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Morith – Verzehrende Liebe Im Jahr 807 n. Chr., in einem England voller Unsicherheit, Armut und Hunger, kämpfen die Menschen nicht nur gegen die harte Realität des Lebens, sondern auch gegen die unheimlichen Schatten ihrer Ängste. Während der christliche Glaube langsam Fuß fasst, ist der Glaube an Dämonen und finstere Mächte allgegenwärtig. Inmitten dieser bedrohlichen Welt steht Nael, ein einfacher Tagelöhner, der alles daransetzt, seine Mutter und seine jüngere Schwester vor dem Elend und den Gefahren des Lebens zu schützen. Als sie aus ihrem Heimatdorf fliehen müssen, beginnt eine lange, entbehrungsreiche Reise, die Nael und seine Familie an ihre Grenzen bringt. Stets auf der Suche nach einem sicheren Ort, scheinen Gefahren an jeder Ecke zu lauern – ob in Form von Räubern, Nordmännern oder den düsteren Legenden, die in den Köpfen der Menschen herumspuken. Nach einer langen, beschwerlichen Reise findet Nael entlich eine neue Heimat für seine kleine Familie. Doch bald begegnet er einem Wesen, dessen bloße Existenz die Menschen seit jeher in schiere Todesangst versetzt. Sie ist eine Morith – wunderschön, hungrig und tödlich. Erneut muss Nael um das nackte Überleben kämpfen – bis sich das Blatt auf unerwartete Weise wendet. Dieser packende historische Roman spielt mit den Urängsten der Menschen und entführt in das raue England des 9. Jahrhunderts, eine Zeit, in der Glaube und Aberglaube miteinander ringen und das Übernatürliche nicht bloß ein Mythos zu sein scheint. Ideal für Leserinnen und Leser, die spannende historische Romane mit einem Hauch von Mystik und düsteren Legenden lieben. Keine Vampire, keine Drachen, aber eine faszinierende Kreatur, die die Menschen jener Zeit in puren Horror versetzte.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Das Leben nach Norel
Alles hinter sich lassen
Unterwegs
Graymere
Ein neues Zuhause
Der Gelehrte
Der Freund und die Lasten des Lebens
Nordmänner Die Bedrohung aus dem Norden
Die Hütte am See
Tag1
Tag 2
Die verzweifelte Suche
Vereint
Kindheit
Ein Paar
Besuch
Ein Funken Hoffnung
Annäherung
Naher Tod
Wiedersehen
Ein neues Leben
Innige Liebe
Verbunden
Der Kaufmann
Frieden und Tod
Hunger
Die Last der Schuld
Wanderung
Zufall oder Gottes Wille
Siedlung
Zwei beste Freunde
Wunderschön
Gaukler
Ziehendes Volk
Brosse
Morith
Plan
Das Kloster
Alte Bekannte
Winchester
Xara und Adir
Abmarsch ins Ungewisse
Für Gott und den König
Ein neuer Anfang
Jahre des Glücks
Impressum
England, 807 nach Christus. Im Norden von Mercien, an der Grenze zu Nordumbrien, lag das Dorf Elderwood, ein abgelegener Flecken Erde, der von außen unscheinbar wirkte, doch tief im Schatten der Herrschaft seines Lehnsherrn Sir Edgar stand. Elderwood war nicht mehr als eine Ansammlung von etwa fünfzig Hütten, die aus groben, unbehandelten Holzbalken und Lehm gebaut waren. Die Dächer waren mit Stroh gedeckt, das durch die Jahre und den Wetterverfall grau und brüchig geworden war. Einige der Hütten drohten unter ihrem eigenen Gewicht einzustürzen, während andere notdürftig mit Brettern und Flechtwerk zusammengehalten wurden. Über den Dorfplatz zog sich ein schmaler Pfad aus festgetretenem Erdreich, der sich bei Regen in eine schlammige Rinne verwandelte, in der das Wasser knöcheltief stand.
Umgeben war das Dorf von kargen Feldern und dichten Wäldern, die nicht nur Lebensgrundlage, sondern auch Gefahr bedeuteten. In den Wäldern lebten wilde Tiere, und bei Einbruch der Dunkelheit wagten sich die Dorfbewohner nur selten hinaus. Sie glaubten, dass in den Schatten der Bäume Dämonen und böse Geister lauerten, die nur darauf warteten, arglose Seelen zu verschlingen. Kreuze und heilige Symbole wurden an den Türen angebracht, um das Unheil fernzuhalten, und Gebete wurden gemurmelt, wann immer man die schützende Hütte verlassen musste. Die Felder, die das Dorf umgaben, waren das Herzstück der Gemeinschaft, doch sie gaben aufgrund der schlechten Böden und des harschen Klimas nur wenig her. Jedes Jahr schien die Ernte schlechter als die vorherige, und die Dorfbewohner lebten in ständiger Angst vor dem nächsten Misserfolg. Manche sahen darin die Strafe Gottes für ihre Sünden, andere vermuteten den Einfluss bösartiger Dämonen, die ihren Neid auf die Gemeinschaft hegten.
Der 23-jährige Nael lebte in einer der ärmsten Hütten des Dorfes, zusammen mit Mildred, seiner Mutter, und Ava, seiner jüngeren, sehr hübschen Schwester. Ihre Unterkunft war kaum mehr als eine baufällige Behausung, die aus einem einzigen Raum bestand. Die Wände bestanden aus verflochtenen Ästen, die mit einer Mischung aus Lehm und Stroh verputzt waren. Der Lehm bröckelte vielerorts bereits ab und gab den Windböen und der Kälte wenig Widerstand. Das Strohdach war undicht, und wenn es regnete, musste Mildred, Eimer und Schalen aufstellen, um das eindringende Wasser aufzufangen. In den besonders schlimmen Winternächten kroch die Kälte durch jede Ritze, und die kleine Feuerstelle in der Mitte der Hütte schaffte es kaum, die Temperatur über dem Gefrierpunkt zu halten.
Der Raum diente zugleich als Wohn-, Schlaf- und Arbeitsbereich. Drei schlichte Heuhaufen, bedeckt mit alten, zerschlissenen Fellen, bildeten die Schlafplätze für Nael, seine Mutter und seine Schwester Ava. In einer Ecke der Hütte stand ein kleiner, wackeliger Tisch, der bei jedem Abendessen unter der Last der Schüsseln und Krüge bedenklich knarrte. Es gab nur drei Hocker, die so alt und abgenutzt waren, dass man stets befürchten musste, sie könnten unter einem zusammenbrechen. Die wenigen Habseligkeiten der Familie – einfache Holzschüsseln, ein paar Kleidungsstücke und etwas Werkzeug – waren in grob gezimmerten Kisten verstaut, die den ohnehin knappen Raum weiter beengten.
Diese Hütte, so armselig sie auch war, gehörte jedoch nicht der Familie. Sie gehörte Sir Edgar, dem Lehnsherrn, wie alles Land und jedes Gebäude in Elderwood. Nael, Mildred und Ava waren in ihrer eigenen Heimat nur geduldet, solange sie dem Lehnsherrn Nutzen brachten. Wenn Nael nicht in der Lage wäre, seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, oder seine Mutter und Schwester ihre Dienste auf den Feldern zu leisten, könnten sie jederzeit vertrieben werden. Dieses Wissen lastete schwer auf der Familie. Jeder Tag, an dem sie in dieser Hütte blieben, war ein Geschenk der Willkür, und die Angst, eines Tages alles zu verlieren, war allgegenwärtig. Manche munkelten, dass Sir Edgar einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, um seine Macht zu mehren, und dass er jene, die ihm missfielen, den Dämonen zum Fraß vorwarf. Ob wahr oder nicht, diese Gerüchte schürten die Furcht vor dem Lehnsherrn und ließen die Dorfbewohner vor Angst erzittern.
Elderwood war ein Dorf, das von einem Kreislauf der Ausbeutung und des Leids geprägt war. Die Dorfbewohner arbeiteten hart, doch ihre Mühen brachten ihnen kaum mehr als das Notwendigste zum Überleben ein. Der Großteil ihrer Ernte und ihrer Handwerksprodukte ging an den Lehnsherrn, der sie gnadenlos auspresste. Die Frondienste, die von Sir Edgar auferlegt wurden, nahmen den Männern und Frauen die Zeit und Kraft, um für das eigene Wohl zu arbeiten. Wer seine Abgaben nicht rechtzeitig oder nicht vollständig leisten konnte, musste mit harten Strafen rechnen. Es gab Geschichten von Dörflern, die spurlos verschwanden oder in den Kerkern des Lehnsherrn landeten – ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod. Manche glaubten, dass die Unglücklichen in den dunklen Verliesen dem Wahnsinn verfielen oder von Dämonen besessen wurden, die Sir Edgar dienten.
