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Der renommierte Chefredakteur Valter Harbinger zieht Mitte der 1980er zu seinem Ruhestand in ein abgelegenes schwedisches Küstendorf. Abends treffen sich die Einwohner in Fridéns Krog, wo sie einträchtig speisen und Karten spielen. Alles wirkt halbwegs normal, doch die Dörfler haben Geheimnisse. Und in einer Vollmondnacht beobachtet Valter, wie eine Gestalt in weißem Brautkleid das Dorf verlässt -- bestimmt eine Hexe. Valter fordert einen Journalisten für Nachforschungen an. Doch die Redaktion schickt nur den Studenten Jesper, den Valter als seinen Enkel ausgibt. Eine eigenwillige Recherche beginnt. Wandert die grantige Gemischtwarenhändlerin Ingrid auf heidnischen Pfaden? War es die tollpatschige Postfrau Pia? Verbirgt sich jemand anderes hinter dem weißen Brautschleier? Oder hat sich Valter einfach nur gelangweilt? Vollmondbraut ist ein gänzlich unschwedischer, aber in Schweden spielender journalistischer Krimi und eine Drama-Komödie im unterhaltsamen Spannungsfeld mysteriöser Geschehnisse, eigenwilliger und lustiger Charaktere und tragischer Schicksale.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Martin Wolkner wurde 1980 im Ruhrgebiet geboren, studierte englische und deutsche Sprachwissenschaften, Film/Fernsehen sowie zusätzlich ein bisschen Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und University of Hull.
Er war als Übersetzer, Untertitler, Filmkritiker und Leiter des Filmfests homochrom in Köln und Dortmund tätig.
2015 erschien sein Roman "Vollmondbraut“ von 2009. 2019 folgte sein Erstlingswerk "Morgenreport" von 2002 sowie ein deutsch- und ein englischsprachiger Gedichtband.
Ruhestand
Ein neues Leben
Im Krog
Tag zur Nacht
Nacht zum Tag
Hagelschlag
Enkel
Nicken
Nachtwache und Taggang
Hexenschuss
Hinter der Eiche
Überraschungen
Kochkunst
Kerzenschein
Spekulation
Nacht-und-Nebelaktion
Ein Stück der Wahrheit
Getrennte Wege
Das leere Haus
Entscheidung
Rattenfalle
Voller Krog
Mehr Wahrheit
Das ganze Ausmaß
Hexentanz
Rückkehr zur Tiden
An der Uni
Vor dem Sturm
Überschlagende Ereignisse
Hinrichten nach den Nachrichten
Aus der Asche
Die Schwesternschaft
Der Chefsessel aus Leder drehte sich langsam und leer hinter dem edlen Schreibtisch, während Valter Harbinger aus dem großen Fenster seines geliebten Büros auf die Stadt und den Fluss hinüberblickte. Eine Möwe kam zu ihm hinüber geschwebt, als wäre sie von seinem nach wie vor stattlichen Anblick angelockt worden und wollte sich verabschieden. Sie driftete gekonnt auf einer Stelle im Luftstrom, der an dem sonnenbeschienen Gebäude der Tiden hinaufzog, und kreiste kurz über dem Kopf der Steinfigur auf der Ecke des Gebäudes. Als er sich vom Fenster weg drehte, sah er noch aus dem Augenwinkel, wie die Möwe die Statue beschmutzte. Valter zuckte innerlich mit den Schultern. Er würde dieses Büro niemals mehr betreten. Sollte die Statue doch mit Kot befleckt sein. Das kümmerte ihn jetzt nicht mehr. War es nicht viel mehr ein angemessenes Willkommensgeschenk für Calle?
Mit den gemischten Gefühlen von Genugtuung, welche sich in einem winzigen, süffisanten Lächeln im rechten Mundwinkel zeigte, und Bedauern, welches sein linkes Auge zucken ließ, drehte Valter sich Calle Fredriksson zu, der sein Nachfolger geworden war – gegen Valters Empfehlung. Auch wenn sie eine Frau war, so hätte er Marie Lökholm viel lieber in jenem schwarzen Ledersessel gesehen als diesen Speichellecker. Marie war zwar etwas emotional, aber sie hatte den richtigen Biss und auch das nötige Quäntchen Mut, mit dem sie die Zeitung für lange Zeit an der Spitze des Landes gehalten hätte. Dieser Biss und jegliche Gleichberechtigung änderte nichts daran, dass sie eine Frau war, und eine Chefredakteurin würde es wegen der konservativen Geschäftsführung vorerst nicht geben. Doch unter Calle, dem missgünstigen Kriecher, sah Valter jetzt schon das Blatt so weit verkommen, bis man nicht einmal mehr Fische darin einwickelte. Aber dafür benutzte man heutzutage ohnehin keine Zeitungen mehr wie in den guten alten Zeiten. Sollte ihn nicht eigentlich auch das kalt lassen, wo er doch bereits offiziell und mit Pauken und Trompeten in den Altersruhestand verabschiedet worden war?
Calle stand gestriegelt und arrogant an den Türrahmen gelehnt und wippte mit dem Fuß. Am liebsten hätte Calle ihn wohl schon längst aus dem Fenster gestürzt, damit er freie Bahn hatte. Dieser Taugenichts kann es noch nicht einmal abwarten, bis ich das Feld geräumt habe, ich, der ich diese Zeitung nach dem Krieg zu dem gemacht habe, was sie heute ist, dachte Valter. Es war ihm ein Stich in die Brust. Aber er war damals genauso gewesen, als er in den Chefsessel gehoben worden war. Das junge Volk kann es niemals abwarten, die Alten loszuwerden, alles von Grund auf neu zu strukturieren, als Beweis der eigenen Macht und Genialität, und doch wieder die gleichen Fehler zu machen wie die vielen Generationen vor ihnen. Ewig gleich dreht sich das Rad der Windmühle und kommt doch nicht voran.
