Mostschlinge - Helmut Scharner - E-Book

Mostschlinge E-Book

Helmut Scharner

4,6

Beschreibung

Mostviertel, Niederösterreich: Im Fitnessstudio des Schlosshotels Waidhofen wird eine Frau erdrosselt aufgefunden. Ähnlichkeiten zu Fällen in Wien lassen auf einen Serienmörder schließen. Schon bald hat Kommissar Brandner mit dem vorbestraften Mechaniker Bernd Slawitschek einen Hauptverdächtigen. Doch die Ermordete war eine Angestellte des Sportschuhherstellers Schuster. Schon vor einem Jahr hatte Brandner in Mordfällen rund um die Unternehmerfamilie Schuster ermittelt. Auch diesmal trifft er auf die damaligen Verdächtigen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 414

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (16 Bewertungen)
10
5
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helmut Scharner

Mostschlinge

Kriminalroman

Zum Buch

Weil sie zu viel wussten Waidhofen an der Ybbs, April 2014. Juliana hegt Rachegedanken gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber Sportschuhhersteller Schuster. Sie erhebt schwere Vorwürfe und will damit an die Öffentlichkeit. Julianas Pläne werden jedoch durchkreuzt, als ihre Mitbewohnerin, die ebenfalls für die Schuster Schuhe GmbH arbeitet, erdrosselt im lokalen Fitnessstudio aufgefunden wird. Wegen ähnlicher Morde in Portugal, Wien und Waidhofen geht Kommissar Brandner zunächst von einem Serienmörder aus. Alles deutet auf den vorbestraften Mechaniker Bernd Slawitschek hin. Juliana hingegen verdächtigt Schuster und seinen chinesischen Unternehmenspartner Chan. Durch zwielichtige Methoden tritt der Schuhhersteller als Hauptsponsor für die Mannschaft aus Ghana bei der nächsten Fußballweltmeisterschaft auf. Musste Julianas Mitbewohnerin sterben, weil sie zu viel wusste? Brandner sieht sich plötzlich mit einem Netz aus Intrigen und Bestechungen im Profi-Fußball konfrontiert, das dem Fall eine völlig neue Wendung beschert.

Helmut Scharner wurde 1975 in Ybbsitz in Niederösterreich geboren, der heimlichen Schmiedehauptstadt Mitteleuropas. Er arbeitet als Sales Manager für den größten österreichischen Stahlkonzern. Beruflich wie privat reist er viel um die Welt, doch sein Dreh- und Angelpunkt ist das niederösterreichische Mostviertel, in dem er mit seiner Familie lebt. Helmut Scharner hat bereits mehrere erfolgreiche Kriminalromane geschrieben, die in seiner Heimat verankert sind. Er ist Mitglied der Autorenvereinigungen »Das Syndikat« und der österreichischen Krimiautoren.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dinkaspell / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5334-2

Widmung

Allen gewidmet, denen das Schicksal übel mitspielt

Kapitel 1

Wien, Donnerstag, 3. April 2014

Hans Mayer hastete die Treppen hoch und schloss die Eingangstür auf, kurz danach hatte er die Bestätigung: Ihr Küchenfenster an der gegenüberliegenden Straßenseite war hell erleuchtet.

Selbst im Dunkeln stehend, sah er durch sein Schlafzimmerfenster hinaus in die Nacht. Sie hatte Besuch, das konnte er mit freiem Auge erkennen. Seitlich neben ihm befand sich das Stativ mit dem Fernrohr. Wie jede Nacht schloss er sein linkes Auge, um mit dem anderen durch das Vergrößerungsglas zu schauen. Sogar die Fenster musste sie geputzt haben. Keine Fingerabdrücke oder Flecken auf der Scheibe störten seine Sicht.

Ihr Gast saß am Küchentisch. Hans schwenkte das Fernrohr leicht nach links. Zuerst fiel ihm die weiße Serviette mit den rot aufgedruckten Rentieren auf. Diese steckte im Hemdkragen des Mannes, wenige Zentimeter darüber hüpfte dessen Adamsapfel mehrmals auf und ab und zog so Hans’ Blick auf sich. Erst danach registrierte er den kahlen Kopf und den blonden Vollbart des Brillenträgers. Der legte nun Messer und Gabel neben den Teller und bekleckerte dabei das Tischtuch. Sie hatte also ihr berühmtes Rindsgulasch für ihren Verehrer gekocht. Die rotbraunen Flecken würde sie nur schwer wieder aus dem weißen Stoff herausbekommen.

Und sie hatte die Fenster geputzt. Hans konnte es nicht fassen.

Der Glatzkopf griff sich nun den Löffel und schaufelte das restliche Gulasch in seinen Mund. Am Oberlippenbart glaubte Hans sogar aus dieser Entfernung die Spuren der Flüssigkeit zu erkennen. Das Schmatzen hallte in seinen Ohren wider, natürlich wusste er, dass ihm seine Sinne dabei einen Streich spielten.

Nur der auf und ab hüpfende Adamsapfel war real. Und natürlich der fremde Mann in ihrer Wohnung. Dieser legte den Löffel beiseite, griff sich das Glas Rotwein und führte es an seine Lippen. Der Adamsapfel hüpfte zweimal auf und ab.

Aus der Ferne konnte Hans die verschmierten Ränder des Weinglases nicht erkennen, aber er malte sie sich umso genauer in Gedanken aus.

