Mortal Engines - Jagd durchs Eis - Philip Reeve - E-Book
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Mortal Engines - Jagd durchs Eis E-Book

Philip Reeve

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Beschreibung

"Mortal Engines – Jagd durchs Eis" ist der zweite Teil von Philip Reeves epischer Fantasyserie um die fahrenden Städte. Vor zwei Jahren hat sich London selbst zerstört. Tom und Hester leben seitdem an Bord ihres Luftschiffs Jenny Haniver und bereisen die Welt als Händler und Abenteurer. Als in Airhaven ein Passagier ihre Dienste in Anspruch nehmen will, überlegen sie deshalb nicht lange. Zumal es sich um Nimrod Pennyroyal handelt, den größten Forschungsreisenden der Welt. Was könnte da schon schiefgehen? Wie sich herausstellt, so einiges: Denn schon bald werden sie von Kampfschiffen des Grünen Sturms verfolgt und angegriffen. Als sie manövrierunfähig in die Eisöde hinaustreiben, werden sie von Anchorage gerettet, einer Stadt, die auch schon bessere Tage gesehen hat. Und wie sie bald feststellen müssen, geht dort längst nicht alles mit rechten Dingen zu … Für Leser von Philip Pullman oder J. R. R. Tolkien und Fans von Peter Jackson. "Mortal Engines - Jagd durchs Eis" ist der zweite Band des "Mortal Engines"-Quartetts Band 1: Mortal Engines – Krieg der Städte Band 3: Mortal Engines – Der Grüne Sturm Band 4: Mortal Engines – Die verlorene Stadt

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Seitenzahl: 399

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Philip Reeve

Mortal Engines - Jagd durchs Eis

Roman

Aus dem Englischen von Nadine Püschel und Gesine Schröder

FISCHER E-Books

Für Sarah und Sam

Teil 1

1Frostkalter Norden

Freya erwachte früh. Sie blieb im Dunkeln liegen und spürte das Vibrieren und Schwanken ihrer Stadt, die von starken Motoren getrieben über den Eisschild glitt. Träge wartete sie, dass die Dienstmägde ihr aus dem Bett helfen würden, und erinnerte sich erst nach einer Weile: Die Dienstmägde waren alle tot.

Sie stand auf, schaltete die Argonlampen ein und watete durch staubige Haufen getragener Kleider in ihr Bad. Seit Wochen nahm sie sich vor, zu duschen, aber auch heute schreckten die komplizierten Armaturen in der Kabine sie wieder ab. Es gelang ihr einfach nicht, warmes Wasser herauszubekommen. Schließlich füllte sie wie üblich nur das Waschbecken und benetzte sich Gesicht und Hals. Es gab noch ein Stückchen Seife, also rieb sie sich welche ins Haar und tauchte den Kopf ins Becken. Ihre Badzofen hätten Shampoos und Lotionen, Cremes, Spülungen und dergleichen wohlriechende Mixturen angewendet, aber sie waren alle tot, und die vielen Regale voller bunter Flaschen im begehbaren Badezimmerschrank machten Freya nervös. Die Auswahl war so groß, dass sie es vorzog, gar nicht zu wählen.

Immerhin schaffte sie es inzwischen, sich selbständig anzuziehen. Dazu las sie eins der zerknitterten Kleider vom Boden auf, legte es auf ihr Bett und wühlte sich vom Rocksaum her hinein, kämpfte sich nach oben durch und zappelte, bis Kopf und Arme in den richtigen Öffnungen steckten. Die lange, pelzgefütterte Weste war weniger kompliziert, nur die Knöpfe bereiteten Freya Mühe. Ihre Kammerzofen hatten ihre Kleidung immer so flink und so problemlos zugeknöpft, hatten dabei gelacht und geplaudert und kein einziges Mal das falsche Loch erwischt, aber die Kammerzofen waren alle tot.

Freya fluchte, zerrte und nestelte eine gute Viertelstunde, dann besah sie das Ergebnis im spinnwebgrauen Spiegel. Nicht übel, fand sie, für ihre Verhältnisse zumindest. Ein wenig Schmuck würde sicher nicht schaden. Doch im Schmuckzimmer musste sie feststellen, dass die meisten schönen Stücke verschwunden waren. Alles Mögliche verschwand heutzutage. Freya begriff gar nicht, wohin. Im Grunde brauchte sie aber kein Diadem in ihrem strähnigen, seifigen Haar und keine Bernstein-Goldkette um den schmuddeligen Hals. Mama hätte es sicher nicht gutgeheißen, wenn sie sich ohne Schmuck präsentierte, aber auch Mama war nun einmal tot.

In den leeren, stillen Fluren des Palasts lag der Staub wie frisch gefallener Schnee. Freya klingelte nach einem Lakaien und stellte sich ans Fenster. Draußen fiel graues arktisches Dämmerlicht auf die vereisten Dächer ihrer Stadt. Im Boden war das Stampfen der Kolben und Räder im Maschinenviertel zu spüren, doch sonst wies nichts darauf hin, dass sie vorwärtskamen, denn die Stadt fuhr durchs Hocheis, durch den nördlichsten Norden, wo es keine Orientierungspunkte gab – nur eine makellos weiße Ebene, die das Morgenlicht silbrig schimmernd spiegelte.

Der Lakai kam und strich sich im Gehen die gepuderte Perücke glatt.

»Guten Morgen, Smew«, sagte Freya.

»Guten Morgen, Eure Lumineszenz.«

Einen Moment lang spürte sie das überwältigende Bedürfnis, Smew in ihre Gemächer zu bitten, damit er etwas gegen den Staub unternähme, gegen die ungewaschenen Kleider, den fehlenden Schmuck, und damit er ihr die Dusche erklärte. Aber Smew war ein Mann, und dass ein Mann die Privatgemächer der Margrabina betrat, wäre ein undenkbarer Traditionsbruch gewesen. Also sagte sie, was sie jeden Morgen sagte: »Du darfst mich in den Frühstückssaal geleiten, Smew.«

Auf der Fahrstuhlfahrt nach unten sah Freya die Stadt vor ihrem inneren Auge: Wie ein Käfer auf einem riesigen Teller kroch sie über den Eisschild. Aber wohin? Das war die große Frage. Das war es, was Smew von Freya wissen wollte; seine ständigen forschenden Seitenblicke verrieten ihn. Auch das Steuerkomitee würde eine Antwort erwarten. Dass man Raubstädten ausweichen musste, war das eine, doch langsam wurde es Zeit, dass Freya beschloss, wie die Zukunft ihrer Stadt aussehen sollte. Seit Tausenden von Jahren hatte die Bevölkerung solche Entscheidungen dem Hause Rasmussen überlassen. Denn die Rasmussen-Frauen waren besonders. Regierten sie Anchorage nicht schon seit dem Sechzig-Minuten-Krieg? Erschienen ihnen nicht die Eisgötter im Traum und sagten ihnen, wo sie gute Handelspartner finden, wie sie Räubern und tückischem Trugeis ausweichen konnten?

Aber Freya war die letzte der Rasmussens, und zu ihr sprachen die Eisgötter nie. Überhaupt sprach höchst selten jemand mit ihr, und dann auch nur, um mit ausgesuchter Höflichkeit zu fragen, wann sie den Kurs von Anchorage festlegen würde. Warum fragt ihr mich?, hätte sie am liebsten geschrien. Ich bin praktisch noch ein Kind! Ich will überhaupt nicht Margrabina sein! Doch es war niemand mehr da, den die Leute sonst hätten fragen können.

Heute sollten sie immerhin eine Antwort bekommen. Freya war nur nicht überzeugt, dass sie ihnen gefallen würde.

Ihr Frühstück nahm sie auf einem hohen schwarzen Stuhl an einer langen schwarzen Tafel ein. In der Stille klangen die Geräusche des Messers auf dem Teller und des Löffels in der Tasse unerträglich laut. Von den schattigen Wänden blickten Porträts ihrer Vorfahren auf sie herab – leicht ungeduldig, wie Freya schien, als wollten auch sie endlich wissen, wo es hingehen sollte.

Als sie mit dem Frühstück fertig war, betrat der Kammerherr den Saal.

