Moschee des Todes - Rolf Lohbeck - E-Book

Moschee des Todes E-Book

Rolf Lohbeck

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Beschreibung

Der Terrorismus ist in Deutschland angekommen. Im Fokus des Romans steht eine Moschee in München, die als »Moschee des Todes« ein Netzwerk des Schreckens gesponnen hat. Von hier werden die Assassinen des Terrors am Starnberger See, dem Domizil der Reichen und Schönen, eingesetzt. Dramatik und Spannung pur vor dem Hintergrund der deutschen Flüchtlingspolitik und Angela Merkels »Wir schaffen das«. Mit großer Sachkompetenz ist Rolf Lohbeck erneut ein hochaktueller Spannungsroman gelungen, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Dieser Politthriller reflektiert die Gegenwartspolitik Deutschlands. Die geballte Sprengkraft von einer Million illegaler Flüchtlinge und dem islamistischen Terrornetzwerk des IS entlädt sich in einem unvorstellbaren Anschlag am Starnberger See. Die Idylle der Reichen und Schönen ist in den Fokus des Dschihads geraten, um Panik und Entsetzen in der Bevölkerung auszulösen. Es bleibt nur die Alternative zwischen masochistischer Unterwerfung, wie es die politische Nomenklatura betreibt, oder die Niederringung des IS-Terrors durch Widerstand und Kampf.

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Rolf Lohbeck

Moscheedes Todes

Blutrot amStarnberger See

Politthriller

fischer krimis

Für meine Eltern– geliebt und unvergessen –

Für Heidrun– die Liebe meines Lebens –

Für Rainer, Regina, Stephan und Christiane– der Sinn meines Lebens –

»Wenn Ihr mich bedrängt und destabilisieren wollt, werdet Ihr Verwirrung stiften, El Quaida in die Hände spielen und bewaffnete Rebellenhaufen

begünstigen. Folgendes wird sich ereignen:

Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa schwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten. El Quaida wird sich in Nordafrika einrichten, während Mullah Omar den Kampf um Afghanistan und Pakistan übernimmt. El Quaida wird an Eurer Türschwelle stehen. In Tunesien und Ägypten ist ein politisches Vakuum entstanden. Die Islamisten können heute von dort aus bei Euch eindringen. Der Heilige Krieg wird auf Eure unmittelbare Nachbarschaft am Mittelmeer übergreifen. [...] Die Anarchie wird sich von Pakistan und Afghanistan

bis nach Nord-Afrika ausdehnen.«

MUAMMAR AL-QADHAFI (2011)

Simsalabimbambasaladusaladim

– Alte Volksweise –

Kuckucksweibchen legen ihr Ei in ein fremdes Nest.

Der Kuckuck kommt nackt auf die Welt.

Er ist sehr kräftig und aggressiv.

Der Kuckuck schiebt die Originaleier aus dem Nest.

Das Gleiche macht er mit bereits geschlüpften Wirtsküken. Allein im okkupierten Nest, lässt er sich von den unfreiwilligen Adoptiveltern fett mästen.

Die Eltern wider Willen müssen ihrem biologischen Gesetz folgen. Der Kuckuck ist ein Brutparasit.

Er kann nur überleben, solange es den Wirtseltern gut geht. Die sind manchmal nur ein Drittel so groß wie das Kuckuckskind. Es soll auch Kuckucke geben, die wie Menschen aussehen.

Wenn es menschliche Kuckucke gibt, muss es auch menschliche Wirtseltern geben.

Doch welchem biologischen Gesetz folgen diese?

ROLF LOHBECK (Dezember 2015)

1

Der Tag hätte nicht schöner sein können. Kein Wölkchen am Himmel trübte den Blick über den See, der bis zur in der Ferne liegenden Alpenkette reichte, deren einzelne Bergspitzen in der weißen Zuckerwatte nicht geschmolzenen Restschnees aufleuchteten. Die intensive Strahlung der Morgensonne versprach schon jetzt einen heißen Augusttag. Dem Starnberger See, seinen Anwohnern und zahlreichen Urlaubsgästen würde ein ungetrübter Tag bevorstehen.

Die Uferterrasse des Seehotels Leoni hatte die meisten Urlauber bereits um acht Uhr an die Frühstückstische gelockt, um den verheißungsvollen Sonntag mit einem opulenten Frühstücksbuffet in aller Ausgiebigkeit zu starten.

Die Kellner wieselten geschickt zwischen den zahlreichen Tischen umher, um die Getränketabletts sicher an die Gästetische zu bringen. Unter den Gästen und Mitarbeitern herrschte eine spürbar gelöste Stimmung. Der verführerische Duft frischer Brötchen schwebte über der Terrasse und hatte die ersten Stockenten und Schwäne an den Seewall gelockt, der das Hotelgelände vor den bei Sturm anbrandenden Wellen des Sees schützte.

Nicht immer verhielt sich der Starnberger See so friedlich wie heute Morgen. Immer wieder kam es im Laufe des Jahres vor, dass die an verschiedenen Uferabschnitten installierten Sturmampeln blinkten, um Schwimmer und Segler auf dem See vor einem heraufziehenden Unwetter zu warnen. Trotzdem holte sich der knapp sechzig Quadratkilometer große See jährlich seine Opfer, die bis auf den tiefsten Grund in 142 Metern versinken konnten.

Das prominenteste Seeopfer blieb natürlich der bayrische Märchenkönig Ludwig II., der am 13. Juni 1886 zusammen mit seinem Leibarzt nicht allzu weit vom Seehotel Leoni im Starnberger See den Tod fand. Ein Holzkreuz am Ufer mit der darüber erbauten Votivkapelle soll die Erinnerung an den Erbauer von Schloss Neuschwanstein und Schloss Herrenchiemsee für alle Zeiten festhalten.

Vermutlich würden auch heute wieder einige Hotelgäste zu den weltberühmten Destinationen aufbrechen, ohne zu wissen, dass bereits sechs Jahre nach Ludwigs Tod an dieser Stelle das Seehotel Leoni erbaut wurde. Bis 1975 blieb das Hotel mit seinen romantischen Türmen in seinem Baustil erhalten, bevor es anschließend durch den jetzigen nüchtern-sachlichen, dem Bauhausstil eines Walter Gropius nachempfundenen Baukörper ersetzt wurde.

Wie jeden Morgen hatten die unmittelbar am Seewall frühstückenden Gäste mit dem beliebten Fütterungsritual der Enten und Schwäne begonnen, worauf diese bereits gierig gewartet hatten. Die verbleibenden Brotreste wurden einem natürlichen Zweck zugeführt, was den fütternden Gästen und ihren Zuschauern einen zusätzlichen Unterhaltungswert bot.

Familie Schneider, ein älteres Ehepaar aus der Lüneburger Heide, genoss mit offensichtlicher Begeisterung die Fütterung der Wassertiere und brach zwecks Verlängerung des Frühstückszeremoniells Brotreste in immer kleinere Stücke, die ihnen die ewig hungrigen Enten bereits aus der Hand fraßen. Weit beugten sich die bereits weißhaarigen Gäste durch die waagerechten Stäbe des Seewallgeländers, um ihren Obolus den hungrigen Schnabeltieren mund- beziehungsweise schnabelgerecht zu reichen.

So bemerkten sie nicht den unmittelbar neben ihrem Terrassentisch entstehenden Spalt in den Bodenplatten. Auf einer Fläche von etwa zwei Quadratmetern senkte sich der Boden, und ein tiefes Loch tat sich auf, in dem der betroffene Terrassenboden urplötzlich verschwand.

Erst die entsetzten Schreie der übrigen Hotelgäste rissen die ins Füttern vertieften Eheleute ruckartig in die Realität zurück. Die etwas mollige Frau Schneider starrte noch mit offenem Mund auf das Terrassenloch, als ihr noch sportlich wirkender Ehemann mit einem einzigen Satz über die Tiefe sprang und seine noch fassungslose Ehefrau aus der Gefahrenzone riss.

