Mortal Engines - Krieg der Städte - Philip Reeve - E-Book
SONDERANGEBOT

Mortal Engines - Krieg der Städte E-Book

Philip Reeve

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Mortal Engines - Krieg der Städte" ist der Auftaktband zu Philip Reeves monumentaler Fantasyserie voller Luftschiffe und Piraten, Kopfgeldjäger und Aeronauten – und fahrender Städte. Niemand hatte mit einem Attentat gerechnet. Als das Mädchen mit dem Tuch vor dem Gesicht ein Messer zückt, um den Obersten Historiker Londons, Thaddeus Valentine, umzubringen, kann ihm der junge Gehilfe Tom in letzter Sekunde das Leben retten. Er verfolgt das Mädchen, das jedoch durch einen Entsorgungsschacht in die Außenlande entkommt. Dass Valentine, statt seinem Retter zu danken, den Jungen gleich mit hinausstößt, konnte ebenfalls beim besten Willen keiner ahnen … Damit beginnt Toms abenteuerliche Odyssee durch die Großen Jagdgründe zurück nach London. Begleitet wird er von der unbeirrbaren Hester Shaw, die fest entschlossen ist, den Mord an ihren Eltern zu rächen. Sie treffen auf Sklavenhändler und Piraten, werden von einem halbmenschlichen Kopfgeldjäger verfolgt und von einer Aeronautin namens Anna Fang gerettet. Und all das, während Valentine plant, mittels einer Superwaffe aus dem Sechzig-Minuten-Krieg die Feinde der fahrenden Städte zu vernichten … Für Leser von Philip Pullman oder J.R.R. Tolkien und Fans von Peter Jackson. "Mortal Engines - Krieg der Städte" ist der erste Band des "Mortal Engines"-Quartetts Band 2: Mortal Engines – Jagd durchs Eis Band 3: Mortal Engines – Der Grüne Sturm Band 4: Mortal Engines – Die verlorene Stadt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Philip Reeve

Mortal Engines – Krieg der Städte

Roman

FISCHER E-Books

Für Sarah

Teil 1

1Die Jagdgründe

Es war ein dunkler, böiger Nachmittag im Frühling, und im ausgetrockneten Bett der Nordsee eröffnete London die Jagd auf eine kleine Schürferstadt.

In besseren Zeiten hätte sich London mit so kläglicher Beute gar nicht abgegeben. Die mächtige Traktionsstadt hatte auf weit größere Siedlungen Jagd gemacht, vom Rand der Eisöde im Norden bis hinunter an die Küste des Mittelmeers. Doch dann wurde jede Art von Beute allmählich rar, und London hatte die hungrigen Blicke größerer Städte auf sich gezogen. Zehn Jahre hatte es sich versteckt, in einer nasskalten Hügellandschaft weit im Westen, die nach Auskunft der Historikergilde einst die Insel Großbritannien gewesen war. Zehn Jahre musste es sich auf dem verregneten Flecken Erde von winzigen Agrardörfern und statischen Siedlungen ernähren. Doch jetzt – endlich – hatte der Oberbürgermeister verkündet, es sei Zeit, über die Landbrücke in die Großen Jagdgründe zurückzukehren.

London war noch nicht weit gefahren, als die Späher der Stadt von ihren hohen Aussichtstürmen jene Schürferstadt entdeckten, die zwanzig Meilen voraus an der Salzkruste nagte. Den Londonern kam es wie ein Zeichen der Götter vor, und selbst ihr Oberbürgermeister (der weder an Götter noch an schicksalhafte Zeichen glaubte) hielt es für einen guten Auftakt der Reise gen Osten und befahl, die Verfolgung aufzunehmen.

Als die Schürferstadt die Gefahr bemerkte, drehte sie ab, aber Londons gewaltige Raupenketten hatten schon Fahrt aufgenommen. Bald rumpelte die Stadt in vollem Tempo voran, ein Berg aus Metall mit sieben Lagen wie eine Hochzeitstorte – die unteren Decks waren in Abgase gehüllt, auf den oberen schimmerten die teuren Villen, und noch darüber glänzte auf der Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale ein goldenes Kreuz, sechshundert Meter über der verheerten Erde.

Tom putzte in der Naturkundeabteilung des London Museum die Exponate, als es begann. Er spürte das verräterische Zittern im metallenen Boden, und als er aufschaute, schwangen die Delphin- und Walmodelle leise quietschend an ihren Aufhängungen hin und her.

Tom machte das keine Angst. Er hatte sein ganzes fünfzehnjähriges Leben in London verbracht und kannte die Regungen der Stadt. Er wusste gleich, dass sie den Kurs wechselte und Fahrt aufnahm. Ein Schauder überlief ihn, das uralte Jagdfieber, das jeder Bewohner Londons kannte. Es war Beute in Sicht! Tom ließ Pinsel und Staubwedel fallen und legte eine Hand an die Wand, um den Vibrationen der Maschinen nachzuspüren, tief unten im Bauchraum seiner Stadt. Ja, da war es – das tiefe Wummern der zugeschalteten Hilfsmotoren, wie ein Trommelschlag, der ihm durch Mark und Bein ging, bumm, bumm, bumm.

Am Ende des Saals sprang die Tür auf, und Chudleigh Pomeroy kam hereingestürzt, das Toupet verrutscht und das Gesicht krebsrot vor Empörung. »Was in Quirkes Namen …?«, polterte er und starrte zu den schaukelnden Walen hoch. Ausgestopfte Vögel ruckten und hüpften in den Vitrinen, als wollten sie die Jahre der Gefangenschaft abschütteln und zum Flug ansetzen. »Gehilfe Natsworthy! Was geht hier vor?«

»Eine Jagd, Sir«, sagte Tom und fragte sich, wie es Pomeroy fertigbrachte, als Zweiter Oberster der Historikergilde nach all der Zeit an Bord dieser Stadt ihren Herzschlag nicht deuten zu können. »Muss was Tolles sein«, erklärte er. »Alle Hilfsmotoren laufen, das ist ewig nicht mehr passiert. Vielleicht haben wir endlich mal Glück!«

»Pah!«, schnaubte Pomeroy und zuckte zusammen, als die Glasscheiben der Vitrinen im Takt der Motoren zu zittern und zu sirren begannen. Über seinem Kopf schwang das größte Exponat im Saal – ein Wesen namens Blauwal, das vor Tausenden von Jahren ausgestorben war – wie eine Kinderschaukel an den Stahltrossen hin und her. »Das mag ja sein, Natsworthy«, sagte er. »Dennoch wünschte ich, die Ingenieursgilde würde sich endlich durchringen, unser Museum mit anständigen Stoßdämpfern auszustatten. Die Exponate sind äußerst empfindlich. Das ist indiskutabel, gänzlich indiskutabel.« Er angelte ein getüpfeltes Taschentuch aus den Tiefen seiner langen schwarzen Robe und trocknete sich die Stirn.