»Guten Morgen, Smew.«

»Guten Morgen, Licht der Eisweiten. Das Steuerkomitee erbittet die Ehre, zu Eurer Lumineszenz vorgelassen zu werden.«

Freya nickte, und ihr Kammerherr öffnete die Flügeltüren. Das Komitee hatte einmal aus dreiundzwanzig Leuten bestanden; jetzt betraten nur Mr Scabious und Miss Pye den Saal.

Windolene Pye war eine hochgewachsene, unscheinbare Frau mittleren Alters. Ihr blondes, glattes Haar trug sie in einem flachen Dutt, der aussah, als balancierte sie einen Krapfen auf dem Kopf. Sie war die ehemalige Sekretärin des verstorbenen Obernavigators und kam mit seinen Karten und Tabellen offenbar ganz gut zurecht, aber in der Gegenwart ihrer Margrabina wurde sie schrecklich nervös und knickste schon, wenn Freya nur laut atmete.

Ganz anders ihr Kollege, Søren Scabious. Seit Anchorage mobil geworden war, stellte die Familie Scabious stets den Obermaschinisten, und von allen verbliebenen Bewohnern war er Freya noch am ehesten ebenbürtig. Unter normalen Umständen hätte Freya im folgenden Sommer seinen Sohn Axel heiraten sollen; die Margrabina nahm oft einen Mann aus dem Maschinenviertel zum Gemahl, um die Maschinistenzunft der Stadt bei Laune zu halten. Aber es herrschten keine normalen Umstände, und Axel war tot. Insgeheim war Freya froh, dass Scabious nicht ihr Schwiegervater werden würde; er war so unnahbar, so vergrämt und schweigsam. Seine schwarze Trauerkleidung verschmolz mit den Schatten im Frühstückssaal, so dass sein bleiches Totenmasken-Gesicht körperlos im Raum zu schweben schien.

»Guten Tag, Eure Lumineszenz«, sagte er mit einer steifen Verbeugung, während Miss Pye neben ihm knickste, nervös mit den Armen flatterte und hochrot wurde.

»Wo befinden wir uns gerade?«, fragte Freya.

»Ach, Eure Lumineszenz, wir sind knapp zweihundert Meilen nördlich der Tannhäuser Berge«, zirpte Miss Pye. »Wir machen ruhige Fahrt über stabiles Meereis, und es sind keine anderen Städte in Sicht.«

»Im Maschinenviertel erwartet man Instruktionen, Licht der Eisweiten«, sagte Scabious. »Ist es Euer Wille, wieder nach Osten zurückzufahren?«

»Nein!« Freya schauderte, als sie daran zurückdachte, wie knapp sie dort dem Verhängnis entronnen waren. Wenn sie sich nach Osten wandten oder an der Südgrenze des Eisschilds Handel trieben, würden die Kaperjäger von Arkangel sicher Wind davon bekommen, und jetzt, wo nur eine Notbesatzung die Motoren bediente, würde Anchorage dem großen Räuber nicht noch einmal entwischen.

»Sollten wir uns dann nach Westen wenden, Eure Lumineszenz?«, fragte Miss Pye nervös. »Es gibt Kleinstädte, die östlich von Grönland überwintern. Mit denen könnte man vielleicht etwas Handel treiben.«

»Nein«, sagte Freya entschlossen.

»Dann haben Eure Lumineszenz ein anderes Ziel?«, fragte Scabious. »Haben die Eisgötter zu Euch gesprochen?«

Freya nickte feierlich. In Wahrheit trug sie die Idee, die sie jetzt vorbringen wollte, schon seit Wochen mit sich herum und glaubte nicht, dass ein Gott sie ihr eingegeben hatte. Es war schlicht die einzige Möglichkeit, ihre Stadt für alle Zeiten von Räubern, Seuchen und Spionageschiffen fernzuhalten.

»Nehmt Kurs auf den toten Kontinent«, sagte sie. »Wir kehren heim.«

2Hester und Tom

Hester Shaw gewöhnte sich allmählich an das Glück. Nach all den trüben Hungerleiderjahren in kleinen Plunderstädten und den kargsten Winkeln der Großen Jagdgründe hatte sie endlich ihren Platz gefunden. Sie hatte ein eigenes Luftschiff, die Jenny Haniver (wenn sie den Kopf reckte, konnte sie hinter einem Gewürzfrachter aus Sansibar an Pier siebzehn gerade eben die Wölbung ihrer roten Außenhülle erkennen), und sie hatte Tom, den freundlichen, schönen, klugen Tom, den sie von ganzem Herzen liebte und der entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihre Gefühle zu erwidern schien.

Zuerst war Hester überzeugt gewesen, dass es nicht lange halten würde. Sie und er waren so verschieden, und Hester war nicht gerade eine Schönheit – eher eine schlaksige Vogelscheuche mit zu fest geflochtenen roten Zöpfen und einer wulstigen Narbe quer über dem Gesicht, von einem Schwerthieb, der sie ein Auge und einen Teil ihrer Nase gekostet und ihren Mund zu einem schiefen Hohngrinsen verzogen hatte. Das kann ja nichts werden, hatte sie sich gesagt, als sie auf der Schwarzen Insel festsaßen, bis die Schiffbauer die schwer beschädigte Jenny Haniver auf Vordermann gebracht hatten. Er bleibt nur aus Mitleid bei mir, hatte sie beschlossen, als sie Afrika bereisten und den Ozean nach Südamerika querten. Was sieht er bloß in mir?, hatte sie sich gefragt, während sie mit der Versorgung von Ölbohr-Städten in der Antarktis reich wurden und alles auf einen Schlag wieder verloren, weil sie über Feuerland auf der Flucht vor Luftpiraten ihre Ladung abwerfen mussten. Auch auf der Rückreise über den Atlantik in einem Handelskonvoi dachte sie: Das wird niemals halten.

Aber es hielt, seit zwei Jahren mittlerweile. Als Hester jetzt in der Septembersonne auf der Terrasse der Crumple Zone saß, eines der vielen Kaffeehäuser entlang der High Street von Airhaven, ertappte sie sich bei der Hoffnung, es könnte immer so bleiben. Sie griff unter dem Tisch nach Toms Hand, lächelte ihr schiefes Lächeln, und Tom sah sie genauso liebevoll an wie damals bei ihrem ersten Kuss im schaurigen Flackern der MEDUSA, als Toms Heimatstadt verendet war.

Airhaven war diesen Herbst nordwärts gezogen und ankerte über der Frosthalde. Kleine Plunderstädte, die die langen Polartage im Eis verbrachten, hatten sich am Boden zu einer Handelsagglomeration zusammengefunden. Ein Ballon nach dem anderen stieg auf, machte an den Piers des fliegenden Freihafens fest und spuckte seltsam gekleidete Old-Tech-Händler aus, die ihre Waren anzupreisen begannen, kaum dass ihre Füße die leichten Deckplatten berührten. Das ewige Eis war ein gutes Revier, um nach vergessenen Technologien zu graben – manche Händler hatten Stalkerkomponenten anzubieten, andere Akkumulatoren für Tesla-Waffen, rätselhafte Maschinen aus einem halben Dutzend untergegangener Zivilisationen und sogar Wrackteile einer uralten Flugmaschine, die seit dem Sechzig-Minuten-Krieg unberührt im Eis gelegen hatten.

Unterhalb Airhavens erstreckte sich die Frosthalde nach Süden, Osten und Westen – eine karge, felsige Landschaft, in der acht Monate im Jahr die Eisgötter regierten. Schon jetzt sammelte sich Schnee in den Fahrspuren der kleinen Dörfer. Im Norden ragten wie eine Mauer die basaltschwarzen Tannhäuser Berge auf, eine Kette von Vulkanen, die die Grenze der Großen Jagdgründe bildete. Mehrere Feuerberge waren aktiv; es sah aus, als ob ihre dicken grauen Rauchsäulen den Himmel trügen. Dahinter war durch einen Ascheschleier die endlose Eisöde zu erkennen, in der sich gerade etwas bewegte – etwas Riesiges, Dreckiges, unaufhaltsam wie ein rollender Berg. Hester zog ein Fernrohr aus ihrer Manteltasche, setzte es an und stellte das Bild scharf. Das dunkle Etwas war eine Stadt – acht Decks übereinander voller Fabriken, Sklavenbaracken und rußender Schlote. In ihrem Windschatten segelte ein Luftlastzug, Verwerterschiffe durchsiebten die Abgase nach brauchbaren Mineralien, und ganz unten drehten sich gewaltige Raupenketten, von Staub und Schnee geisterhaft umwölkt.