Valters ehemalige Sekretärin Elsa wartete auf ihn an dem Schreibtisch vor seinem Büro, an dem sie beinahe vierzig Jahre lang gearbeitet hatte. Sie verließ die Zeitung gemeinsam mit ihm und wollte nun mit sechsundfünfzig Jahren ihr weiteres Leben genießen. Valter hatte selbstverständlich dafür gesorgt, dass sie für ihre unerschöpfliche Gelassenheit und Opferbereitschaft, die ihre Position von ihr erfordert hatte, eine fürstliche Abfindung bekam. Deutlich stand ihre Dankbarkeit und Ergebenheit in ihr Gesicht geschrieben, als sie Valter durch die Redaktionsräume folgte.
Ehrerbietend standen die Redakteure und Laufburschen auf den Gängen und im Großraumbüro, schüttelten Valter die Hand zum Abschied, bekundeten ihre Hoffnungen, dass er sich mal wieder blicken ließe, und fuhren dann mit ihrer Arbeit fort, denn am frühen Morgen sollte die wochentägliche Ausgabe pünktlich bei den Lesern im Briefkasten oder am Kiosk warten.
Calle begleitete Valter und Elsa bis zur Tür, so als wollte er vollkommen sicher gehen, dass der Alte auch wirklich weg war und seine Herrschaft wie geplant begann. Valter konnte förmlich riechen, wie dem Schisser der Angstschweiß das gestärkte Hemd unter dem mäßig sitzenden Jackett am Körper kleben ließ. Alle, selbst die Konkurrenzzeitungen, wussten, dass Calles Erfolg allein darauf basierte, dass er anderen die Storys stahl, auch wenn ihn noch keiner damit konfrontiert hatte. Für diesen Ruf gab es noch keine Beweise, aber es war offensichtlich, dass er sich mit fremden Federn schmückte; so falsch wirkte er. Er stolzierte herum wie ein Pfau vor einer Herde Spatzen.
Calle verabschiedete Valter an der Tür mit aufgesetzter Freundlichkeit und eiskalter Effizienz, dann wandte er sich blitzschnell zum Gehen um. Valter zischte ihm ein paar Worte hinterher, hoffend, dass Marie noch einen Weg finden möge, um Calle auszustechen. Wenn Calle es nicht schaffte, sich mit seiner Hinterfotzigkeit bei der Tiden zu halten, dann wäre er ein für alle Mal erledigt. Kein anderer würde sich seiner erbarmen. Warum bloß hatte Valter ihn nicht schon früher abgesägt? Zum Glück war damit zu rechnen, dass Calle sich schon bald einen ordentlichen Patzer leistete, der ihn Job und Karriere kostete. Andererseits gönnte Valter Marie die Befriedigung, diesen elenden Waschlappen selbst abzuschießen.
Als sie den Aufzug betreten und sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, wandte sich Valter an Elsa.
"Und? Haben Sie alle Vorkehrungen für Ihre große Kreuzfahrt getroffen?"
Dies würde nun vielleicht ihr persönlichstes Gespräch miteinander sein, obwohl sich Elsa und Valter nach nunmehr fast vierzig Jahren der Zusammenarbeit besser kannten als ihre Ehepartner; vielleicht auch ihr letztes.
"Ja, es geht in vier Tagen los und Clarence ist schon ganz unruhig. Fast täglich übt er das Schnorcheln in der Wanne, damit er auch bestimmt nicht auf Martinique ertrinkt."
Valter grinste sie breit an. Er konnte es sich detailliert ausmalen, wie Clarence ein paar Tropfen Wasser in die Badewanne einließ, mit Taucherbrille, Schnorchel, Schwimmflossen und -flügeln ausgerüstet hinein stieg und sein tonnenförmiger Körper die Pfütze verdrängte, so dass Clarence den Eindruck hatte, wirklich ein Bad zu nehmen. Bei dem vielen Fett schwamm er selbst ohne die Schwimmflügel besser als jede Boje. Clarence konnte gar nicht ertrinken, dachte Valter, doch behielt er diesen Gedanken natürlich für sich.
"Sie werden sehen, dass die Karibik zu dieser Jahreszeit einfach traumhaft ist. Sie werden die Tiden und mich vollkommen vergessen haben, wenn Sie nach einem Cocktail unter Palmen am weißen Strand in das kristallklare, warme Wasser steigen. Spätestens wenn Sie die Seychellen erreicht haben, werden Sie beschließen, nie wieder zurückzukehren."
Sie lächelte zurückhaltend. Er tat es ihr gleich. Sie waren viel zu professionell für mehr Herzenswärme. Stattdessen war da ein sarkastischer Unterton in ihren Stimmen, den sie als Chiffre für Freundlichkeit benutzten.
"Sie wiederum können sich kaum vorstellen, wie sehr ich die Arbeit und Sie bereits jetzt vermisse. Wie soll ich nur leben ohne all die Überstunden, den Stress, Ihre Unberechenbarkeit und absonderlichen Extrawünsche? Ich werde doch eingehen vor lauter Langeweile."
Ihre Augen glitzerten ihn an. Er wünschte ihr ohne weiteres, dass sie eine unterhaltsame Beschäftigung fände, damit sie bei ihrem faden Ehemann nicht dahinvegetierte. Eine Scheidung würde ihrem Teint besonders gut tun, überlegte sich Valter und war froh, dass der Aufzug das Erdgeschoss erreicht hatte und es nicht zu einer herzzerreißenden Abschiedsszene kam. Er kannte doch die Frauen, immerhin hatte er bereits vier von ihnen verschlissen.
"Ist Ihr neues Häuschen denn bereits bezugsfähig?", fragte Elsa, während sie auf die Drehtüren zugingen.
"So gut wie. Die letzten Kleinigkeiten werde ich in den nächsten Wochen selbst machen, schließlich habe ich jetzt mehr als genug Zeit dafür."
War da nicht Bewunderung in Elsas Augen? Er wusste seit vielen Jahrzehnten, dass er all das verkörperte, was sie sich von einem Mann wünschte, und auch, dass Clarence keine einzige dieser Eigenschaften besaß. Wie lange würde sie noch brauchen, um das zu erkennen? Nicht, dass er auch nur im Geringsten daran interessiert war, sie zu seiner fünften Frau zu machen. Dazu kannte sie ihn viel zu gut. Das würde niemals funktionieren. Aber sie sollte sich wenigstens einen ordentlichen Mann besorgen, mit dem sie ihr Geld und die Jahrzehnte, die sie noch vor sich hatte, in vollen Zügen genießen konnte.