Sir Edgar regierte Elderwood mit eiserner Hand, im Namen von König Coenwulf von Mercien. König Coenwulf war ein Herrscher, dessen Streben nach Macht und Expansion das Leben seiner Untertanen ins Elend stürzte. Während der König und sein Adel in prunkvollen Hallen Feste feierten, lebten die Menschen von Elderwood in bitterer Armut. Ihre Hütten, so wie die von Nael und seiner Familie, waren Symbole ihrer Unterdrückung – einfache, zerfallene Behausungen, die sie nie ihr Eigen nennen konnten und die jederzeit von ihnen genommen werden konnten. Doch trotz aller Not klammerten sich die Dorfbewohner an ihren Glauben, sowohl an den christlichen Gott als auch an die alten heidnischen Gottheiten und Geister. Sie hofften, dass irgendwann ein Erlöser kommen würde, um sie von der Tyrannei des Lehnsherrn zu befreien und die bösen Mächte zu vertreiben, die ihr Dorf heimsuchten.
Nael träumte oft davon, diesem Leben zu entkommen. Doch die Realität holte ihn immer wieder ein. Die Verantwortung für seine Mutter und seine Schwester lastete schwer auf ihm, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwand mit jedem Tag.
Es waren nun schon fünf Jahre vergangen, seit Mildred ihren geliebten Mann Norel verloren hatte. Es war im Winter des Jahres 802, als das Leben der Familie für immer verändert wurde. Norel war zu Lebzeiten das Herz und die Seele der Familie, ein Mann, der seine Frau und seine Kinder über alles liebte und für sie stets das Beste wollte. Sein Verlust hinterließ eine schmerzliche Lücke, die bis heute nicht gefüllt werden konnte.
Norel war ein talentierter Handwerker, bekannt für seine Fähigkeiten in der Schmiedekunst und im Holzhandwerk. Er war nicht nur ein Meister seines Fachs, sondern auch ein Mann von großem Ansehen im Dorf. Die Menschen respektierten ihn nicht nur wegen seiner körperlichen Stärke – er war groß, muskulös und hatte ein imposantes Erscheinungsbild – sondern auch wegen seiner Integrität und Freundlichkeit. In einer Welt, in der viele Männer ihrer Verzweiflung und Armut durch Gewalt Ausdruck verliehen, war Norel ein Fels in der Brandung, der stets Ruhe und Zuversicht ausstrahlte. Seine Familie war sein größter Schatz, und er arbeitete hart, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch das Leben in Elderwood war hart und gnadenlos, und Norel war einer der wenigen, die es schafften, der ständigen Bedrohung durch Armut und Gewalt zu trotzen. Handwerker mit Talent waren gefragte Leute, doch auch sie waren nicht vor den dunklen Seiten des Lebens in dieser Zeit sicher. Räuber, Mörder und Vergewaltiger durchstreiften die Wälder und Straßen, immer auf der Suche nach leichten Opfern. Das Leben eines Menschen war in diesen Tagen wenig wert, und das Schicksal konnte einem jederzeit mit brutaler Gewalt begegnen.
Norels Frondienste auf dem Gut des Lehnsherren außerhalb von Elderwood waren ebenso gefragt wie seine Arbeit auf den kleinen oder mittleren Höfen in und um Elderwood. Doch auch er war nicht unverwundbar. Als er eines kalten Winterabends zur Jagd aufbrach, um Fleisch für seine Familie zu besorgen, ahnte niemand, dass er nie wieder lebend zurückkehren würde. Es war eine gefährliche Zeit, in der der Wald nicht nur Nahrung, sondern auch den Tod brachte. Die Gerüchte von Räubern, die in der Nähe ihr Unwesen trieben, wurden zur grausamen Realität, als Norel von ihnen überfallen wurde.
Nael fand seinen Vater am nächsten Morgen, drei Stunden vom Dorf entfernt, in einer großen Blutlache liegend. Sein Körper war von Tieren zerfetzt, doch es war die klaffende Wunde am Kopf, die seinen Tod besiegelt hatte. Räuber hatten ihn getötet und seine wenigen Habseligkeiten gestohlen – Bogen, Messer und Tasche waren verschwunden. Die Brutalität, mit der sein Leben beendet wurde, war erschütternd, doch es war die bittere Realität, dass solche Morde zu dieser Zeit keine Seltenheit waren. Es gab keine Gerechtigkeit für die Toten, keine Strafe für die Mörder. Ein Menschenleben war billig, und selbst die ehrenhaftesten Männer konnten Opfer der Willkür und Gewalt werden.
Der Tod von Norel war ein Schlag, von dem sich die Familie nie ganz erholen konnte. Mildred und Ava schrien und weinten, als Nael den geschändeten Körper seines Vaters nach Hause brachte. Ihr Leben, das schon zuvor von Mühsal und Entbehrungen geprägt war, geriet nun endgültig aus den Fugen. Der geliebte Vater und Ehemann war tot, und mit ihm starb auch ein Teil von Mildred und Nael. Als Witwe im Dorf war Mildred nun einer zusätzlichen Stigmatisierung ausgesetzt. Viele Dörfler glaubten, dass Gott den Mann genommen hatte, weil die Frau eine Sünderin oder eine Kräuterhexe war. In einer Gesellschaft, die von Aberglauben und Misstrauen geprägt war, waren solche Anschuldigungen nicht nur verletzend, sondern auch gefährlich.
Doch das Schlimmste war, dass die Dörfler zwar geschockt auf die Nachricht von Norels Tod reagierten, aber keine wirkliche Hilfe anboten. Sie gaben sich betroffen, doch letztlich war es jeder Familie selbst überlassen, wie sie mit ihrem Leid umging. In einer Welt, in der jeder ums Überleben kämpfte, gab es keinen Platz für Mitleid oder Solidarität. Die Frage, wer nun die Eisen schmieden, das Holz bearbeiten und die Reparaturen ausführen sollte, stellte das Überleben der Familie infrage. Wer würde nun für Mildred, Nael und Ava sorgen? Die Dorfgemeinschaft, die sich in solchen Momenten zusammenraufen sollte, ließ die kleine Familie im Stich.
Es war ein regnerischer Tag, als die Schergen des Lehnsherren an die klapprige Tür der Hütte klopften. Sir Edgar ließ die Familie zu sich rufen. Er hatte vernommen, dass Nael ein fleißiger Arbeiter war, aber keinen Ertrag für den Lehnsherren erbrachte. Die Hütte, in der die Familie lebte, gehörte dem Lehnsherren, und er wollte prüfen, ob sie es noch wert waren, dort zu wohnen. Wer keinen Ertrag brachte, hatte kein Anrecht auf eine Bleibe. Diese kalte Berechnung zeigte einmal mehr, wie wenig das Leben und das Wohl der Menschen für den Adel zählten.
Mildred musste dem Lehnsherren das Schicksal der Familie erklären, und quälende Stunden vergingen, in denen sie nicht wussten, ob sie aus dem Dorf gejagt würden oder nicht. Schließlich bot Sir Edgar an, dass sie in der Hütte bleiben durften, wenn Ava in seinem Hause als Magd arbeiten würde. Nael und seine Mutter sollten sich auf den Feldern verdingen. Es war die Art, wie Sir Edgar Ava angesehen hatte, die Nael nervös machte, doch es blieb ihnen keine andere Wahl, als das Angebot anzunehmen.
Ava wurde als Magd in die Unterkünfte des Herrenhauses geschickt, während Nael und Mildred auf den Feldern arbeiteten. Die Tage waren hart und die Arbeit unmenschlich. Kaum Pausen, wenig Wasser und nur einmal am Tag einen kalten Hirsebrei – das war der Lohn für ihre Mühen. Mildred litt sehr unter den Strapazen, und Nael verzweifelte immer mehr. Die Kälte, die Härte des Winters und die ständige Angst um Ava und Mildred machten ihm schwer zu schaffen.
In einer solchen Welt war Norel mehr als nur ein Vater und Ehemann gewesen. Er war der Anker, der die Familie zusammenhielt, und ohne ihn waren Mildred, Nael und Ava schutzlos der Grausamkeit der Welt ausgeliefert. Der Verlust war unermesslich, nicht nur emotional, sondern auch in praktischer Hinsicht. Es war ein Verlust, der zeigte, wie wertlos ein Menschenleben in diesen dunklen Zeiten war, und wie gnadenlos die Welt sein konnte, wenn man sich am Rande der Gesellschaft befand.
Nael konnte die dunklen Gedanken und die unaufhörliche Sorge um seine Schwester Ava nicht abschütteln. Seit dem Tod ihres Vaters lastete die Verantwortung schwer auf ihm. Norel hatte ihn immer gelehrt, stark zu sein und seine Familie zu beschützen, doch nun fühlte er sich schwach und hilflos. Die Welt um ihn herum war kalt und gnadenlos, und Nael wusste, dass sie jederzeit noch grausamer werden konnte. Die Realität der ständigen Gefahr, die von Räubern, Mördern und auch von jenen ausging, die in der Sicherheit des Herrenhauses lebten, drückte schwer auf seine Schultern.
Ava, die mit ihrer jugendlichen Schönheit und Unschuld aufgewachsen war, hatte schnell die Aufmerksamkeit der Männer im Dorf auf sich gezogen, und nun, da sie im Herrenhaus als Magd arbeitete, wurde sie auch dort von den Blicken der Männer verfolgt. Nael wusste, dass Sir Edgar ein gefährlicher Mann war, einer, der keine Skrupel kannte, um zu bekommen, was er wollte. Die Vorstellung, dass Ava allein im Herrenhaus war, von dem Lehnsherren umgeben und schutzlos ausgeliefert, quälte Nael Tag und Nacht.