Endlich sah er auch Theresia. Natürlich hatte sie nicht nur gekocht und die Fenster geputzt. Nein, sie trug auch ein dunkelrotes, eng anliegendes Kleid, das Hans noch nie an ihr gesehen hatte. Auch einen Friseurbesuch konnte er nicht ausschließen. Ihre goldbraunen, lockigen Haare umrahmten perfekt das Gesicht. Sie war aufgestanden, ging an dem weiterhin sitzenden Mann vorbei und verschwand aus Hans’ Blickfeld, nur um Sekunden später wieder aufzutauchen und ihrem Gast eine Semmel zum Gulasch zu reichen. Danach setzte sie sich wahrscheinlich gegenüber ihres Gastes an den Küchentisch, ihren Platz hatte Hans auch zuvor schon nicht einsehen können.

Der Glatzkopf machte sich nun an der Kaisersemmel zu schaffen. Eine Ecke nach der anderen brach er ab, tunkte sie in das Gulasch und stopfte sie in seinen Mund. Gleichzeitig versuchte er, mit der Gastgeberin Konversation zu betreiben. Sein Mund war eindeutig mit Essen überfüllt, trotzdem redete der Mann, während er kaute, auf Theresia ein. Wild gestikulierend unterstützte er seine Worte, die wahrscheinlich sonst für sie kaum verständlich gewesen wären.

Gleich würde Theresia ihren Gast hinausbitten. So ein Benehmen war eindeutig unter dem Niveau seiner Schwester. Hans freute sich schon darauf, zu sehen, wie ihr Verehrer eine Abfuhr bekam. Sprechen mit vollem Mund, das konnte nicht gut gehen.

Theresia trat wieder in sein Blickfeld und servierte die Teller samt dem Besteck ab. Danach schenkte sie ihrem Gast noch Rotwein ein. Der sagte etwas. Sie lächelte, nickte kurz, ging zum Küchenfenster und zog den Vorhang zu.

Ungläubig wanderte Hans’ Blick nach unten in Richtung Eingangstür, minutenlang starrte er sie an – nun ohne das Fernrohr. Nichts rührte sich.

Kapitel 2

Sonntag, 6. April 2014

Rache, monatelang trieb der Gedanke an Vergeltung Juliana nun schon vorwärts. Aber er blockierte sie auch und verhinderte einen Neuanfang.

»Ich muss weg aus Waidhofen, das ist mir klar geworden.«

Julianas auf Lautsprecher geschaltetes Smartphone lag vor ihr auf dem Terrassentisch. Jetzt sah sie nur das Lichtermeer der Häuser, die entlang der Küste erbaut waren. Weiter entfernt dümpelten vereinzelt einige Schiffe. Am Tag hatte sie noch das blaue Meer bewundert. Die gar nicht so ausgebrannte braune Erde Andalusiens in Kombination mit Meditation und Yoga hatten ihr endlich die Augen geöffnet.

»Muss ich mir eine neue Mitbewohnerin suchen?«

Monika klang etwas außer Atem, ansonsten war sie deutlich zu verstehen.

»Ja«, bestätigte Juliana.

»Und das musst du mir am Telefon erzählen?«

»Ich konnte nicht länger warten.«

Der Kellner fragte Juliana in spanischer Sprache, ob sie noch einen Wunsch hätte. Sie schüttelte nur den Kopf. Er entfernte sich. Monika sagte nichts mehr.

»Nach allem, was mir in Waidhofen passiert ist. Die geplatzte Verlobung. Die Kündigung. Die Morde. Ich muss da einfach weg«, erklärte Juliana.

»Aber es ist auch deine Heimat!«

Juliana war gerührt, ihre Mitbewohnerin wollte sie offenbar nicht verlieren.

»Auch wenn ich wegziehe, werden wir uns noch sehen.«

»Ich kann dich also nicht umstimmen?«

»Nein.«

»Du fliegst aber morgen zurück, dabei bleibt es doch?«

»Ja, sicher.«

»Wenn du heimkommst, bin ich noch im Büro. Wir sehen uns am Abend und reden dann nochmals in Ruhe.«

Monika muss arbeiten. Sie muss ins Büro. Sie muss zu ihnen! Der Wunsch nach Rache war zurück. Juliana versuchte ihn zu verdrängen, wusste, sie musste damit ein für alle Mal abschließen.

»Gut, wir sehen uns also am Abend. Du kannst mich aber nicht umstimmen.«

»Ich versuche es trotzdem. Jetzt muss ich aber wieder trainieren. Bis morgen!«

Juliana beendete das Gespräch. Noch vor einem Jahr hatte sie Monika nur flüchtig gekannt. Innerhalb weniger Monate war sie aber zu ihrer besten Freundin aufgestiegen. Monika hatte ihr in der schweren Zeit geholfen. Doch nun musste Juliana weiterziehen, sie musste ihre neue beste Freundin zurücklassen. Monika würde sie auch in Zukunft an ihre Niederlage erinnern. Unvermeidbar wäre der Gedanke an Vergeltung. Solange sie Monika nicht aus ihrem Leben eliminierte, würden ihr auch Yoga und Meditation nicht helfen.

Kapitel 3

Montag, 7. April

Waidhofen an der Ybbs, Niederösterreich

Juliana befüllte die Waschmaschine mit ihrer Buntwäsche. In Andalusien hatte sie meist kräftige Farben bevorzugt. Gelb, Rot, Orange, aber auch Violett und Grün. Keine Schattierung des Regenbogens war vor ihr sicher gewesen. Obwohl das Geld zur Neige ging, hatte sie doch in Malaga und auch in Granada die eine oder andere Shoppingtour unternommen.