Nun reagierten auch die weiteren in der Nähe des Bodeneinbruchs sitzenden Gäste. Sie hatten die Gefahr möglicher weiterer Absackungen erkannt und brachten sich unter lauten Warnrufen aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Einige Restaurantmitarbeiter versuchten bereits, die Unglücksstätte mit Gartenstühlen zu sichern. Aus dem hinteren Terrassenbereich drängten allerdings neugierige Gäste, die außer der allgemeinen Aufregung noch nichts mitbekommen hatten, zur Unglücksstelle, um sich kundig zu machen über den Grund der entstandenen Störung.

Inzwischen war auch die alarmierte Hotelleitung, die couragierte und allgemein beliebte Frau Bergthaler auf die Terrasse gestürzt, um die Sicherungsmaßnahmen zu koordinieren. Vor allem aber, um ihre verschreckten Hotelgäste zu beruhigen. Vorsichtig trat sie an das Terrassenloch heran, als sich aus der Tiefe ein unheimliches Gurgelgeräusch hereinströmender Wassermassen bemerkbar machte. Erschrocken wich die mittelgroße stämmige Frau zurück.

Das Geräusch des Wassers verstärkte sich und nahm infernalische Ausmaße an. Irgendetwas im Untergrund schien den Austritt des Wassers ans Tageslicht zu versperren. Den Hotelgästen waren die aus dem Loch drängenden Geräusche unheimlich geworden, sodass selbst die Neugierigen unter ihnen in sicherer Entfernung blieben und ihre Vermutungen lautstark austauschten.

Plötzlich schoss unter dem Druck des nachströmenden Seewassers eine Fontäne schmutzig braunen Wassers aus dem Loch, wobei es wie Kapitän Ahab in Melvilles berühmten Roman einen menschlichen Körper aus seinem unterirdischen Seeverlies nach oben katapultierte. Sekundenbruchteile später landete er klatschend auf den Terrassenplatten.

Die eintretenden Entsetzensschreie setzten wie ein Stakkato ein, als die Umstehenden erkannten, dass der halb verwesten, sich in Auflösung befindlichen Leiche der Kopf fehlte.

Die ersten weiblichen Hotelgäste fielen in Ohnmacht. Die idyllische friedliche Morgenstimmung am reich gedeckten Frühstückstisch war einem Gefühl unbestimmter Bedrohung und Ungewissheit gewichen, das die verwirrten Hotelgäste mit Kommentierungen und Vermutungen zu kompensieren versuchten. Vom ausgeklügelten Fememord italienischer Mafiabanden bis hin zum Kopfabschlagen eingesetzter Kämpfer des islamischen Kalifats verlief die Bandbreite der diskutierten Meinungsäußerungen.

Frau Bergthaler hatte nach dem ersten Schock ihre Contenance wiedergefunden. Insbesondere durch die einhelligen Kommentare der Gäste, dass das Hotel keine Schuld an dem grausigen Ereignis treffen könne. Insofern wolle man auch nicht verfrüht abreisen. Schließlich überwog bei den meisten die Neugier hinsichtlich des Fortgangs der Ereignisse.

Die Hotelchefin hatte den betroffenen Terrassenteil weitläufig mit Terrassengestühl absperren lassen. Über die Leiche ohne Kopf waren zwei passenderweise weiße Tischtücher ausgebreitet worden und versperrten den Hotelgästen den grausigen Anblick, was ihrer Fantasie natürlich keine Zügel anlegen konnte.

Frau Bergthaler hatte die Starnberger Kripo angerufen und den Tatbestand mit bestmöglicher Präzision geschildert.

In weniger als dreißig Minuten trafen mit Martinshorn und Blaulicht drei Polizeifahrzeuge am Seehotel ein. Zwei Beamte in Zivil sowie drei Uniformierte verließen die ersten beiden Wagen und eilten über den Parkplatz zur Terrasse. Ihnen folgten in weißer Schutzkleidung die Kollegen von der Spurensicherung.

Noch auf dem Parkplatz begrüßte Frau Bergthaler die Zivilbeamten.

»Das hätte ich mir nicht träumen lassen, Herr Obermeier, dass wir uns so schnell wiedersehen und das noch unter solchen Umständen.«

Sie schüttelte die Hände des größeren der beiden Beamten, der mit seinen etwa 1,90 Metern, den extrem breiten Schultern und einem scharfkantigem Gesicht offensichtlich der Leiter der Gruppe war. Ebenso freundlich begrüßte die Hoteldirektorin Oberkommissar Wastl, der einen Kopf kleiner als sein Chef war. Auch den übrigen Mitgliedern des Ermittlungsteams nickte Frau Bergthaler freundlich zu. Man kannte sich von einer Polizeiparty, die erst vor vierzehn Tagen im bekannten Club 44 des Hotels stattgefunden hatte.

Während die Streifenbeamten den Fundort Terrasse absperrten und somit die neugierigen Hotelgäste auf die obere Hotelterrasse vertrieben, ließen sich die beiden Kommissare nochmals von Frau Bergthaler das Geschehen berichten.

»Allerdings kam ich erst dazu, als die Leiche auf der Terrasse lag. Direkt betroffen waren die Gäste am Nachbartisch, das Ehepaar Schneider. Es sind ältere Leute, die wir schon seit Jahren zu unseren Stammgästen zählen. Frau Schneider wurde sogar ohnmächtig, als plötzlich eine Leiche ohne Kopf neben ihr aus dem Boden schoss. Wir haben sie auf ihr Zimmer gebracht, wo sich ihr Ehemann, der Arzt ist, um sie kümmert.«

»Somit hätten wir schon mal zwei Hauptzeugen, obwohl ich davon ausgehe, dass weitere Gäste und Mitarbeiter das Ereignis ebenfalls gesehen beziehungsweise miterlebt haben«, resümierte Hauptkommissar Obermeier nüchtern.

»Würden Sie bitte Herrn Schneider zu uns bringen«, wandte sich der kleinere, aber enorm drahtig und sportlich wirkende Oberkommissar Wastl an die Direktorin.

Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten ihre Arbeit bereits aufgenommen und waren intensiv mit der äußerlichen Untersuchung und Fotographie des Leichentorsos beschäftigt. Hauptkommissar Obermeier hatte sich eine starke Handleuchte besorgt und richtete den Strahl in die Tiefe, aus der deutliche Gurgelgeräusche des bewegten Wassers nach oben drängten.

»Jesses nei!«, entfuhr es ihm.

»Das Loch ist gut vier Meter tief, und wie hoch das Wasser darin steht, kann ich nicht sagen. Eins steht jedenfalls fest«, wandte er sich an den Kollegen, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

»Wenn hier dieses ältere Ehepaar beim Frühstück womöglich samt Tisch reingestürzt wäre, hätte es Tote gegeben. Wer den Sturz überlebt, kann anschließend in den Wasserstrudeln des Loches ertrinken. Keine schöne Alternative.«

Oberkommissar Wastl hatte sich ebenfalls über die Tiefe gebeugt.

»Ich vermute mal, dass zwischen dem See und dem Loch eine Verbindung besteht, denn das Soggeräusch des Wassers entsteht regelmäßig, wenn es rein- und wieder rausgesaugt wird, also entsprechend der Bewegung des Sees. Was natürlich die Frage aufwirft, wieso das Wasser unter die Hotelterrasse kommt. Schließlich soll der betonierte Seewall das verhindern.«

»Das müssen die Taucher herausfinden, die wir hier ohnehin einsetzen müssen. Ohne vorgreifen zu wollen, kann ich mir vorstellen, dass der Seewall an dieser Stelle unterspült wurde. Das Wasser hat sich dann so weit unter die Terrasse vorgearbeitet, indem es das Erdreich in den See gespült hat, bis die Aushöhlung so groß war, dass die darüberliegende Terrasse über dem Hohlraum eingebrochen ist.«

»Bis dahin kann ich dir folgen, Horst. Aber wie kam die Leiche unter die Terrasse und ploppte plötzlich nach oben?« Nachdenklich strich Oberkommissar Wastl seinen spiegelglatten Schädel. Man sah, dass er die wenigen Resthaare sorgfältig abrasiert hatte: Wenn schon, dann komplett!

Horst Obermeier, der mit seinem blonden Vollhaar wie der US-Schauspieler Nick Nolte in seinen besten Jahren aussah, schlug seinem Stellvertreter freundschaftlich auf die Schulter.

