglück schnatterten und Spray versuchte, uns zu beruhigen, bedacht unser – oder vielmehr sein – Gesicht zu wahren. Aus welchem Grund auch immer enthemmte der Alkohol den Major heute nicht so wie Jazz und mich, sondern machte ihn eher vorsichtig und schamvoll.

Er übernahm wieder die Führung über unsere kleine Schwadron und lotste uns durch einen Eingang in der Ecke des Kaufhauses zwischen der glänzenden und glitzernden Schmuck- sowie der betörenden Parfümabteilung. Wer hielt es aus, hier zu arbeiten? Uns stockte der Atem von der stickigen Luft dort, den mit Modeschmuck überladenen Damen und einem absolut tuckigen Verkäufer, dessen Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknüpft war. Wir eilten schnell vorbei zur Rolltreppe, suchten auf der Infotafel nach Campingartikeln und ließen uns von den beweglichen Stahlstufen nach oben befördern. Ich fühlte mich zur Eile bemüht, wie immer genervt von den Seite an Seite zusammengeschweißten Paaren, die die Rolltreppe in voller Breite blockierten – "Gott bewahre! Ich kann mich doch nicht von meinem Partner durch eine Stufe trennen! Vor dem Altar standen wir nebeneinander und so soll es bis in alle Ewigkeit sein!" Ich quetschte mich stur zwischen ihnen hindurch und erreichte vor den beiden anderen den zweiten Stock, wo sich die Sportabteilung befand. Ich folgte der auf dem Boden aufgezeichneten Kunststofflaufbahn, die an Ständern und Tischen mit Wäsche vorbeiführte. Unvermittelt stach mir ein absolut irres Oberteil ins Auge. Wie von einem Magneten angezogen, stürmte ich darauf zu, nahm es vom Ständer und begutachtet es angewidert.

"Wie steht mir das?", fragte ich die Nachkömmlinge, hielt mir das Teil samt Bügel vor die Brust und griente sie an, meine Hüfte zur linken Seite verdreht.

"Très chic!", blökte Spray mit Gebrochener-Hand-Geste.

"Disco, hast du schon die Isomatten gefunden?", drängelte Jazz.

"Ich denk, die sind dort drüben", sagte ich und zeigte ungenau in die Richtung, in die wir sowieso von der Rolltreppe aus gegangen waren.

"Ich seh es schon", brüllte Spray und watete zwischen den Ständern und Tischen voller Kleidung zur linken Seite, wo ein gigantisches Zelt zur Anschauung aufgebaut an der Wand hing. Hilflos stand er zwischen den Schlafsäcken, Klappstühlen, Gaskochern und anderem Camping-Krimskrams und suchte ohne Erfolg die Matten.

Ich ging in die Ecke einer versteckten Nische und hielt eine Isomatte, die ich aus dem Regal gegriffen hatte, hoch: "Suchst du die hier?"

Spray kam zu mir und verglich die Preise und Qualitätsunterschiede der diversen Modelle.