Das Waschpulver war in dem dafür vorgesehenem Fach, sie stellte den Drehknopf auf »Super 15«und drückte »Start«. Nur für die Bettwäsche, Handtücher und natürlich ihre Unterwäsche verwendete sie noch das lange Kochwaschprogramm, sonst wählte sie immer die kürzeste Alternative aus. In Wahrheit dauerte dieses Programm aber nicht die versprochenen 15 sondern doch an die 18 Minuten.

In einigen Stunden würde Monika nach Hause kommen. Drei Wochen hatten sie sich nicht gesehen. Juliana blickte sich um: Es war eine schöne Wohnung, die sie gemeinsam nutzten. Hellgraue Fliesen mit Fußbodenheizung im Vorraum und Bad, die restlichen Böden waren mit Parkett aus Buche ausgestattet, vor allem war die Wohnung aber durchflutet von Sonnenstrahlen. Und das schon um diese Jahreszeit.

Juliana seufzte. In ihrer alten Wohnung im Ortsteil Vogelsang wäre sie auch im Sommer nur als Nachtschattengewächs erblüht. Hier aber, Auf der Zell,war das Leben lebenswert – wäre da nicht die allgegenwärtige Vergangenheit.

Ich darf mich von Monika nicht umstimmen lassen. Ich muss hier weg.

Der Klingelton riss sie aus ihren Gedanken. Er ließ sie hochschrecken. Zu lange hatte sie ihn schon nicht mehr gehört. Wer konnte mitten am Tag etwas von einer der beiden Frauenwollen?Zu einer Zeit, zu der sie normalerweise nicht in ihrer Wohnung anzutreffen waren.

Juliana betätigte die Gegensprechanlage.

»Bundeskriminalamt, dürfen wir kurz hereinkommen?«

Sekunden später saßen Kommissar Brandner und Postenkommandant Reitbauer in der Wohnküche am Esstisch. Sie bekam weiche Knie und musste sich ebenso setzen.

Monika ist tot.Ermordet!

Hörte das nie mehr auf? Konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Jetzt saß ihr der vertraute Kommissar gegenüber, der sie erst vor einem Jahr zu einem anderen Mordfall befragt hatte. Damals hatten sie Sex und Arbeit mit dem Opfer verbunden. Mit Monika war es etwas anderes. Diese war ihre Mitbewohnerin gewesen. Vor allem war sie aber ihre Freundin. Monika war ihr deutlich mehr ans Herz gewachsen, als es Jakob Schuster je geschafft hatte.

»Sie sind also heute erst aus Spanien zurückgekehrt.«

Juliana schluckte.

»Mein Flug ist um 11 Uhr in Wien gelandet. Gegen 13 Uhr war ich dann zu Hause. Sie können das gerne überprüfen.«

Kommissar Brandner nickte, der deutlich jüngere und uniformierte Polizist Reitbauer notierte die Flugdaten. Auch er wirkte mitgenommen.

Natürlich, auch Sepp Reitbauer hat Monika gekannt, erinnerte sich Juliana.

»Hatte Frau Steiner irgendwelche Feinde? Hatte sie einen Freund, einen Geliebten? Können Sie sich vorstellen, wer sie umgebracht hat?«

Juliana schüttelte den Kopf. So viele Fragen und auf keine hatte sie eine Antwort.

»Gestern war noch alles in Ordnung. Wir haben telefoniert. Sie war im Fitnessstudio.« Juliana stockte. »Mein Gott! Kurz nach dem Telefonat mit mir muss es passiert sein.«

Ihre Hand landete automatisch vor ihrem Mund.

»Hat sie irgendetwas, irgendjemanden erwähnt?«

Wieder schüttelte Juliana den Kopf, gleichzeitig gab sie ihren Mund frei.

»Wir haben nur über mich geredet und über ihre Arbeit.«

Da war es wieder, dieses Gefühl, das sie meiden wollte, vermeiden musste, in Zukunft nicht mehr fühlen durfte. Aber immerhin wusste sie jetzt, was sie den beiden Beamten zu sagen hatte. Es musste einfach heraus, sie konnte nicht anders.

»Wenn Sie einen Verdächtigen suchen, dann fahren Sie zu Schuster Schuhe, dort gibt es sicher genügend Personen, die dazu fähig wären.«

Sie sah Brandners geweitete Augen und nickte dem Kommissar bestätigend zu.

»Ja, Monika hat für die Schusters und Chan gearbeitet. Was für ein Zufall. Denken Sie das nicht auch gerade, Herr Kommissar?«

Brandner erhob sich. Der jüngere Kollege tat es ihm gleich.

»Falls Ihnen noch etwas einfällt.«

»Dann melde ich mich. Kümmern Sie sich um die Schusters und vor allem um Chan, dann finden Sie ihren Mörder.«

Juliana begleitete die beiden zur Eingangstür. Dort angekommen, drehte sich Brandner nochmals zu ihr um.

»Noch eine Frage, treffen Sie …«

»Zu Hans Mayer habe ich keinen Kontakt mehr, falls Sie danach fragen wollten«, unterbrach ihn Juliana sofort.

»Aber Sie wissen, wo er ist.«

»In Wien.«

»Genau, falls Sie ihn doch einmal sprechen, sagen Sie Herrn Mayer, dass ich ein Auge auf ihn habe.«

Juliana antwortete nicht darauf, sie verfolgte nur noch, wie Brandner und Reitbauer sich entfernten, die Stufen nach unten nahmen und das Wohngebäude verließen. Dann schloss sie die Eingangstür und versperrte sie noch von innen mit ihrem Schlüssel.