»Arkangel!«

Tom warf auch einen Blick durch das Rohr. »Du hast recht. Im Sommer bleibt es im nördlichen Vorgebirge und fängt Plunderer ab, die durch die Pässe kommen. Die Polkappe ist zwar viel dicker als zu Zeiten der Damaligen, aber den Sommer über sind trotzdem Teile der Eisdecke zu dünn, um Arkangel zu tragen.«

Hester lachte. »Du Schlaumeier.«

»Was kann ich dafür!«, antwortete Tom. »Ich war eben Historikergehilfe. Da musste man die Liste der größten Traktionsstädte auswendig lernen, und Arkangel stand ziemlich weit oben, so was vergisst man nie wieder.«

»Angeber«, knurrte Hester. »Wäre es Zimbra oder Xanne-Sandansky gewesen, hättest du das nicht gewusst.«

Tom schaute noch einmal durch das Fernrohr. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis es die Ketten einfährt und auf Kufen Richtung Norden aufbricht, wo es Schneenomaden und Eisstädte jagt.«

Erst einmal wollte Arkangel aber offenbar Handel treiben. Die Stadt war zu groß, um die schmalen Pässe im Tannhäuser-Gebirge zu überwinden, aber mehrere Luftschiffe erhoben sich von den Decks und steuerten durch den Aschedunst auf Airhaven zu. Das schnellste schlug herrisch eine Schneise durch die wartenden Ballons und machte an Pier sechs fest, gleich unterhalb der Terrasse, auf der Tom und Hester saßen. Die beiden spürten das Zittern der Deckplatten, als sich die Ankerklemmen in den Pier krallten. Das Gefährt war ein schlankes Kurzstrecken-Kampfluftschiff mit dem roten Abbild eines Wolfs auf dem schwarzen Rumpf. Darunter stand in Frakturschrift der Name des Luftschiffs: Clear Air Turbulence.

Männer sprangen aus der gepanzerten Gondel, polterten den Pier entlang und die Treppe zur High Street hoch – vierschrötige Kerle in Pelzmützen und Pelzmänteln, unter denen Kettenhemden kalt hervorblitzten. Einer trug einen stählernen Helm mit zwei großen, geschwungenen Trichtern. Die Konstruktion war durch ein Kabel mit einem Mikrophon aus Kupfer verbunden, das ein anderer in der Hand hielt, um seine vielfach verstärkte Stimme in ganz Airhaven erschallen zu lassen.

»Seid gegrüßt, Airhavener! Ich komme aus Arkangel, Hammer der Eisöde, Geißel des hohen Nordens, Vernichter der Statik-Stadt Spitzbergen! Pures Gold bieten wir jedem, der uns den Standort einer Eisstadt verrät! Dreißig Sovereigns für jeden Hinweis, der zum Jagderfolg führt!«

Die Männer schoben sich zwischen den Tischen der Crumple Zone hindurch, während sich die Aeronauten kopfschüttelnd abwandten. Seit Beutestädte rar geworden waren, boten etliche große Raubstädte solche Prämien an, doch dermaßen offen taten sie es selten. Ehrliche Luftkaufleute befürchteten schon, dass kleine Eisstädte ihnen den Zutritt verwehren könnten, denn welcher Bürgermeister würde es riskieren, einem Händler Landeerlaubnis zu erteilen, der womöglich nebenbei spionierte und einem großen Allesfresser wie Arkangel seinen Kurs verriet? Aber es gab immer auch andere – Schmuggler, Gelegenheitspiraten oder insolvente Händler, denen das Verrätergold gerade recht kam.

»Kommt zu mir ins Gasbag & Gondola, wenn ihr im Sommer mit Kivitoo, Breidhavik oder Anchorage Handel getrieben habt und mir sagen könnt, wo sie überwintern!«, drängte der Neuankömmling, ein gutgenährter junger Mann, der dekadent und nicht besonders helle wirkte. »Dreißig Goldmünzen, meine Freunde; das reicht für Treibstoff und Traggas für ein ganzes Jahr!«

»Das ist Piotr Masgard«, sagte eine Dinka-Aeronautin am Nebentisch zu ihren Freunden. »Der jüngste Sohn des Direktors von Arkangel. Seine Leute nennt er die Kaperjäger. Sie werben nicht nur Spitzel an: Ich habe gehört, dass sie mit ihrem Schiff auch friedliche Städte entern, die für Arkangel zu schnell sind, und die Leute dazu zwingen, umzudrehen und Arkangel direkt in den Rachen zu fahren!«

»Aber das ist unfair!«, rief Tom, der alles mit angehört hatte, und unglücklicherweise fielen seine Worte genau in eine kurze Stille. Der Kaperjäger fuhr herum und grinste mit seinem trägen, feisten, gutaussehenden Gesicht auf Tom herab.

»Unfair, sagst du? Wieso unfair? So ist es nun mal – fressen und gefressen werden.«

Hester spürte, wie sich alle ihre Muskeln anspannten. Das war eine von Toms Eigenarten, die sie nie verstehen würde: dass er immer dachte, alle müssten fair zueinander sein. Es konnte nur an seiner Erziehung liegen. Ein paar Jahre als wehrloses Kind an Bord eines Plunderdorfes hätten ihm solche Flausen schnell ausgetrieben, aber er hatte lange nur die Regeln und Sitten gekannt, mit denen Londons Historiker sich die echte Welt vom Leibe hielten. Trotz allem, was ihm in letzter Zeit widerfahren war, reagierte er auf Menschen wie Masgard immer noch empört.

Tom schaute zu Masgard auf. »Das verstößt gegen sämtliche Regeln des Städtedarwinismus«, erklärte er und erhob sich. Leider musste er immer noch aufschauen, denn der Kaperjäger war einen Kopf größer als er. »Schnelle Städte fressen langsame, und die großen fressen die kleinen. So sollte es sein, wie in der Natur. Prämien zu zahlen und Beutestädte zu entern bringt alles durcheinander«, erklärte er weiter, als sei Masgard nur ein Kontrahent im Debattierclub der Historikergehilfen.

Masgard grinste noch breiter. Er ließ seinen Pelzmantel zur Seite gleiten und zog sein Schwert. Andere Gäste schnappten nach Luft, schrien auf, stießen geräuschvoll ihre Stühle um und flüchteten. Hester packte Tom am Arm und zog ihn weg, ohne den Blick von der blanken Klinge abzuwenden. »Tom, du Idiot, hör auf!«

Masgard starrte sie an. Dann lachte er aus voller Kehle und steckte sein Schwert wieder weg. »Seht euch das an! Unser Held hat ein Kindermädchen!«

Seine Mannschaft lachte mit, und Hester bekam hitzige Flecken im Gesicht und zog sich ihren alten roten Schal bis knapp unter ihr unversehrtes Auge.

»Komm doch nachher mal vorbei!«, höhnte Masgard. »Für eine Schönheit wie dich habe ich immer Zeit. Und denk daran: Wenn du mir die Fahrtrichtung einer Eisstadt nennen kannst, bekommst du dreißig Goldstücke! Davon kannst du dir eine neue Nase kaufen!«

»Werd’s mir merken«, murmelte Hester und schob Tom hastig vor sich her. In ihr tobte der Zorn wie eine gefangene Krähe. Wie gern hätte sie Masgard zu einem Kampf herausgefordert. Sie hätte wetten können, dass er mit seinem teuren Schwert gar nicht umgehen konnte … Aber Hester versuchte in letzter Zeit, ihre dunkle, rachsüchtige, mörderische Seite im Zaum zu halten, und so begnügte sie sich damit, im Gehen ein Messer zu zücken und unbemerkt das Kabel von Masgards Mikrophon zu durchtrennen. Wenn er das nächste Mal eine Ansage machen wollte, wäre er derjenige, über den alle lachten.