Valter verabschiedete sich von Elsa mit einem zögernden Händedruck, zögernd, weil er wirklich eine Umarmung erwog. Dies war die vermutlich absurdeste Situation seines langen Lebens, nicht zu wissen, was in aller Freundschaft und alter Untergebenheit angemessen war.
Sie verließ das Gebäude der Tiden, ohne zurückzublicken. Elsa war eine starke Frau. Das hatte er schon damals in jenem Augenblick gewusst, als er sie zwischen all den anderen Bewerberinnen hatte sitzen sehen. Bildhübsch und blutjung war sie damals, so dass sie trotz ihrer Stärke noch weich und formbar war und flexibel wie ein Birkenzögling. So hatte er sie für seine alleinigen Bedürfnisse abrichten können und so waren sie zu diesem symbiotischen, traumwandlerischen Verständnis gekommen. Er hatte alle anderen Bewerberinnen nach Hause geschickt, auch die erfahrensten und besten Sekretärinnen, hatte Elsa mit in sein Büro genommen und eingestellt, ohne ihre Referenzen gesehen zu haben. Dieses Gespür für den wesentlichen Kern hatte ihn schon in seinen Zwanzigern zum besten Journalisten des Landes und schnell zum Chefredakteur der Tiden gemacht. Damals war er grünschnäblige dreißig Jahre alt und der Krieg, der um sie herum in Europa und der Welt gewütet hatte, erst seit kurzem zu Ende. Aber er wusste, dass Elsa, gerade einmal siebzehn Jahre alt, unter all den anderen Bewerberinnen am besten geeignet war. Dass sie bereits in so jungem Alter Mutter war und die Schule abgebrochen hatte, spielte für Valter keine Rolle. Elsas Mutter kümmerte sich um den Enkel und Elsa um Valter, damit er sich, der er selbst noch jung war, in seiner überaus wichtigen Position behaupten konnte. Damals war es die Zeit für einen Neuanfang und deswegen durfte er nicht von Erwartungen und Konventionen gebremst werden, die eine eingearbeitete Sekretärin in sein Büro hinein getragen hätte.
Valter ging hinüber zum Empfang, gab dort seinen Hausausweis und die Schlüssel bei der freundlichen Dame ab, deren Namen er sich nicht gemerkt hatte. Eine Vornehmlichkeit seiner Position war, auch wenn er konnte, sich nicht alles merken zu müssen. Er ging hinter das Gebäude zu seinem Sportwagen, damit er bei offenem Verdeck die Küstenstraße entlang zu seinem neuen Haus fahren konnte. Elsa hatte es 'Häuschen' genannt, aber die Villa, die er in dem kleinen Dörfchen einige Kilometer hinter Hudiksvall gekauft hatte, war die größte und schönste der Gemeinde. Sie war aus Stein gebaut, obwohl dort fast alle Gebäude aus Holz waren. Er hatte lange gesucht, bis er das richtige Haus in so einem malerischen Küstenörtchen mit Sandstrand gefunden hatte. Er durfte nicht vergessen, dass er dem Makler einen großen Gefallen dafür schuldete.
Das Haus lag am Ortseingang und etwas erhaben über dem Dorf. Der Großteil seiner Habseligkeiten war eine Woche zuvor von einer Speditionsfirma herüber gebracht und unter seiner Aufsicht ins Haus getragen worden. Darum befand sich kaum mehr als eine Zahnbürste und ein paar Kleidungsstücke in der weichen Ledertasche im Kofferraum.
Der Ort, in den er nun einfuhr, hatte kaum einhundert Einwohner, lag dreihundert Kilometer nördlich von Stockholm an der See und niemand kannte ihn hier. Das war das Beste daran und darum erhoffte er sich, erholsame Ruhe und Besinnlichkeit für seinen Lebensabend zu finden. Er würde ein bisschen am Haus und im Garten arbeiten, spazieren und angeln gehen, sich hoffentlich mit ein paar Dorfbewohnern anfreunden und vielleicht endlich den künstlerischen Roman schreiben, für den er nie die Zeit gefunden hatte.
Er parkte den Wagen in der Einfahrt und stellte seine Tasche im Durchgang zur Küche ab, öffnete die Verandatür seines neuen Wohnzimmers und atmete die salzig prickelnde Seeluft tief durch die Nase ein. Von hier aus konnte man ungehindert über die breiteste Stelle des Bottnischen Meerbusens schauen. Es gab nur ein paar wenige kleine Inseln an diesem Küstenstrich, ansonsten lediglich Wasser, und am Horizont konnte man Finnland ausmachen, über das sich jeden frühen Morgen die Sonne erhob und in sein Schlafzimmer oben schien. Indem er dieses Haus bezog, machte Valter eine große Zäsur in seinem Leben. Von jetzt auf gleich waren die durchgearbeiteten Nächte und verschlafenen Tage für immer gezählt. Von nun an würde er sein Leben mehr am Sonnenrhythmus ausrichten, dachte er für einen Augenblick. Doch weil die Tageslänge in dem nordischen Land natürlich stark schwankt, musste er wohl doch seinen eigenen Rhythmus finden. Er konnte ja kaum den ganzen Sommer über wachen und im Winter den ganzen Tag durchschlafen. Um die Sommersonnenwende wurde es in dieser Gegend niemals wirklich dunkel, anders als in Stockholm, obwohl sein altes Zuhause keine drei Breitengrade südlicher lag.
Valter erwachte von der Sonne, die seit Stunden in sein Schlafzimmer strömte, aber nun auf sein Gesicht fiel. Er blinzelte und seufzte. Es würde möglicherweise doch etwas länger dauern, bis er sich an irgendeinen Rhythmus gewöhnte. Noch nicht richtig erwacht torkelte er die Treppe hinunter und setzte Kaffee auf. Nur in Pyjama gekleidet fröstelte er milde in den weiten, fremden Räumen, aber besonders zog die Kälte von den Fliesen der Küche in seine nackten Füße.