»Das, lieber Dieter, herauszufinden, wird unsere nächste Aufgabe sein. Aber wir stehen ja gerade erst am Anfang unserer Ermittlungen. Schauen wir uns die Leiche an, vielleicht hat Frau Berger etwas entdeckt.«

Sie trafen ihre Kollegin, Leiterin der Spurensicherung und Gerichtsmedizin, an, die neben der Leiche kniete und durch eine Lupe die Halsränder des Rumpfes betrachtete. Die schlanke, zierlich wirkende Frau in den Vierzigern erhob sich, als Hauptkommissar Obermeier sie ansprach.

»Über die Todesursache kann ich in der Tat schon etwas sagen, obwohl ja, wie Sie wissen, eine endgültige Aussage erst nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung verwertbar ist.«

Der Hauptkommissar nickte geduldig, beide kannten das alte Spiel.

»Offensichtlich wurde dem Mordopfer, als solches muss man es schon jetzt einordnen, da sich keiner freiwillig den Kopf abtrennen lässt, mit einem sogenannten Drosselschnitt die Kehle durchtrennt. Die Folge war ein relativ schneller Erstickungstod, da die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbrochen war. Anschließend wurde dem Opfer, vermutlich nach seinem Tod, mit einem großen Sägemesser der gesamte Kopf abgeschnitten, wie aus den Wundrändern ersichtlich wird.

Es war übrigens keine chirurgisch saubere Arbeit. Alles deutet auf eine laienhafte Säbelei hin. Man kann nur hoffen, dass der Ermordete tatsächlich schon tot war. Aber dies werden wir in der Gerichtsmedizin genauer feststellen können. Auf jeden Fall hat kein Fachmann diesen Mord ausgeführt, eher ein Laie oder ein schlecht ausgebildeter Metzger, und bevor Sie mich nach dem Todeszeitpunkt fragen – den kenne ich nicht, jedenfalls jetzt noch nicht!«

Lächelnd antwortete Horst Obermeier: »Aber das weiß ich doch, liebe Frau Berger. Nie hätte ich jetzt schon diese Frage gestellt!«

Skeptisch blickte ihn Dr. Berger an. »Dann ist es ja gut. Ich schlage vor, wir sehen uns gleich in der Gerichtsmedizin. Von meiner Seite aus können wir die Leiche jetzt abtransportieren.«

Beide Kommissare nickten zum Einverständnis.

Frau Bergthaler trat auf sie zu, im Gefolge eines sichtlich mitgenommenen Herrn Schneider. Sie machte die Kommissare mit Herrn Schneider bekannt, der seine Frau wegen der nervlichen Anspannung entschuldigen ließ.

»Dann erzählen Sie uns doch bitte, Herr Schneider, was Ihnen beim Frühstück, das Sie und Ihre Frau doch in Ruhe genießen wollten, widerfahren ist«, bat Herr Obermeier.

»Dort am Geländer, wo unser Tisch noch steht, saßen meine Frau und ich beim Frühstück. Nichts Böses ahnend, freuten wir uns am herrlichen Sonnenschein und der wunderschönen Naturkulisse des Starnberger Sees. Wir hatten das Frühstück beendet und verteilten die Brotreste an die Enten und Schwäne.

Darin waren wir so vertieft, dass wir das Rumpeln unter der Terrasse gar nicht wahrgenommen haben. Selbst den plötzlichen Einbruch der Terrasse direkt neben uns hatten wir nicht richtig bemerkt. Erst die Warnrufe anderer Hotelgäste schreckten uns auf. Ich riss meine Frau vom Stuhl und brachte uns in Sicherheit. Dann kam auch schon Frau Bergthaler und beruhigte die Gäste, während das Personal die Grube in der Terrasse mit Stühlen absicherte.«

»Und was geschah danach?«, fragte Oberkommissar Wastl.

»Anschließend erlebten wir einen Anblick wie aus Dantes »Inferno«. Unter einem unheimlichen Wassergurgeln schoss aus der Terrassengrube eine schmutzige braune Wasserfontäne, auf deren Spitze ein menschlicher Torso emporflog, der beim Sacken der Fontäne auf die Terrassenplatten fiel. Mit dem Geräusch eines platzenden Frosches, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Als Folge wurde meine Frau ohnmächtig, sodass ich mich vorrangig um sie kümmern musste.«

»Haben Sie genau gesehen, dass der Leiche der Kopf fehlte?«, fragte der Hauptkommissar nach.

»Oh ja, Herr Kommissar, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Gerade das steigerte das allgemeine Entsetzen der Gäste, obwohl auch eine Leiche mit Kopf schon völlig ausgereicht hätte. Aber das hätte man wohl noch als einen ungewöhnlichen Unfall betrachten können. Die Kopflosigkeit ließ sofort an einen grausamen Mord oder Totschlag denken.«

»Ist Ihnen, Herr Schneider, sonst irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Zum Beispiel, als Sie die Enten fütterten, haben Sie doch auf den See geschaut. Haben Sie auf dem Grund des Sees etwas erkennen können?«

»Das war nicht möglich, da das Wasser zu dunkel ist. Das ist aber immer so, wenn ein Fahrgastschiff anlegt beziehungsweise wieder abfährt. Der Anlegesteg ist ja direkt vor dem Hotel, und die dabei entstehende Wellenbewegung trübte das meist sehr klare Seewasser stark ein.«

Kommissar Wastl unterbrach Herrn Schneider:

»Wollen Sie sagen, dass kurz vor dem Ereignis ein Seeschiff an- und abgelegt hatte?«

»Das ist richtig. Meine Frau und ich waren noch beim Frühstück, als die ›Seestern‹ am Anlegesteg die ersten Hotelgäste aufnahm. Dieser Riesenkatamaran erzeugt beim An- und Ablegen einen gewaltigen Wellenschlag, der noch minutenlang gegen den Seewall klatscht.«

Hauptkommissar Obermeier hatte aufmerksam zugehört.

»Vielen Dank für Ihre Aussage, Herr Schneider. Im Augenblick haben wir keine weiteren Fragen. Ihre Frau wird bestimmt schon auf Sie warten.«

Erleichtert eilte Herr Schneider ins Hotel zurück.

Die beiden Kommissare schauten sich vielsagend an. Sie arbeiteten bereits seit mehr als zehn Jahren zusammen, waren befreundet und gedanklich eng verbunden.

»Denkst du, was ich jetzt denke?«, wandte sich Obermeier zu seinem Partner.

»Ich glaube schon«, nickte dieser. »Der Seewall könnte an dieser Stelle unterspült sein, und der Wellensog hat den Leichnam hereingesaugt und nach oben gespült. Alles verursacht durch die starken Schiffsbewegungen.«

»Genau so«, stimmte Obermeier zu. »Bleibt nur die Frage, wie die Leiche in den See gekommen ist, und vor allem, wo der Kopf abgeblieben ist. Entweder hat der Mörder den Kopf ganz woanders entsorgt, um die Identifizierung des Opfers zu verhindern, oder der Kopf liegt noch im Wasser.«

»Dann werde ich jetzt die Kollegen der Wasserschutzpolizei anrufen, die schnellstmöglich mit zwei Rettungstauchern herkommen müssen.«

Oberkommissar Wastl drückt auf seinem Handy die einprogrammierte Nummer der Wasserschutzpolizei. Der Wachhabende vom Dienst staunte nicht schlecht über die kurzen Ausführungen des Kripomannes. Das hatte es am Starnberger See, dem bevorzugten Domizil der Reichen und Schönen, noch nicht gegeben.

»Aber sofort kommen ist nicht«, beschied der KVD. »Die Kollegen sind mit zwei Booten und der Tauchmannschaft im Einsatz bei der Roseninsel. Da sind zwei Jugendliche trotz strikter Verbote zwischen den Reusen der Fischer rumgetaucht, wollten wohl Abenteuer erleben. Dabei hat’s einen erwischt. Der Siebzehnjährige ist in einer der Reusen stecken geblieben. Bis der gleichaltrige Freund etwas bemerkt hatte, war es schon zu spät. Der andere war jämmerlich ertrunken. Die Taucher holen ihn jetzt raus. Der Einsatz soll gegen vierzehn Uhr beendet sein. Ich werde die Kollegen anschließend zum Seehotel Leoni delegieren. Ist das in Ordnung?«

Der Oberkommissar bestätigte und legte auf. »Vor vierzehn Uhr geht’s nicht«, wandte er sich an Obermeier.