»Tut mir leid«, sagte Tom beschämt, als sie auf den Kai hinunterliefen, auf dem sich jetzt Händler und Tagesgäste aus Arkangel drängten. »Ich wollte … ich dachte nur …«

»Schon gut«, sagte Hester. Sie hätte ihm gern gesagt, dass er nicht Tom wäre, wenn er nicht ab und zu solche idiotischen, heldenhaften Dinge täte, und sie ihn dafür nur umso mehr liebte. Aber weil sie all das nicht in Worte fassen konnte, schob sie ihn in eine Nische hinter einem Stützpfeiler, vergewisserte sich, dass niemand hinsah, schlang ihm die dürren Arme um den Hals und küsste ihn. »Lass uns verschwinden.«

»Wir haben doch noch keine Fracht. Wir wollten einen Pelzhändler finden oder …«

»Hier gibt es keine Pelze, nur Old-Tech, und das kommt uns gar nicht erst an Bord, oder?« Tom wirkte nicht ganz überzeugt, also küsste Hester ihn noch einmal, bevor er Einwände erheben konnte. »Ich habe genug von Airhaven. Ich will wieder raus auf die Vogelpfade.«

»Ist gut«, sagte Tom. Er strich ihr lächelnd über den Mund, über die Wange und den Knick in ihrer Augenbraue, wo die Narbe sie schnitt. »Hast ja recht. Wir waren lange genug hier im Norden. Lass uns los.«

Aber so leicht sollten sie nicht davonkommen. Am Pier siebzehn, wo die Jenny Haniver lag, saß ein Mann auf einer ledernen Reisetasche und erwartete sie offensichtlich. Hester, der Masgards Spott noch nachging, zog sich wieder den Schal über das Gesicht. Tom ließ ihre Hand los und schritt voran.

»Ah, guten Tag!«, rief der Mann und stand auf. »Mr Natsworthy? Miss Shaw? Sie sind dann wohl die Besitzer dieses fabelhaften kleinen Schiffs? Donnerwetter, im Hafenamt wurde mir gesagt, dass Sie jung sind, aber wie jung, das habe ich nicht geahnt. Sie sind ja praktisch noch Kinder!«

»Ich bin fast achtzehn«, stellte Tom klar.

»Was soll’s, was soll’s!«, rief der Fremde strahlend. »Wen kümmert das Alter, wenn einer das Herz am rechten Fleck hat, sage ich immer, und das haben Sie, da bin ich sicher. ›Wer ist denn dieser gutaussehende junge Mann?‹, habe ich meinen Freund, den Hafenmeister, gefragt, und er hat gesagt: ›Das ist Tom Natsworthy, der Pilot der Jenny Haniver‹, und ich habe mir gedacht: ›Diesen Prachtjungen schicken die Götter!‹ Tja, und da bin ich also.«

Da war er also. Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann von gedrungener Statur mit einem gepflegten weißen Bart. Seine Kleidung war die eines nördlichen Plunderers – ein langer Pelzmantel, ein Hemd mit vielen kleinen Taschen, dicke Kniebundhosen und gefütterte Stiefel –, nur dass die Sachen zu neu und zu teuer wirkten, als hätte ein modischer Schneider sie für einen Kostümfilm über die Eisöde maßgefertigt.

»Nun?«, fragte der Mann.

»Wie – nun?«, fragte Hester, die den großtuerischen Fremden schon jetzt nicht leiden konnte.

»Verzeihung, Sir«, sagte Tom viel höflicher. »Wir haben nicht so recht verstanden, was Sie von uns möchten.«

»Oh, Entschuldigung, bitte um Verzeihung«, plapperte der Fremde. »Erlauben Sie mir zu elaborieren. Pennyroyal ist mein Name, Nimrod Beauregard Pennyroyal. Ich habe soeben eine Expedition in jene gewaltigen, grauenerregenden Feuerberge gewagt und befinde mich auf dem Weg nach Hause. Ich möchte auf Ihrem stattlichen Gefährt eine Überfahrt buchen.«

3Der Passagier

Der Name Pennyroyal kam Tom bekannt vor, aber er hatte keine Ahnung, woher. Bestimmt war er damals während seiner Historikerausbildung im Unterricht erwähnt worden – aber was Pennyroyal getan oder gesagt haben könnte, das ihn zum Unterrichtsgegenstand machte, daran konnte Tom sich nicht erinnern. Er hatte seine Zeit lieber mit Tagträumen verbracht, als seinen Lehrern zuzuhören.

»Wir befördern keine Passagiere«, sagte Hester entschlossen. »Wir fahren Richtung Süden, und zwar allein.«

»Aber Süden wäre doch famos!«, strahlte Pennyroyal. »Meine Heimat ist das Floßbad Brighton, das diesen Herbst im Mittelmeer kreuzt. Ich habe es recht eilig, Miss Shaw. Meine Verleger, Faeces und Dung, wollen unbedingt bis zum Mondfest ein neues Buch von mir vorliegen haben, und ich brauche die himmlische Ruhe meiner Schreibklause, um meine Notizen auszuarbeiten.«

Dabei warf er verstohlene Blicke zu den Passanten auf dem Kai. Er schwitzte ein wenig, und Hester fand, dass er nicht heimwehkrank aussah, sondern einfach nur verdächtig. Aber Tom war offenbar fasziniert. »Dann sind Sie Schriftsteller, Mr Pennyroyal?«

»Professor Pennyroyal«, korrigierte ihn der Mann sehr freundlich. »Meines Zeichens Forschungsreisender, Abenteurer und Alternativhistoriker. Vielleicht sind Ihnen ja meine Werke untergekommen, Die versunkenen Städte der Sandwüste zum Beispiel oder Vergessenes Amerika – Die Wahrheit über den toten Kontinent …«

Jetzt wusste Tom, woher er den Namen kannte. In einer Vorlesung über »Neuere Tendenzen in der Geschichtsschreibung« hatte Chudleigh Pomeroy einen Nimrod B. Pennyroyal erwähnt. Dieser Pennyroyal, so der alte Historiker, habe keinen Funken Respekt vor seriöser Forschung. Mit seinen abenteuerlichen Expeditionen wolle er sich nur wichtigmachen, und seine Bücher seien randvoll mit haltlosen Spekulationen, Luftschiffer-Legenden und reißerischen Liebesgeschichten. Da Tom sich für wilde Spekulationen und reißerische Geschichten brennend interessierte, war er gleich nach der Vorlesung in die Museumsbibliothek gelaufen, aber die spießigen Londoner Historiker hatten keins von Pennyroyals Büchern vorrätig, so dass er nie Näheres über seine Forschungsreisen erfahren hatte.

Er wandte sich an Hester. »Platz hätten wir, Het. Und das Geld könnten wir auch gebrauchen.«

Hester runzelte die Stirn.

»Am Geld soll es nicht scheitern«, versicherte Pennyroyal, zog einen gut gefüllten Beutel aus der Tasche und klapperte damit. »Sagen wir, fünf Sovereigns im Voraus und fünf weitere bei der Landung in Brighton? Es mag weniger sein, als Piotr Masgard für den Verrat an einer armen Eisstadt bietet, aber doch ein hübsches Sümmchen, und nebenbei würden Sie der Literatur einen großen Dienst erweisen.«

Hester starrte auf eine aufgerollte Stahltrosse zu ihren Füßen. Sie wusste, dass sie verloren hatte. Dieser allzu freundliche Fremde wusste genau, wie er Tom einwickeln konnte, und sie musste zugeben, dass sie die zehn Sovereigns gut gebrauchen konnten. Als letzten Versuch, das Unabwendbare abzuwenden, versetzte sie Pennyroyals Reisetasche einen Tritt. »Was haben Sie im Gepäck? Old-Tech kommt uns nicht an Bord. Wir wissen zu genau, was das Zeug anrichten kann.«

»Um Himmels willen!«, rief Pennyroyal. »Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Ich mag unkonventionell sein, aber verrückt bin ich nicht. Auch ich habe erlebt, wie es Menschen ergeht, die ihr Leben dem Aufspüren alter Apparate widmen. Sie werden von Strahlung vergiftet, oder die Gerätschaften explodieren ihnen unter den Händen. Nein, ich habe nur Wechselwäsche bei mir und ein paar tausend Seiten voller Skizzen und Notizen zu meinem neuen Buch: Die Feuerberge – Naturphänomen oder Technokalypse?