»Ach, bitte, Sir«, sagte Tom, »könnte ich kurz zu den Aussichtsterrassen laufen und bei der Jagd zuschauen? Nur eine halbe Stunde? Die letzte richtige Jagd ist doch schon Jahre her …«

Pomeroy wirkte ehrlich entsetzt. »Unter gar keinen Umständen, Gehilfe! Schauen Sie nur, wie viel Staub diese scheußliche Jagd aufwirbelt! Die Exponate müssen alle auf Schäden untersucht und gereinigt werden.«

»Aber das ist ungerecht!«, beschwerte sich Tom. »Ich habe gerade eben schon im ganzen Saal gewischt!«

Er wusste sofort, dass das ein Fehler gewesen war. Der alte Pomeroy war kein übler Kerl, aber deshalb duldete er noch lange keinen Widerspruch von einem Gehilfen dritter Klasse. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf (er war in etwa so hoch wie breit) und schaute so tadelnd, dass sein Gildenzeichen zwischen den buschigen Brauen fast verschwand. »Das Leben ist ungerecht, Natsworthy«, grollte er. »Noch ein Wort von Ihnen, und ich verdonnere Sie nach der Jagd zum Bauchraumdienst.«

Von allen unangenehmen Pflichten eines Gehilfen dritter Klasse war der Bauchraumdienst mit Abstand die schlimmste. Tom verstummte und senkte gehorsam den Blick auf die säuberlich polierten Schuhspitzen des Museumsdirektors.

»Sie sind bis um sieben Uhr zur Arbeit eingeteilt, und Sie werden bis sieben Uhr arbeiten«, fuhr Pomeroy fort. »Ich dagegen muss die Kollegen zusammenrufen. Dieses grässliche, grässliche Gerüttel …«

Grimmig murmelnd eilte er davon. Tom schaute ihm nach, sammelte seine Utensilien zusammen und machte sich missmutig wieder ans Werk. Normalerweise hatte er nichts gegen das Putzen, zumal in diesem Saal, bei den freundlichen, mottenlöchrigen Tieren und dem blauen Wal mit dem breiten blauen Lächeln. Wenn er sich langweilte, konnte er sich in Tagträume flüchten, in denen er heldenhaft schöne Mädchen vor Luftpiraten beschützte, London gegen die Antitraktionistenliga verteidigte und glücklich lebte bis an sein Lebensende. Aber wie sollte er träumen, wenn alle anderen die erste richtige Jagd seit Jahren genießen durften?

Tom wartete zwanzig Minuten, aber Chudleigh Pomeroy kam nicht zurück. Auch sonst war niemand in der Nähe. Es war Mittwoch, das Museum war geschlossen, und die meisten Gildengenossen und die Gehilfen erster und zweiter Klasse hatten den Tag frei. Was konnte es schon schaden, wenn er zehn Minuten vor die Tür ging, um zu schauen, was da draußen los war? Er verstaute seine Putzsachen hinter einem ausgestopften Yak und eilte durch die tanzenden Schatten der Delphine zur Ausgangstür des Saals.

Auf dem Gang trudelten die Argonlampen an der Decke, und ihr Licht schwappte in Wellen über die metallenen Wände. Zwei Gildengenossen in schwarzen Roben kamen vorüber, und Tom lauschte hinter der Tür der heiseren Stimme des alten Dr. Arkengarth: »Immer diese Vibrationen«, jammerte er, »die ruinieren mir meine schöne Keramik aus dem 25. Jahrhundert …«

Tom wartete, bis die beiden um die Ecke verschwunden waren, dann schlich er schnell zur nächsten Treppe. Er durchquerte den Saal mit der Sammlung aus dem 21. Jahrhundert und umrundete die Plastikstatuen von Micky und Pluto, den tierköpfigen Gottheiten des untergegangenen Amerika. Hinter der Haupthalle folgten weitere Säle voller Kuriositäten, die irgendwie die Jahrtausende seit der Selbstvernichtung der Damaligen überstanden hatten, seit jenem grauenhaften Schlagabtausch mit satellitengesteuerten Atomwaffen und Designerviren, der als Sechzig-Minuten-Krieg in die Geschichte eingegangen war. Keine zwei Minuten später schlüpfte Tom durch einen Nebenausgang auf die geschäftige Tottenham Court Road hinaus.

Das London Museum stand genau in der Mitte von Deck zwei, im quirligen Stadtteil Bloomsbury. Über den Dächern der Gebäude hing wie eine rostige Wolkendecke die Unterseite von Deck eins. Tom musste nicht befürchten, im Halbdunkel auf der belebten Straße von irgendwem entdeckt zu werden, und bahnte sich einen Weg zur öffentlichen Mattscheibe an der Aufzugsstation Tottenham Court Road. Dort angekommen, erhaschte er auf Zehenspitzen den ersten Blick auf die ferne Beute: ein verschwommenes blaugraues Etwas im Visier der Kameras tief unten auf Deck sechs. »Die Stadt, die Sie hier sehen, nennt sich Salthook«, dröhnte eine Lautsprecherstimme. »Eine Schürferstadt mit rund 900 Einwohnern. Sie bewegt sich in Richtung Osten, aber unsere Navigatoren gehen davon aus, dass wir sie vor Sonnenuntergang einholen werden. Jenseits der Landbrücke dürften uns weitere Siedlungen erwarten – der klare Beweis, dass es ein weiser Entschluss unseres geschätzten Oberbürgermeisters war, endlich den Kurs gen Osten einzuschlagen …«

Tom hatte noch nie erlebt, dass sich seine Stadt derart schnell bewegte, und hätte sich zu gern auf den Aussichtsterrassen den Wind um die Nase wehen lassen. Konnte er es wirklich nicht riskieren, ein paar Minuten dranzuhängen?

Er rannte los und war bald am Rand der Deckplatte, unter offenem Himmel, im Bloomsbury Park. Früher war es ein richtiger Park gewesen, mit Bäumen, Wiesen und Ententeichen, aber wegen des spärlichen Jagderfolgs der letzten Jahre wurde er jetzt zur Nahrungsproduktion genutzt, und statt Blumen gab es Kohläcker und Algentümpel. Nur die Aussichtsterrassen waren unverändert – balkonartige Vorsprünge am Rand des Decks, auf denen die Bewohner Londons die vorüberziehende Landschaft bewundern konnten. Tom eilte auf die erstbeste von ihnen zu. Dort war es noch voller als vor der Mattscheibe, und viele Schaulustige trugen das Schwarz der Historikergilde. Möglichst unauffällig schob Tom sich zum Geländer durch. Salthook holperte in voller Fahrt keine fünf Meilen voraus und rauchte pechschwarz aus allen Schloten.

»Natsworthy!«, johlte jemand von der Seite, und Tom zog sich der Magen zusammen. Als er sich umsah, fand er sich Melliphant gegenüber, einem stämmigen Gehilfen erster Klasse, der mit einem breiten Grinsen sagte: »Großartig, oder? Ein fetter kleiner Salzschürfer mit C20er Landmotoren. Genau das, was London braucht.«

Herbert Melliphant war ein Tyrann der übelsten Sorte, einer, der sich nicht damit zufriedengab, seine Opfer herumzuschubsen und kopfüber ins Klosett zu tunken, sondern ihnen ihre geheimen Wünsche und Ängste entlockte, um sie möglichst gezielt zu quälen. Auf Tom, den schmächtigen, schüchternen Lehrling ohne Freunde, die ihn hätten schützen können, hatte er es besonders abgesehen. Und Tom konnte sich nicht einmal rächen, weil Melliphant dank seiner reichen Eltern ein Gehilfe erster Klasse war und er selbst als Vollwaise bloß ein Drittler. Tom wusste gleich, dass Melliphant nur mit ihm redete, weil er Clytie Potts beeindrucken wollte, eine hübsche junge Historikerin, die dicht hinter ihm stand. Tom nickte, drehte sich zum Geländer und konzentrierte sich wieder auf die Jagd.

»Seht mal!«, rief Clytie Potts.