Ava, die zuvor stets fröhlich und voller Lebensfreude gewesen war, begann sich zu verändern. Die Arbeit im Herrenhaus war hart und unerbittlich. Doch es war nicht nur die Arbeit, die Ava zusetzte. Die anderen Mägde, die in den einfachen Unterkünften neben dem Herrenhaus lebten, sahen in ihr eine Rivalin. Sie verspotteten und mieden sie, weil sie mit ihrer Schönheit und ihrer Jugend herausstach. Neid und Missgunst bestimmten das Leben unter den Mägden, und Ava, die nichts weiter wollte, als ihrer Familie zu helfen, wurde zum Ziel ihrer Bosheit. Sie schikanierten sie bei jeder Gelegenheit, gaben ihr die härtesten und schmutzigsten Aufgaben und machten ihr das Leben zur Hölle.
Nael sah die Veränderungen in seiner Schwester. Ihre einst lebhaften Augen wirkten nun oft müde und traurig, und das Lächeln, das sie ihm schenkte, war gezwungen und ohne Freude. Es zerriss ihm das Herz, sie so zu sehen, doch er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Die Angst um Ava wuchs mit jedem Tag, und jede Nacht lag er wach und fragte sich, wie lange sie diese Qualen noch ertragen würde, bevor sie endgültig daran zerbrach.
Und dann war da die ständige Bedrohung durch Sir Edgar selbst. Nael wusste, dass der Lehnsherr ein Auge auf Ava geworfen hatte. Der Gedanke, dass dieser alte Mann, der seine Macht rücksichtslos missbrauchte, seiner Schwester Gewalt antun könnte, erfüllte Nael mit einer unbändigen Wut, die jedoch durch seine eigene Ohnmacht erstickt wurde. Er fühlte sich gefangen, unfähig, seine Familie zu schützen, und die Dunkelheit in seinem Herzen wuchs mit jedem Tag.
Es vergingen einige Wochen mit großen Entbehrungen, Armut und oft abscheulich harter Arbeit. Der Winter war in diesem Jahr besonders kalt, und die einfachen Unterkünfte waren kaum warm zu bekommen. Einige wenige Seelen holte der Kältetod, denn die ausgemergelten, unterernährten Körper hatten der strengen Witterung nichts entgegenzusetzen.
Auf den Feldern des Lehnsherren herrschte ein strenges Regiment. Antreiber und Aufseher trieben die Arbeiter immerzu an. Die Arbeit war schier unmenschlich – kaum Pausen, kaum Wasser und nur einmal am Tag einen kalten Hirsebrei. Mildred litt sehr unter den Strapazen, und Nael verzweifelte immer mehr. Er hatte Angst um Ava und sorgte sich um seine Mutter. Jeden Tag sah er, wie seine Schwester weiter unter der Last der Arbeit und den Qualen durch die anderen Mägde zusammenbrach. Ihre Schönheit, die ihr einst Stolz und Freude bereitet hatte, schien nun wie ein Fluch über ihr zu hängen.
An einem heiligen Sonntag schlich sich Nael zum Herrenhaus, um seine Schwester zu sehen. Er konnte sie zunächst nicht finden, doch schließlich entdeckte er sie allein hinter dem Herrenhaus auf einer Wiese sitzen. Ihre Augen waren geschwollen, das rechte Auge war sogar blau unterlaufen, und sie hielt sich den Arm, humpelte fast unmerklich. Nael war entsetzt und lief sofort zu ihr.
„Ava, was ist passiert?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon ahnte.
Unter Tränen erzählte Ava von den Misshandlungen, die sie erlitten hatte. Sir Edgar hatte sie in seine Gemächer bringen lassen, hatte sie geküsst, berührt und sie gezwungen, ihm zu Diensten zu sein. Doch es war nicht nur der Lehnsherr, der ihr Leben zur Hölle machte. Die Mägde, die sie aus Neid und Eifersucht verspotteten, nutzten jede Gelegenheit, um ihr das Leben schwer zu machen. Sie stahlen ihr Essen, sabotierten ihre Arbeit und ließen keine Möglichkeit aus, sie zu demütigen. Ava fühlte sich von allen Seiten bedroht, und die Angst war zu einem ständigen Begleiter geworden.
Nael fühlte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Die Grausamkeit, mit der seine Schwester behandelt wurde, war unerträglich, und er schwor sich, dass er sie aus dieser Hölle herausholen würde, koste es, was es wolle.
Nael verbrachte die folgenden Nächte in der Nähe der Unterkünfte, wachsam und bereit, seine Schwester zu retten. Nael verbrachte die folgenden Nächte in der Nähe der Unterkünfte. In der Nacht würden sie Ava nicht holen. Es wäre sicher der frühe Abend, dachte Nael. Er musste auf der Hut sein und den richtigen Moment durfte er auf keinen Fall verpassen.
Es kam tatsächlich, sodass der Lehnsherr eines Abends wieder nach Ava schicken ließ. Ava ließ sich ohne Widerstand zu ihm bringen. In den Gemächern entschuldigte sie sich höflich für ihr Verhalten und erklärte ihre Angst damit, dass sie sich mit all den Wachen wie in einem Kerker fühlen würde. Sie wäre nur ein kleines Mädchen und hätte Angst vor den Wachleuten. Der Sir Edgar fiel auf ihre Lüge herein und ließ die Leibwachen, die bis dahin im Gemach an der Tür standen, den vor der Tür Aufstellung nehmen. Er ging sogar auf die Bitte von Ava ein, das Fenster leicht zu öffnen, damit die kühle Abendluft sie erfrischen könnte. Ava konnte nicht fassen, wie einfältig der alte Mann war oder wollte er sie nur zufriedenstellen, um mit ihr seine Fetische ohne Gegenwehr genießen zu können?
Der alte Mann fing wieder an, den kindlichen Körper von Ava unsittlich zu berühren. Ava betete innerlich, dass Nael bald kommen würde. Dieser kletterte bereits im Schutz der Dunkelheit an der Fassade des zweistöckigen Gebäudes empor und öffnete das Fenster etwas weiter, um hineinzuschlüpfen. Hinter dem Vorhang stehend, sah er den alten Schwerenöter, wie er Avas Unterleib streichelte. Er musste warten, bis sich die beiden auf das Bett legen würden, denn dort konnte man das Fenster nicht sehen. Der Lehnsherr war stimuliert und drängte Ava auf das Bett. Kaum hatte er dem Fenster den Rücken gekehrt, stürmte Nael auf ihn los, hielt ihm den Mund zu und schlug ihn mit heftigen Fausthieben gegen die Schläfe. Der alte Mann brach zusammen. Nael zückte ein Messer und schnitt dem Bewusstlosen sein Gemächt ab. Er stopfte es dem stark blutenden Opfer tief in den Mund. Ava wollte, dass er niemals mehr ein Mädchen auch nur ansehen konnte und stach ihm mit dem Messer in die Augen. Der Adlige lag bewusstlos auf dem Bett und war übel zugerichtet.
Ava und Nael flohen aus dem Fenster und eilten so schnell ihre Beine sie trugen nach Hause. Ihnen war klar, dass sie sofort fliehen mussten, denn man würde Ava hinter dem Angriff vermuten, und die Strafe wäre unerbittlich.
In der Hütte angekommen, griffen sie eilig die bereits gepackten Habseligkeiten zusammen und verschwanden mit der Mutter, die völlig überrumpelt war, von der hastigen Flucht in die Dunkelheit. Es war schwer, das alte Leben hinter sich zu lassen. Sie verließen nicht nur Elderwood, sondern auch einige wenige gute Bekannte, aber auch viele Neider und Missgünstige.
Am Waldesrand angekommen, verschnauften die Drei kurz und hörten dabei schon Tumulte und Hundegebell aus Richtung des Herrenhauses. Es blieb keine Zeit. Die Flucht musste weitergehen.
Zwei beschwerliche Tage Fußmarsch lagen bereits hinter ihnen. Es gab keine Anzeichen mehr, dass sie verfolgt wurden. Offensichtlich hatten die Hunde die Fährte verloren, wenn sie denn überhaupt eine gehabt hatten. Die Drei waren Richtung Südwesten geflüchtet und wollten in der Nähe von Bridgnorth ein neues Zuhause finden. Der Weg war mit fast 230 Kilometern sehr lang und beschwerlich. Die Landschaft war rau, die Wege kaum befestigt, und der Untergrund war oft steinig. Es schmerzte an den Füßen, und man lief Gefahr, sich zu vertreten. Dass sie nur bei Dämmerung oder in der Nacht vorwärtskamen, war zudem ein großes Hindernis.
Bridgnorth war aber wenigstens in erreichbarer Nähe. Nael wollte seinen Lieben nicht zu viel zumuten. Sein Plan war, am Hofe des dortigen Lehnsherrn eine Stellung zu suchen und zu hoffen, damit wenigstens so viel zu verdienen, dass er seine kleine Familie ernähren konnte.
Während sie wanderten, dachte Nael an Elderwood. Wie mochte es diesem Scheusal Sir Edgar gehen? War er tot? Verdient hätte er es. Nael dachte an die Zukunft. Seine Mutter hatte Besseres verdient als ein Leben auf der Flucht. Seine junge Schwester sollte eine rosige Zukunft haben. Einen Mann, der sie hofierte und viele Kinder.