»Dann fahren wir zurück ins Kommissariat und sind in drei Stunden wieder hier. Wie ich sehe, hat auch die Spurensicherung ihre Arbeit beendet. Wir sollten noch Frau Bergthaler informieren, dass wir später wiederkommen. Auch muss die Schutzpolizei den Tatort absichern, damit die Hotelgäste auf ihre Terrasse können.«

Kurz darauf waren die Kommissare auf der Rückfahrt nach Starnberg zur Gerichtsmedizin. Auch wenn ihr Kommissariat den Landkreis Starnberg bearbeitete, was einen Unterschied zur Hektik einer Großstadt ausmachte, so wurden sie von den im ländlichen Kreis stattfindenden Delikten nicht weniger in Trab gehalten. Mordtaten waren jedoch eher selten, und eine kopflose Leiche war ein Novum in der Starnberger Kriminalitätsstatistik.

Im Dienstgebäude angekommen, war ihr erster Gang in die Spurensicherung. Frau Berger kam ihnen bereits auf dem Flur entgegen. Sie hatte als Leiterin der Rechtsmedizin große Erfahrungen auf dem Gebiet der Anthropologie und wurde auch nach München ausgeliehen, wenn die dortige Rechtsmedizin in schwierigen Fällen Unterstützung benötigte.

Seit ihrer Scheidung vor zwei Jahren hatte sie ihren Beruf zum Lebensinhalt gemacht. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, sodass sie kaum außerberufliche Verpflichtungen zu erfüllen hatte. Sie selber hatte darum gebeten, neben der Leitung der Spurensicherung auch die Gerichtsmedizinische Abteilung zu führen.

Als Ärztin und ausgebildete Kriminologin hatte sie beide Positionen erhalten und sich seit Jahren in der Doppelrolle bewährt. Wie Kanzlerin Merkel trug sie grundsätzlich sportliche Hosenanzüge, die ihre schlanke Figur unterstrichen. Mit ihrem schwarzen kurz geschnittenen Haar und den grüngrauen Augen war sie eine attraktive Erscheinung, deren Singledasein die Fantasie mancher Kollegen anregte.

Dies traf auf Obermeier und Wastl weniger zu, da beide glücklich verheiratet und ihre Ehen mit jeweils mehreren Kindern gesegnet waren. Beide Kommissare schätzten die sachlich kompetente Arbeit ihrer Kollegin, die ihre Untersuchungsergebnisse grundsätzlich erst nach fundierten Analysen weitergab, was sich bis jetzt stets als richtig erwiesen hatte. Glaskugelaussagen gab es bei ihr nicht. Das wusste Oberkommissar Obermeier, als er sie ansprach.

»Hat die Spurensicherung bereits etwas Verwertbares ergeben, Frau Berger?«

»Fangen wir mit der Leiche an. Sie ist männlich und lag maximal eine Woche im Wasser. Über das Alter möchte ich mich nicht festlegen, aber es dürfte sich um einen jüngeren Mann zwischen zwanzig und dreißig Jahren handeln. Gewebeproben und Skelettanalysen der gerichtsmedizinischen Untersuchung werden hier nähere Ergebnisse bringen.

Die Kleider des Toten wiesen nichts Besonderes aus, da aus Jeans und T-Shirt sämtliche Herstellerdaten sorgfältig entfernt wurden. Fußbekleidung fehlte ganz. Entweder hat der Mörder sie dem Opfer ausgezogen, oder sie ist im Wasser verloren gegangen. Von großer Wichtigkeit wäre natürlich der fehlende Kopf. Allein die Untersuchung der Zahnreihen gibt oft Aufschluss zur Identifizierung. Ich habe bereits in der Vermisstenabteilung nachgefragt. Kein Mann in dem Alter ist als abgängig gemeldet.«

Die enttäuschten Gesichter der Kommissare quittierte sie mit einem angedeuteten Lächeln.

»Trotzdem haben wir eine außerordentliche Entdeckung gemacht. Beim ersten Blick auf die Leiche haben wir festgestellt, dass es sich nicht um einen sogenannten Herkunftsdeutschen handelt. Seine Haut weist eine dunkelbraune Pigmentierung auf, auch wenn es sich nicht um einen negroiden Typ handelt. Er dürfte im Nahen Osten beheimatet gewesen sein.

Was jedoch jeden Zweifel ausräumt, ist eine schwarze Tätowierung auf seinem Oberarm. Es handelt sich um das Fahnensymbol des IS, des Islamischen Staates. Darunter der islamische Halbmond mit dem Spruch ›Tod allen Ungläubigen‹. Die Tätowierungen wurden dem Toten schon vor längerer Zeit noch als Lebendem eingraviert. Damit bin ich mir nahezu sicher, dass am Seehotel Leoni ein islamistischer Terrorist ausgespuckt wurde.«

Beide Kommissare waren sprachlos. Obermeier fand als erster wieder Worte.

»Liebe Frau Berger, Sie haben uns ja schon manches Mal überrascht. Aber jetzt bin ich fast euphorisch über Ihre ersten Ergebnisse. Präsentieren Sie uns doch einen ausgewachsenen Terroristen wie auf dem Silbertablett.«

»Seien Sie lieber nicht so voreilig, Herr Obermeier. Ich glaube nämlich, dass erst die Identifizierung des Ermordeten Licht in den Fall bringt. Und dazu gehört der fehlende Kopf.«

Obermeier war nachdenklich geworden. »Natürlich haben Sie recht, Frau Berger. Aber trotzdem ist Ihnen ein Überraschungscoup gelungen.«

»Und der dürfte unseren Ermittlungen eine substantielle Basis geben. Ob mit oder notfalls auch ohne Kopf«, schob Oberkommissar Wastl nach.

»Es ist immer gut, einen Fall mit Optimismus anzugehen. Auch haben wir ja noch die Obduktion vor uns, von der ich mir weitere Erkenntnisse verspreche. Sehen wir uns also morgen um zehn Uhr in der Gerichtsmedizin«, verabschiedete sich Frau Berger.

Kaum im Hauptkommissariat angelangt, steckte sich Obermeier eine Zigarette an, inhalierte tief und versank in seinem ledernen Bürosessel.

»Willst du auch eine?«, fragte er den befreundeten Kollegen.

Wastl schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, Horst, was das Rauchverbot nicht geschafft hatte, hat meine Ernie durchgesetzt, schon wegen der Kinder. Heute wundere ich mich selber, warum ich jemals geraucht habe.«

»Ist schon okay«, schmunzelte Obermeier. »Solange du meine Raucherei tolerierst, werde ich deine Abstinenz ebenfalls tolerieren. Und da meine Frau ebenfalls raucht, habe ich zu Hause keine Probleme.

Außerdem weißt du selber, wie bei der Volksabstimmung das Rauchverbot in Bayern zustande kam. Etwa dreißig Prozent der Menschen haben sich an der Volksabstimmung beteiligt, und davon hat eine knappe Mehrheit für das Rauchverbot gestimmt. Wahrlich eine demokratische Meisterleistung. Aber lassen wir das. Konzentrieren wir uns auf das weitere Vorgehen. Was schlägst du vor, Dieter?«

»Wir sollten den Hinweis auf den islamistischen Terroristen in den Mittelpunkt der ersten Recherche stellen. Ein Besuch der Soleiman-Moschee in München wird zeigen, ob in der Terroristenszene einer der radikalen Salafisten vermisst wird. Dabei sollten wir das Wort ›Terrorist‹ tunlichst außen vor lassen. Sonst machen die sofort alle Schotten dicht.«

»Schade, dass unsere Kollegin Hertelt Urlaub hat, sonst würde ich sie nach München schicken. Da würde sie bestimmt etwas über die Gleichberechtigung der Frau unter Muslimen kennenlernen. Wir könnten natürlich einen Kollegen der Münchner Kripo um Aushilfe bitten.«

»Das würde ich im jetzigen Stadium der Ermittlungen nicht tun«, meinte sein Freund Wastl und schaute auf die Uhr. »Wenn du willst, fahre ich nach München. Dann kannst du den Termin am Hotel Leoni wahrnehmen. In einer Stunde wird die Wasserschutzpolizei dort ihre Arbeit aufnehmen.«

»Einverstanden, Dieter. Ich zum See und du zur Moschee. Komm mir bloß nicht als Konvertierter zurück«, scherzte er.