Der Abstand zwischen London und seiner Beute schrumpfte, und jetzt stieg ein dunkler Umriss von Salthook auf. Dann noch einer und noch einer. Luftschiffe! Die Menge auf Londons Aussichtsterrassen brach in Jubel aus, und Melliphant kommentierte: »Ah, Luftkaufleute. Sie haben kapiert, dass die Stadt keine Chance hat, wisst ihr, und verkrümeln sich, bevor wir Salthook fressen. Sonst würde ihre Ladung genauso uns gehören wie alles andere an Bord.«

Tom sah mit Freuden, wie gelangweilt Clytie Potts reagierte. Sie war einen Jahrgang über Herbert Melliphant und wusste das alles sicher längst, denn sie hatte die Gildenprüfung schon abgelegt und das Zeichen der Historiker auf die Stirn tätowiert bekommen. »Seht mal, da!«, rief sie noch einmal, warf Tom einen Blick zu und strahlte. »Da fliegen sie. Sind sie nicht schön?«

Tom schob sich das widerspenstige Haar aus der Stirn und schaute den Luftschiffen nach, wie sie höher und immer höher stiegen, bis sie in den Wolken verschwanden. Kurz sehnte er sich danach, mitzufliegen, durch die Wolken in das Sonnenlicht darüber. Warum hatten seine Eltern ihn bloß als Lehrling in die Obhut der Historiker gegeben? Tom wäre so gern Gehilfe auf einem Klipper gewesen und hätte alle Großstädte der Welt gesehen: Puerto Angeles weit draußen im Pazifischen Ozean, Arkangel, das auf eisernen Kufen über die vereisten Nordmeere glitt, die Zikkurat-Städte von Nuevo Maya und die reglosen Festungen der Antitraktionisten …

Aber das war bloß ein Tagtraum, den er sich besser für einen langweiligen Nachmittag im Museum aufsparen sollte. Wieder jubelten alle, weil die Jagd sich ihrem Höhepunkt näherte, und Tom wandte sich wieder Salthook zu.

Die kleine Stadt war jetzt so nah, dass ihre Bewohner als ameisengroße, wimmelnde Gestalten auf den Decks zu erkennen waren. Wie sie sich wohl fühlen mussten, jetzt, wo London unausweichlich näher kam! Tom wusste, dass sie kein Mitleid verdienten: Es war nur natürlich, dass Großstädte kleine Städte fraßen, dass Kleinstädte Dörfer verschlangen und sich Dörfer an statischen Siedlungen gütlich taten. Das war der Städtedarwinismus, und so lief es in der Welt seit Hunderten von Jahren, seit der große Ingenieur Nikolas Quirke London zur ersten Traktionsstadt umgebaut hatte. »Lon-don! Lon-don!«, brüllte Tom mit all den anderen im Chor, und gleich darauf wurden sie damit belohnt, dass eine von Salthooks Achsen brach. Schlingernd kam der Ort zum Stehen, Schornsteine knickten um und stürzten zwischen die panisch umherrennenden Bewohner. Dann schoben sich Londons untere Decks davor, und Tom spürte am Zittern der Deckplatten, dass die gewaltigen hydraulischen Kiefer der Stadt sich um die Beute schlossen.

Überall brandete frenetischer Jubel auf. Aus den Lautsprechern an den Deck-Stützpfeilern erscholl »London Pride«, und irgendein Wildfremder fiel Tom in die Arme und schrie ihm ins Ohr: »Erwischt! Erwischt!« Tom machte es nichts aus – in dem Moment liebte er alle Menschen auf der Terrasse, sogar Melliphant. »Erwischt!«, schrie er zurück, machte sich los und spürte wieder ein dumpfes Rumpeln. Irgendwo unter ihm packten stählerne Zähne die kleine Stadt, hoben sie an und beförderten sie in den Bauchraum.

»… und Gehilfe Natsworthy könnte doch auch mitkommen«, sagte Clytie Potts gerade. Tom hatte nicht mitgekriegt, worum es ging, aber als er sich umsah, berührte sie ihn lächelnd am Arm. »Es gibt nachher eine Feier in den Kensington Gardens«, erklärte sie. »Mit Tanzkapelle und Feuerwerk. Willst du mit?«

Gehilfen dritter Klasse wurden eher selten zu Festen eingeladen – schon gar nicht von schönen, beliebten Frauen –, und Tom hielt es zunächst für einen Scherz. Aber Melliphant schien die Sache ernst zu nehmen, denn er zog Clytie mit sich fort und sagte: »So einer wie Natsworthy hat da nichts verloren.«

»Warum denn nicht?«, fragte Clytie.

»Na, überleg doch mal«, schnaubte Melliphant und lief fast so rot an wie Chudleigh Pomeroy. »Er ist nur ’n Drittler. Ein Laufbursche. Der wird nie das Gildenzeichen tragen, der wird allerhöchstens Aushilfskurator. Stimmt doch, Natsworthy, oder?« Er grinste höhnisch. »Zu schade, dass dein Dad nicht genug Geld für eine richtige Ausbildung hatte …«

»Du hast doch keine Ahnung!«, rief Tom. Seine Freude über den Jagderfolg war wie weggeblasen, und die Angst kam wieder, die Sorge, was ihm bevorstand, wenn Pomeroy seinen Ausflug bemerkte. Gemeine Sprüche waren das Letzte, was er jetzt brauchte.

»Das kommt eben davon, wenn man auf den unteren Decks in einem Dreckloch wohnt«, sagte Melliphant zu Clytie Potts. »Die Natsworthys haben auf der Vier gehaust, weißt du, und der Große Kollaps hat sie damals – Pflatsch – in zwei Pfannkuchen verwandelt.«

Tom hatte gar nicht vor, ihn zu schlagen; es passierte ganz von selbst. Ehe er sich’s versah, hatte seine Hand sich zur Faust geballt und war in Melliphants Gesicht gelandet, der aufheulte und vor Schreck hintenüberfiel. Irgendjemand applaudierte, und Clytie hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. Tom starrte nur auf seine zitternde Faust und fragte sich, wie es dazu hatte kommen können.

Melliphant war schnell wieder auf den Beinen, und er war wesentlich größer und kräftiger als Tom. Clytie versuchte, ihn zurückzuhalten, aber andere Historiker feuerten ihn an. Auch Navigatorenlehrlinge in ihren grünen Hemden scharten sich um die ungleichen Gegner und skandierten »Käm-pfen! Käm-pfen! Käm-pfen!«

Tom wusste, dass er ungefähr so gute Chancen hatte wie Salthook gegen London. Er wollte zurückweichen, aber die Menge ließ ihn nicht durch. Dann krachte ihm Melliphants Rechte ins Gesicht, und ein Knie traf ihn hart zwischen den Beinen, und schon stolperte er gekrümmt und tränenblind davon. Ein Hindernis kam ihm in den Weg, weich und federnd wie ein großes Sofa, und machte »Uff«, als Tom mit dem Kopf voran dagegen rannte.

Als er aufblickte, sah ein rundes rotes Gesicht mit buschigen Brauen unter einer auffälligen Perücke auf ihn herab, ein Gesicht, das bei seinem Anblick gleich noch röter wurde.