Kapitel 4

Postenkommandant Reitbauer ging direkt zum Auto, Kommissar Brandner blieb noch einige Sekunden im Innenhof der Wohnanlage stehen. Er schaute sich um. Grüne Flächen, eine Schaukel, ein Sandkasten, Unterstellplätze für Fahrräder und eine Sitzgarnitur für die Erwachsenen, um die Kinder beim Spielen zu beaufsichtigen. Alles in allem eine idyllische Umgebung.

Wahrscheinlich beobachtete ihn Juliana Haidinger von einem der Fenster aus und stellte sich die Frage, weswegen er nicht sofort verschwand. Es gab tatsächlich keinen Grund für ihn, zuzuwarten, also folgte auch Brandner dem schmalen, asphaltierten Weg, der zwischen den Gebäuden hindurchführte, bis er beim Parkplatz ankam.

Der erst vor Kurzem zum Postenkommandanten beförderte Reitbauer wartete schon beim silbernen Audi Quattro des Kommissars. Mit der rechten Hand zog er an der Türschnalle, bekam sie aber nicht auf.

»Wir fahren zur Schuhfabrik.«

»Sie meinen zum Büro der Schusters. Schuhe werden dort schon lange nicht mehr produziert«, korrigierte Reitbauer den Kommissar.

»Egal, Sie wissen, wohin ich will.«

Brandner drückte auf den Knopf der Fernbedienung, die Geräusche der Entriegelung waren zu hören, die Blinker leuchteten zweimal auf. Reitbauer öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Brandner nahm auf dem Fahrersitz Platz.

»Erst einmal nach links, dann Richtung Ybbsitz.« Nach einigen Sekunden fügte Reitbauer hinzu, »ich hoffe, es ist noch jemand da.«

»Es ist kurz vor vier. Die werden schon noch arbeiten.«

Schon bald ließen sie Waidhofens Ortstafel hinter sich, passierten die Fabrik des Möbelherstellers Bene, danach das Autohaus Lietz, sie durchfuhren den Kreisverkehr und nahmen die Ausfahrt Richtung Ybbsitz. Kurz darauf bog Brandner nach links ab und verließ dabei die Bundesstraße, indem er den Schildern mit der Aufschrift »Schuster Schuhe GmbH«folgte.

»Eindrucksvoll.«

»Ja, die Schusters haben erst vor einigen Jahren den Bürokomplex neu gebaut.«

»Viel Glas, würde sich auch in Wien nahtlos einreihen.«

Die Ermittlungen vor einem Jahr hatten Brandner nicht zum Firmengelände der Schusters geführt. Er musste sich daher erst orientierten, rasch fand er aber den Gästeparkplatz.

Die beiden Männer stiegen aus.

»Sie haben extra darauf geachtet, dass die alten Produktionshallen vom Parkplatz und Eingang aus kaum zu sehen sind.« Brandner nickte. »Guter Architekt, kommen Sie, mal sehen, ob jemand da ist, den ich kenne.«

Die beiden gingen die letzten Meter nebeneinander, Reitbauer hielt seinem höhergestellten Kollegen die Glastür auf.

»Österreich wünscht Kevin-Prince Boateng und dem gesamten Team aus Ghana alles Gute!« Der Spieler schüttelte dem etwas blass wirkenden Eugen Schuster die Hand. Das Werbeplakat für die Fußballweltmeisterschaften in Brasilien fiel dem Kommissar zuerst auf, erst danach sah er die Empfangsdame. Nachdem sich die beiden Beamten vorgestellt hatten, machte die ältere Frau ein betroffenes Gesicht. »Was für eine Tragödie. Monika war doch so eine Liebe. Immer freundlich, und sie hat mir immer einen guten Morgen gewünscht. Das machen nicht alle«, fügte sie als Nachsatz hinzu.

»Ist Herr Chan heute im Haus?«

Brandners Frage konnte die Dame beantworten, ohne irgendwelche Listen oder den Computer zu konsultieren. »Herr Chan kommt nur mehr zu den Aufsichtsratssitzungen und zu ganz speziellen Anlässen nach Österreich. Aber seine Tochter Jennifer und Herr Eugen Schuster sind im Büro.«

»Wenn Sie uns bitte anmelden würden. Ich denke, ich brauche nicht extra hinzuzufügen, worum es geht.«

»Nein, Monika Steiners Eltern haben uns angerufen. Das ganze Büro weiß mittlerweile Bescheid.«

So viel zum Überraschungsbesuch, dachte Brandner und sah Reitbauer an. Der zuckte mit den Achseln.

»Was hätten wir tun sollen? Natürlich sind wir zuerst zu ihren Eltern.«

Die Befragung der engsten Familienmitglieder war bereits durch die Kollegen vom Landeskriminalamt erfolgt, bevor Brandner den Fall offiziell zugeteilt bekommen hatte, und er dann im Mostviertel eingetroffen war. Aber auch darum musste er sich noch einmal kümmern. Er wollte schon möglichst bald selbst mit Familie Steiner sprechen. Immerhin musste er nun nicht mehr die schlechten Nachrichten überbringen. Das hasste er ohnehin. Wie wahrscheinlich auch jeder meiner Kollegen,stellte er fest.