2

Als der Haupkommissar am Seehotel ankam, machten sich zwei Taucher gerade bereit, ins Wasser zu gleiten. In ihren schwarzen Neoprenanzügen, mit Maske und Sauerstoffflaschen auf dem Rücken, boten sie ein unnatürliches Bild am sonst so friedlichen Seehotel.

Während die untere Terrasse weiträumig mit gelbem Absperrband abgetrennt war, drängten sich auf der höher gelegenen Terrasse dahinter die Hotelgäste. Die Balkone zur Seeseite waren ebenfalls voller Menschen.

Der Schock vom Morgen war der Sensationsgier gewichen. Diese Liveshow wollte keiner verpassen. Bei Kaffee und Kuchen wurden munter Spekulationen ausgetauscht.

Es hatte sich längst herumgesprochen, dass die Taucher auf der Suche nach dem fehlenden Kopf der Leiche waren. Das versprach eine schaurig schöne Vorstellung mit dazugehörigem Nervenkitzel. Diesmal alles im Hotelpreis inbegriffen.

Obermeier entdeckte die Hoteldirektorin direkt am Seewall im Gespräch mit der Wasserschutzpolizei. Er ging auf die beiden zu und begrüßte Hauptkommissar Ferdinand Gustl mit festem Händedruck.

»Hallo Ferdi, haben uns lange nicht gesehen und jetzt ausgerechnet zu solchem Anlass.«

»Den können wir uns leider nicht aussuchen«, entgegnete der bullige, etwa fünfzigjährige Kollege. »Leichen finden und bergen wir immer wieder mal. Aber ausgerechnet einen abgetrennten Kopf, das ist ja etwas ganz Neues für uns.«

»Für uns auch, Ferdi, kannst du mir glauben. Dann gib deinen Tauchern mal das Startsignal.«

Die Taucher hatten starke Unterwasserleuchten zur Verbesserung der Sicht. Der See lag ausgesprochen ruhig und malerisch vor dem Alpenpanorama in weiter Ferne.

Das Schutzboot der Wasserpolizei schaukelte leicht nach dem Absprung der Taucher. An dieser Stelle, etwa zwanzig Meter vom Ufer, betrug die Wassertiefe bereits gute zehn Meter und der Seeboden verlief Richtung Seemitte steil nach unten.

Dies war auch der Grund für die Errichtung der Anlegestelle der Fahrgastschiffe direkt am Seewall des Hotels. Den durch den gewaltigen Wellenschlag beim An- und Ablegen der Schiffe entstehenden Druck auf den Seewall hatten die Verantwortlichen wohl unterschätzt. Erst der makabre Leichenfund aufgrund der Unterspülung des Seewalls und die Gefährdung der Hotelgäste würden den Verantwortlichen der Bayrischen Seen- und Schifffahrtsgesellschaft wohl ein Handlungsgebot auferlegen.

Schnell waren beide Taucher am Seewall angelangt, was in dem hier noch etwa vier Meter tiefen Wasser durch den Lichtstrahl der Lampen und die aufsteigenden Luftbläschen vom Ufer aus gut zu sehen war. Fünfzehn Minuten später hatten sie den Ort der Unterspülung gefunden. Nach eingehender Untersuchung kamen sie nach oben.

»Gefunden haben wir noch nichts. Unter dem Seewall hat sich im Brackwasser eine starke Absackung des Seegrundes von einem Meter gebildet, durch die das Wasser nach innen unter die Seeterrasse gedrückt wird. Es ist eine regelrechte Aushöhlung entstanden, die vermutlich zum Einbruch des Terrassenbodens führte.

Man sieht jede Menge Terrassenplatten im See liegen. Um die wegzuräumen, müssten wir weiter in die Aushöhlung tauchen. Es wäre fatal, würde der Betonwall einbrechen, wenn wir uns dahinter befinden. Was sollen wir machen?!«

Der Taucher hatte zum Sprechen seine Sauerstoffmaske abgenommen und wartete auf neue Befehle. Der zweite Taucher meldete sich zu Wort.

»Aber wenn der Josef vor dem Seewall in Position bleibt, riskier ich das Vordringen in die Höhle. Sollte tatsächlich der Seewall hinter mir absacken, dann komme ich durch das Terrassenloch nach oben, wie die kopflose Leiche. Ich sehe da kein Problem.«

Nach kurzer Beratung mit dem Bootsführer gab Hauptkommissar Gustl sein Einverständnis, und die Taucher machten sich wieder an die Arbeit. Kurz darauf trübte sich das Wasser am Seewall stark ein, als ein Taucher die versunkenen Terrassenplatten durch die Höhle unter der Betonwand in den See schob. Nachdem offensichtlich alle Platten herausbefördert waren, kamen beide Taucher wieder an die Oberfläche.

»Gefunden haben wir noch nichts. Wir tauchen gleich wieder runter, wenn das Wasser etwas klarer ist.«

Hauptkommissar Obermeier schaute enttäuscht, hatte aber die Hoffnung nicht aufgegeben.

Endlich war das Wasser wieder klar, und die Taucher gingen runter. So verging fast eine halbe Stunde, bis beide wieder auftauchten.

»Tut uns leid, Herr Gustl, aber wir haben nichts gefunden, obwohl wir jede Ecke und Vertiefung abgesucht haben. An dieser Stelle werden wir keinen Kopf finden, weil definitiv nichts zu finden ist.«

Achselzuckend gab Hauptkommissar Gustl das Zeichen zum Abbruch der Aktion.

Hauptkommissar Obermeier schaute auf seine Uhr. Es war fünfzehn Uhr dreißg, als die Wasserschutzpolizei ihre Aktion als erfolglos einstellte. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Kopf gefunden worden wäre. Jetzt mussten sie über die Dörfer gehen. Die Identifizierung würde, wenn überhaupt, ein langwieriger Weg. Ergebnis offen.

Immerhin war zumindest ein wichtiges Detail gefunden. Die Zugehörigkeit der Leiche führte in die islamistische Szene, wo Kollege Wastl zu eruieren versuchte. Gegen siebzehn Uhr würde er wohl wieder zurück sein.

Obermeier hatte seinen Wagen, einen Audi Q5, erreicht und wollte einsteigen, als ihn die Hoteldirektorin noch erwischte.

»Entschuldigung, Herr Obermeier, aber ich möchte gern wissen, wie es jetzt weitergeht. Sind Ihre Ermittlungen hier abgeschlossen, und vor allem, kann ich das Loch in der Terrasse zufüllen lassen?!«

»Gut, dass Sie mich ansprechen, Frau Bergthaler. Ich muss gestehen, ich habe Sie ein wenig vergessen. Spätestens vom Büro aus hätte ich mich gemeldet. Tatsächlich sind wir hier fertig. Die Leiche wurde geborgen, wenn auch die Suche nach dem Kopf vergeblich war. Eine Vernehmung Ihrer Hotelgäste haben wir verworfen, da der Mord aufgrund der bereits durchgeführten Obduktion vor etwa einer Woche geschehen sein muss. Damit scheidet Ihr Hotel als Tatort aus. Ein reiner Zufall, dass hier der Fundort der Leiche ist. Ich will aber nicht ausschließen, dass möglicherweise aufgrund neuer Erkenntnisse der eine oder andere Ihrer Mitarbeiter näher befragt wird. Und natürlich können Sie das Loch in der Terrasse verfüllen lassen.«

»Was mache ich mit der Absperrung, Herr Obermeier. Sie nimmt mir einen Teil der Terrasse für meine Gäste weg.«

»Sobald das Loch zugeschüttet wurde, rufen Sie mich an, und ich lasse die Absperrung aufheben. Ist das in Ordnung Frau Bergthaler?«

»Damit kann ich leben. Noch morgen lasse ich den Betonwagen kommen. Dann hat die Aufregung für unsere Gäste ein Ende. Und hoffentlich finden Sie den Mörder!«

»Wir werden uns wie immer alle Mühe geben, Frau Bergthaler. Jetzt muss ich aber los.«

Er verabschiedete sich und stieg ins Fahrzeug. In gut dreißig Minuten würde er das Kommissariat erreichen. Irgendwie war er gespannt auf seinen Kollegen. Ob der etwas erfahren konnte?!