»Natsworthy!«, polterte Chudleigh Pomeroy. »Was in Quirkes Namen glauben Sie, was Sie hier tun?«

2Valentine

So kam es, dass Tom, während alle anderen Gehilfen den Jagderfolg feierten, zum Bauchraumdienst aufbrechen musste. Nach einem langen, beschämenden Vortrag in Pomeroys Büro (»Verletzung Ihrer Dienstpflicht, Natsworthy … Angriff auf höherrangige Gehilfen … Was würden Ihre armen Eltern sagen?«) schlich er gesenkten Hauptes zur Aufzugsstation Tottenham Court Road und wartete auf den Fahrstuhl nach unten.

Als er kam, war die Kabine ziemlich voll. Auf den Sitzplätzen im oberen Abteil hatten sich arrogant dreinblickende Mitglieder der Ingenieursgilde breitgemacht, der mächtigsten unter den vier großen Gilden, die seit Generationen über London herrschten. Mit ihren kahlen Köpfen und den weißen Gummimänteln waren sie Tom schon immer unheimlich gewesen, also entschied er sich für das Stehabteil darunter. Von Plakaten an den Wänden blickte das strenge Antlitz des Oberbürgermeisters auf ihn herab. Traktion ist Leben, stand darunter. Hilf Londons Ingenieuren, die Stadt in Bewegung zu halten! Tiefer und tiefer sank der Fahrstuhl und hielt an den vertrauten Stationen: Bakerloo, High Holborn, Low Holborn, Bethnal Green. Bei jedem Halt drängten mehr Menschen in die Kabine und pressten Tom so fest gegen die Wand, dass er beinahe erleichtert war, als ganz unten alle aus dem Aufzug strömten und er sich im Lärm und Chaos des Bauchraums wiederfand.

Der Bauchraum, wo London seine Beute zerlegte, war eine stinkende Ansammlung von Werkhöfen und Fabriken zwischen den Kieferklappen und dem Maschinenraum. Tom hasste diesen Ort. Dort war es immer laut, und man begegnete Arbeitern aus den untersten Decks, die schmutzig und bedrohlich wirkten, und den noch viel schlimmeren Häftlingen aus dem Gefängnis im Unterbauch. Von der drückenden Hitze bekam er Kopfschmerzen, die schweflige Luft reizte ihn zum Niesen, und vom Flackern der Argongloben taten ihm die Augen weh. Aber die Historikergilde legte Wert darauf, dass immer einige ihrer Vertreter anwesend waren, wenn London seine Beute verdaute, und heute musste Tom sich ihnen anschließen und die ruppigen alten Vorarbeiter des Bauchraums ermahnen, dass sämtliche Bücher und Antiquitäten an Bord der erlegten Stadt von Rechts wegen seiner Gilde zustanden, dass Geschichte nicht weniger wichtig war als Ziegel, Eisen und Kohle.

Tom bahnte sich einen Weg zum Ausgang der Aufzugsstation. Zum Lagerhaus der Historikergilde ging es durch grüngekachelte runde Tunnel, dann über metallene Laufstege mit Blick auf die Feuerschlünde des Verdauungstrakts. Von dort oben konnte Tom verfolgen, wie Salthook in Stücke gerissen wurde. Es wirkte winzig im Vergleich zu Londons gewaltiger Größe. Gelbe Abrissmaschinen umkreisten es auf Schienen, baumelten von Kränen herab und staksten auf hydraulischen Spinnenbeinen auf der Stadt herum. Die Reifen und Achsen waren schon abmontiert, und man begann gerade mit den Arbeiten an den Decks. Kreissägen so groß wie Riesenräder gruben sich funkensprühend in die Platten. Aus Schmelztiegeln und Hochöfen wallte Hitze auf, und Tom war keine zwanzig Schritte weit gekommen, da klebte ihm schon das schwarze Hemd seiner Gildenuniform am Körper.

Doch als er das Lagerhaus erreichte, sah die Welt wieder ein bisschen besser aus. In Salthook hatte es weder Museum noch Bibliothek gegeben, und die Kleinigkeiten, die Toms Kollegen aus den Ramschläden der Stadt gerettet hatten, wurden schon für den Transport nach Deck zwei in Holzkisten verpackt. Mit etwas Glück konnte er früher Schluss machen und noch das Ende des Festes miterleben! Tom fragte sich, wer heute die Aufsicht führte. Wenn es der alte Arkengarth war oder Dr. Weymouth, hatte er Pech – die beiden entließen niemanden vor dem Ende der Schicht, egal, wie viel Arbeit es tatsächlich gab. Bei Potty Pewtertide oder Miss Plym stünden seine Chancen besser …

Aber auf dem Weg zur Bauchraumaufsicht wurde ihm klar, dass heute jemand viel Bedeutenderes die Historikergilde vertrat. Vor dem Gebäude parkte eine Schabe, ein schwarz glänzendes Gefährt, auf dessen Motorhaube das Gildenzeichen prangte – so etwas besaß niemand vom üblichen Personal. Daneben warteten zwei Männer in der Tracht hochrangiger Gildenbediensteter. Sie sahen trotz der prunkvollen Bekleidung grobschlächtig aus, und Tom erkannte die beiden sofort: Pewsey und Gench, zwei geläuterte Luftpiraten, die seit zwanzig Jahren in den Diensten des Obersten Historikers von London standen und die seine 13th Floor Elevator flogen, wenn er zu einer Expedition aufbrach. Valentine ist da!, dachte Tom und bemühte sich, die Männer nicht anzustarren, während er die Stufen zum Büro hochlief.

Thaddeus Valentine war Toms großer Held: ein ehemaliger Plunderer, der sich zum berühmtesten Archäologen Londons hochgearbeitet hatte – und außerdem zum Obersten Historiker, sehr zum Missfallen empörter Neider wie Pomeroy. Tom hatte ein Foto von ihm im Schlafsaal über seiner Pritsche hängen und kannte seine Bücher in- und auswendig: Abenteuer eines Praktischen Historikers und America Deserta – Erkundungen des toten Kontinents mit Luftschiff, Kamera und Pistole. Den größten Moment seines Lebens hatte Tom mit zwölf gehabt, als Valentine den Historikerlehrlingen Auszeichnungen für ihre Lernerfolge überreichte, unter anderem auch Tom für seinen Aufsatz über Erkennungsmerkmale gefälschter Antiquitäten. Tom erinnerte sich noch Wort für Wort an die Rede, die Valentine gehalten hatte: »Vergessen Sie nie, Gehilfen, dass wir Historiker die wichtigste Gilde Londons sind. Wir bringen nicht so viel Geld ein wie die Kaufleute, aber das Wissen, das wir ansammeln, ist viel kostbarer. Und wir steuern zwar nicht die Stadt wie die Navigatoren, aber was wären die Navigatoren ohne die antiken Karten, die wir Historiker gefunden haben? Und was die Ingenieure angeht – bedenken Sie, dass jede einzelne ihrer großen Entwicklungen auf Old-Tech beruht, auf Überresten altertümlicher Hochtechnologie, die unsere Archäologen ausgegraben und unsere Museen aufbewahrt haben.«

Tom hatte nicht mehr über die Lippen gebracht als ein leises »Vielen Dank, Sir« und war schnell auf seinen Platz zurückgeschlichen, daher wäre er nie auf die Idee gekommen, dass sich Valentine an ihn erinnern könnte. Aber als er jetzt die Bürotür öffnete, schaute sein Idol vom Schreibtisch auf und grinste hocherfreut.