Hester stupste die Tasche noch einmal an. Sie kippte langsam auf die Seite, machte aber keine metallischen Geräusche, die darauf schließen ließen, dass Pennyroyal log. Sie schaute auf ihre Füße und dann noch tiefer hinunter, durch das perforierte Blech des Piers auf die Landschaft am Boden, wo eine Siedlung quälend langsam dahinkroch und ihren langen Abendschatten hinter sich her zog. Na schön, dachte sie. Am Mittelmeer war es warm und freundlich, ganz anders als in dieser tristen Halde, und die Reise dorthin würde nur eine Woche dauern. Eine Woche lang könnte sie Tom doch wohl mit dem Professor teilen? Danach hatte sie ihn den Rest ihres Lebens wieder für sich.

»Also gut«, sagte sie, schnappte sich Pennyroyals Geldbeutel und zählte fünf Sovereigns ab, ehe er es sich anders überlegen konnte. Tom beeilte sich zu sagen: »Wir können Ihnen im vorderen Laderaum einen Schlafplatz einrichten, Professor, und die Krankenkabine können Sie als Schreibstube nutzen, wenn Sie möchten. Wir wollen nur noch die Nacht hier verbringen und brechen morgen in aller Frühe auf.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Tom«, sagte Pennyroyal und schielte wieder nervös zum Kai, »würde ich lieber sofort ablegen. Die Muse lässt sich ungern vertrösten …«

Hester zuckte mit den Schultern und kippte weitere Münzen aus dem Geldbeutel. »Dann reisen wir, sobald wir die Freigabe vom Hafenmeister haben«, sagte sie. »Das kostet zwei Sovereigns Zuschlag.«

Wie ein rotglühender Scheit versank die Sonne im Dunst der westlichen Tannhäuser Berge. Von der Handelsagglomeration stiegen noch immer Ballons auf, und aus Arkangel überquerten Luftschiffe die basaltschwarzen Pässe. Eins dieser Fahrzeuge gehörte einem liebenswerten alten Mann namens Widgery Blinkoe, einem Old-Tech-Antiquitätenhändler, der seinen Umsatz aufbesserte, indem er in den Räumen über seinem Laden in Arkangels Lufthafenviertel Fremdenzimmer vermietete und sich gut zahlenden Kunden als Informant andiente.

In Airhaven angekommen, überließ Mr Blinkoe die Ankerprozedur seinen Ehefrauen, begab sich direkt zum Büro des Hafenmeisters und fragte: »Kennen Sie diesen Mann?«

Der Hafenmeister betrachtete das Foto in Blinkoes Hand und sagte: »Das ist Professor Pennyroyal, der renommierte Historiker.«

»Von wegen renommiert!«, rief Blinkoe hitzig. »Er war sechs Wochen lang mein Zimmergast, und kaum dass Airhaven in Sicht war, hat er sich dünngemacht, ohne einen Penny Miete zu zahlen! Wo ist er? Wo finde ich den Betrüger?«

»Hier nicht mehr«, grinste der Hafenmeister, dem es Spaß machte, schlechte Nachrichten zu überbringen. »Er ist mit einem der ersten Fahrzeuge aus Arkangel gekommen und hat sich nach Luftschiffen erkundigt, die nach Süden wollen. Ich habe ihm die Jenny Haniver genannt, die vor zehn Minuten Richtung Mittelmeer abgefahren ist.«

Blinkoe stöhnte auf und fuhr sich über das blasse, teigige Gesicht. Er konnte es sich nicht leisten, die zwanzig Sovereigns zu verlieren, die Pennyroyal ihm versprochen hatte. O warum, warum, warum hatte er den Schurken nicht gezwungen, im Voraus zu bezahlen? Er hatte sich so geschmeichelt gefühlt, als Pennyroyal ihm eine signierte Ausgabe von Vergessenes Amerika schenkte (»Für meinen lieben Freund Widgery, mit den besten Grüßen«), und so gefreut, als er ihm versprach, ihn in seinem nächsten Werk zu erwähnen, dass er Pennyroyal sogar literweise Wein auf die Zimmerrechnung anschreiben ließ, ohne misstrauisch zu werden. Dass er nicht einmal eingeschritten war, als Pennyroyal immer offener mit den jüngeren Mrs Blinkoes herumschäkerte! Zur Hölle mit allen Schreiberlingen!

Doch dann durchdrang etwas den Dunst des Selbstmitleids und die beginnenden Kopfschmerzen, die Blinkoes Hirn vernebelt hatten. Etwas, das der Hafenmeister eben gesagt hatte. Ein Name. Ein wertvoller Name!

»Jenny Haniver, sagten Sie?«

»Ja, genau, Sir.«

»Aber das ist unmöglich. Das Schiff ist verschollen, seit die Götter London vernichtet haben.«

Der Hafenmeister schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Sir, das ist nicht wahr. Es war nur zwei Jahre im Ausland. Hat mit den Zikkurat-Städten in Nuevo Maya Handel getrieben, soweit ich weiß.«

Mr Blinkoe dankte ihm und rannte auf den Kai hinaus. Er war ziemlich korpulent und rannte selten, aber das hier war ihm die Anstrengung wert. Er schubste ein paar Kinder beiseite, die sich um ein Aussichtsfernrohr am Geländer scharten. Südwestlich von ihm spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen in den Heckfenstern eines Luftschiffs – eines kleinen roten Gefährts mit geklinkerter Holzgondel und Jeunet-Carot-Motoren.

Mr Blinkoe eilte zu seinem eigenen Schiff, der Temporary Blip, und zu seinen leidgeprüften Ehefrauen. »Schnell!«, rief er, kaum dass er durch die Luke war. »Werft das Funkgerät an!«

»Also ist ihm Pennyroyal durch die Lappen gegangen«, sagte eine der Frauen.

»Na, so eine Überraschung«, ätzte die nächste.

»Genau wie schon in Arkangel«, sagte die dritte.

»Ruhe, Weiber!«, rief Blinkoe. »Wir haben es eilig!«

Die vierte Ehefrau schaute ihn griesgrämig an. »Pennyroyal ist doch nicht der Mühe wert.«

»Der arme, gute Professor Pennyroyal!«, seufzte die fünfte unter Tränen.

»Vergesst Pennyroyal!«, polterte ihr Mann, nahm den Hut ab, um sich die Kopfhörer aufzusetzen, stellte den Transmitter auf eine geheime Frequenz ein und gestikulierte ungeduldig, dass seine fünfte Ehefrau zu heulen aufhören und das Gerät ankurbeln sollte. »Ich habe etwas erfahren, und ich kenne jemanden, der mich für dieses Wissen gut bezahlen wird. Pennyroyal sitzt in Anna Fangs altem Luftschiff!«

Tom merkte erst jetzt, wie sehr er die Gesellschaft von Historikern vermisst hatte. Hester interessierte sich durchaus für die Wissensbrocken und Anekdoten, die aus seiner Ausbildungszeit hängengeblieben waren, hatte aber wenig Eigenes beizusteuern. Sie hatte sich von klein auf in den Außenlanden durchschlagen müssen und wusste daher, wie man bei voller Fahrt auf eine Stadt aufsprang, wie man eine Katze fing und häutete oder wie man einen Gegner dorthin trat, wo es am meisten schmerzte, aber mit Geschichte hatte sie sich eher weniger befasst.

Jetzt aber verströmte Professor Pennyroyal in der Pilotenkanzel der Jenny eine Aura liebenswerter Behaglichkeit. Zu allem und jedem hatte er eine Theorie oder Anekdote parat, und wenn Tom ihm so zuhörte, sehnte er sich beinahe nach seiner Lehrzeit im London Museum zurück, nach den Büchern, Fakten, Relikten und akademischen Debatten.