Er war am jähen Ende seiner Sechziger, aber er sah wesentlich jünger aus, lebendig und kräftig wie ein Mittfünfziger. Er hatte trotz seiner vielen Arbeit mit regelmäßigem Sport für seine Gesundheit und sein Aussehen gesorgt und dennoch würde er sich in diesem Haus Pantoffeln besorgen müssen, so unelegant und unpraktisch ihm dies auch erschien.
Er ging barfuß zum Briefkasten vor der Türe und riss die Augen ob der gähnenden Leere darin weit auf. Er kramte sogar mit der Hand in der Leere, nur um diese bestätigt zu finden. Entweder war die Post noch nicht da gewesen oder jemand im Vertrieb hatte einen Fehler gemacht, dass ihm keine Zeitung geliefert worden war. Wenn mittags noch nichts da wäre, würde er anrufen und Stunk machen.
Die Kaffeemaschine gurgelte. Er befüllte eine Tasse und setze sich an den Wohnzimmeresstisch vor dem großen Fenster bei der Veranda. Sechs Minuten lang schaute er aus dem Fenster, die Umgebung betrachtend, die in strahlendes Morgenlicht getaucht war. Eine ältere Frau ging die Straße entlang, blieb stehen und sah hinauf zu dem fremden Auto vor dem Haus, das sehr lange leer gestanden hatte. Dann ging sie weiter. Nichts weiter geschah, so ruhig war es an diesem Ort, und die Möwen, die hier über der See kreisten genauso wie in Stockholm über dem Mälarsee, langweilten ihn bereits jetzt. So stand er denn auf, zog sich den Jogginganzug an, den er seit Jahren unbenutzt in seinem Schrank lagerte, weil seine letzte Frau ihm diesen gekauft hatte. Er begann, seine Möbel, die die Spediteure lieblos hingestellt hatten, ordentlich zurecht zu rücken und die Kisten auszupacken, die noch überall verteilt herumstanden, obwohl seine Anweisungen eindeutig gewesen waren. Die meisten Gegenstände waren von ausgesuchter Qualität und entsprechend schwer. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, sie ganz allein zu bewegen. Er war schon immer ein Anpacker gewesen. Die Vormittagsstunden verflogen eilig. Obwohl er ständig zur Straße hinüberschaute, sah er eigentlich niemanden vorübergehen oder vorbeifahren.
Gegen Mittag zog Valter sich ein Hemd und eine braune Cordhose an, zog seinen leichten, dunkelblauen Mantel über und ging an seinem Wagen vorbei auf die Straße. Er war froh, dass er den Jogger wieder ausgezogen hatte. Natürlich war ihm klar, dass er in ordentlicher Kleidung mit Knöpfen und tailliertem Schnitt nicht hätte vernünftig anpacken können, aber er hasste diese schlabberige Freizeitkleidung. Das war einfach nicht seine Art. Er ging die Straße ins Dorf hinein, die er ein paar Wochen zuvor ein Mal mit dem Auto abgefahren war. Die ältere Frau, die morgens vorbeigegangen war, stand rauchend vor dem Gemischtwarenladen und beäugt ihn, der allein und fremd die Strandpromenade entlang auf sie zu spazierte.
"Wohnen Sie etwa jetzt oben in der Villa?" Der Ton, mit dem sie dies sagte, war abfällig und auffällig kühl.
"Ja, ich bin frisch im Ruhestand und gerade eingezogen", entgegnete Valter dennoch freundlich. Er war jetzt im Ruhestand und so wollte er sich auch verhalten. Ihre Laune könnte überhaupt nichts mit ihm zu tun haben, schließlich kannte sie ihn überhaupt nicht, sinniert er.
"Na, dann herzlich willkommen!" Sie zog noch einmal kräftig an ihrer Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie aus. Sie trug solche Gesundheitstreter, wie Valters zweite Frau sie kurz vor der Scheidung nur noch getragen hatte. War die Art, wie sie die Zigarette austrat, nicht doch eine offensichtliche Geste der Ablehnung?
"Haben Sie geöffnet?" Valter deutete mit einem Kopfnicken auf ihr Geschäft. Sie war nicht gerade die Freundlichkeit in Person, dachte er, aber er wollte es sich nicht gleich bei ihr verscherzen.
"Ich wollte gerade Mittagspause machen, aber kommen Sie kurz herein."
Sie öffnete ihm die Tür, ließ ihn eintreten und sich umschauen, während sie sich hinter ihrer Kassentheke niederließ.
"Suchen Sie etwas Bestimmtes?", rief sie zu ihm herüber. Valter drehte sich von den Regalen zu ihr um.
"Im Moment nicht. Ich mache mich vor allem mit Ihrem Sortiment vertraut."
Sie lächelte ihn gekünstelt an. Er ging weiter durch die drei Gänge und dachte bei sich, dass es gut wäre zu wissen, was er auf die Schnelle hier kaufen konnte und was er sich von weiter weg besorgen musste. Er griff nach einer Schachtel Nägel, um ein paar Bilder und ein Thermometer aufzuhängen. Einen Hammer sollte er noch irgendwo in den Kartons haben, obgleich er sich dessen nicht sicher war, weil er ihn nie selbst benutzt hatte. Im Laden gab es sogar ein paar abgepackte Lebensmittel und Konserven, unter denen er das Nötigste für Butterbrote oder ein einfaches Mittagessen fand. Er war noch nie der Frühstücker gewesen, aber langsam wurde es Zeit, dass er etwas zu essen in seinen Magen bekam. Hier im Dorf gab es vermutlich keinen Imbiss, an dem er sich eine Kleinigkeit kaufen konnte, wie er es gewöhnlich vor Arbeitsbeginn getan hatte.
Mit dem Arm voller Waren ging er hinüber zu der Frau, die ihn die ganze Zeit über nüchtern beobachtet hatte. Sie tippte die Preise, die sie scheinbar im Kopf hatte, in die alte Registrierkasse ein.
"Das macht hundertdreiundsechzig fünfzig."