Ava klagte nach Stunden der Wanderung über Schmerzen an den Füßen. Sie hatte zarte Füße, die im Gegensatz zu denen anderer junger Frauen sehr gepflegt waren. Leider hatten sie dadurch nur wenig Hornhaut ausgebildet und waren nun wundgelaufen. Die einfachen ledernen Schnürschuhe, die Nael ihr seinerzeit gefertigt hatte, hatten eine zu dünne Sohle, obwohl er das Leder dort dreilagig verarbeitet hatte. Für eine Wanderung waren sie aber nicht geeignet. Es ging nicht weiter. Ava musste rasten, und Mildred versorgte ihre Tochter mit einem feuchten Tuch und einer Kräutertinktur aus Wasser und zerriebenen Kräutern des Waldes. Durch die häufigen kleineren Krankheiten, die Mildred durchlitten hatte und die sie selbst therapieren musste, wuchs ihr Wissen um die Heilkräuter im Wald. Das war ein unschätzbarer Vorteil auf der Reise, denn es konnte immer etwas passieren. Nirgendwo war man sicher. Verletzungen durch Tiere, Raufereien oder Schlimmeres konnten sich schnell entzünden und zu schwerer Krankheit bis hin zum Tode führen.
Während Mildred sich liebevoll um Ava kümmerte, erkundete Nael die unmittelbare Umgebung. Hier könnte man durchaus die Nacht verbringen und das kleine Zelt aufschlagen, dachte er sich.
Das Zelt bestand aus einem größeren Laken und einigen stabilen Stöcken, die man mit ziemlich zerfransten Seilen am Boden abspannen konnte. Das Laken war mit Tierfett imprägniert und bot so etwas Schutz vor Wind und Wetter. Ava und Mildred bauten die kleine Unterkunft auf, während Nael etwas Essbares auf dem moosigen Waldboden suchte. Er kehrte gerade zurück, als er im Dickicht ein ungewöhnliches Geräusch hörte. Er wies seine Liebsten an, hinter einem verrottenden Baum in Deckung zu gehen. Nael schlich vorsichtig an eine Böschung heran und belauschte drei Männer, die dort auf einer kleinen Lichtung standen.
Die Männer waren sichtlich aufgebracht. Vom Aussehen her schienen es einfache Leute zu sein. Doch hinter ihren schlichten Äußerlichkeiten verbargen sich komplexe Geschichten. Der Schwarzhaarige, Malcus, war einst ein Bauer gewesen, dessen Hof von Soldaten niedergebrannt und dessen Familie ermordet worden war. Seither irrte er umher, erfüllt von einem Verlangen nach Rache, das er niemals stillen konnte. Der Glatzköpfige, Garron, hatte sein Leben als Söldner verbracht, bis eine Verletzung ihn außer Gefecht gesetzt und seine Kameraden ihn im Stich gelassen hatten. Nun trug er eine Narbe über seiner Brust, die ihn stets an die Flüchtigkeit von Loyalität erinnerte. Cedric, der rothaarige Mann, war ein Fischerssohn, dessen Familie bei einem Sturm auf See umgekommen war. Er war der einzige Überlebende und suchte seitdem verzweifelt nach einem neuen Ort, den er Zuhause nennen konnte.
Die Drei waren sichtlich erleichtert, auch wenn Nael nicht wusste, warum oder weswegen. Der Schwarzhaarige legte seine Hand auf die Schulter des Glatzenträgers.
„Mein Gott, mein Gott … ich dachte, das war es. Hast Du diesen Söldner-Soldaten kommen sehen?“
„Nöö – ich hab’ das Pferd gesehen und dann war er auch schon da“, antwortete Garron.
„Lass uns froh sein, dass er es wohl eilig hatte. Ich verstand seine Frage nicht. Meinte er wirklich, dass es hier Morith gibt? Die ganzen Schauermärchen über diese Monster. Ich dachte, das ist eine Kinderschreckgeschichte“, gab Cedric zu bedenken.
„Nein, Nein – Die gibt es wirklich. Ich habe zwar auch noch keine gesehen, und ich will auch niemals welchen begegnen, aber wenn hier Morith auftauchen würden, wären wir alle tot“, antwortete Malcus.
Nael erschrak. Morith – diesen Namen hatte er schon lange nicht mehr gehört. Jedes Kind im Land kannte das Gedicht von den Jägern. Eben jenes Gedicht, das die Eltern ihren Sprösslingen beibrachten, wenn diese nicht gehorsam waren.
Morith, Morith Er holt Dich, wenn Du nicht folgsam bist. In der Nacht sucht Dich der Jäger heim. Nicht sicher ist die Bleibe. solltest lieber folgsam sein, sonst frisst er Dich bei lebend‘gem Leibe. Gehorche dem Vater und der Mutter auch, sonst findest Du den Tod in des Jägers Bauch.
Die Morith waren angeblich uralte Dämonen, die aus den tiefen Böden Irlands geboren wurden. Ihre Aufgabe war es, das Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen, indem sie die Menschen jagten und verschlangen, wenn diese zu viel nahmen und die Harmonie der Erde störten. Sie waren keine einfachen Monster aus der Hölle, sondern Verkörperungen der ungezähmten Natur selbst – zwei Meter große, muskelbepackte Krieger mit wulstigen Brauen über ihren glühend grünen oder blauen Augen, die vor Gier und Zorn funkelten. Ihre teufelartigen Gesichter, scharfen Fangzähne und der Geruch von Tod und Verwesung, den sie verströmten, waren Zeichen ihres blutrünstigen Wesens. In dunklen Nächten tauchten sie lautlos aus den Wäldern und Mooren auf, um die Gier und Überbevölkerung der Menschen zu bestrafen, getrieben von einem unstillbaren Hunger nach Menschenfleisch. Zwar gab es immer wieder Berichte über Morith-Angriffe, doch nur wenige überlebten, um diese Jäger zu bezeugen. Ihre Geschichten klangen wie düstere Märchen, die Eltern ihren Kindern erzählten, doch Nael hatte sie stets als Ammenmärchen abgetan – ein Glaube, der ihn immer wieder erstaunte, da so viele Leute offenbar fest davon überzeugt waren.
Nael wandte sich wieder seiner Familie zu und blieb dann wie angewurzelt stehen. Er hörte Schreie und ein arrogantes männliches Lachen. Er sah, dass Ava am Arm eines kräftig aussehenden Soldaten baumelte. Er hatte sie an ihrem langen Schopf gepackt und hochgezogen. Der Mann, der aufgrund seiner Brustpanzerung und Kleidung scheinbar ein Soldat aus Nordumbrien war, hatte Mildred mit einem Fausthieb niedergestreckt. Sie lag ohnmächtig am Boden und konnte ihrer Tochter nicht helfen. Ava schrie vor Schmerz. Der Soldaten lachte und schüttelte sie leicht, damit der Schmerz noch stärker wurde.
„Was bist Du doch für ein süßes kleines Mädchen! Was soll ich mit Dir machen? Ich könnte dich einfach mitnehmen. Das Mütterchen erschlage ich und Du, mein liebes Kind, bist mir zu Diensten. Na, was hältst Du davon?“
„Nichts hält sie davon“, schrie Nael.
Der Soldaten beachtete Nael erst nicht. Er hatte ihn schon gehört, bevor er in Erscheinung getreten war.
„Lauf bitte nicht weg. Ich muss die beiden hier kurz fesseln und dann komme ich zu Dir“, bemerkte der Soldat überheblich.
Der Krieger gab Ava, die immer noch frei in der Luft hing, einen Fausthieb ins Gesicht. Er ließ sie fallen, und sie blieb regungslos mit blutender Nase liegen. Nael riss die Augen auf vor Schreck. Dann sah er den Soldaten mit gezogenem Schwert auf sich zu stürmen. Er konnte kaum reagieren, da sprang ihn der große Hüne auch schon an. Er landete auf Nael, und das Gewicht des Muskelbergs presste Nael die Luft aus den Lungen.
Der Soldaten packte Naels Hals und würgte ihn. Die Hände hatten durch zahlreiche Schlachten und gutes Training unglaubliche Kraft und quetschten seinen Hals zusammen.
„Was jetzt, Du Wicht? Ich würge Dich, bis Du ohnmächtig bist und dann zerhacke ich Dich mit meinem Schwert“, fauchte der Soldaten mit zusammengepressten Zähnen.
Speichel tropfte auf Naels Gesicht, und er spürte, wie er ohnmächtig wurde. Nael fuchtelte mit den Händen, aber es war unmöglich, diesem Kraftprotz zu widerstehen. Er bekam etwas zu packen und schlug es mit aller Gewalt gegen den Helm des Hünen. Der Soldaten war für einen Moment benommen. Nael nutzte diese Sekunde und schlug wieder mit dem handtellergroßen Stein gegen die Schläfe. Der Griff löste sich, der Krieger taumelte.
Wieder ein Schlag, noch ein Schlag, und der Soldat brach über Nael zusammen. Nael stemmte den Körper hoch und rollte sich darunter weg. Er stand auf, griff das Schwert und stach unzählige Male auf den Körper des Soldaten ein, bis offensichtlich war, dass dieser niemals wieder aufstehen würde.