Die Empfangsdame telefonierte, währenddessen sah sich Brandner weiter um. Links neben dem Eingang gab es eine Sitzecke für Gäste, dahinter waren die aktuellen Modelle der meist blau-gelb gehaltenen Sportschuhe auf einer Stellage ausgestellt. Ein weiteres Plakat mit Eugen Schusters Kopf und seinem Statement »Unsere Schuhe sind fair hergestellt«befand sich rechts davon an der Wand.Neben dem jungen Schuster grinsten dem Kommissar mehrere asiatische Köpfe entgegen, zusätzlich war das Fair-Deal-Gütesiegel unterhalb des Schriftzugs der Schuster Schuhe GmbH abgedruckt worden.

Die Dame an der Rezeption legte den Hörer auf. Brandner und Reitbauer sahen sie erwartungsvoll an.

»Nehmen Sie bitte den Aufzug. Herr Schuster erwartet Sie oben.«

Eugen Schuster trug ein dunkles Sakko zur schwarzen Hose, darunter ein blau-weiß kariertes Hemd. Keine Krawatte. Und er war gereift. Er wirkte nun auf Brandner wie ein erfolgreicher Unternehmer. Nicht mehr nur wie ein Sohn. Man wächst mit der Aufgabe, stellte der Kommissar wieder einmal fest, als er dem jüngsten Mitglied der Unternehmerfamilie die Hand schüttelte.

»Herr Brandner, was für ein Schock für uns alle.«

Eugen Schusters Gesicht zeigte Anteilnahme. Auf den Kommissar wirkte sie echt. Schon vor einem Jahr hatte Eugen Schuster keinerlei Spiele gespielt. Er war authentisch und glaubwürdig rübergekommen. Diese Eigenschaften dürfte er sich erhalten haben, trotz seiner neuen Funktion im Unternehmen, mutmaßte Brandner.

»Herr Reitbauer.«

Der Kommissar trat zur Seite und sah, wie Eugen Schuster nun den jungen Polizisten begrüßte, gleichzeitig analysierte Brandner weiter: Chan hielt sich nicht in Österreich auf. Aber was hatte der Chinese damals gesagt? Er, Chan, würde sich nie selbst die Hände schmutzig machen. Ganz unverfroren hatte Chan den Kommissar vor einem Jahr darauf hingewiesen. Schon damals hatte Brandner geahnt, dass er dem Chinesen und jetzigen Miteigentümer der Schuster Schuhe GmbH irgendwann einmal wieder gegenüberstehen würde. Noch war es aber nicht so weit, und sollte es sich im Mordfall Monika Steiner um denselben Frauenmörder handeln, der schon zwei andere junge Damen in Wien erdrosselt hatte, konnte er Chan als Täter praktisch ausschließen.

»Bitte kommen Sie mit. Wir begeben uns am besten gleich in den Besprechungsraum.«

Brandner und Reitbauer folgten Eugen Schuster durch den Gang, mehrere Türen führten offenbar in voneinander getrennte Büros, diejenige am Ende des Ganges öffnete der Unternehmer und brachte die Beamten in das Besprechungszimmer. Wasser in einer Karaffe und mehrere Gläser standen auf dem großen Tisch. Ein Blick durch eines der Fenster ließ den Kommissar die schon bekannte hügelig-bergige Umgebung des Mostviertels erkennen, zusätzlich sah er nun auch die alten Fabrikhallen, die hinter dem neuen Bürogebäude versteckt lagen.

»Nehmen Sie doch Platz.«

Brandner setzte sich, Reitbauer tat es ihm gleich. Das Firmenoberhaupt schenkte den beiden jeweils ein Glas Wasser ein. »Wir können gar nicht genug Flüssigkeit zu uns nehmen.«

»Danke, soweit ich gelesen habe, sind Sie mit Ihrer fair produzierten Schuhkollektion sehr erfolgreich«, begann der Kommissar das Gespräch.

Eugen Schuster ließ sich gegenüber von Brandner und Reitbauer nieder. »Ja, so tragisch das letzte Jahr auch für unsere Familie verlaufen ist, durch den Tod meines Vaters und meines Cousins, umso besser hat sich andererseits unser Geschäft entwickelt.« Schuster schüttelte den Kopf. »Aber deswegen sind Sie sicher nicht hier.«

Ein leises Klopfen an der Tür war zu hören. Die schlanke Asiatin trat ein, ohne ein »Herein« abzuwarten. Brandner, Reitbauer und auch Schuster standen auf. Das Klopfgeräusch bewertete Brandner noch als schüchtern und zurückhaltend. Ihr Händedruck, ihre Haltung, ihr Blick und ihre Worte strotzten aber vor Selbstsicherheit.

»Jennifer Chan, guten Tag, bitte entschuldigen Sie mein Deutsch.«

Die Asiatin hatte schulterlange, schwarze Haare, und sie trug ein dunkles Kleid. Wäre ihr hellroter Lippenstift nicht gewesen, Brandner hätte darauf spekuliert, dass sie sich extra für den traurigen Anlass ihres Besuches umgezogen hatte.

»Frau Chan, ich hatte letztes Jahr schon die Gelegenheit, Ihren Vater kennenzulernen. Ein sehr eindrucksvoller Mann. Niemand hat mir allerdings erzählt, dass seine Tochter sogar Deutsch spricht«, stellte Brandner zu Jennifer gewandt fest. Diese setzte sich, die drei Männer folgten ihrem Beispiel.