»Diese Berge zum Beispiel«, sagte Pennyroyal gerade und wies nach Steuerbord aus dem Fenster. Sie folgten einem langen Ausläufer der Tannhäuser Berge, und das Glutlicht der Lava in einem aktiven Krater flackerte über sein Gesicht. »Damit wird sich mein neues Buch befassen. Wo kommen sie her? Zu Zeiten der Damaligen gab es sie noch nicht, wie wir aus antiken Landkarten wissen. Wie konnten sie so plötzlich entstehen? Was hat diesen Vorgang ausgelöst? Im fernen Shan Guo ist es dasselbe. Zhan Shan ist der höchste Berg der Erde, aber im überlieferten Kartenmaterial ist er nicht verzeichnet. Sind diese neuen Gipfel durch natürlichen Vulkanismus entstanden, wie man es uns weismachen will? Oder haben wir es mit einem entsetzlichen technologischen Fehlschlag zu tun? Einem experimentellen Kraftwerk oder einer furchterregenden Waffe? Einem Vulkangenerator! Stellen Sie sich vor, Tom, was das für eine Entdeckung wäre!«

»Wir interessieren uns nicht für Old-Tech«, antwortete Hester automatisch. Sie stand am Kartentisch, um den weiteren Kurs abzustecken, und war von Pennyroyal zunehmend genervt.

»Natürlich nicht, meine Liebe!«, rief Pennyroyal und hielt seinen Blick auf die Wand neben ihr geheftet (er hatte Sorge, dass er beim Anblick ihres Gesichts zusammenzucken könnte). »Natürlich nicht. Ein sehr nobles, verständliches Vorurteil. Und doch …«

»Das ist kein Vorurteil!«, widersprach Hester und richtete ihren Stechzirkel drohend auf Pennyroyal. »Meine Mum war Archäologin. Sie war Feldforscherin, Abenteurerin und Historikerin, genau wie Sie. Einmal hat sie auf dem toten Kontinent etwas gefunden, das MEDUSA hieß. Als die Londoner davon Wind bekamen, haben sie Valentine losgeschickt, der sie für das Ding getötet hat. Und wo er schon dabei war, hat er mein Gesicht so zugerichtet. Londons Ingenieure haben das MEDUSA-Ding zum Laufen gekriegt, aber das Gerät ist – zack – nach hinten losgegangen, und das war es dann.«

»Ah, richtig«, sagte Pennyroyal etwas betreten. »Die MEDUSA-Geschichte, davon habe ich gehört. Ich weiß sogar noch genau, wo ich damals war – an Bord von Cittàmotore, in Begleitung einer reizenden jungen Dame namens Minty Bapsnack. Wir sahen, wie hinter dem östlichen Horizont ein Lichtblitz den Nachthimmel erhellte …«

»Tja, und wir waren direkt daneben. Wir mussten mitten durch die Druckwelle, und am nächsten Morgen haben wir gesehen, was von London übrig war. Eine ganze Stadt, Toms Heimatstadt, ist von Mums Fund zu Schlacke verbrannt worden. Deshalb lassen wir schön die Finger von Old-Tech.«

»Selbstverständlich«, sagte Pennyroyal, der sich sichtlich unbehaglich fühlte.

»Ich geh schlafen«, sagte Hester. »Ich habe Kopfweh.« Das hatte sie wirklich; nach mehreren Stunden Dauerberieselung durch Pennyroyal pochte ein heftiger Schmerz hinter ihrem zerstörten Auge. Sie ging zum Pilotensitz, um Tom einen Gutenachtkuss zu geben, wollte dann aber nicht, dass Pennyroyal zuschaute. Also strich sie ihm nur kurz übers Ohr, sagte: »Ruf mich, wenn du eine Pause brauchst«, und verschwand Richtung Heck.

»Na, hoppla«, sagte Pennyroyal, als sie weg war.

»Sie ist manchmal ein bisschen aufbrausend«, erklärte Tom. Hesters Gefühlsausbruch war ihm peinlich. »Aber im Grunde ist sie eine wunderbare Frau. Nur schüchtern. Wenn man sie erst mal richtig kennt …«

»Natürlich, natürlich«, sagte Pennyroyal. »Man sieht gleich, dass hinter diesem etwas ungewöhnlichen Äußeren eine … eine …« Aber ihm fiel nichts Schmeichelhaftes ein, was er über Hester hätte sagen können, also ließ er den Satz in der Luft hängen und schaute aus dem Fenster auf die mondbeschienenen Berge und auf die Lichter einer kleinen Stadt unten in der Ebene.

»Was London angeht, irrt sie übrigens«, sagte er schließlich. »Wenn sie sagt, es sei alles zu Schlacke verbrannt. Ich kenne Menschen, die dort gewesen sind. Es sind noch etliche Wrackteile übrig, die westlich von Batmunkh Gompa in den Außenlanden liegen. Große Teile des Bauchraums, angeblich. Eine von mir sehr geschätzte Kollegin, eine bezaubernde junge Archäologin namens Cruwys Morchard, will diese größeren Wrackteile sogar betreten haben. Es muss ein bemerkenswerter Anblick sein: überall verkohlte Skelette, halb zerschmolzene Gebäude und Gerätschaften. Und die Reststrahlung der MEDUSA erzeugt bunte, wandernde Lichter im Trümmerfeld, wie Irrwische, oder heißen sie Irrwichte?«

Jetzt war es Tom, dem unbehaglich wurde. Der Untergang seiner Heimatstadt schmerzte ihn auch nach zweieinhalb Jahren wie eine offene Wunde, und das Nachbild der gewaltigen Explosion gleißte noch immer in seinen Träumen. Da er lieber nicht über London reden wollte, lenkte er das Gespräch auf Professor Pennyroyals Lieblingsthema: Professor Pennyroyal.

»Sie haben sicher interessante Orte bereist?«

»Interessant? Das ist noch untertrieben, Tom. Was ich nicht alles erlebt habe! Sobald wir in Brighton am Pier liegen, marschiere ich direkt zur nächsten Buchhandlung und besorge Ihnen meine gesammelten Werke. Es ist verwunderlich, dass Sie sie nicht schon kennen, so gebildet, wie Sie sind.«

Tom zuckte mit den Schultern. »Die Museumsbibliothek in London hat sie leider nicht vorrätig gehabt …«

»Ach, natürlich. Die Gilde der sogenannten Historiker. Pah! Diese angestaubten alten Knacker. Wissen Sie, ich wollte mich der Gilde einmal anschließen. Und der Gildenoberste, Thaddeus Valentine, hat mich doch glattweg abgewiesen! Nur weil ihm nicht passte, was ich in Amerika entdeckt hatte!«

Tom horchte auf. Es gefiel ihm nicht, wenn jemand seine alten Lehrmeister angestaubte alte Knacker nannte, aber mit Valentine war es etwas anderes. Valentine hatte Hesters Eltern ermordet und auch Tom umzubringen versucht. Wenn jemand von Valentine abgelehnt wurde, war er Tom erst einmal sympathisch.

»Und was haben Sie dort entdeckt, Professor?«

»Nun ja, Tom, das ist eine lange Geschichte. Möchten Sie sie hören?«

Tom nickte. Bei dem Gegenwind, den sie heute hatten, konnte er die Kanzel nicht verlassen, und eine spannende Geschichte, die ihn wach hielt, kam ihm daher gerade recht. Außerdem hatte Pennyroyal mit seinen Anekdoten etwas in ihm wachgerufen: Erinnerungen an einfachere Zeiten, als er im Schlafsaal dritter Klasse heimlich unter der Bettdecke die Bücher berühmter Entdecker gelesen hatte – Monkton Wylde, Chung-Mai Spofforth, Valentine, Fishacre und Compton Cark.

»Ja bitte, Professor«, sagte er.

4Heimat der Tapferen

»Nordamerika«, begann Pennyroyal, »ist ein toter Kontinent. Das ist allseits bekannt. Nach seiner Entdeckung durch den großen Forscher und Detektiv Christoph Columbo im Jahre 1924 mauserte es sich zu einem Weltreich, das jedoch im Sechzig-Minuten-Krieg restlos zerstört wurde. Zurück blieben geisterhafte rote Wüsten, toxischer Morast, Atombombenkrater, Rost und totes Gestein. Nur die wenigsten wagen sich dorthin, darunter Valentine und die arme Mutter Ihrer teuren Freundin, die als Archäologen in alten Bunkeranlagen nach Old-Tech gruben.