»Gehilfe Natsworthy, oder? Der sich so gut mit Fälschungen auskennt? Da muss ich ja aufpassen, wenn Sie mir heute auf die Finger schauen!«

Der Witz war nicht besonders geistreich, aber er vertrieb die Verlegenheit, die meistens zwischen Lehrlingen und Gildenoberen herrschte. Tom traute sich, den Raum zu betreten, und zog die Verwarnung von Pomeroy aus der Tasche. Valentine sprang auf und nahm sie ihm ab. Er war um die vierzig, groß, gutaussehend, hatte dichtes, grau gesprenkeltes schwarzes Haar und trug einen gepflegten Vollbart. Seine grauen Seefahreraugen leuchteten gutgelaunt, und auf der Stirn prangte noch ein drittes, blaues Auge – das in die Vergangenheit blickende Gildenzeichen der Historiker. Es schien zu blinzeln, als Valentine fragend eine Braue hob.

»Eine Prügelei, ja? Und womit hat sich Gehilfe Melliphant die Abreibung verdient?«

»Mit dem, was er über meine Eltern gesagt hat, Sir«, murmelte Tom.

»Verstehe.« Der Forscher betrachtete ihn und nickte. Statt ihm Vorträge zu halten, fragte er: »Sind Sie der Sohn von David und Rebecca Natsworthy?«

»Ja, Sir«, sagte Tom, »aber beim Großen Kollaps war ich erst sechs … Ich meine, ich erinnere mich kaum an sie.«

Valentine nickte wieder. Er sah ernst und traurig aus. »Die beiden waren gute Historiker, Thomas. Ich hoffe, Sie werden eines Tages in ihre Fußstapfen treten.«

»O ja, Sir!«, sagte Tom. »Ich meine, das hoffe ich auch!« Er musste an seine armen Eltern denken, die gestorben waren, als ein Teil von Cheapside auf das Deck darunter stürzte. Nie hatte jemand so voller Respekt von ihnen gesprochen, und Tom traten Tränen in die Augen. Er hatte das Gefühl, mit Valentine über alles reden zu können, egal was, und war kurz davor, ihm anzuvertrauen, wie sehr er seine Eltern vermisste und wie einsam und langweilig das Leben als Gehilfe dritter Klasse war, als plötzlich ein Wolf ins Büro kam.

Es war ein riesiges Tier mit weißem Fell, und es kam aus dem Hinterzimmer. Als der Wolf Tom bemerkte, trabte er mit gefletschten gelben Zähnen auf ihn zu. »Aaah!«, kreischte Tom und sprang auf den nächstbesten Stuhl. »Ein Wolf!«

»Schön brav sein!«, sagte eine junge, weibliche Stimme, und gleich darauf kam ein Mädchen in Toms Alter herein, beugte sich zu dem Tier hinunter und kraulte das weiche weiße Fell unter dessen Kinn. Der Wolf schloss genüsslich die Augen und wedelte mit dem Schwanz. »Keine Bange«, sagte das Mädchen und schaute zu Tom auf. »Er ist ein echtes Lamm. Also eigentlich ein Wolf, aber brav wie ein Lamm.«

»Tom«, sagte Valentine schmunzelnd. »Darf ich vorstellen – meine Tochter Katherine. Und Hund.«

»Hund?« Tom kletterte peinlich berührt und noch immer nervös von seinem Stuhl herunter. Er hatte gedacht, das Vieh müsse aus dem Zoo im Circle Park ausgebrochen sein.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Valentine. »Katherine ist, bis sie fünf war, auf der Floßstadt Puerto Angeles aufgewachsen. Dann starb ihre Mutter, und seitdem lebt sie bei mir. Ich habe ihr den Kerl hier von meiner Expedition in die Eisöde mitgebracht, aber Katherine sprach noch nicht gut Anglisch und wusste gar nicht, was ein Wolf ist. Also sagte sie ›Hund!‹, als sie ihn sah, und dabei ist es dann eben geblieben.«

»Er ist ganz zahm«, sagte Katherine lächelnd zu Tom. »Vater hat ihn als kleinen Welpen mitgenommen. Die Mutter musste er erschießen, aber bei Hund hat er es nicht übers Herz gebracht. Er mag es am liebsten, wenn man ihn am Bauch krault. Hund, meine ich, nicht Vater.« Katherine lachte. Sie hatte volles, langes dunkles Haar, die grauen Augen ihres Vaters und dasselbe jähe, strahlende Lächeln. Ihre enge Seidenhose und das wallende Hemd waren in High London gerade der letzte Schrei. Tom staunte. Er kannte Valentines Tochter von Zeitungsfotos her, aber es war ihm nie aufgefallen, wie schön sie war.

»Na so was«, sagte sie. »Er mag dich.«

Hund beschnupperte seine Beine, wedelte mit dem Schwanz und leckte dann mit seiner nassen rosa Zunge Toms Finger ab.

»Wenn Hund jemanden mag, finde ich ihn meistens auch nett«, sagte Katherine. »Also los, Vater, willst du mir deinen Gast nicht vorstellen?«

Valentine lachte. »Na schön, Kate, das ist Tom Natsworthy, der zum Arbeiten hergeschickt wurde, und wenn dein Wolf mit ihm fertig ist, sollten wir ihn nicht weiter davon abhalten.« Er legte Tom gütig eine Hand auf die Schulter. »Viel zu tun gibt es nicht. Wir drehen noch eine kleine Runde durch den Trakt, und dann …« Er nahm die Verwarnung von Pomeroy, zerriss sie in kleine Schnipsel und warf sie in einen roten Recyclingeimer. »Dann können Sie gehen.«

Tom wusste gar nicht, worüber er sich mehr wundern sollte – dass Valentine ihn vom Haken ließ oder dass er persönlich in den Verdauungstrakt hinunterstieg. Hochrangige Gildenmitglieder zogen es meistens vor, im Büro zu bleiben, und überließen die harte Arbeit, die Hitze und den Gestank ihren Gehilfen, aber Valentine legte schon seine schwere Robe ab, steckte sich einen Stift in die Westentasche und ging zur Tür.

»Also los«, sagte er. »Je eher wir anfangen, desto eher sind Sie in den Kensington Gardens.«

Tiefer und immer tiefer ging es hinab, mit Katherine und Hund im Gefolge – am Lagerhaus vorbei und mehrere metallene Wendeltreppen hinunter in den Verdauungstrakt, wo Salthook langsam aufgezehrt wurde. Nur ein stählernes Skelett war noch übrig, und selbst das wurde jetzt zerlegt und Stück für Stück zum Einschmelzen in die Hochöfen gebracht. Auf langen Förderbändern ratterten Berge von Ziegeln, Schiefer, Holz, Salz und Kohle den Fabriken entgegen, und die Verwerter transportierten große Behälter voller Möbel und Lebensmittel auf ihren Karren ab.

Die Verwerter waren die wahren Herrscher dieses Stadtteils, und das wussten sie nur zu gut. Flink wie Katzen stolzierten sie über die schmalen Laufstege, mit schweißglänzender, nackter Brust, die Augen hinter dunklen Schutzbrillen verborgen. Tom fürchtete sich vor ihnen, aber Valentine grüßte sie unbeschwert und fragte, ob sie etwas gesehen hatten, was für das Museum von Interesse war. Manchmal scherzte er mit ihnen oder erkundigte sich nach ihren Familien, und er versäumte es nie, ihnen »meinen Kollegen Mr Natsworthy« vorzustellen. Tom platzte fast vor Stolz. Valentine behandelte ihn wie einen Erwachsenen, und die Verwerter taten es ihm nach, tippten sich an die speckigen Mützen und stellten sich ihrerseits breit grinsend vor. Die meisten hießen Len oder Smudger.