»Jennifer ist ein wahres Sprachtalent. Vor einem knappen Jahr verstand sie nur einige einfache Sätze und konnte erst wenige Wörter selbst aussprechen. Dann absolvierte sie einen Intensivkurs. Seit einigen Monaten will sie nur mehr in deutscher Sprache angesprochen werden. Ich wünschte, ich hätte die Fähigkeit, wie Jennifer, so schnell eine Fremdsprache zu erlernen.«

»Ich lebe jetzt in Österreich. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich die Sprache gelernt habe«, erklärte Jennifer und schenkte Eugen Schuster danach ein Lächeln. Brandner hatte das Gefühl, echte Zuneigung im Gesicht der Chinesin zu erkennen.

Interessante Konstellation.

»Herr Brandner, Sie sind aber sicher nicht gekommen, um über meinen Vater oder über meine Deutschkenntnisse zu sprechen.«

»Nein«, bestätigte Brandner. »Wir sind wegen dem Mord an Frau Steiner hier.«

»Herr Schuster und ich haben erst vor wenigen Stunden davon erfahren.«

Jennifer Chan griff nach der Karaffe und schenkte sich auch ein Glas Wasser ein, dabei fuhr sie fort: »Wir sind noch immer ganz geschockt.«

Sie nahm einen Schluck, Eugen Schuster fügte hinzu: »Frau Steiner hat für uns im Sales Office gearbeitet, hauptsächlich war sie mit Auftragsabwicklung beschäftigt. Angebote legen, Aufträge buchen, Preislisten warten, Lieferzeiten bekanntgeben, das waren ihre Aufgaben. Sie hatte dabei hauptsächlich mit unseren Zwischenhändlern zu tun.«

Brandner nickte, nahm ebenfalls einen Schluck Wasser und lehnte sich danach wieder zurück.

»Hatten Sie auch privat näheren Kontakt zum Opfer?«

»Nein, du Jennifer?«

Auch die Asiatin verneinte. »Sie wissen ja, wie das ist. Mit dem Chef oder der Chefin will niemand so gerne seine Freizeit verbringen.«

Reitbauers Telefon meldete sich, er nahm das Gespräch an und verließ das Besprechungszimmer.

»Am besten unterhalten wir uns einfach mit Frau Steiners direkten Kollegen, damit würde ich am liebsten gleich beginnen«, sagte Brandner.

»Ich, ich denke, das wird …«, begann Eugen Schuster zaghaft.

»Natürlich handelt es sich um eine Ausnahmesituation, aber während der Arbeitszeit sollten wir das trotzdem vermeiden«, unterbrach ihn Jennifer Chan. »Ohnehin sind schon alle stark verunsichert. Da verstehen Sie doch, dass wir nicht auch noch stundenlang die Polizei bei uns im Büro haben wollen. Keiner könnte sich mehr auf die Arbeit konzentrieren«, fügte sie hinzu.

So viel zur Kooperation mit der Polizei, ich könnte sie zwingen …

»Du siehst das doch auch so, oder etwa nicht?«, fragte Jennifer Chan Eugen Schuster.

»Schon, aber wir sollten Herrn Brandner auch unterstützen.«

»Befragungen und Vernehmungen werden normal bei der Polizei durchgeführt und nicht irgendwo anders. Ich denke, das ist auch in Österreich so, oder etwa nicht?«

Die Chinesin schaute Brandner an und wartete offenbar auf seine Bestätigung.

Die ist ja aggressiv! Aber sie hat recht, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zuzustimmen.

»Sie können uns aber sicher eine Liste mit sämtlichen Namen und Daten von Frau Steiners Kollegen zukommen lassen. Wir werden diese dann einzeln auf der Polizeidienststelle befragen«, sagte Brandner daher.

»Das wird sich einrichten lassen«, antwortete Schuster.

Brandner sah, wie Jennifer Chan ihren Mund öffnete, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Reitbauer zurück in den Raum. »Wir haben einen Treffer. Einer der Gäste vom Schlosshotel.«

Brandners Blick traf den des Polizisten.

Reitbauer verstummte sofort.

Die beiden Beamten verabschiedeten sich von Jennifer Chan, danach brachte sie Eugen Schuster zum Aufzug. »Herr Schuster, bitte schicken Sie uns so bald wie möglich die Liste mit den Namen Ihrer Angestellten.«

»Mache ich.«

»Danke. Ist eigentlich Ihr Onkel noch im Betrieb aktiv tätig?«, fragte Brandner.

»Nein, Onkel Samuel hat sich nun wieder zurückgezogen. Er ist nur mehr – wie auch Jennifers Vater – im Aufsichtsrat tätig. Wir hatten großes Glück und haben mit Herrn Schwarz einen ausgezeichneten technischen Leiter eingestellt, ein richtiger Spezialist auf seinem Gebiet. Daher kann sich Onkel Samuel wieder auf die Jagd konzentrieren.«

»Ich verstehe Ihren Onkel nur zu gut. Manchmal hätte ich auch gute Lust, mich auf eine Almhütte zurückzuziehen.«

Als sich die Aufzugstür schloss, konnte Brandner noch immer die Erleichterung in Eugen Schusters Gesicht ablesen, die sich dort umgehend eingestellt hatte, nachdem Reitbauer den Verdächtigen erwähnt hatte. Kein Wunder,Schuster Schuhe können sich keinen weiteren Skandal leisten. Die Geschäfte laufen zwar gut, aber man setzt auf das positive Image, der fair produzierten Sportschuhe. Die Morde vom letzten Jahr sind noch allen in Erinnerung. Eine weitere negative Schlagzeile macht den Erfolg mit einem Schlag zunichte. Keine Überraschung also, dass mich die Chinesin nicht hierhaben will. Aber gleich so zu reagieren! Vielleicht hat Juliana Haidinger ja doch recht, und der Mord hat etwas mit der Arbeitsstelle des Opfers zu tun … jetzt hat aber der neue Verdächtige oberste Priorität, eventuell ist der Fall schon bald geklärt, und ich kann mir weitere Spekulationen sparen.