Völlig am Ende seiner Kraft stolperte Nael zu Ava und Mildred. Ava war wieder zu sich gekommen, und Mildred stöhnte vor Schmerzen. Beiden ging es den Umständen entsprechend gut. Avas Nase blutete stark, und Mildred hatte eine kleine Platzwunde an der Stirn. Nael war außer sich vor Sorge um seine Familie.
Ein Geräusch – Nael sprang auf und stand vor den drei Männern, die ungläubig auf den toten Soldaten starrten.
„So was hab’ ich noch nicht gesehen. Du hast einen Soldaten mit bloßer Hand getötet“, staunte Malcus, der Schwarzhaarige.
„Und ihr hättet mich sterben lassen“, brüllte Nael sie an. „Warum habt ihr nicht geholfen, hää? Weil ihr Angst habt. Verkrochen habt ihr euch, wahrscheinlich auch noch aufgegeilt, dass ihr einen Todeskampf seht. Verschwindet hier, sonst seid ihr genauso tot wie dieser Barbar.“
Nael war außer sich vor Wut und aufgeputscht durch das Adrenalin. Die Drei wollten gerade aufgeschreckt das Weite suchen, als Nael sie stoppte und sich nur knapp für seine Rage entschuldigte. Er benötigte für seine Familie einen sicheren Platz und etwas zu Essen. Vielleicht konnten die Drei helfen.
„Wo sind Eure Leute? Wir sind auf der Durchreise und benötigen etwas Essen und vielleicht einen Platz zum Schlafen. Würde das gehen? Ist es bei Euch sicher?“
„Ja, Ähhm … das würde gehen. Ihr könnt bei uns unterkommen. Diese Soldaten waren erst kürzlich da, ich denke, für eine Weile ist es sicher“, stammelte Cedric, der Rothaarige.
Die Gruppe machte sich auf den Weg und erreichte nach kurzem Fußmarsch ein kleines Lager im Wald. Hier hatten etwa zwanzig Menschen eine einfache Siedlung mit Hütten errichtet. Die Hütten bestanden aus kleineren Stämmen und Ästen und waren mit Laub abgedichtet. Es war eine zusammengewürfelte Gemeinschaft von Heimatlosen und Besitzlosen – Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die alle eines gemeinsam hatten: Sie hatten alles verloren und waren nirgendwo mehr willkommen. Einige waren Bauern gewesen, die von ihren Höfen vertrieben wurden, andere ehemalige Handwerker, die durch die Kriege mittellos geworden waren. Es gab auch ein paar ältere Frauen, die sich durch Kräuterkunde und das Weben von Tüchern nützlich machten.
Zentral brannte ein Lagerfeuer, über dem ein größerer Topf an einem Dreibein hing. Eine Frau rührte den Eintopf, der darin brodelte, und beäugte die Neuen misstrauisch. Die Siedler umringten die Neuankömmlinge vorsichtig, und Garron, der Glatzköpfige, stellte sie vor.
„Das ist Nael mit seiner Familie. Mildred ist seine Mutter, und Ava hier ist seine Schwester. Wir haben sie im Wald getroffen, als er einen Soldaten getötet hat!“
Ein Raunen und Staunen zog durch die Reihen. Der Mann ohne Haare bat darum, sie für eine oder zwei Nächte aufzunehmen. Er fragte nach Freiwilligen, die mit ihm noch einmal in den Wald gehen sollten, um den Soldaten zu verscharren. Die Angst der Siedler war unverkennbar, weshalb Nael sich meldete und seine Hilfe anbot. Mildred und Ava wurden in eine der Hütten eingeladen, und man reichte ihnen etwas Wasser und einige Früchte. Die beiden waren noch sichtlich mitgenommen von dem plötzlichen Angriff. Mildred legte sich auf ein Schlaflager, und Ava pflegte ihre Füße. Sie wurde von einer älteren Frau dabei unterstützt, die ihr warmes Wasser für ein Fußbad reichte.
Nael war etwa zwei Stunden später wieder im Lager. Die Sonne ging schon unter, und die Siedler setzten sich zusammen mit den Neuankömmlingen an ein kleines Lagerfeuer. Zusammen aß man den leckeren Eintopf aus einfachen Holzschalen. Der Alltag im Lager war von Überlebenswillen geprägt. Während die Männer versuchten, Nahrung zu jagen oder zu sammeln, kümmerten sich die Frauen um die wenigen Vorräte und bereiteten einfache Mahlzeiten über dem zentralen Lagerfeuer zu. Abends, wenn das Tageslicht schwand, versammelten sich alle um das Feuer und erzählten Geschichten – manche, um die Moral zu stärken, andere, um die Ängste zu besänftigen, die besonders in den langen Nächten das Lager heimsuchten.
Nael fand, dass das Entzünden eines Feuers zu gefährlich wäre, weil es Wegelagerer oder Soldaten anlocken könnte, aber er wollte den Siedlern nicht in ihre Gebräuche reden und akzeptierte deren Lebensweise notgedrungen.
Man erzählte sich, was am Tag passiert war, und schwärmte immer noch von Naels Mut und der Tatsache, dass er einen Soldaten getötet hatte. Nael war ein Held, ein Befreier – dabei hatte er einfach nur pures Glück, aber er wollte die Illusion über seine Person nicht zerstören. Mildred hatte aus den Gesprächen herausgehört, dass die Siedler häufiger Kontakt mit den Soldaten gehabt hatten. Sie wollte mehr über diese Peiniger erfahren.
„Sie suchen uns regelmäßig heim. Es sind Soldaten aus Nordumbrien, wie der, den Nael heute erledigt hat. Sie stehlen unsere Vorräte, lassen aber immer etwas da, damit wir nicht verhungern. So können sie uns melken wie eine Kuh. Wie ihr seht, ist unser Altersdurchschnitt recht hoch hier. Sie haben unsere Töchter und Söhne verschleppt. Sie leben noch, das hat man uns zumindest gesagt, aber das kann sich rasch ändern. Wenn sie hier einfallen, schlagen und misshandeln sie uns. Sie schüchtern uns ein, damit wir ja das tun, was sie wollen“, erzählte einer der Männer.
Nael wusste nicht, was er davon halten sollte. Es war aber nun klar, dass auch die nordumbrischen Soldaten scheinbar Feinde waren. Die Völker verstanden sich nicht, was auf die fehlenden diplomatischen Fähigkeiten des Königs Coenwulf zurückzuführen war, aber Krieg gab es noch nicht. Dennoch musste man sich nun vor Nordumbrien in Acht nehmen.
„Ich habe noch eine Frage zu den Morith“, bemerkte Nael und sprach Malcus an. „Du hast gesagt, dass es die wirklich gibt. Woher weißt Du das?“
„Auch nur aus Erzählungen und von Leuten, die ein Zusammentreffen mit diesen Monstern überlebt haben. Sie übertreffen in Grausamkeit und Brutalität einfach alles. Alle sagten einstimmig, dass sie groß sind. Einige behaupten zwei Meter, andere sagen über zwei Meter. Das wäre gut zwei Köpfe größer als Du, Nael. Sie sollen so stark sein wie zehn ausgewachsene Krieger. Mehr weiß ich auch nicht. Sie sind selten, aber sehr, sehr stark und anscheinend unverwundbar!“
„Es sollen keine Menschen sein, heißt es, sondern Dämonen aus der Hölle?“, wollte Nael wissen.
„Ja, scheinbar. Genau weiß ich das auch nicht. Sie haben diese langen Ohren, und sie sollen lange, scharfe Fangzähne haben. Diese Geschichten kennt doch jeder. Ihr doch sicher auch!“
„Ich kenne sie auch nur aus Gruselgeschichten. Im Dorf, aus dem wir kommen, wurden sie erzählt. Mein Vater hat sie immer als Unfug abgetan. Ich habe noch niemanden getroffen, der wirklich selbst mal einen gesehen hat.“
„Siehst Du? Und das ist der Unterschied. Ich habe Leute getroffen, die sie gesehen haben, und wenn sie von den Morith erzählten, dann war da diese Angst, diese unglaubliche Angst in ihren Augen. Das spielt man nicht. Es muss wahr sein.“
Nael dachte nach. In Avas Gesicht konnte man lesen, dass sie wahnsinnige Angst hatte. Der Soldat hatte gefragt, ob die Siedler einen Morith gesehen hatten. Sollte hier wirklich einer oder gar mehrere sein?
„Was macht Ihr, wenn hier wirklich ein Morith auftaucht?“, wollte Nael wissen.
Verhaltenes Gelächter machte sich breit.
„Junge, wenn hier einer auftaucht, brauchen wir nichts mehr zu machen. Dann sind wir tot. Alle! Ich traf einen Einarmigen, der es, wie durch ein Wunder, überlebt hatte. Henk hieß er, und er hatte mir seine Geschichte erzählt.
Dieser Henk brach wohl zur Jagd in ein unbekanntes Gebiet auf. Er kam erst zwei Tage später schwer verletzt in sein Dorf zurück. Sein linker Arm fehlte. Allen war klar, dass er wohl in die Hände von Barbaren gefallen sein musste, aber das, was Henk zu berichten wusste, ließ seinen Leuten wohl das Blut in den Adern gefrieren.