Auf der Rückfahrt konzentrierten sich seine Gedanken immer wieder auf die erste Spur, die verräterischen Tätowierungen auf dem Oberarm des Toten. Dieser Hinweis führte offensichtlich direkt in die islamistische Terrorszene.

›Eine Szene, die offensichtlich unter den Augen der deutschen Regierungsverantwortlichen entstanden ist‹, dachte Obermeier wütend. ›Und das, obwohl immer wieder deutliche Hinweise und Warnungen aus Polizeikreisen an die Regierenden und Medien ergangen waren.‹

Noch immer erschütterte ihn der Mord an einem jungen deutschen Priester in Istanbul, der vor zwei Jahren mit der Verteilung von Bibeln eine zaghafte christliche Mission im moslemischen Staat Türkei beginnen wollte. Er wurde auf offener Straße grausam abgeschlachtet. Seine Mörder wurden nie entdeckt.

Dagegen wurde in den über fünftausend Moscheen in Deutschland eine aggressive Missionsarbeit betrieben, die ganz normale junge Deutsche durch Gehirnwäsche zu fanatischen Terroristen umpolte. Mehrere Hundert von ihnen waren bereits in den heiligen Krieg aufgebrochen und kämpften und starben für den IS, den heiligen Staat des Kalifen Abu Bakre al Baghdadi.

Horst Obermeier empfand einen gesunden Stolz auf seine deutsche Nationalität. Das Herumgeeiere, auch von Kollegen, wegen einer sogenannten Erbschuld, war ihm zuwider. Er war 38 Jahre alt und fühlte sich für die Verbrechen von früheren Generationen nicht verantwortlich. Für persönliche Schuld hatten der oder die Täter zu büßen und nicht das ganze Volk.

Deshalb hielt er es auch für falsch, den Türken der Gegenwart eine Schuld am Genozid an den Armeniern im ersten Weltkrieg vorzuwerfen. Für ihn gab es keine Kollektivschuld, weder die der Amerikaner an der Ausrottung der indianischen Ureinwohner noch der Spanier an den Azteken. Es zählt grundsätzlich nur die persönliche Schuld der Beteiligten und ihrer Auftraggeber. Und das gilt auch für den IS und seine Kämpfer. Er hielt es für absurd, für deren Gräueltaten die gesamte islamische Welt in kollektive Verantwortung zu nehmen.

Allerdings, so sinnierte Obermeier weiter, wäre da noch die Verantwortung der Waffenproduzenten und Händler, der sogenannten merchants of death.

Er hatte sogar von Hinweisen kritischer Journalisten gelesen, wonach der sogenannte Arabische Frühling nur unter dem Aspekt angezettelt wurde, das Waffengeschäft wieder anzukurbeln. Hunderttausende Opfer im Irak, in Syrien oder Libyen spielten dabei keine Rolle. Es waren nur Kollateralschäden, die als verloren gegangene menschliche Mittel lediglich dem Zweck der Produktionssteigerung tödlicher Waffen dienten.

Horst Obermeier schauderte es beim Gedanken an die schöne neue Welt, in der er lebte und in die vor allem seine Kinder voll hineinwuchsen. Sollte George Orwell mit seinem Roman »1984« wirklich recht behalten? Die sich verändernde Sprache durch das Neusprech und der Beginn einer allgemeinen elektronischen Überwachung per Satelliten und Internet waren bereits in jeden Haushalt vorgedrungen.

Obermeier seufzte. ›Wieso, zum Teufel, steigt dann die Kriminalitätsrate jedes Jahr? Weil eben die Überwachung der einzelnen Individuen noch nicht lückenlos ist‹, gab er sich selbst die Antwort.

Zum Glück brauchte er auf diesen Widerspruch keine Antwort mehr zu finden. Er fuhr auf den Mitarbeiterparkplatz hinter dem Präsidium und nahm den Aufzug in den dritten Stock.

Kollege Wastl saß in dem Gemeinschaftsbüro schon am Schreibtisch und trank frisch gebrühten Kaffee. Seit drei Monaten hatte das Gepantsche mit Fertigkaffee aufgehört. Die Stadt hatte für ihre Abteilungen einen Mietvertrag mit Darboven abgeschlossen, der Kaffeeautomaten der neuesten Generation einschließlich ungemahlener Kaffeebohnen lieferte. Jeder Kaffeetrinker der einzelnen Abteilungen fand seitdem eine Kaffeestation vor, aus der er frisch gemahlenen und gerösteten Kaffee nach seinem persönlichen Geschmack auswählen konnte.

Der Hauptkommissar nahm einen großen Porzellanpott aus seinem Schrank, kehrte nach zwei Minuten mit dem dampfenden Getränk zurück und ließ sich aufatmend in seinen Schreibtischsessel nieder.

Wastl schaute ihn gespannt an.

»Nun erzähl schon. Seid ihr fündig geworden?«

Sein Freund Obermeier schüttelte bedauernd den Kopf.

»Außer Spesen nichts gewesen. Die Taucher haben sich alle Mühe gegeben. Aber in dem Loch unter der Terrasse und der näheren Umgebung war nichts zu finden. Und den ganzen See abzusuchen ist unmöglich. Hier kann uns höchstens noch der Zufall zur Hilfe kommen. Wir müssen sogar in Betracht ziehen, dass der Täter den Kopf ganz woanders entsorgt hat. Das heißt im Prinzip, dass unser Opfer auch ohne Kopf zu identifizieren ist. Was hat denn dein Besuch in München ergeben?«

»Leider auch nichts, Horst. Ich hatte sogar Mühe, in die Moschee überhaupt reinzukommen. Im Schatten des Eingangsportals hockte wie im Orient ein älterer Mann, der mich freundlich, aber bestimmt darauf aufmerksam machte, dass nur gläubige Moslems jederzeit Zutritt in die Moschee hätten. Ob ich ein solcher sei? Als ich dies verneinte, zuckte er bedauernd die Schultern.

Ich habe ihm daraufhin meinen Dienstausweis gezeigt und nach dem Verantwortlichen gefragt. Es dauerte einige Zeit, bis er mit dem Imam der Moschee zurückkam. Dieser mittelgroße Bartträger, in eine Dschellabah mit Turban auf dem Kopf Gekleidete bat mich in einen Nebenraum des Gebäudes, nachdem ich zuvor meine Schuhe gegen ein Paar Babuschen auswechseln musste. Sein Büro war übrigens westlich möbliert, und ich durfte auf einem Stuhl Platz nehmen. Als ich ihn allerdings um Mithilfe bei der Identifizierung der kopflosen Leiche bat, mauerte er sofort und verweigerte jede Mithilfe.«

»Hattest du den Eindruck, dass dieser Imam schon irgendwas von einem verschwundenen Gemeindemitglied wusste?«, unterbrach sein Kollege.

»Das ist schwer zu sagen, Horst, aber ausschließen möchte ich das nicht. Zumindest seine heftige Abwehrreaktion könnte darauf schließen lassen. Ich hatte ihm nämlich gewissermaßen als Reaktionskontrolle die vergrößerten Aufnahmen Dr. Bergers auf den Schreibtisch gelegt. Und zwar bewusst so, dass er die tätowierten Sätze auf dem Oberarm lesen musste.