Kapitel 5

Die Sonne verabschiedete sich gerade, draußen wurde es dunkel, trotzdem herrschte auf der Polizeidienststelle Waidhofens Hochbetrieb. Brandner las sich die Akte des Verdächtigen durch, die seine Kollegen schon fein säuberlich ausgedruckt und in einem dünnen Folder pflichtbewusst eingeheftet hatten.

Bernd Slawitschek, der Name irritierte Brandner.

»Herr Reitbauer, Slawitschek, stimmt die Schreibweise?«

Der Postenkommandant drehte sich um und trat mit seinem frisch gebrühten Kaffee in der Hand an den Tisch. Brandner drehte den Akt um 180 Grad, sodass ihn Reitbauer lesen konnte.

»Ja, stimmt.« Reitbauer lächelte erstmals an diesem Tag und fügte hinzu: »Typischer österreichischer Name, Slawitschek, oder nicht?«

Brandner ersparte sich eine Entgegnung, stattdessen befahl er Reitbauer, ihm zu folgen.

Bernd Slawitschek saß aufrecht auf seinem Stuhl, er trug ein rot-blaues Poloshirt, seine beiden Hände lagen auf der ansonsten leeren Tischplatte. Dem Verdächtigen hatte man bisher keine Erfrischung angeboten, und auch der Kommissar dachte nicht daran, für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen. Reitbauer blieb an der Wand stehen, Brandner setzte sich gegenüber des Verdächtigen. Sieht älter aus als 39. Dreitagebart. Dunkle, kurz geschnittene Haare. Muskulöse Arme. Er ist Mechaniker, das sieht man.

Braune Augen. Gehetzte Augen.

Der Kommissar schaute nach hinten und nickte Reitbauer zu. Der trat vor, schaltete das Diktiergerät ein und legte es auf die Tischplatte, dabei sah er Slawitschek mit starrem Blick an, dann trat er wieder zurück und lehnte sich lässig an die Wand. Brandner nannte seinen Namen und Dienstgrad, danach fragte er nach dem Namen des Verdächtigen.

»Bernd Slawitschek.«

»Sie wissen, weswegen Sie hier sind?«

»Ich bin freiwillig mitgekommen.«

»Stimmt, das haben mir die Kollegen berichtet.«

»Ich kann also jederzeit gehen.«

»Wenn Sie nicht kooperieren, macht Sie das verdächtig.«

Slawitschek ballte seine Hände zu zwei Fäusten, seine Augen funkelten den Kommissar an. »Verdächtig bin ich doch ohnehin schon. Glauben Sie, ich habe die Blicke Ihrer Kollegen nicht bemerkt? Und erst ihre Worte. Für die bin ich schuldig. Die würden mich am liebsten gleich ans Kreuz nageln.«

»Und, waren Sie es? Haben Sie Monika Steiner ermordet?«

Slawitschek ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. »Nein!« Er richtete sich wieder auf. »Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Brandner hörte ihm weiter zu.

»Die Sache mit Rosamunde ist ewig her … 20 Jahre. Ich habe eine Familie. Niemals würde ich jemanden umbringen. Auch damals war alles nur ein Spiel. Rosamunde wollte es. Sie hat mich geradezu angebettelt.«

»Schwachsinn!«, unterbrach ihn Brandner. »Hören Sie damit auf, Sie sind damals verurteilt worden, Sie brauchen diese Tat nicht mehr zu leugnen.«

»Rosamunde hat es aber gewollt, Sie wollte von mir gewürgt werden, aber auch damals hat mir niemand geglaubt.«

Dass ich nicht lache, sie hat es gewollt! Absurd. Das ist doch krank! Eine viel zu kurze Haftstrafe hat er dafür erhalten.

»Wieso hätte ich damals sonst die Rettung gerufen? Rosamunde ist nichts passiert, nur ich bin im Gefängnis gelandet. Seit ich entlassen wurde, habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich habe eine Frau und zwei Kinder.«

Das stimmt, aber vielleicht hast du ja dazugelernt. Bist jetzt schlauer, rufst nicht mehr die Rettung, sondern bringst deine Opfer gleich ganz um.

Slawitschek schüttelte seinen Kopf. »Den Schwarzen Peter lasse ich mir nicht unterjubeln. Das können Sie mir glauben. Einen Mord lasse ich mir nicht anhängen.«

Brandner beugte sich nach vorne. »Herr Slawitschek, erzählen Sie mir einfach, was gestern genau passiert ist.«

Der Kommissar erfuhr von Slawitschek, was er ohnehin schon wusste, was er jedoch vom Verdächtigen selbst geschildert bekommen wollte: Bernd Slawitschek sollte in Zukunft nicht nur in der Werkstätte Autos reparieren, sondern er würde auch den Kundendienst übernehmen. Deshalb hatte ihn sein Chef zu dem Seminar angemeldet, das im Veranstaltungszentrum des Schlosshotels in Waidhofen stattfand. Slawitschek war pflichtbewusst am Vorabend vor Seminarbeginn angereist, hatte eingecheckt, das Zimmer bezogen und danach den Saunabereich des Hotels benutzt. Und genau da lag für Slawitschek das Problem. »Herr Brandner, ich habe Ihren Kollegen schon bestätigt, ja, ich war in der Sauna, aber ich habe das Fitnessstudio nicht betreten.« Slawitschek machte eine Pause. Dann fügte er hinzu: »Sie werden garantiert nichts finden. Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Rein gar nichts.«

»Trotzdem, Sie waren in der Nähe des Tatorts, Sie sind vorbestraft! Sie haben ihr damaliges Opfer stranguliert! Ich weiß nicht, ob man Sie schon informiert hat, Frau Steiner wurde erdrosselt.«

Brandner war sich nicht sicher, ob Slawitscheks überraschter Blick echt oder aufgesetzt war.