Dieser Henk erzählte, dass er im Wald auf einen leibhaftigen Morith gestoßen war. Bis dahin waren diese überlebensgroßen Jäger nur ein Mythos für ihn gewesen. Er war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Nach Henks Beschreibung war er gut zwei Meter groß. Sein Körper war sehr muskulös, sein Kopf hatte dicke Wülste über den Augen, und er muss damit ausgesehen haben wie eine Teufelsfratze. Er hatte grüne Augen und tatsächlich scharfe, lange Fangzähne, so wie es die alten Geschichten beschrieben.
Henk erklärte, dass seine Kraft unmenschlich war. Er packte Henk und schleuderte ihn hoch gegen einen Baum. Er war benommen, als der Morith ihn wieder packte. Henk hörte nur, dass er ihm zuflüsterte, dass heute sein Glückstag wäre. Der Morith bräuchte etwas Stärkung für seinen Weg und würde nur seinen Arm nehmen. Der Jäger biss solange in seinen Arm und aß sein Fleisch, bis der Knochen frei lag. Dann biss der Jäger den Knochen durch und verschwand mit dem Arm. Er ließ Henk einfach zurück, der gerade noch einarmig seinen Stumpf abbinden konnte, bevor er verblutet wäre.
Ja, genau so hat er es mir erzählt und mir dann auch seinen Armstumpf gezeigt.“
Nael, Mildred und Ava waren geschockt. Die anderen Siedler kannten die Geschichte schon und waren etwas entspannter. Nael hatte an diesem Abend viel über die nordumbrischen Soldaten und die Morith gelernt. Er wusste, dass es besser wäre, weiterzureisen. Letztlich hatte man ein Ziel vor Augen, und es schien, dass es hier bei diesen Leuten nicht sicher war.
„Aber wenn es diese Monster wirklich gibt, dann gibt es sicher auch Upire, Dämonen oder Riesen. Hast Du von denen auch schon einmal etwas gehört?“, wollte Nael schockiert wissen.
„Von Riesen habe ich noch nichts gehört. Von Upiren und Dämonen schon, aber diese Erzählungen waren lange nicht so glaubhaft wie die der Morith. Daher kann ich nicht sagen, ob es diese Ausgeburten der Hölle wirklich gibt oder ob sie nur Fantasiewesen sind, für die ich die Morith auch gehalten habe.“
Nael sprach mit seiner Mutter, um zu erfahren, was sie davon halten würde. Scheinbar nahmen die Siedler es gelassen oder sie glaubten nicht daran, dass hier ein Morith war. Nael wollte jedenfalls morgen sofort weiter. Weg aus dieser Gegend. Er wollte nichts riskieren, wusste er doch, dass er seine Lieben nicht beschützen könnte. Einen Soldaten mit mehr Glück als Verstand zu töten, war das eine. Einem Morith zu entkommen, war unmöglich. Mildred stimmte zu. Ihr war die Wanderung ein Graus, aber sie war verunsichert, auch wenn sie an diese Schauermärchen nicht glaubte. Die versprengten, raubenden Soldatengruppen waren aber real.
Der Abend wurde zur Nacht, und man legte sich schlafen. Nael fand aber keine Ruhe. Er sorgte sich um die Sicherheit seiner Familie. Wie sollte es weitergehen? Sollten sie ständig in Furcht leben müssen, oder würden sie Bridgnorth erreichen, wo sie hoffentlich sicher waren? Konnte man überhaupt sicher sein? Wenn sie den Soldaten in die Hände fallen würden, so wäre das der Tod seiner Mutter, weil sie schon im fortgeschrittenen Alter war und sicher nicht mehr als Sklavin taugte. Ava würde man aber versklaven, und er wäre ein Kandidat für ein Arbeitslager, weil er kräftig und gesund war. Wahrscheinlich würde er seine Schwester niemals wiedersehen. Nael schluckte – die Tränen wollten mit aller Gewalt fließen. Er versuchte, den seelischen Schmerz hinunterzuschlucken. Irgendwie musste es weitergehen, nur wie?
Als der Morgen anbrach, suchten die Drei alle Habseligkeiten zusammen. Ava hatte Tücher bekommen, die sie um die Füße wickeln konnte. Mildred hatte das Gepäck von Nael auch noch geschultert. So konnte Nael seine kleine Schwester ein Stück weit tragen. Die Siedler hatten noch etwas zu essen eingepackt und die Drei dann winkend verabschiedet.
Es ging über große Wiesen und durch ein Stück Steppe. Nael war nicht wohl zumute, da man hier sehr schnell entdeckt werden konnte. Der Wald war ihm lieber. Er hörte in der Entfernung Gejaule und Geknurre von Wölfen. Das konnte nur bedeuten, dass diese Beute gemacht hatten. Nael fragte Mildred und Ava, ob sie kurz warten würden. Möglicherweise könnte es etwas Fleisch geben, wenn er die Tiere finden würde. Die beiden stimmten zu, und Nael sprintete los.
Er kam nicht ganz 30 Minuten später zurück und hielt ein junges halbes Wildschwein in der Hand. Es war gerade erbeutet worden, und Nael konnte es den Wölfen abspenstig machen. Sie entzündeten ein kleines Feuer, was wirklich mühsam und langwierig war, um das Fleisch zu braten. Nael war mulmig zumute. Feuer war nun mal gefährlich. Er wollte nicht entdeckt werden. Mildred hingegen wollte das Fleisch aber schnell zubereiten, um es genießbar zu machen. Nachdem Nael seine Bedenken aber geäußert hatte, wollten sie doch schnell weiterziehen. Daher wurde nichts aus dem kleinen Picknick.
Dennoch war das junge Wildschwein ein Segen und hatte vor allem Ava gut geschmeckt. Sie nagte die Knochen ab und schleckte den Saft, der aus dem nahrhaften Braten tropfte. Mit gut gefüllten Bäuchen zogen die Drei weiter. Weg von der erlöschenden Feuerstelle.
Sie zogen zwei Tage durch die Natur, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Die Strecken, die sie zurücklegten, waren weit vom Tagespensum entfernt, aber man kam wenigstens etwas voran. Als sie den Fluss Avon erreichten, mussten sie Richtung Osten wandern, um eine Stelle zu suchen, die geeignet für eine Überfahrt war. Würde man nichts finden, so schlug Nael vor, ein Floß zu bauen, um überzusetzen.
Immer früh am Abend, wenn die Sonne schon tief am Himmel stand, wurde das Lager aufgeschlagen. Die kleine Familie saß dann eng zusammen unter dem Zeltdach. Mildred war erschöpft und etwas kränklich. Sie wirkte zudem bedrückt, was Nael veranlasste zu fragen, was denn los sei.
Mildred fing an zu weinen: „Ach Kinder, ich vermisse Norel so und fühle mich schlecht, euch nicht das Leben bieten zu können, das ihr verdient. Wir haben immer unser Bestes gegeben, aber es war nicht genug. Du, Nael, hast Vaters Bürde nun übernommen, uns zu schützen. Du hättest aber schon längst ein eigenes Leben haben müssen. Eine Frau und vielleicht Kinder. Nun sitzt Du hier mit deiner alten Mutter und deiner Schwester und opferst Dich auf. Ava ist ein solch hübsches Kind. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Du ein gutes Leben haben wirst. Ein Mann, der dich von Herzen liebt und auf Händen trägt. Eine Familie, um die Du Dich kümmern kannst, ohne immer auf eine alte Frau wie mich achtgeben zu müssen. Ich wünsche es mir so sehr, dass wir ein Zuhause finden und all Eure Sehnsüchte und Wünsche dort in Erfüllung gehen.“
Nael und Ava waren zu Tränen gerührt und überschlugen sich damit, zu beteuern, dass ihre Mutter alles richtig gemacht hatte. Sie wäre die beste Mutter, die ein Kind sich nur wünschen konnte, und sie wären so stolz auf sie. Die beiden streichelten Mildred und nahmen sie in die Arme. Mildred konnte sich nur schwer beruhigen, aber nach einer Weile, als die Tränen getrocknet waren, ging es, und heitere Geschichten wurden erzählt.
Als man sich dann aber zum Schlafen legte, weinte Ava leise in sich hinein. Für das junge Mädchen waren die letzten Tage einfach zu viel. Die Erlebnisse bei Sir Edgar, der Soldat, der sie niedergeschlagen hatte, die Erzählungen von Monstern, die einem nach dem Leben trachteten.
Ava schluchzte und ertappte sich dabei, wie sie in Gedanken das Gedicht sprach, das beinahe alle Kinder kannten: „Morith, Morith. Er holt Dich, wenn Du nicht folgsam bist …“
Sie verbrachten die Nacht im Wald, etwa 5 Kilometer vom Fluss entfernt. Es hatte stark zu regnen begonnen, und ein umgestürzter Baum bot etwas Schutz vor den Himmelsfluten. Mildred hatte Schmerzen im Hals, und das Schlucken fiel ihr schwer. Ava zitterte vor Nässe und Kälte, und Nael hatte alle Hände voll zu tun, seine Frauen irgendwie zu pflegen. Ein wärmendes Feuer konnte man nicht entzünden. Es war viel zu gefährlich, und es war auch alles nass. Man musste hoffen, dass der Regen nachlassen würde, bevor man weiterzog.