Und doch halten sich Gerüchte. Geschichten. Das Raunen betrunkener alter Lufthunde in abgewirtschafteten Karawansereien. Berichte von Luftschiffen, die vom Kurs abkamen und ein ganz anderes Amerika unter sich erblickten: grüne Landschaften, Wälder und Wiesen, riesige blaue Seen. Vor fünfzig Jahren ungefähr soll ein Aeronaut namens Snøri Ulvaeusson in einer grünen Enklave gelandet sein, die er Vinland taufte. Angeblich hat er für den Oberbürgermeister von Reykjavík sogar eine Karte davon angefertigt, aber als heutige Forscher der Sache nachgehen wollten, fand sich in der Bibliothek von Reykjavík natürlich keine Spur dieses Dokuments. Und die anderen Erzählungen enden immer gleich: Stets verzweifelten die Abenteurer daran, ihre Entdeckung noch einmal wiederzufinden. Oder sie stellten bei der Landung fest, dass das verlockende Grün nur von giftigen Algen auf Kraterseen stammte.

Aber Vollbluthistoriker wie Sie und ich, Tom, wissen genau, dass in solchen Legenden oft ein Körnchen Wahrheit schlummert. Nachdem ich alle Geschichten zusammengetragen hatte, die mir unterkamen, beschloss ich, Nachforschungen anzustellen. Ist Amerika wirklich tot, wie Valentine und andere kluge Männer es behaupten? Oder gibt es fernab der Städte, in denen sich die Old-Tech-Jäger tummeln, hoch im Norden eine Gegend, wo das Schmelzwasser vom Rand der Eisöde alle Gifte aus dem Boden gewaschen hat und neues Leben sprießt?

Ich, Pennyroyal, beschloss, der Wahrheit auf den Grund zu gehen! Im Frühjahr ’89 begab ich mich mit vier Gefährten an Bord der Allan Quatermain auf die gefahrvolle Reise. Wir überquerten den Nordatlantik und erreichten Amerikas Küste an einem Ort, den die Damaligen New York City nannten. Dort war alles so tot wie erwartet: gewaltige Krater überall, deren Wände unter der tödlichen Hitze mächtiger Waffen zu Strahlglas zusammengeschmolzen waren.

Bald hoben wir wieder ab und fuhren westwärts, ins Herz des toten Kontinents, und dort ereilte uns die Katastrophe: Beinahe überirdisch starke Stürme zerstörten meine herrliche Allan Quatermain inmitten einer gewaltigen verseuchten Wildnis. Drei meiner Gefährten überlebten den Absturz nicht, und der vierte starb nach wenigen Tagen, weil er Wasser aus einem augenscheinlich klaren Tümpel getrunken hatte, der mit Old-Tech-Chemikalien vergiftet war – der Arme lief blau an und roch plötzlich nach getragenen Socken.

Ganz allein kämpfte ich mich Richtung Norden vor, durch das Kraterfeld, in dem einst die blühenden Städte Chicago und Milwaukee gelegen haben. Meinen Traum von einem grünen Amerika hatte ich längst aufgegeben. Ich hoffte nur noch, den Rand der Eisöde zu erreichen und dort von durchziehenden Schneenomaden aufgelesen zu werden.

Doch auch diese Hoffnung schwand. Erschöpft und halb verdurstet sank ich in einem wüsten Tal zwischen zerklüfteten schwarzen Felsen nieder und rief in meiner Verzweiflung: ›Soll dies wirklich dein Ende sein, Nimrod Pennyroyal?‹, und es war, als antworteten die Felsen: ›Sieht so aus.‹ Alle Hoffnung war dahin, falls Sie verstehen, was ich meine. Ich empfahl der Todesgöttin meine Seele und schloss die Augen in der Gewissheit, dass ich sie erst als Geist im Sonnenlosen Land wieder öffnen würde. Doch stattdessen lag ich, als ich zu mir kam, in Tierfelle gehüllt am Boden eines Kanus, in dem zwei charmante junge Menschen nordwärts fuhren.

Bald begriff ich, dass sie keine Abenteurer aus den Großen Jagdgründen waren. Es waren Eingeborene! Ja, ganz im Norden des toten Kontinents leben wahrhaftig Menschen. Bis dahin hatte ich mich an die althergebrachte Überlieferung gehalten, die auch Sie sicher von Ihrer Historikergilde aufgetischt bekommen haben, der zufolge die wenigen armen Seelen, die den Niedergang Amerikas überlebten, ins ewige Eis flohen und sich dort mit den Inuit zu den Schneenomaden-Stämmen vereinten, die wir heute kennen. Doch nun erkannte ich, dass einige zurückgeblieben waren! Wilde, primitive Nachfahren einer Nation, die mit ihrer Gier und ihrer Selbstsucht einst das Erdenrund ins Verderben stürzte – und doch waren sie barmherzig genug, einen armen Unglücklichen wie mich vor dem Hungertod zu bewahren.

Nach einer Weile gelang es mir, mich durch Gesten und Zeichen mit meinen Rettern zu verständigen. Es waren ein Mädchen und ein junger Mann, und sie trugen die Namen Waschmaschinenfest und Lieferfrist Zwölf Tage. Wie sich herausstellte, waren sie selbst auf Expedition gewesen, als sie mich fanden; sie hatten in den Ruinen einer Stadt namens Duluth nach Strahlglas gegraben. (Übrigens schienen die Angehörigen ihres rückständigen Stammes nicht weniger nach diesem Schmuck verrückt zu sein als die Damenwelt von Paris oder Traktionsgrad. Meine neuen Freunde trugen Ohrringe und Armreife aus dem kostbaren Material.) Beide fanden sich in der schrecklichen Ödnis erstaunlich gut zurecht: Sie suchten unter Steinen nach essbaren Maden und erkannten trinkbares Wasser an dem Wachstum bestimmter Algensorten. Doch diese Gegend war nicht ihr Zuhause, nein, sie lebten weiter nördlich, und jetzt kehrten sie mit mir zu ihrem Stamm zurück!

Stell dir vor, Tom, wie aufregend das war! Der Weg flussaufwärts war wie eine Reise zu den Anfängen der Erdgeschichte. Erst umgab uns nichts als nackte Felsen, zwischen denen hier und da verwitterte Steinquader oder gekrümmte Stahlträger an die Bauwerke der Damaligen gemahnten. Dann, eines Tages, entdeckte ich ein Mooskissen, und dann noch eines! Keine Woche später tauchten Gras, Farne und Schilf an den Ufern auf. Das Wasser wurde klarer. Lieferfrist angelte Fische, die Waschmaschinenfest des Abends am Ufer über einem Feuer briet. Und die Bäume, Tom! Birken, Eichen und Kiefern ragten vor uns auf, und bald weitete sich der Fluss zu einem See, an dessen Ufer die einfachen Behausungen des eingeborenen Stammes standen. Welch ein Anblick für einen Historiker! Nach all den Jahrtausenden war Amerika wieder bewohnt!

Mit den Einzelheiten der drei Jahre, die ich bei den guten Leuten verbringen sollte, will ich Sie nicht weiter langweilen. Auch nicht mit der Episode, wie ich die schöne Häuptlingstochter Postleitzahl vor dem tödlichen Angriff eines Bären beschützte, wie sie sich in mich verliebte und ich vor ihrem eifersüchtigen Verlobten fliehen musste. Und ich erspare Ihnen auch die Geschichte, wie ich weiter gen Norden zog, bis hinauf ins Eis, und auf diesem Wege nach vielen weiteren Abenteuern schließlich wieder die Jagdgründe erreichte. Diese und weitere Begebenheiten finden sich in meinem interpolitanen Bestseller Vergessenes Amerika, den Sie gleich nach unserer Ankunft in Brighton endlich lesen können.«

Tom saß lange schweigend da und sann über die atemberaubenden Bilder nach, die Pennyroyal heraufbeschworen hatte. Er konnte kaum fassen, dass er von diesen Entdeckungen nichts mitbekommen hatte. Sie waren bahnbrechend! Sensationell! Wie rückständig die Historikergilde gewesen war, wenn sie einen Mann wie Pennyroyal abwies!