Vermutlich gefiel ihm der Bezug auf eine terroristische Organisation ganz und gar nicht. Vielleicht sogar, weil es dort tatsächlich eine gibt. Denn soviel ich weiß, unterliegt die Moschee wegen Verdachts auf salafistische Umtriebe in der Terrorszene der Beobachtung des bayrischen Staatsschutzes. Mit dem sollten wir ohnehin Verbindung aufnehmen, wenn wir mit den eigenen Ermittlungen nicht weiterkommen.«

»Damit wollen wir noch warten, bis wir wirklich erfolglos geblieben sind oder nicht«, warf Obermeier ein. »Hast du sonst etwas erreichen können?«

»Ob du es glaubst oder nicht, dieser Obergläubige wurde regelrecht wütend, als ich ihn bat, sich die Fotos noch einmal anzusehen. Er verweigerte nicht nur rundweg eine Zusammenarbeit, sondern forderte mich auf, die Moschee umgehend zu verlassen. Schließlich wäre ich als Kripobeamter aus Starnberg in München überhaupt nicht zuständig, ich solle auf der Stelle verschwinden.

Ich habe ihm daraufhin mit der Münchner Staatsanwaltschaft, dem Staatsschutz, den Münchner Kollegen von der Kripo und der Information der Presse gedroht.

Das hat ihn wohl zur Besinnung gebracht, auf jeden Fall versicherte er plötzlich seine uneingeschränkte Kooperation. Er schaute sich nachhaltig die Fotos des Ermordeten an.

Ich fragte ihn, ob ihm solche Tätowierungen bei seinen oder anderen Gemeindemitgliedern schon einmal begegnet seien. Er verneinte dies mit dem Hinweis, dass die Besucher der Moschee vollständig bekleidet seien und er von daher schon keine adäquaten Beobachtungen machen konnte. Im Übrigen äußerte er seine Überzeugung, dass es im Umfeld der Münchner Moschee mit Sicherheit keine terroristischen Aktivitäten gäbe. Man arbeite voll auf der Basis des deutschen Grundgesetzes und so weiter und so weiter. Aber bei Vorlage eines Fotos mit Kopf, könne er sicher bei der Identifizierung weiterhelfen. Also hängt alles vom Finden des Kopfes ab. Hat Frau Berger noch etwas in ihrem Obduktionsbericht erwähnt?«

»Der liegt noch nicht vor. Wir werden bis morgen warten müssen. Machen wir für heute Schluss. Ich muss heute Abend noch zum Boxen. Mein Ältester hat seinen ersten Kampf, und den will ich nicht verpassen. Eigentlich wollte Ernie auch mit, aber wir haben für die beiden Kleinen keinen Babysitter gefunden. Ihre Eltern sind im Urlaub, und meine Eltern wohnen bekanntlich auf Rügen. Dort haben sie sich abseits aller Hektik vor vier Jahren eine ältere Fischerkate am Bodden gekauft. Zu Familienfeiern kommen sie immer nach München. Dafür verbringen wir auf Rügen gemeinsame Sommerferien am Ostseestrand. Die frische Luft und stressfreie Umgebung auf Rügen kann ich dir nur empfehlen, Dieter.«

Der winkte ab.

»Dann müsstest du erst meine Gundi überzeugen. Die ist überzeugte Münchnerin und bleibt auch in den Ferien am liebsten in München beziehungsweise am Starnberger See, wohin wir mit den Kindern täglich zum Schwimmen und Segeln fahren.«

Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen fanden sich die beiden Kommissare in der Pathologie ein.

Das Institut befand sich wie üblich im Tiefgeschoss des St. Peter-Hospitals. Dieses katholische Krankenhaus am Stadtrand war eines der wenigen Häuser, das den Übernahmeverlockungen der privaten Betreiberkonzerne widerstanden hatte. Es schrieb sogar schwarze Zahlen, die bei den meisten städtischen Krankenhäusern in ihren Bilanzen tiefrot aussahen. Ein Verkauf, der oft nur für einen symbolischen Betrag von einem Euro erfolgte, hatte viele Kommunen von ihren defizitären Krankenhäusern befreit. Anschließend blühten die angeblich wirtschaftlich so maroden Betriebe wundersamerweise wieder auf, und die städtischen Kämmerer rieben sich verdutzt die Augen.

Insgesamt erinnerten manche Verkäufe an die abstrusen Verkäufe der Treuhand beim Ausverkauf der früheren DDR nach der Wende. Hinzu kommt, dass Stadtdirektoren und Kämmerer nicht alle bilanzsicher sind. Da wird die AfA – Absetzung für Abnutzung – oft mit Verlusten des Krankenhausbetriebes verwechselt, obwohl es sich um virtuelle steuerliche Abschreibungsverluste handelt.

Als Obermeier und Wastl im Kellergeschoss den Aufzug verließen, hatten sie sich bereits Pimentol in die Nase gerieben, um den Gestank der zu obduzierenden Wasserleiche unbeschadet zu überstehen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Man musste ja nicht immer den Helden spielen.

Sie wurden in dem kühlen Sezierraum freundlich von Frau Dr. Berger begrüßt, die ihnen den noch relativ jungen etwas pausbäckigen Assistenten Alfons Dressler vorstellte. Sie erfuhren, dass er als Arzt im Praktikum sein letztes Jahr in der Gerichtsmedizin absolvierte. Er strebte seine Approbation zum Pathologen an. Frau Berger hielt ihn für äußerst fähig.

Alfons Dressler hatte den Instrumentenwagen bereits neben den Untersuchungstisch gefahren. Auf dem Edelstahltisch lag der kopflose Leichnam des Ermordeten. Er war noch bekleidet.

Die beiden Pathologen trugen ihre weiße Schutzkleidung mit Mundschutz und Latexhandschuhen. Behutsam begannen sie, den Toten zu entkleiden. Dies war nicht ganz einfach, da der Tote stark aufgedunsen war und sich die nassen Kleidungsstücke am Körper zusammengezogen hatten. Mit einer chirurgischen Schere begann der Assistent, die Kleidung aufzuschneiden, um sie anschließend Stück für Stück vom Körper zu ziehen. Schließlich lagen T-Shirt und Jeans auf einem sauberen Beistelltisch. Die Kleidungsstücke waren abgetragen, aber nicht verwahrlost. Unterwäsche trug das Opfer nicht.

Frau Berger leuchtete mit der bereitliegenden UV-Lampe die Kleidung ab. Mehrmals leuchtete das ultraviolette Licht auf, wenn es auf Blutrückstände traf, was insbesondere das Oberteil des T-Shirts betraf.

Dann leuchtete sie mit dem Licht die Hautoberfläche der Leiche ab und stieß ebenfalls auf eingetrocknete Blutflecken, die vom Seewasser nicht abgewaschen worden waren. Die Pathologin nahm mehrere Blutproben von der Kleidung und der bläulich aufgedunsenen Haut. Später würde im gerichtsmedizinischen Labor untersucht, ob die Blutproben grundsätzlich Eigenblut des Opfers oder auch Blutreste fremder Personen beinhalten würden. Ein möglicherweise entscheidender Hinweis auf den oder die Täter.

Die Pathologin hatte einen Chirurgenkittel angezogen und begann gemeinsam mit ihrem Assistenten das Vermessen und Fotografieren der Leiche.

Im Schulterbereich fanden sich ausgeprägte Hämatome, als wäre der Tote vor dem Ableben von mehreren Leuten festgehalten worden. Auch waren deutliche Fesselungsspuren von Kabelbindern an den Oberarmen, Handgelenken und Fußgelenken zu erkennen. Auf der Brustpartie fehlten größere Hautfetzen, deren Fehlen auch durch Hindernisse im Wasser verursacht sein konnten.

»Können Sie schon einen Todeszeitpunkt feststellen?«, fragte Hauptkommissar Obermeier mit leichter Ungeduld.

»Sie müssen sich noch etwas gedulden«, antwortete die Ärztin, während sie sich die Fingernägel vornahm, Schmutzreste darunter entfernte und in einem Plastiktütchen versenkte.

»Herr Dressler, schauen Sie mal die Finger der Hände an. Was fällt Ihnen auf?«

Dressler wurde blass, als er die Finger in ihren Gelenken bewegte.

»Mein Gott, sämtliche Finger sind gebrochen. Deshalb sind sie auch so gekrümmt. Der Tote konnte seine Finger nicht mehr bewegen.«

Nun starrten auch die Kommissare auf die Finger.