Valter grub tief in seinem Portemonnaie, um sich seine Überraschung und Entrüstung über die Mondpreise nicht ansehen zu lassen. Für die paar Teile war das doch ziemlich teuer, was die Frau von ihm verlangte. Bei ihr würde er definitiv nur das Allernötigste kaufen.
"Haben Sie bitte eine Tüte für mich?", fragte er, als er ihr das Geld überreichte.
"Sie meinen diese Plastiktüten?" Sie gab ihm sein Wechselgeld. Er nickte auf ihre Gegenfrage.
"Nein, die haben wir hier nicht. Die Leute im Dorf wissen, dass sie auch tragen müssen, was sie kaufen. Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein, Herr…?"
"Valter Harbinger. Vielleicht können Sie mir verraten, wann hier die Post ausgetragen wird." Valter, der langsam wütend wurde, stopfte seine Einkäufe teils in seine Manteltasche und stapelte sich den Rest auf den Arm.
"Oh, die wird schon seit Jahren nicht mehr ausgetragen. Die müssen Sie sich schon selbst in der Post abholen gehen."
"Und wann macht die Post auf?", verlangte er zu wissen und gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben, denn auch wenn die Verkäuferin ganz ruhig schien und ihre Stimme neutral klang, so spürte Valter doch, dass sie ihn verachtete. Sie hielt ihn sicherlich für einen verwöhnten Städter, der er vermutlich auch war.
"Das ist ganz unterschiedlich und hängt davon ab, wann Pia aufsteht."
"Pia wer?"
"Pia Skog, unsere Postfrau, die ihre Filiale ein Stück die Straße hinauf hat. Sie sind vorhin dran vorbeigelaufen. Pia bringt auch in unregelmäßigen Abständen ein örtliches Magazin heraus. Wenn Sie also Neuigkeiten haben, wenden Sie sich an sie. Und nun wünsch ich Ihnen einen schönen Tag."
"Ja, Ihnen auch einen schönen Tag", presste er zwischen seinen Zähnen hervor und verließ den Laden.
Auf dem Rückweg erkannte er den unauffälligen Postladen. Ein Schild im Fenster einen Wohnhauses deutete ihm den Weg. Es schien niemand im Haus zu sein und darum ging Valter zurück zu seinem neuen Heim, um sich Tee zu kochen und weiter seine Sachen auszupacken. Er hatte es nicht eilig damit, aber er hatte auch nichts anders zu tun.
Nachmittags kehrte er zur Post zurück und dieses Mal stand die Eingangstür ein Stück weit offen. Als er geklopft hatte und die Haustüre weiter aufstieß, trat Pia Skog aus einem hinteren Zimmer zu ihm, sich die nassen Hände an ihrer Schürze abtrocknend. Sie war eine kleine, runde Frau mit fast kindlichem Gesicht.
"Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?", wandte sie sich Valter zu.
"Guten Tag, Frau Skog. Mein Name ist Valter Harbinger und ich bin…"
"Ach, Sie sind der Herr, der in die Villa gezogen ist!", fiel sie ihm ins Wort. "Ich hab da was für Sie."
Valter folgte ihr in das Postbüro und wartete, während sie in ihren Stapeln nach seiner Post wühlte. Im Grunde war es kaum mehr als ein kleiner Büroraum, in dem sich die notwendigen Waagen, Kisten, Briefmarken und Materialien befanden.
"Ah, da ist es ja. Hier ist ein Brief, Ihre Zeitung – Sie lesen also die Tiden – und hier haben Sie die letzte Ausgabe unserer Hälsingländsk Bladet, damit Sie wissen, was hier in der Gegend in letzter Zeit so passiert ist. Als Neuankömmling kriegen Sie die ganz umsonst von mir. Habe ich Ihnen eigentlich schon erzählt, dass fast alle Artikel des Bladets von mir selbst geschrieben werden. Falls Sie mal eine Annonce aufgeben wollen oder Neuigkeiten für mich haben, kommen Sie nur ja sofort zu mir. Sowieso kommen eigentlich fast alle zu mir, ständig, mit jedem Scheiß. Huch, hab ich das gerade wirklich gesagt?" Sie hob geziertverlegen die Hand vor den Mund und kicherte stupide. Valter rollte innerlich mit den Augen.
"Ich bin also das Mädchen für alles. Damit meine ich, ich bin nicht nur die Frau vom Postamt, sondern auch Journalistin und Herausgeberin. Also, ich hab das nicht studiert oder so. Sie wissen schon, wie ich das meine. Und was machen Sie so, dass Sie in unser kleines Dörfchen gezogen sind?"
Valter holte tief Luft, genauso wie Pia. Endlich ist sie ruhig, dachte Valter und antwortete hochnäsig und schroff: "Ich war bis vor ein paar Tagen der Chefredakteur der Tiden und genieße jetzt hier meinen Ruhestand."
Sofort bereute Valter es, dieser Klatschbase so impulsiv sensible Informationen von sich preisgegeben zu haben. Pia, die gerade erst ihre Hand heruntergenommen hatte, hob sie triebhaft-verschämt erneut vor den Mund.
"Hups! Und da prahl ich noch so laut vor Ihnen. Das ist mir jetzt aber unangenehm", bekannte sie erneut kichernd, knuffte ihn doch tatsächlich in die Seite und fuhr fort: "Also dann weiß ich ja, dass ich mich an Sie wenden kann, wenn ich mal fachliche Fragen habe. Ich hab da übrigens eine ganz andere Frage: Würden Sie wohl bitte meine Soße probieren? Ich möchte meinen Mann mit einem neuen Rezept überraschen, damit es vielleicht im Bett wieder besser klappt. Sie wissen schon: knick-knack! Ich bin mir aber gar nicht sicher, ob die wirklich schmeckt. Was halten Sie davon?"
Sie hatte Valter bereits aus dem Postzimmer in ihre Küche gezerrt, dass ihm seine Einkäufe beinahe vom Arm fielen, und hielt ihm einen Kochlöffel mit der braunen Soße vors Gesicht. Sie roch nicht gut.
"Vorsicht, die ist noch heiß. Am besten pusten Sie noch mal kräftig", sagte sie. Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, hob Pia den Löffel vor den eigenen Mund, pustete die Soße kühler und schlürfte selbst die Soße vom Löffel.