„Werden wir irgendwann einmal sicher sein?“, wollte Ava von Nael wissen. Sie hatte sich an seinen Arm geschmiegt und schaute ihn mit ihren unschuldigen Augen an.
„Ich werde alles dafür tun, Ava. Ich habe nur noch Euch auf der Welt. Ihr seid mein größter Schatz, und wenn ich dafür sterben müsste. Ich würde immer alles tun, damit es Euch so gut wie möglich geht“, antwortete Nael mit ernster Stimme.
Ava schmiegte sich an seinen Arm, ihre zarten Finger klammerten sich an seine Hose, als wollte sie sicherstellen, dass er sie nicht verließ. Ihr Vertrauen, ihre völlige Abhängigkeit von ihm, war fast überwältigend.
Wie kann ich sie nur beschützen?, dachte Nael, als er Avas Gesicht betrachtete. Dieses unschuldige Kind… sie hat so viel durchgemacht, und doch liegt noch so viel vor uns. Aber wie lange kann ich das durchhalten?
Sein Blick wanderte zu Mildred, die sich sichtlich mühte, den Schmerz im Hals zu ignorieren. Mutter wird schwächer. Jeder Schritt wird für sie zur Qual. Was, wenn sie es nicht schafft? Der Gedanke ließ Naels Herz schwer werden. Ich darf nicht zulassen, dass sie in dieser Wildnis stirbt. Aber was kann ich tun?
Er dachte an die kommenden Tage, an die langen Wege, die sie noch zurücklegen mussten. Wir müssen weiterziehen, sobald der Regen nachlässt. Aber wohin? Und was, wenn die Soldaten uns finden? Wir brauchen ein sicheres Versteck… vielleicht eine abgelegene Hütte im Wald, wo uns niemand findet. Ich könnte jagen, Fallen aufstellen. Es wäre ein karges Leben, aber sicherer als ständig auf der Flucht zu sein.
Nael schüttelte den Kopf. Aber das ist kein Leben für Ava. Sie verdient mehr als das. Sie verdient ein Zuhause, wo sie in Frieden aufwachsen kann, wo sie lachen und spielen kann, ohne ständig in Angst zu leben. Ein tiefes Gefühl der Ohnmacht überkam ihn. Ich habe ihr versprochen, dass ich alles tun werde, um sie zu beschützen. Aber wie?
Seine Gedanken wanderten zu Bridgnorth. Vielleicht… vielleicht können wir dort ein neues Leben anfangen. Ich könnte am Hofe des Lehnsherrn arbeiten, irgendeine einfache Arbeit, die uns ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen bringt. Es wäre nicht viel, aber es wäre etwas. Er seufzte. Aber was, wenn sie uns dort nicht wollen?
Der Gedanke an Ablehnung ließ ihn erschaudern. Eine Welle von Zärtlichkeit durchflutete ihn, als er Avas friedliches Gesicht betrachtete. Sie ist noch so jung… Sie hat das ganze Leben noch vor sich. Ich muss dafür sorgen, dass sie eine Chance hat, glücklich zu werden. Irgendwann wird sie einen Mann treffen, der sie liebt und achtet. Sie wird Kinder haben und ein Heim, in dem sie sich sicher fühlen kann. Und bis dahin werde ich alles tun, um sie zu beschützen, selbst wenn es mein Leben kostet.
Mit diesem festen Entschluss schloss Nael die Augen und lauschte dem Regen, der allmählich nachließ. Morgen werden wir weitergehen. Schritt für Schritt, bis wir den Ort finden, an dem wir endlich zur Ruhe kommen können.
Mildred strich Nael über die Wange und blickte ihn liebevoll an. Sie war stolz auf ihren Sohn und erkannte Norel in ihm. Er war stark, gewissenhaft und ehrlich. Sie sorgte sich aber auch um ihn. Wenn man irgendwann in Sicherheit wäre und ein neues Leben beginnen könnte, dann müsste sie loslassen können. Sie wusste, dass er von einer eigenen Familie träumte. Sie kannte seinen Wunsch nach einem starken Weib, das man nicht beschützen musste oder gegensätzlich von dem zarten Burgfräulein, das immer die starke Hand des Mannes brauchte, aber in guten Zeiten nicht ständig vor dem Tod gerettet werden musste. Er hatte sich noch nicht entschieden, aber egal, wie er sich entscheiden würde, es wäre gut, wenn er nur in Frieden das Leben genießen könnte. Nicht mehr und nicht weniger wünschte sich Mildred das für ihren geliebten Sohn.
Mildred und Ava hatten sich wirklich erkältet und waren schwach. Ava hatte Fieber, und Mildred fröstelte. Die letzten Tage auf Wanderschaft waren kräftezehrend gewesen, und das Wetter spielte ihnen zudem übel mit. Starker Wind, kalter Regen und die Kälte in den Nächten hatten ihre Körper ausgemergelt. Sie aßen Kräuter und Beeren am Wegesrand, aber wurden nicht satt. Nael musste etwas tun und hoffte, wenigstens ein Tier erbeuten zu können, um die Frauen zu stärken. Ein kleiner Abschnitt des Waldes war ein guter Rastplatz für ein paar Tage. Es lag viel Holz herum, um damit einen Unterstand zu bauen. Eine kleine Wiese mit hohen Gräsern könnte man abernten, um gemütliche Lager zu bauen. Hier sollten die beiden erst einmal gesunden. Nael war in Sorge. Mit Krankheiten konnte man nicht spaßen. Er zog seine Oberkleidung aus, um seine Mutter damit zu wärmen.
Nael baute einen Unterstand, der wie ein Zelt aussah. Dicke, knorrige Äste bildeten die Wände, die nach oben spitz zuliefen, wie die Spitze eines gespaltenen Berges. Die Zwischenräume stopfte er mit Gras und Laub aus, das nach dem Regen noch feucht und schwer war. Das alte Laken, das sie immer noch mitführten, taugte ebenfalls zum Abdichten des provisorischen Daches. Der Boden wurde üppig mit langen Gräsern und weichem Moos gepolstert, das unter den nackten Füßen angenehm kühl und federnd war. Die kleine Behausung bot gerade genug Platz für Ava und Mildred, und die gedämpften Geräusche des Waldes schufen eine ruhige, fast magische Atmosphäre. Nael bettete sie so gut es ging und widmete sich dann einer weit dringlicheren Aufgabe: der Nahrungsbeschaffung!
Es passte ihm überhaupt nicht, aber er musste die beiden für ein paar Stunden allein lassen. Er musste jagen oder essbare Pflanzen sammeln. Alle hatten Hunger und brauchten etwas in den Bäuchen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er schaute, ob die beiden fürs Erste versorgt waren, drückte Ava noch einmal sanft die Hand, und verabschiedete sich schweren Herzens. Es musste sein, denn ohne Nahrung würde es ihnen immer schlechter gehen.
Nael wanderte schon seit zwei Stunden durch den Wald, ohne etwas Ordentliches gefunden zu haben. Der Wald, der ihm einst wie ein vertrauter Freund erschien, wirkte heute wie ein launischer alter Mann, der seine Schätze gut versteckte. Die hohen Tannen standen dicht beieinander, ihre nadelbewachsenen Äste warfen düstere Schatten auf den Waldboden, der mit einer dicken Schicht aus Nadeln, welken Blättern und Moos bedeckt war. Die Luft war feucht und kühl, und jeder Atemzug schmeckte nach Erde und Harz.
Während er sich durch das dichte Unterholz kämpfte, schweiften seine Gedanken zurück nach Elderwood. Er erinnerte sich an seine Kindheit, an die Spiele im Schatten der alten Eichen und an die Träume, die er als junger Mann hegte. Besonders klar vor seinem inneren Auge sah er das Bild eines Burgfräuleins, das er einst bei einem seltenen Besuch am Hofe gesehen hatte. Ihr Name war Elowen. Sie hatte ihm keck zugelächelt, und dieses Lächeln hatte sich tief in sein Herz gebrannt. In seinen Träumen war sie die Frau, die er eines Tages heiraten würde, und diese Träume gaben ihm in den dunkelsten Momenten Kraft. Aber die Realität war unbarmherzig, und nun musste er sich um seine Familie kümmern.
Nael schlich durch das Unterholz, die Augen angestrengt nach Bewegungen suchend, während das knisternde Geräusch seiner Schritte durch den stillen Wald hallte. Plötzlich blieb er stehen, als er in der Ferne ein Rascheln hörte. Vorsichtig, auf leisen Sohlen, näherte er sich dem Geräusch, das von einem kleinen Bachlauf herüberwehte. Als er den Bach erreichte, sah er eine Rehmutter, die sich mit ihren Jungtieren am klaren Wasser labte. Ihr Fell war dunkel und glänzend, und in ihren großen, sanften Augen spiegelte sich das Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume brach.
Nael spannte seinen klapprigen Bogen, der er erst vor ein paar Tagen am Wegesrand gefunden hatte und legte dein einzigen Pfeil an, den er hatte. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Doch bevor er schießen konnte, schrak das Reh auf, als ein Ast unter seinem Fuß knackte. Es sprang davon, mit langen, eleganten Sätzen, und verschwand zwischen den Bäumen, die Jungtiere ihm dicht auf den Fersen.