»Ich hatte gedacht, dass Opfer habe sich bis zuletzt an etwas festgehalten. Aber mit gebrochenen Fingergelenken konnte er sich nicht mehr festhalten. Ich denke mal, das Opfer wurde vor seinem Tod aufs schwerste gefoltert.«

»Da haben Sie völlig recht, Herr Wastl«, bestätigte die Ärztin. »Denn ich habe noch weitere Folterspuren entdeckt. Unter die Fingernägel wurde kleine Holzspitzen getrieben. Eine Foltermethode, die übrigens aus dem alten China stammen soll und bei den Tiraden auch heute noch sehr beliebt ist.«

Frau Berger fuhr mit der Ganzkörperuntersuchung als Teil der äußeren Obduktion gewissenhaft fort. Es war beim Abtasten des Skrotums, als sie geschockt hochfuhr.

»Das ist doch nicht möglich. Im Skrotum fehlen die Hoden des Mannes. Und da ich keine Operationsnarben finden kann, bleibt nur eine Ursache. Die Hoden des Mannes wurden im Hodensack durch äußere Gewalteinwirkung zu Brei zermahlen. Eine kaum vorstellbare Qual für das Opfer.«

Jetzt war auch der ansonsten hartgesottene Obermeier blass geworden.

»Wollen Sie damit sagen, dass der Mann die Tortur bei lebendigem Leibe ertragen musste? Das wäre ja wohl das Grausamste, was Menschen einander antun können.«

»Und trotzdem kommt es immer wieder vor, wie zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg, wo diese Tortur in den Folterkammern der Faschisten wie auch denen der Kommunisten zur Erzwingung von Geständnissen angewandt wurde. Sie stammt aus dem islamischen Raum, wo Jugendliche vor der Pubertät das Zermahlen ihrer Hoden erdulden mussten, um im Harem des Kalifen das Amt eines Eunuchen zu übernehmen. Manche Jugendlichen haben vor Schmerzen den Verstand verloren und sich aus dem Fenster in den Tod gestürzt – so laut nachprüfbarer Überlieferungen.«

»Dann möchte ich glauben, dass der Tote sein Ende regelrecht herbeigesehnt hat«, meinte Hauptkommissar Wastl.«

»Damit dürften Sie recht haben«, erwiderte Frau Berger. »Ich beginne jetzt mit der inneren Obduktion und leite den üblichen Y-Schnitt ein.«

Die Pathologin hatte ihr Diktiergerät wieder eingeschaltet und ein Skalpell ergriffen. Unterhalb des rechten Schlüsselbeins durchtrennte sie vorsichtig die Haut bis zur Brustbeinmitte und setzte den Schnitt bis zum unteren Ende des Brustbeins fort. Auf der linken Brustseite verfuhr sie ebenso, wobei sich die Haut unter dem Skalpell auseinanderfaltete.

Dann setzte sie den Schnitt um den Bauchnabel bis zum Schambein fort und legte die großen Organe frei. Alfons Dressler legte diese auf die Organwaage. Die Gewichte wurden ins Mikro diktiert. Weitere Gewebeproben wurden in bruchfesten Gefäßen und Reagenzgläsern gelagert.

Die Leiche wurde herumgedreht, nachdem aus dem Magen eine Inhaltsprobe unter infernalisch stinkenden Gasdämpfen entnommen und sichergestellt worden war.

»Nach dem Stand der Verdauungsreste hat der Tote vor etwa fünf Tagen seine letzte Mahlzeit eingenommen«, diktierte Frau Berger. »Die violetten Verfärbungen auf dem Rücken und die eingesetzte Verwesung deuten auf einen Tod vor etwa fünf bis sechs Tagen hin.

In sechs bis zwölf Stunden ist die Leichenstarre normalerweise vollendet. Im Wasser gilt dies nur begrenzt, da sich die Starre wieder löst und das kalte Wasser eine gewisse Konservierung mit sich bringt. Leichenflecken bleiben jedoch bestehen. Also ist der junge Mann vor maximal fünf bis sechs Tagen gestorben. Genauer geht es leider nicht.«

Die beiden Kommissare hatten genug gehört. Der Rest würde ihnen im schriftlichen Obduktionsbericht nachgereicht. Jetzt konnten sie mit ihren Ermittlungen beginnen. Sie bedankten sich bei Dr. Berger und ihrem Assistenten und hatten es eilig, in ihr Kommissariat zu kommen.

Als Oberkommissar Wastl am nächsten Morgen das Büro betrat, fand er seinen Freund und Kollegen in den Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin vertieft.

»Haben sich neue Erkenntnisse ergeben über unseren unbekannten Toten?«

»Nicht allzu viel. Die Analyse des Knochensystems belegt eine Körpergröße von etwa 180 cm. Das Alter bestimmt Dr. Berger auf etwa zwanzig Jahre, plus beziehungsweise minus zehn Prozent. Der Tod ist vor vier bis fünf Tagen eingetreten.

Das Labor hat festgestellt, dass die Blutspuren auf der Kleidung ausschließlich Eigenblut sind. Und Kollege Dörr vom Erkennungsdienst hat vor fünf Minuten angerufen, dass die Fingerabdrücke der Leiche in keiner Datenkartei enthalten sind. Auch nicht in der Zentralkartei des BKA in Wiesbaden.«

»Und was ist mit der Kleidung? Jeans und T-Shirt?«

»Kannst du vergessen, Dieter. Handelt sich um Allerweltsware, vermutlich aus China. Als Spur deshalb unbrauchbar. Wir haben tatsächlich nur die kopflose Leiche, und die wird ohne Kopf keiner identifizieren können.« Ärgerlich schlug Obermeier den Aktendeckel zu. »Es sieht so aus, dass wir wieder mal die Arschkarte gezogen haben.«

»Das sehe ich nicht ganz so, Horst. Wir haben immerhin den unübersehbaren Hinweis auf die islamistische Terrorszene. Und da müssen wir ansetzen.«

»Sehe ich vom Prinzip genauso, aber wo sollen wir dort eruieren, wenn täglich zehntausende Illegale ohne Registrierung über unsere Grenzen kommen? Wie viel IS–Terroristen sich darunter befinden, lässt sich allenfalls schätzen. Danach dürften täglich zwischen mehreren Dutzend und mehreren Hundert der gefährlichsten Terroristen der Welt in Deutschland einreisen. Wie wollen wir ausschließen, ob unserer nicht dazu gehört hat. Dann werden wir ihn nie identifizieren können. In dem Fall wird die Leiche als Karteileiche enden.«

»Bis dahin kann ich dir folgen, Horst. Aber wir suchen auch nach dem Täter oder auch nach mehreren. Und dazu müssten wir das Motiv finden, das dem Mord zugrunde liegt. Und da sollten wir auch ansetzen, zumal es sich um einen äußerst brutalen und für unsere Breiten auch ungewöhnlichen Mord handelt. Von den grausamen Folterungen ganz abgesehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Täter ebenso wie ihr Opfer in den salafistischen, dem IS nahestehenden Terrororganisationen zu suchen sind.«

»Da liegt der Schlüssel, Dieter. Aber die Frage ist, wie weit können unsere Ermittlungen dort eindringen. Ich schätze, wir müssen den Staatsschutz einbeziehen. Vielleicht haben die einen V-Mann in der Szene.«

Es klopfte, und noch bevor die Kommissare »Herein!« rufen konnten, trat ihre Chefin, Kriminalrätin Halhuber, mit einem freundlichen »Grüß Gott!« ins Zimmer.

»Ich störe nur ungern eure Diskussion, liebe Kollegen, aber soeben erreicht mich ein Anruf der Staatsanwaltschaft München. Dort soll sich gestern in der Soleiman-Moschee Kollege Wastl unter fadenscheinigen Gründen eingeschlichen haben und den dortigen Imam unter Androhung polizeilicher Maßnahmen zu Aussagen über einen Mordfall veranlasst haben.«

Fragend schaute die fünfundvierzigjährige, etwas mollige Kriminalbeamtin zu Oberkommissar Wastl. Wie immer, wenn ihr etwas ungelegen kam, nahm sie ihre modische Brille ab und begann diese umständlich zu putzen, nachdem sie die Gläser angehaucht hatte.