"Also ich finde, da könnte noch ein bisschen Estragon dran, finden Sie nicht auch?" Schon kramte Pia in ihrem Gewürzregal, öffnete ein Döschen, streute eine dicke, grüne Haut auf die Soße und rührte diese unter.
"Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss noch ziemlich viel in meinem Haus machen", wandte Valter ein und ging sich rückwärts weitertastend zur Tür. Pia ließ den Löffel in die Soße plumpsen und begleitet ihn hinaus.
"Oh nein! Ich bitte Sie um Entschuldigung! Ich quatsche und quatsche und halte Sie von Ihrer Arbeit ab, dabei habe ich ja selbst mehr als genug zu tun. Bitte, gehen Sie! Sie kommen doch aber auch sicherlich bald mal wieder vorbei, oder?"
Die Tür war beinahe hinter Valter zugefallen, da hörte er noch, wie Pia zu sich selbst sprach: "Sie kommen alle wieder."
Nach wenigen Minuten war Valter zurück in seinem neuen Haus, machte sich ein paar Scheiben Knäckebrot und setzte sich mit Kaffee, Brot und Post auf die Veranda. Was für ein verrücktes Dorf er sich ausgesucht hatte, dachte er bei sich und öffnete den Brief, über die Absurdität der beiden Begegnungen lachend. Der Umschlag war mit Schreibmaschine beschriftet worden und es war ganz unverkennbar Elsas Schreibmaschinenschrift. In dem Umschlag lag eine von der ganzen Redaktion unterschriebene Karte, die ihm mitteilte, dass man ihn vermissen werde und ihm einen geruhsamen Lebensabend wünsche.
Auf einmal fühlte sich Valter älter als sonst und zweifelte daran, dass das abgeschiedene Leben wirklich sein Ding war. Vielleicht hätte er es vorher für einige Zeit ausprobieren sollen, statt mit Ach und Krach mit seinem gewohnten Umfeld zu brechen und alle Brücken abzureißen. Nun saß er in diesem Dorf mit seinen schrulligen Weibern fest. Würde er die gepflegte Gesellschaft und die prickelnde Lebendigkeit Stockholms vermissen?
Valter rief sich ins Gedächtnis, dass er jederzeit in die Stadt zurückkehren konnte, wenn es ihm hier nicht gefiele. Es gab noch genügend Leute, die ihm einen oder zwei Gefallen schuldig waren, und gute Freunde, die ihn mit offenen Armen willkommen zurück heißen würden. Dennoch hatte er entschieden, in den ruhigen Norden zu ziehen, und schon allein deswegen sollte er es jetzt zumindest versuchen. Bei einem Biss ins krosse Brot dachte er sich, dass er nun vielleicht auch das Kochen lernen könnte oder eine nette Frau kennen lernen dürfte, die für ihn kochte. Zumindest hoffte er inständig, dass es hier auch vernünftige und alleinstehende Frauen gab.
Die Karte der Redaktion zur Seite legend faltete Valter die Zeitung auf. Sie war durch den Postweg verknittert, aber dennoch war es die schönste und beste Zeitung, die er kannte, zumal diese Ausgabe nach über vierzig Jahren Redaktionsarbeit die erste war, die er vollkommen unprofessionell und gelassen lesen konnte. Andererseits, konnte er das nach vierzig Jahren wirklich?
Wie ein Kind freute er sich darauf, den Bericht seiner Pensionierung zu lesen. Elsa hatte ihm gegenüber angedeutet, dass eine Seite dieser Ausgabe für ihn reserviert wäre, um sein Leben und Schaffen für die Tiden zu rekapitulieren. Tatsächlich war auf der Titelseite ein Hinweis auf den Sonderbericht auf Seite zwei und die entstandene Änderung der gewohnten Seitenfolge zu finden. Hastig blätterte Valter um, doch was er erblickte, verscheuchte zuerst alle Farbe aus seinem Gesicht, nur damit sofort darauf die Zornesröte hineinfahren konnte.
Dieser Wichser Calle hatte es tatsächlich gewagt, den Artikel über ihn auf ein Minimum zu reduzieren, um eine selbstherrliche Lobeshymne auf den neuen Chefredakteur, nämlich sich selbst, zu veröffentlichen! Damit machte er die Tiden zu einer noch größeren Lachnummer, als sie es durch die Ernennung Calles zum Chef ohnehin schon war.
Valter brüllte wie ein verwundeter Elch, knüllte seine Tiden zusammen und warf sie so weit er konnte über die Verandabrüstung.
In der Gartenlaube, die zum Grundstück gehörte, fand Valter eine alte, verrostete Harke, einen manuellen, ebenfalls angerostet Rasenmäher und anderes Gärtnerwerkzeug. Hitzig und wild säbelte er einige Sträucher und Stauden nieder, pflügte ein paar Beete unter und mähte wütend den Rasen, so lange der Mäher hielt. Denn mit einem Mal barst ein Metallteil, verhakte sich und brachte alle anderen beweglichen Teile unverzüglich und abrupt zum Stillstand, so dass Valter mit seiner Vehemenz über das Gerät zu fallen drohte. Er fluchte laut, nachdem er wieder fest auf seinen Füßen stand, und trat gegen den Schrotthaufen. Er würde sich demnächst akkurates, sach- und zeitgemäßes Werkzeug kaufen, etwas, mit dem man wirklich arbeiten konnte, womöglich sogar etwas Motorbetriebenes.
Er verstaute den kaputten Kram im Schuppen und betrachtete das Ergebnis seiner Arbeit: der unberührte Teil seines Garten glich einer wuchernden Wildwiese, die andere Hälfte war ein kurz geschorener, stoppeliger Rasen, der weit entfernt war von dem saftig-seidigen englischen Rasen, den er sich wünschte; ein Teil der Bepflanzung glich einem üppigen, riesenwüchsigen Dschungel, während die durch ihn beschnittenen Pflanzen unförmig und karg waren. Er hatte hauptsächlich die trockenen Stämme und Stiele stehen gelassen und das äußere Grün abgeschnitten, welches sich nun auf dem geschnittenen Rasen häufte. Die Wut auf Calle hatte er durch die Schufterei kanalisiert und abgebaut, aber die Bilanz verdross ihn erneut, weil der wilde, wuchernde Teil des Gartens ihm doch wesentlich schöner und lebendiger vorkam als der verstümmelte. Schleunigst flüchtete Valter den kläglichen Anblick, las die zerknüllte Zeitung auf und ging ins Haus.