»Hören Sie nicht darauf, was man im Museum über diese Leute redet«, riet Valentine, als einer der Lens sie zu einem Behälter führte, in dem Antiquitäten lagen. »Nur weil sie in den Unterbezirken leben und ihre Aussprache etwas eigentümlich ist, sind sie noch lange nicht dumm. Ihretwegen komme ich gern persönlich her, wenn der Trakt in Betrieb ist. Verwerter und Plunderer finden oft Artefakte, die unseren Historikern entgehen.«

»Ja, Sir«, sagte Tom und schielte heimlich zu Katherine hinüber. Er wollte dem Obersten Historiker und seiner hübschen Tochter so gern imponieren. Wenn er in all diesem Schrott ein wertvolles Old-Tech-Bauteil auftreiben könnte, vielleicht würden sie sich dann an ihn erinnern! Sonst kehrten die beiden nach diesem kurzen Ausflug in den Luxus von High London zurück, und Tom würde sie nie wiedersehen.

Hoffnungsvoll eilte er auf den Schrottbehälter zu und schaute hinein. Manchmal kam es ja vor, dass wertvolle Hochtechnologie in verschlafenen Antiquitätenläden verstaubte oder bei alten Damen auf dem Kaminsims stand. Vielleicht entdeckte er den Schlüssel zu legendären Geheimnissen der Damaligen wie der Schwerer-als-Luft-Flugtechnik oder den Instantnudeln! Aber selbst wenn er nichts fand, was die Ingenieursgilde verwenden konnte, gab es immer noch die Chance, dass etwas als bedeutendes Artefakt im Museum ausgestellt werden würde, in einer Vitrine mit dem Vermerk: »Gefunden durch T. Natsworthy.« Tom ließ seinen Blick über den Inhalt des Behälters schweifen: Plastiksplitter, Lampenschirme, ein plattgedrücktes Spielzeug-Bodenfahrzeug … da fiel ihm eine flache Blechschachtel auf. Als er sie herausholte und öffnete, blickte ihm sein eigenes Gesicht entgegen. Es spiegelte sich in einer silbrigen Plastikscheibe. »Mr Valentine! Ein Rohling!«

Valentine holte die Scheibe aus der Schachtel und neigte sie so, dass sich das Licht darauf regenbogenfarben brach. »Sehr richtig«, sagte er. »Die Damaligen haben mit ihren Computern Informationen darauf gespeichert.«

»Könnte es etwas Wichtiges sein?«, fragte Tom.

Valentine schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Thomas. Diese Leute haben zwar in statischen Siedlungen gehaust, aber ihre elektronischen Maschinen waren fortschrittlicher als alles, was unsere Londoner Ingenieure konstruieren. Selbst wenn sich auf dem Rohling noch Daten befinden, können wir sie leider nicht abrufen. Trotzdem ist es ein schöner Fund. Behalten Sie ihn, man kann nie wissen.«

Während Tom den Rohling verstaute, wandte Valentine sich schon zum Gehen. Aber Katherine schien zu spüren, wie enttäuscht Tom war, denn sie berührte ihn am Arm und sagte: »Er ist wunderschön, Tom. Es ist immer wunderschön, wenn etwas all die Jahrtausende überdauert hat, ganz egal, ob die dummen alten Ingenieure es gebrauchen können. Ich habe eine Halskette aus solchen Silberscheiben …« Katherine lächelte. Sie war so hübsch wie die Mädchen aus Toms Tagträumen, aber viel freundlicher und humorvoller, und Tom ahnte, dass von jetzt an seine weiblichen Hauptfiguren alle Katherine Valentine heißen würden.

Sonst war in dem Behälter nichts Aufregendes zu finden. Salthook war eine bodenständige Stadt gewesen, die lieber auf dem schlammigen Meeresgrund nach Rohstoffen schürfte, als in der Vergangenheit zu graben. Aber statt zum Büro zurückzukehren, führte Valentine seine kleine Schar über eine andere Wendeltreppe und einen Laufsteg entlang zur Aufnahmestation, wo die ehemaligen Bewohner Schlange standen, um sich vom Sachbearbeiter registrieren und sich einen Schlafplatz in den Herbergen und Armenhäusern Londons zuweisen zu lassen. »Selbst wenn ich bei einer Jagd gar nicht im Dienst bin«, erklärte Valentine, »schaue ich immer nach den Plunderern, bevor sie ihre Funde auf Deck fünf an die Händler verramschen und in die Außenlande verschwinden.«

An Bord einer Beutestadt gab es immer ein paar Plunderer – städtelose Nomaden, die zu Fuß die Jagdgründe durchstreiften und nach Old-Tech suchten. Salthook war da keine Ausnahme: Am Ende der langen Schlange niedergeschlagener Bewohner stand eine Gruppe besonders abgerissener Gestalten in langen, zerschlissenen Mänteln, denen Schutzbrillen und schmuddelige Atemmasken um den Nacken hingen.

Wie die meisten Bewohner Londons gruselte sich Tom bei dem Gedanken, dass es tatsächlich noch Menschen gab, die auf der nackten Erde lebten. Er blieb mit Katherine und Hund ein Stück zurück, während Valentine auf die Plunderer zuspazierte. Alle scharten sich um ihn, bis auf eine auffallend schlanke Gestalt im schwarzen Mantel – ein Mädchen, dachte Tom, auch wenn unter dem schwarzen Tuch, das sie wie ein Wüstennomade um den Kopf und das Gesicht geschlungen hatte, nicht viel von ihr zu erkennen war. Tom trat näher und schaute zu, wie Valentine sich den anderen vorstellte und fragte: »Also – habt ihr etwas, das für die Historikergilde interessant sein könnte?«

Manche der Plunderer nickten, andere schüttelten den Kopf oder begannen in ihrem Gepäck zu wühlen. Das Mädchen mit dem schwarzen Tuch ließ eine Hand in ihren Mantel gleiten und sagte: »Ich habe etwas für dich, Valentine.«

Sie sagte es so leise, dass nur Katherine und Tom sie hörten, und als die beiden sie überrascht anblickten, preschte sie vor, in der Hand ein langes, schmales Messer.

3Der Entsorgungsschacht

Zum Nachdenken blieb keine Zeit: Katherine schrie auf, Hund knurrte, das Mädchen zögerte kurz, und Tom stürzte vorwärts und packte den Arm, mit dem sie Valentine das Messer ins Herz rammen wollte. Das Mädchen fauchte und wand sich, ließ das Messer fallen, um freizukommen, und rannte auf dem Laufsteg davon. »Haltet sie!«, rief Valentine und setzte sich selbst in Bewegung, aber die aufgeschreckten Salthook-Bewohner liefen kopflos durcheinander und versperrten ihm den Weg. Gleich mehrere Plunderer hatten Schusswaffen gezogen, und ein Polizist in schwerer Schutzkleidung pflügte durch die Menge wie ein dicker Mistkäfer und brüllte: »Keine Feuerwaffen! Keine Feuerwaffen!«

Da entdeckte Tom über den Köpfen der Leute im Glutschimmer der Schmelzöfen einen dunklen Schemen. Das Mädchen war am Ende des Laufstegs angekommen und kletterte flink eine Leiter hoch. Er rannte ihr nach und versuchte, sie am Fuß zu erwischen. Als er knapp ins Leere griff, zischte ein Armbrustbolzen an ihm vorbei und prallte Funken sprühend gegen die Leiter. Tom schaute sich um. Zwei weitere Polizisten bahnten sich mit erhobenen Armbrüsten einen Weg durch die Menschenmenge. Weiter hinten schauten Katherine und ihr Vater zu ihm hoch. »Nicht schießen!«, rief Tom. »Ich kriege sie!«

Er sprang auf die Leiter und kletterte drauflos, wild entschlossen, die Attentäterin zu fassen. Sein Herz klopfte. Nach all den endlosen Tagträumen über aufregende Abenteuer erlebte er auf einmal wirklich eins. Er hatte Valentine das Leben gerettet! Er war ein Held!