Schließlich fragte er: »Aber sind Sie denn nie dorthin zurückgekehrt, Professor? Eine zweite, besser ausgerüstete Expedition könnte doch sicher …«

»Leider nein, Tom«, seufzte Pennyroyal. »Es ist mir nie gelungen, einen Geldgeber zu finden. Sie müssen bedenken, dass meine Kameraausrüstung samt den Probenbehältern beim Absturz der Allan Quatermain zerstört wurde. Als ich den Stamm verließ, habe ich einige Artefakte mitgenommen, doch sie gingen alle auf dem Heimweg verloren. Wie soll ich ohne Beweise eine zweite Expedition finanzieren? Das Ehrenwort eines Alternativhistorikers wiegt offenbar nicht schwer genug. Stellen Sie sich vor, Tom«, sagte Pennyroyal betrübt, »es gibt sogar bis heute missgünstige Zeitgenossen, die behaupten, ich sei überhaupt nicht in Amerika gewesen.«

5Die Fox Spirits

Als Hester am nächsten Morgen erwachte, dröhnte aus der Pilotenkanzel noch immer Pennyroyals Stimme. War er etwa die ganze Nacht dort gewesen? Wohl kaum, überlegte sie und wusch sich in dem kleinen Waschbecken der Kombüse das Gesicht. Vermutlich hatte er reichlich geschlafen, im Gegensatz zu dem armen Tom, und jetzt hatte ihn der verführerische Duft von Toms morgendlicher Tasse Kaffee in die Kanzel zurückgelockt.

Beim Zähneputzen schaute sie aus dem Bullauge der Kombüse – bloß nicht auf ihr Gesicht im Spiegel. Der Himmel war hellgelb wie Custardsoße mit rhabarberroten Wolkenstreifen. Mittig hatte er drei kleine dunkle Flecken. Schmutz auf der Scheibe, dachte Hester, aber als sie mit dem Ärmel darüberwischte, gingen sie nicht weg. Hester runzelte die Stirn, holte ihr Fernrohr und betrachtete die kleinen Kleckse. Und runzelte die Stirn noch mehr.

Als sie die Kanzel betrat, wollte Tom sich gerade schlafen legen. Es wehte noch immer eine steife Brise, die das Luftschiff bremste, aber sie hatten die Bergkette hinter sich gelassen. Der Wind konnte sie nicht mehr in eine Aschewolke treiben oder gegen einen Berghang drücken. Tom sah müde und glücklich aus; er strahlte Hester an, als sie durch die Luke kam. Pennyroyal saß auf dem Copilotensitz und wärmte sich die Hände an dem besten Kaffee, den die Jenny Haniver zu bieten hatte.

»Der Professor hat von seinen Expeditionen erzählt!«, sagte Tom und räumte den Pilotensitz für Hester. »Du glaubst gar nicht, was er alles erlebt hat!«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Hester ihm zu. »Aber mich interessiert jetzt eigentlich eher, warum uns eine Kampfschiffstaffel auf den Fersen ist.«

Pennyroyal quiekte auf und hielt sich schnell eine Hand vor den Mund. Tom folgte Hesters Fingerzeig und schaute nach Backbord aus dem Fenster. Die Flecken waren jetzt deutlich als Luftschiffe zu erkennen – drei Stück in einer Reihe nebeneinander.

»Vielleicht sind das Kaufleute auf dem Weg nach Airhaven«, sagte er.

»So sieht kein Konvoi aus«, antwortete Hester. »Die sind in Angriffsformation.«

Tom nahm den Feldstecher von seinem Haken unter den Steuerhebeln. Die Luftschiffe waren noch zehn Meilen entfernt, aber schwerbewaffnet und sehr schnell. Bis auf ein grünes Abzeichen auf dem Rumpf waren alle drei vollkommen weiß. Das ließ sie seltsam bedrohlich wirken, wie die Geister von Luftschiffen, die totenstill über den dämmrigen Himmel zogen.

»Das sind Liga-Kampfschiffe«, sagte Hester. »Murasaki Fox Spirits. Man erkennt sie an den glockenförmigen Triebwerkgondeln.«

Sie klang nervös, und das nicht ohne Grund. Sie und Tom gingen der Antitraktionistenliga seit zwei Jahren tunlichst aus dem Weg, denn die Jenny Haniver hatte früher einer Agentin dieser Liga gehört, Anna Fang, die jetzt nicht mehr lebte. Sie hatten das Schiff zwar nicht direkt gestohlen, aber ihnen war klar, dass man das in der Liga möglicherweise anders sah. Hier im Norden hatten sie sich sicher gefühlt, weil die Liga seit dem Untergang Spitzbergens kaum noch Präsenz zeigte.

»Wende lieber«, sagte Hester. »Mit Rückenwind können wir sie vielleicht abhängen, oder wir verstecken uns im Gebirge.«

Tom zögerte. Die Jenny war schneller, als ihre hölzerne Gondel und die rostigen Triebwerke ahnen ließen, aber dass sie Fox Spirits abhängen konnte, bezweifelte er. »Wenn wir kehrtmachen, sieht das nach schlechtem Gewissen aus«, sagte er. »Wir haben nichts verbrochen. Ich rede mit ihnen, mal schauen, was sie überhaupt wollen.«

Er griff nach dem Mikrophon des Funkgeräts, aber Pennyroyal packte ihn am Arm. »Nein, Tom! Von diesen weißen Schiffen habe ich gehört! Das sind keine regulären Ligisten! Die sind vom Grünen Sturm, einer neuen radikalen Splittergruppe, die hier im Norden geheime Stützpunkte unterhält. Fanatiker, die alle Traktionsstädte ausradieren wollen – und die Bewohner gleich mit! Große Götter, wenn die uns kriegen, werden wir gleich hier in der Gondel abgeschlachtet!«

Die Gesichtsfarbe des Forschers erinnerte an teuren Käse, und Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Nase. Die Hand, mit der er Tom gepackt hielt, zitterte. Tom begriff erst nicht, was mit ihm los war. Wer so viel erlebt hatte wie Pennyroyal, würde doch jetzt nicht die Nerven verlieren, oder?

Hester sah aus dem Fenster, dass eins der Luftschiffe eine Rakete nach Luv schoss, um der Jenny zu signalisieren, dass sie beidrehen und sich entern lassen sollte. Sie traute Pennyroyal nicht, aber diese Schiffe sahen wirklich bedrohlich aus. Sicher waren sie der Jenny Haniver nicht zufällig begegnet, sondern hatten gezielt nach ihr gesucht.

Sie berührte Tom am Arm. »Verschwinden wir.«

Tom lehnte sich in die Rudersteuerung und nahm Kurs nach Norden, damit die Jenny den Wind im Rücken hatte. Dann legte er ein paar bronzene Hebel um, und die Triebwerke heulten auf. Ein weiterer Handgriff, und zwischen dem Rumpf und den Motorgondeln entfalteten sich kleine Segel, silikonseidene Halbmonde, die die Jenny noch zusätzlich beschleunigten.

»Wir sind schneller!«, rief er nach einem Blick auf das grobkörnige, umgedrehte Abbild der Heckansicht im Periskop. Aber die Fox Spirits ließen nicht locker. Sie wechselten den Kurs, um der Jenny zu folgen, und gaben ebenfalls Gas. Nach einer Stunde hatten sie so weit aufgeholt, dass die Embleme auf ihren Rümpfen zu erkennen waren – nicht das geborstene Rad der Antitraktionisten, sondern ein gezackter grüner Blitz.

Tom suchte die Landschaft unter ihnen nach einer Stadt ab, die ihnen Schutz gewähren könnte. Es war keine zu sehen; erst weit im Osten trieben lappländische Viehdörfer gemächlich ihre Rentierherden durch die Tundra. Die würde er niemals erreichen, ohne dass ihm die Fox Spirits den Weg abschnitten. Geradeaus versperrten die Tannhäuser Berge die Sicht und boten mit ihren Tälern und Aschewolken die einzige Chance, noch zu entwischen.