Der Tag neigte sich dem Abend zu und irgendwann würde er etwas Reichhaltiges und Warmes essen wollen, wie er es zum Redaktionsschluss nach vollbrachter Arbeit für gewöhnlich getan hatte. Jedoch gab es hier nicht die Dichte und Auswahl an guten Restaurants wie in Stockholm, wo er ganz nach Appetit die Gaststätte gewählt hatte. Hier in Hälsingland hießen die Alternativen 'Friss' und 'Stirb', vermutete Valter.
Valter hatte die wage Erinnerung, auf seiner Fahrt durch das Dorf vor einigen Wochen eine Gastwirtschaft gesehen zu haben. Darum beschloss er, einen Spaziergang durchs Dörfchen zu machen und, falls ihn seine Erinnerung nicht trog, dort einzukehren. Nötigenfalls könnte er immer noch ins Auto steigen und eine Gaststätte in der Gegend suchen – egal ob auf der E4 nach Süden Richtung Hudiksvall oder nach Norden gen Sundsvall. Spätestens in einer der beiden Städtchen sollte er fündig werden. Die weiten Strecken waren einer der bedauerlichen Konsequenzen seiner Ruhe.
In feinem Zwirn ging er durch eine Nebenstraße zum Ende des Dorfes, um von der Gegenseite wieder auf die Strandpromenade zurückzukehren. Aus dieser Richtung kommend befand sich in der Tat einige Häuser vor dem Gemischtwarenladen eine Schenke mit dem beleuchteten Namen 'Fridéns Krog'. Ein Pärchen war im Begriff, das Lokal zu betreten. Die Frau, die ihren Arm beim Manne eingehakt hatte, blickte in seine Richtung, kniff die Augen im Zwielicht zusammen und winkte ihm dann zu. Der Figur nach zu urteilen, handelte es sich um Pia Skog, und wahrhaftig nahm sie gerade an einem gefüllten Tisch Platz, als Valter den Krog betrat.
Valter ließ seinen Blick durch das Lokal schweifen. An den reichlichen Tischen saßen zumeist Paare, überwiegend in größeren Grüppchen. Zweifelsohne wurden in Fridéns Krog auch Speisen serviert. Am Tresen saßen einige Männer zusammen, tranken Bier und lachten. Fast ausnahmslos traf sein Blick den unbewegten der neugierigen Gäste, die bei seinem Hereinkommen merklich leiser geworden waren. Sie begutachteten ihn und tuschelten. Unfraglich hatte sich seine Ankunft bereits unter den Dorfbewohnern herumgesprochen und jeder wollte wissen, wer der Neuling, dieser pensionierte Chefredakteur, war. In einer Ecke konnte er die Händlerin ausmachen, die er kaum wiedererkannte, weil sie lachte. Pia winkte ihm aufmunternd zu und er nickte höflich in die Runde. Damit entspannte sich die Stimmung. Man wandte sich wieder seinen Tischpartnern zu und die Lautstärke schwoll postwendend an.
Hinter dem Tresen stand ein blonder Hüne mit langen Haaren und einer weißen Schürze. Valter nahm an, dass es sich bei ihm um Herrn Fridén handelte. Dieser zapfte Bier und besprach sich mit einer zierlichen, brünetten Frau, die vermutlich Frau Fridén war und die mit einigen Tellern beladen zu ihm herüber kam.
"Guten Abend, Herr Harbinger. Ich bin Klara Fridén. Sie möchten sicherlich etwas essen. Nehmen Sie doch dort drüben an dem freien Tisch Platz und ich bin sofort bei Ihnen", empfahl sie ihm. Valter setzte sich, während Klara das Essen servierte. Sofort stand Pia Skog vor ihm und schüttelte ihm die Hand.
"Wie schön, Sie wieder zu sehen! Ich hätte nicht so früh damit gerechnet. Wie gefällt Ihnen unsere kleine Kaschemme? Vielleicht sollte ich es besser nicht so nennen, um Sie nicht zu verschrecken. Also, Sie müssen wissen, dass wir sehr stolz auf Anders und seinen Krog sind. Hier treffen sich nämlich viele der Dorfbewohner und im Hinterzimmer spielen die Jüngeren und die Männer später Karten oder Billard und rauchen. Wir Frauen spielen auch Karten, aber wir rauchen nicht, also bleiben wir hier vorne und schieben teilweise die Tische zusammen. Manchmal basteln wir auch zusammen oder machen Gesprächsrunden. Auch die Dorfversammlungen finden hier in Fridéns Krog statt, denn wir haben keine Kirche und kein Gemeindehaus. Also, Sie müssen wissen, dass wir hier sowieso ziemlich… Na ja, wie soll ich das sagen? Nun, dass wir hier eher heidnisch sind. Ich hoffe, das stört Sie nicht. Wir sind dennoch eine lustige Gemeinschaft, das werden Sie noch merken, wenn die anderen etwas aufgetaut sind. Geben Sie ihnen ein bisschen Zeit. So lange werde ich mich um Sie kümmern. Kommen Sie doch einfach mal wieder bei mir vorbei. Ich habe bestimmt auch ein Tässchen Brennnesseltee für Sie. Den sammelt unsere Svea. Also, Sie müssen wissen, dass Svea unsere Kräuterhexe ist. Wenn Sie mal eine Blasenentzündung oder einen Hexenschuss haben, gehen Sie ja zu ihr. Sie wohnt in dem kleinen Hexenhaus am anderen Ende…"
"Pia, dein Mann möchte endlich bestellen", drängte sich Klara in den Monolog, "also geh endlich rüber und lass den Mann hier in Ruhe."