Er war frustriert, besorgt – selbst auch erschöpft. Seine Gedanken kehrten zu Elderwood zurück, zu den schweren Zeiten, die seine Familie dort durchgemacht hatte, und zu dem Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte: Er würde sie beschützen, koste es, was es wolle.
Er setzte seine Wanderung fort und kam schließlich auf eine Lichtung, die nur spärlich mit Bäumen bewachsen war. Hier hatte man einen weiten Blick ins Land. Die Sonne stand tief am Himmel und tauchte die Hügel und Wiesen in ein warmes, goldenes Licht. Der Wind strich sanft über das hohe Gras, das in Wellen wie ein grünes Meer flüsterte. Steppen, Wiesen und Hügel, hier und da Gruppen von Bäumen – mehr sah man nicht. Oder doch?
Nael kniff die Augen zusammen und erspähte in der Ferne etwas, das sich bewegte. Er ging näher, immer darauf achtend, in Deckung zu bleiben. Das Etwas entpuppte sich als ein Mensch, der ein Pferd an der Leine führte. Pferd und Mensch gingen auf einem Weg, der tief in die Erde eingegraben war, die Furchen zeigten an, dass hier häufiger geritten oder gewandert wurde. Es musste also eine Siedlung oder etwas Vergleichbares in der Nähe geben.
Nael war hin- und hergerissen. Dem Mann zu folgen, hieß, Mildred und Ava zu lange allein zu lassen. Außerdem war er gekommen, um Nahrung zu beschaffen. Wenn es eine Siedlung gab, dann würde es dort Nahrung geben. Brot, Brei, vielleicht auch Fleisch. Nael lief das Wasser im Munde zusammen bei der Vorstellung eines warmen Mahls.
Als das Pferd hinter einem Hügel verschwunden war, rannte Nael los. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, aber er spürte kaum die Kälte, so sehr trieb ihn die Hoffnung an. Etwa 20 Minuten musste er laufen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Beine fühlten sich schwer an, aber hinter dem Hügel sah er dann etwas Wunderbares: Eine Siedlung – groß, mit einer Kirche in der Mitte. Ein Wall aus dicken, hölzernen Pfählen umzäunte die Häuser, deren Strohdächer golden in der Abendsonne leuchteten. Felder außerhalb waren bewirtschaftet, und Ochsen und Rinder standen auf umzäunten Weiden, während weiter weg die Ernte eingefahren wurde. Nael war glücklich, machte kehrt und rannte, so schnell es ihm die Erschöpfung erlaubte, zu seinen Angehörigen zurück, um ihnen die frohe Kunde zu überbringen.
Ava und Mildred waren glücklich, als er zurückkehrte und von der Siedlung berichtete. Es gab neue Kraft, und man machte sich auf.
Am späten Nachmittag kam man an der Pforte der Siedlung Graymere an. Eine Wache kam ihnen mit nach vorn gerichteter Lanze entgegen.
„Wer seid ihr und was ist euer Begehr?“, rief er ihnen schon aus einiger Entfernung zu.
Nael löste sich von seinen Angehörigen, ging vorsichtig auf die Wache zu und erklärte sich. Sie bräuchten Hilfe, eine Unterkunft und etwas zu essen. Er hätte leider nicht viel, würde aber alles mit harter Arbeit vergelten. Ava und Mildred wären ebenfalls handwerklich begabt und würden nach der Genesung ebenfalls für Ausgleich sorgen.
Die Wache schaute sich die Frauen an und beäugte besonders Ava. Er drehte sich herum und befahl, das Tor zu öffnen und einen Heiler zu rufen. Das Trio musste etwa 30 Minuten an der Pforte warten, als ein in eine Robe gekleideter, alter Mann zu ihnen kam, der sich als Heiler auswies und die kranken Frauen in Augenschein nahm. Man wolle sich nicht die Pest ins Dorf holen und müsste prüfen, um welche Krankheit es sich handelte. Er schaute in Ohren, Nase und Mund und war von dem guten Zustand der Frauen überrascht. Man ließ sie ein und quartierte sie erst einmal in einem Stall neben dem kleinen Schankhaus ein. Hier war es trocken und warm. Pferde standen zwar auch in dem Verschlag, aber das störte die Drei nicht weiter. Eine junge Frau brachte etwas Brot und vergorene Milch. Mildred und Ava aßen und tranken – Nael verzichtete, auch unter Protest seiner Mutter, um wenigstens Ava sattzubekommen.
Die Nacht war herrlich, denn sie hatten wieder ein gemütliches Lager im Stroh. Als der Morgen anbrach, wurden sie schon früh geweckt. Der Heiler erkundigte sich nach dem Befinden, ein Priester wollte wissen, woher sie kamen und ob man sie getauft hatte, und ein Bauer, der auf der Suche nach einem kräftigen Burschen war, inspizierte Nael gründlich.
Ibertus war ein Bauer, der nicht nur den größten Hof in Graymere hatte, sondern auch für die Verhältnisse der Dörfler vermögend war.
„Wenn ihr gesund seid, könnt ihr auf meinen Hof kommen. Ich brauche Arbeitskräfte im Haus und auf dem Feld. Ihr wohnt in einer der Hütten, bekommt Wasser und Milch und könnt Getreide aus dem Speicher holen. Für gute Arbeit gibt es eine Münze die Woche – für alle zusammen versteht sich“, brummte er in tiefem Ton und verschwand im Schankhaus.
Nael und Mildred waren aus dem Häuschen und umarmten sich. Ava schaute ängstlich aus. Im Haus arbeiten? – sie dachte an den Lehnsherren.
Wochen vergingen und die kleine Familie hatte sich erholt und in der Gemeinschaft eingelebt. Graymere war eine einfache, aber gut organisierte Siedlung, die sich von Elderwood deutlich unterschied. Die hölzerne Palisade, die das Dorf umgab, verlieh ihm einen Hauch von Sicherheit, den Nael in seiner Heimat nie gekannt hatte. Innerhalb dieser schützenden Wände reihten sich die Häuser dicht aneinander, ihre Dächer aus Stroh und Schindeln boten Schutz vor den oft rauen Witterungsbedingungen, die diese Gegend heimsuchten. Die meisten Gebäude waren solide und gut gepflegt, was das Dorf in einem besseren Zustand erscheinen ließ als das heruntergekommene Elderwood.
Die Menschen in Graymere wirkten auf den ersten Blick hart und verschlossen, doch bei näherem Hinsehen erkannte Nael eine Gemeinschaft, die zusammenhielt und sich gegenseitig unterstützte. Hier war das Leben zwar hart, aber es gab eine gewisse Struktur und Ordnung, die den Bewohnern half, die Herausforderungen des täglichen Lebens zu meistern. Jeder in Graymere hatte seine Aufgabe, sei es auf den Feldern, in den Werkstätten oder im Haushalt. Die Bauern arbeiteten von früh bis spät, ihre Hände rau und ihre Gesichter wettergegerbt, doch sie klagten nicht. Das Leben in Graymere war von einer stillen Entschlossenheit geprägt, die Nael bewunderte.
Es gab einen Priester, der darauf bestand, dass der Gottesdienst am siebten Tag besucht wurde, und der die moralischen und geistlichen Belange des Dorfes im Auge behielt. Seine Predigten waren streng, aber auch tröstend, denn er versprach den Bewohnern, dass ihre Mühen nicht umsonst seien und dass sie eines Tages belohnt würden – wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.
Der Alltag in Graymere war ein ständiger Kampf ums Überleben, doch im Vergleich zu Elderwood bot die Siedlung eine Stabilität, die Nael und seiner Familie neuen Mut gab. Die Felder außerhalb der Palisade waren fruchtbar, und die Bauern pflanzten fleißig Getreide und Gemüse an, das in den kälteren Monaten die Vorratskammern füllte. Der Bach, der das Dorf durchzog, sorgte für frisches Wasser und war reich an Fischen, die eine willkommene Abwechslung auf dem kargen Speiseplan darstellten. Der Wald in der Nähe bot nicht nur Holz und Kräuter, sondern auch die Möglichkeit, Wild zu jagen, wenn das Glück auf der Seite des Jägers war.
Auch wenn das Leben in Graymere seine Härten hatte – besonders im Winter, wenn die Kälte durch die Wände der Häuser kroch und die Vorräte knapp wurden – war es allemal besser als das erbärmliche Dasein, das sie in Elderwood geführt hatten. In Graymere gab es Hoffnung. Hier war ein Platz, an dem sie sich vielleicht eine Zukunft aufbauen konnten, fernab der Entbehrungen und der ständigen Bedrohungen, die ihnen in Elderwood das Leben zur Hölle gemacht hatten.
Mildred fand bald einen Platz in der Gemeinschaft. Ihre Fähigkeiten in der Kräuterkunde und beim Weben wurden geschätzt, und sie legte mit anderen Frauen einen kleinen Kräutergarten auf dem Grund des Bauern Ibertus an. Ava, deren jugendliche Schönheit auch in Graymere nicht unbemerkt blieb, blühte unter den neuen Umständen auf. Sie half den anderen Frauen bei der Kinderbetreuung, webte und nähte, und spielte abends oft auf der Flöte, die ihr ein reisender Minnesänger geschenkt hatte. Ihr Lachen hallte oft durch die Gassen des Dorfes, und es war, als würde ihre Fröhlichkeit ein Stückchen des schweren Alltags aufhellen.