Das Mädchen lief jetzt durch ein Gewirr aus schmalen Stegen in Richtung der Schmelztiegel und Öfen. In der Hoffnung, dass Katherine ihm zusah, nahm Tom die Verfolgung auf. Die Stege verzweigten sich und wurden schmaler, gerade breit genug für einen Menschen. Tief darunter ging die Arbeit des Verdauungstrakts unverändert weiter; dort hatte niemand bemerkt, welches Drama sich über ihren Köpfen abspielte. Tom rannte durch tiefe Schatten und heiße, dicke Rauchwolken aus den Öfen, dem Mädchen immer dicht auf den Fersen. An einer niedrigen Rohrleitung blieb ihr Kopftuch hängen. Ihr langes Haar glänzte im Schein der Öfen kupferrot, nur das Gesicht konnte Tom noch nicht sehen. Er fragte sich, ob sie hübsch war, eine bildschöne Attentäterin der Antitraktionistenliga.

Tom wich dem herabhängenden Tuch aus und rannte weiter, eine endlose Wendeltreppe hinunter, in die Weite des Verdauungstrakts hinaus, durch den Wechsel von Licht und Schatten unter den Förderbändern und runden Gastanks. Eine Gruppe Sträflinge schaute überrascht von der Arbeit auf, als die junge Frau vorüberrannte. »Haltet sie!«, rief Tom. Sie starrten ihn nur reglos an, aber als Tom sich umschaute, ließ einer der Ingenieurslehrlinge, die die Gefangenen beaufsichtigten, alles stehen und liegen und schloss sich der Verfolgungsjagd an. Tom bereute, dass er um Hilfe gerufen hatte. Auf keinen Fall sollte ein dämlicher Ingenieur ihm in die Quere kommen! Er rannte noch schneller, denn er wollte der Held sein, der das Mädchen schnappte.

Ein Stück voraus wurde der Weg von einem kreisrunden Loch in der Deckplatte versperrt, das durch ein rostiges Geländer gesichert war – ein Müllschacht, rußig und verdreckt, in den die Schlacken aus den Schmelzöfen entsorgt wurden. Die junge Frau zögerte und schaute sich nach einem Ausweg um. Als sie weiterwollte, hatte Tom sie fast eingeholt. Er erwischte mit dem ausgestreckten Arm ihre Schultertasche. Der Riemen riss, und das Mädchen drehte sich im Glutschein der Öfen nach ihm um.

Sie war nicht älter als Tom, und sie sah schrecklich aus. Eine grauenhafte Narbe verlief von der Stirn bis zum Kiefer quer über ihr Gesicht, so als hätte jemand ein Porträt wütend durchgestrichen. Ihr Mund war seitwärts zu einem starren Hohngrinsen verzogen, die Nase nur noch ein Stumpf, und nur ein Auge, grau und kalt wie das Meer im Winter, starrte Tom aus diesem Bild der Verwüstung an.

»Warum hast du mich ihn nicht töten lassen?«, zischte sie.

Tom war so erschrocken, dass er keinen Ton herausbrachte und wie angewurzelt stehen blieb, als die Frau nach ihrer Tasche griff und sich losriss. Aber jetzt waren die Trillerpfeifen der Polizei zu hören, und ihre Schussbolzen prallten gegen die Deckplatten und die Rohre. Das Mädchen ließ plötzlich die Tasche fallen und schlug lang hin, wobei sie einen heiseren Fluch ausstieß. »Nicht schießen!«, schrie Tom und wedelte mit den Armen. Doch die Polizisten polterten die Treppe hinunter, feuerten ihre Armbrüste ab und störten sich nicht weiter daran, dass Tom im Weg war. »Nicht schießen!«

Das Mädchen richtete sich mühsam auf, und Tom sah, dass ein Bolzen ihr gleich oberhalb des Knies das Bein durchschlagen hatte. Sie umklammerte die Stelle, und Blut quoll ihr durch die Finger. Ihr Atem ging stoßweise, während sie sich zum Geländer schleppte und Anstalten machte, darüberzusteigen. Der Müllschacht klaffte unter ihr wie ein offenes Maul.

»Nein!«, schrie Tom, als er begriff, was sie vorhatte. Er fühlte sich überhaupt nicht mehr als Held – er hatte einfach nur Mitleid mit dieser armen, entstellten jungen Frau und fühlte sich schuldig, weil er sie in die Enge getrieben hatte. Er hielt ihr die Hand hin, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. »Ich konnte dich doch nicht Mr Valentine töten lassen!«, rief er laut genug, um den Lärm des Bauchraums zu übertönen. »Er ist ein guter Mensch, ein freundlicher, mutiger, großartiger …«

Sie beugte sich ruckartig zu ihm vor, kam mit ihrem grausigen, nasenlosen Gesicht ganz nah an ihn heran. »Sieh mich an!« Ihre Stimme klang so verzerrt wie ihr schiefer Mund. »Sieh dir an, was dein guter, freundlicher Valentine aus mir gemacht hat!«

»Was soll das heißen?«

»Frag ihn doch!«, schrie sie. »Frag Valentine nach Hester Shaw!«

Die Polizisten kamen immer näher. Tom spürte das Dröhnen der Deckplatte unter ihren schweren Schritten. Das Mädchen schaute über seine Schulter, dann wuchtete sie mit einem schmerzhaften Aufschrei ihr verletztes Bein über das Geländer. »Nein!«, flehte Tom, aber zu spät. Kurz flatterte und knallte noch ihr Mantel, dann war sie fort. Er stürzte ans Geländer und schaute in den dunklen Schacht hinab. Ein kalter Luftstoß kam ihm entgegen, in den sich der Geruch von Schlamm und zerdrückten Pflanzen mischte, der Geruch der toten Erde, auf der London dahinrollte.

»Nein!«

Sie war gesprungen! Einfach aus der Stadt und in den Tod gesprungen. Hester Shaw. Diesen Namen wollte Tom nie vergessen, damit er zu einem der vielen Götter Londons für sie beten konnte.

Dunkle Umrisse lösten sich aus den wabernden Dämpfen. Zögernd, wie wachsame Krebse rückten die Polizisten vor, und Valentine stürmte ihnen voran. Unter einem der Gastanks bemerkte Tom das erschrockene Gesicht des jungen Ingenieurs. Er hätte ihm gern tapfer zugelächelt, aber sein eigenes Gesicht war wie erstarrt, und gleich darauf umhüllte ihn die nächste Rauchschwade und nahm ihm die Sicht.

»Tom! Ist alles in Ordnung?« Valentine war trotz der wilden Jagd kaum außer Atem. »Wo ist sie? Wo ist das Mädchen?«

»Tot«, sagte Tom dumpf.