"Lassen Sie es sich schmecken, Herr Harbinger, und kommen Sie mich die Tage mal besuchen. Bis später!" Pia winkte ihm noch einmal zu und flitzte dann hinüber zu ihrem Mann, der bereits mit den Fingern auf dem Tisch trommelte. Valter seufzte gedehnt. Ihre Bewegungen erinnerten Valter an eine fette Hummel, die von Blüte zu Blüte taumelt. Klara reichte ihm schmunzelnd die Karte.
"Sie müssen Pia schon klipp und klar sagen, wenn sie Sie nervt, und sie wegschicken. Keine Angst, die nimmt Ihnen das nicht krumm. Sie weiß ja selbst, dass sie keinen Punkt und kein Komma findet. Jetzt kucken Sie erst mal in aller Ruhe durch die Karte und ich bringe Ihnen ein frisch gezapftes Bier, wenn es Ihnen recht ist."
"Aber bitte ein Dünnbier", bestätigte er erleichtert und schlug die von Hand geschriebene Karte auf, die eine Dauerkarte mit traditionellen, hausmännischen Speisen und eine Wochenkarte mit zwei täglich wechselnden Gerichten enthielt, einem internationalen und einem schwedischen. Über die Preise würde er nicht klagen können, wenn das Essen halbwegs schmeckte. Laut der Wochenkarte gab es heute Spaghetti Carbonara und Viltwallenbergare, also Wildhacksteaks mit Kartoffelpüree, Erbsen und Soße. Am nächsten Tag würde es Cevapcici mit Pommes frites und gefüllten Weinblättern sowie das beliebte Flygande Jacob, Hähnchengulasch mit Bananen und Erdnüssen, geben. Auf der Dauerkarte standen unter anderem Biff a la Lindström, ein Hacksteak aus Rind, Sahne, rote Beete, Kartoffeln und Kapern, der Kartoffel-Anchovis-Sahne-Auflauf Janssons frestelse, Laxpudding, ein Lachs-Kartoffel-Zwiebel-Auflauf, Raggmunk, also Kartoffelpuffer mit Bauchspeck und Preiselbeeren und einige Fischgerichte. Ganz unten stand in Rot hinzugefügt, dass es in der folgenden Woche wieder Surströmmingfest gäbe, vergorenen Hering, welcher mit Mandelkartoffeln, Zwiebeln und Gräddfil, saurer Sahne, in Tunnbröt gerollt und mit kalter Milch und Akvavit serviert wurde. Die Karte kündigte sogar für den Donnerstag der nächsten Woche, also in genau sieben Tagen, ein kleines Surströmmingfest-Fest in der Gaststätte an. Valter stöhnte. Nur in so einem kleinen Ort wie diesem konnte ein Konservenfisch so wichtig sein, dass sich alles danach richtete. Zum Glück brachte Klara Valter sein Bier und riss ihn aus seinen herablassenden Gedanken.
"Was darf es denn für Sie sein?"
"Einmal Pytt i Panna", bestellte er und wechselte neugierig das Thema, "und würden Sie mir sagen, warum Frau Skog mit ihrem Mann dort drüben sitzt? Ich hab sie heute Nachmittag noch kochen sehen."
"Ach das! Pia kocht leidenschaftlich gern, aber nichts will ihr gelingen. Ein Glück für Per, dass sie auch da einsichtig genug ist. Die beiden kommen fast täglich her, obwohl sie jeden Tag kocht, die Arme."
Es dauerte nicht lang, da brachte Klara sein Pfannengericht aus gewürfelten, gebratenen Kartoffeln, Fleischstücken und Zwiebeln. Es wurde mit roter Beete und zwei Spiegeleiern serviert. Er nahm eine Gabelvoll. Während er kaute, schloss er seine Augen, denn so gut schmeckte es. Er fühlte sich an seine frühe Kindheit erinnert. Es war eindeutig in Butter gebraten, so wie seine Großmutter es ihm immer zubereitet hatte. Als er größer wurde, durfte er ihr beim Würfeln der Zutaten helfen, aber wie genau sie es dann in der Pfanne briet und was sie möglicherweise noch dran tat, blieb für immer ihr Geheimnis. Eigentlich war es eine große Schande, dass er sich nicht das Kochen von seiner Großmutter oder Mutter abgekuckt hatte.
"Na, Ihnen scheint es ja geschmeckt zu haben!", staunte Klara, als sie in noch kürzerer Zeit den leeren Teller wieder abräumte. "Möchten Sie noch etwas? Vielleicht eine Nyponsoppa zum Nachtisch?"
"Das wäre wunderbar", bekannte der vom Geschmack überwältigte Valter und lehnte sich zurück. Er blieb nur so lange, bis er die köstliche, mit hellen Mandelbiskuits garnierte Hagebuttenkaltschale aufgelöffelt hatte, und nahm nicht an der abendlichen Gesellschaft teil. Sowohl er als auch die Dorfbewohner brauchten Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen.
In der Nacht träumte er von der Küche seiner Großmutter, in der er Schulaufgaben machte, eingehüllt in aromatischen Düften, weil sie ihre Köstlichkeiten zauberte.
Am nächsten Tag verließ Valter so gut wie gar nicht das Bett. So etwas hatte er seit fünfzig Jahren nicht mehr gemacht. Wegen der vielen Arbeit hatte er dafür weder Zeit noch Muße gehabt. An diesem Freitag jedoch ging er nicht, um die Post und Zeitung zu holen, er trank nur eine Tasse Kaffee, während er eine Kanne Tee aufbrühte, die er neben sein Bett stellte. Anschließend ließ er diese Katze von Tag an seinem Bett vorbeischleichen. Er hatte keine Lust, sich um das Haus oder den Garten zu kümmern. Wo auch sollte er anfangen und zu welchem Ziel sollte es führen? Wieder zu so einem Kümmernis wie die Gartenarbeit am Tag zuvor? Er überlegte, ob er einen Gartenarchitekten kommen, alles herausrupfen und neu gestalten sollte oder ob er den alten Garten so ließ, wie er war. Es war nach wie vor denkbar, dass er trotz seines eigenen Alters lernen würde, Altes und Verwachsenes so zu nehmen, wie es war – auch sich selbst.