Valentine kam ans Geländer des Müllschachts und schaute hinab. Die Schatten der dichten Rauchwolken waberten wie Spinnweben über sein Gesicht. Ein seltsames Flackern war in seinen Augen, und sein Gesicht wirkte blass und angespannt. »Hast du sie gesehen? Hatte sie eine Narbe?«

»Ja«, sagte Tom und fragte sich, woher Valentine das wusste. »Sie sah schlimm aus! Ein Auge fehlte, und die Nase …« Dann fiel ihm ein, was das Mädchen Schreckliches behauptet hatte. »Und sie hat gesagt …« Aber er wusste nicht, ob er ihre Anschuldigung Mr Valentine gegenüber erwähnen sollte – es konnte ja nur eine verrückte Lüge sein. »Sie hat gesagt, sie hieße Hester Shaw.«

»Bei Quirke!«, fluchte Valentine, und Tom schrak zurück. Er wünschte, er hätte nichts gesagt. Aber im nächsten Moment lächelte der Historiker gütig auf ihn herab; es lag Bedauern in seinem Blick. »Schon gut, Tom«, sagte er. »Es tut mir leid.«

Tom spürte eine starke, sanfte Hand auf seiner Schulter und dann – er begriff gar nicht, wie es dazu kam – eine Drehung, einen Stoß, und schon kippte er über das Geländer und stürzte, wie gerade Hester Shaw gestürzt war, und griff vergeblich nach dem glatten Rand des Müllschachts. Er hat mich geschubst!, schoss es Tom durch den Kopf, und sein Erstaunen war noch größer als die Angst vor dem schwarzen Abgrund, der ihn verschlang.

4Die Außenlande

Stille. Stille. Tom konnte es sich nicht erklären. Selbst wenn London sich nicht vom Fleck bewegte, war im Schlafsaal immer etwas zu hören: das Surren der Ventilatoren, das Brummen und Klappern von Aufzügen in der Ferne, das Schnarchen der Lehrlinge auf den Nachbarpritschen. Und jetzt – Stille. Der Kopf tat ihm weh. Und alles andere schmerzte auch. Außerdem stimmte etwas nicht mit seiner Pritsche. Als er eine Hand bewegte, war da etwas Kaltes, Nasses, das ihm durch die Finger glitt wie …

Schlamm! Entsetzt fuhr Tom hoch. Er war überhaupt nicht im Schlafsaal dritter Klasse, sondern lag auf einem schlammigen Berghang am Rand eines tiefen Grabens und sah im zarten grauen Dämmerlicht das Mädchen mit dem verwüsteten Gesicht nahebei auf dem Boden sitzen. Sein Albtraum von dem Sturz in den rußschwarzen Müllschacht war also gar kein Traum gewesen: Tom war wirklich aus seiner Stadt gefallen und lag auf der nackten Erde neben Hester Shaw.

Tom stöhnte laut auf, und das Mädchen warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Du lebst ja«, sagte sie. »Ich dachte, du wärst tot.« Es klang, als sei ihr beides gleichermaßen recht.

Tom drehte sich mühsam in den Vierfüßlerstand, so dass nur noch seine Knie, die Zehen und die Handflächen den Schlamm berührten. Ihm fiel auf, dass seine Arme nackt waren, und als er an sich herabsah, galt dasselbe für den ganzen zerschundenen Oberkörper. Sein Hemd lag ein Stück entfernt im Schlamm, aber das Unterhemd konnte er nicht finden, bis er erkannte, dass das Mädchen mit der Narbe es gerade in Streifen riss, um damit ihr Bein zu verbinden.

»Hey!«, sagte er. »Das ist eins meiner besten Unterhemden!«

»Na und?«, antwortete sie, ohne aufzublicken. »Das ist auch eins meiner besten Beine.«

Tom zog sich das Hemd über. Es war vom Sturz durch den Schacht zerfleddert und verdreckt; durch etliche Risse drang die kühle Luft der Außenlande. Fröstelnd schlang er sich die Arme um die Brust. Valentine hat mich geschubst! Er hat mich geschubst, und ich bin in den Entsorgungsschacht gefallen! Er hat … Nein, das kann er nicht getan haben. Es muss ein Versehen gewesen sein. Ich bin gestolpert, und er wollte mich festhalten, und so muss es irgendwie zu dem Sturz gekommen sein.

Hester war mit dem provisorischen Verband fertig und stand auf. Sie ächzte vor Schmerzen, als sie sich die schmutzige, blutgetränkte Hose über die Wunde zog. Was von Toms Unterhemd übrig war – ein nutzloser Lumpen –, warf sie ihm zu und humpelte entschlossen den schlammigen Hügel hoch.

Tom sah ihr erschrocken und verwundert nach. Erst als sie hinter der Kuppe aus dem Blickfeld verschwand, wurde ihm klar, dass er auf keinen Fall allein zurückbleiben wollte. Jede Gesellschaft, selbst die von Hester Shaw, war ihm lieber als die drückende Stille.

Er warf den Hemdfetzen weg und rannte ihr nach. Auf dem dicken, klebrigen Schlamm kam er ins Rutschen und stieß sich die Zehen an Steinbrocken und Wurzeln. Links von ihm gähnte der tiefe Graben, und als er die Kuppe erreichte, erkannte er, dass es nur einer von hundert parallelen Gräben war – den Kettenspuren von London, die sich schnurgerade in die Ferne erstreckten. Weit, weit im Osten sah er seine Stadt als dunklen, vom Rauch der Motoren umhüllten Umriss vor dem Morgenhimmel. Ihn packte das Heimweh. Jeder Mensch, den er auf der Welt kannte, war an Bord dieses davonrumpelnden Berges, jeder einzelne Mensch außer Hester Shaw, die der Stadt wütend hinterherstapfte und dabei ihr verletztes Bein nachzog.

»Halt, stopp!«, rief Tom und eilte ihr halb laufend, halb watend hinterher. »Hester! Warte!«

»Lass mich in Ruhe!«, gab sie zurück.

»Aber wo willst du denn hin?«

»Wieder nach London, wohin sonst?«, sagte sie. »Zwei Jahre habe ich gebraucht, um es zu finden. Ich bin zu Fuß durch die Außenlande gelaufen und auf kleinen Dörfern mitgefahren, in der Hoffnung, dass London sie erwischen würde. Endlich klappt es, und ich begegne Valentine, der tatsächlich im Trakt herumspaziert, wie die Plunderer es mir berichtet haben, und dann? Dann hält mich irgendein Idiot davon ab, ihm das Messer ins Herz zu rammen, wie er es verdient hat.« Sie hielt an und drehte sich zu Tom um. »Hättest du dich nicht eingemischt, wäre er jetzt tot, und ich wäre gleich danach auch gestorben und hätte endlich meinen Frieden!«

Tom starrte sie an, und bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, traten ihm Tränen in die Augen. Er fand es furchtbar, sich derart lächerlich zu machen, aber es war nicht zu ändern – der Schrecken von allem, was passiert war, und die Vorstellung, hier draußen zurückgeblieben zu sein, überwältigten ihn einfach, und schon zogen die Tränen helle Bahnen durch den Schmutz auf seinen Wangen.

Hester, die schon Anstalten gemacht hatte, sich wegzudrehen, schaute zu, als wäre sie nicht sicher, was da vor sich ging. »Du weinst!«, sagte sie schließlich durchaus freundlich und ein bisschen überrascht.

»Tut mir leid«, murmelte Tom.

»Ich weine nie. Kann ich gar nicht. Ich habe nicht mal geweint, als Valentine meine Eltern ermordet hat.«