»Ich war es nicht. Mehr kann ich dazu nicht sagen«, beteuerte Slawitschek. »Wenn Sie mich weiter hier festhalten, dann will ich mit einem Anwalt sprechen.«

Natürlich, jetzt ist es so weit, und ich habe absolut nichts in der Hand, noch habe ich keine Ergebnisse. Nichts von der Spurensicherung, kein Bericht von der Gerichtsmedizin. Brandner atmete aus, schaute auf die Uhr, dann blickte er dem Verdächtigen wieder in die Augen. »Das wird nicht nötig sein. Sie sind verdächtig, aber nicht verhaftet. Noch nicht. Informieren Sie bitte Postenkommandant Reitbauer, wo und wie wir Sie morgen und die Tage danach erreichen können.«

Reitbauer trat näher und sah Brandner an. Der zuckte mit den Achseln, er hatte einfach keine Beweise. Die Erleichterung stand Slawitschek noch deutlicher ins Gesicht geschrieben als Eugen Schuster, als der von dem Verdächtigen gehört hatte.

»Verlassen Sie aber nicht das Land«, fügte Brandner hinzu.

Sowohl der Kommissar als auch sein Verdächtiger erhoben sich. Slawitschek streckte Brandner seine rechte Hand entgegen. Brandner zögerte, ergriff sie dann aber doch.

»Auf Wiedersehen.«

»Ich werde nach Hause fahren, nach Wien. Das Seminar weiter zu besuchen, macht keinen Sinn.«

»In Ordnung.« Brandner wandte sich an Reitbauer. »Lassen Sie sich von Herrn Slawitschek noch zur Sicherheit die genaue Adresse und alle Telefonnummern geben. Ich muss gehen. Wir sehen uns morgen in der Früh.«

Das von Reitbauer gemurmelte »Sie können mich aber nicht zwingen, ihm auch die Hand zu schütteln«, hörte der Kommissar schon gar nicht mehr, als er zur Tür hinaus verschwand.

Kapitel 6

Ich werde mir den Tatort ansehen, muss überprüfen, wie leicht man von der Sauna ins Fitnessstudio kommt – und ich brauche ein Zimmer für die Nacht.

Der Kommissar setzte sich in seinen Audi Quattro. Der Weg zum Schlosshotel sollte ihn vor keine großen Herausforderungen stellen. Brandner musste nur vom Kinoparkplatz wieder zum ersten Tunnel gelangen, was er auch erfolgreich schaffte, er fuhr hindurch, dann nahm er bei den drei kurz nacheinander angeordneten Kreisverkehren jeweils die Ausfahrt Richtung Amstetten, danach die Abzweigung nach rechts Richtung Windhag/St. Leonhard. Er fuhr am Parkbad vorbei, das natürlich noch geschlossen war, bog rechts ab und folgte dann den Hinweisschildern, die ihn zur Parkgarage des Hotels führten. Er nahm die Einfahrt links ins Parkhaus, das Hotel selbst war noch an die 30 Meter entfernt und auf einer kleinen Anhöhe gelegen.

Brandner hievte seinen Koffer aus dem Kofferraum und zog ihn die letzten Meter auf Rollen den kleinen Hügel hinauf. Gegenüber, am anderen Ybbsufer, sah er die Altstadt mit dem bekannten Rothschildschloss. Der gläserne Kubus auf dem höchsten Turm der »Stadt der Türme« – als die sich Waidhofen in Fremdenverkehrsbroschüren bezeichnete – erstrahlte im hellen Blauton.

Das Hotel lag direkt vor Brandner. Im Zentrum des Baus diente ein Turm mit Zwiebeldach als Blickfang. In dessen Erdgeschoss befand sich auch die Eingangstür. Rechts sah Brandner einen frei stehenden Neubau mit viel Glas, der offenbar als Veranstaltungs- und Seminarzentrum genutzt wurde. Davor, das sagte ihm ein Hinweisschild, führten im Freien betonierte Stiegen hinunter zur Wellnessoase und zum Studio »Energy Fitness«. Es musste auch einen Verbindungsgang im Innern zwischen dem Hotelbau und dem unter dem Veranstaltungszentrum gelegenen Sauna- und Fitnessbereich geben. So hatte Reitbauer es Brandner erklärt.

Der Kommissar nahm den Eingang ins Hotel und stand schon bald einer netten jungen Dame an der Rezeption gegenüber. Glücklicherweise bekam er ein Zimmer. Sofort erkundigte er sich nach dem Saunabereich. Zuvorkommend erklärte sie ihm, wie er dorthin kommen würde: Er musste nur eine Etage tiefer und dann den Hinweisschildern folgen. Es war ganz einfach.

Brandner brachte zuerst mithilfe des Aufzugs seinen Koffer und die Aktentasche auf sein Zimmer im ersten Stock. Ohne weitere Zeit zu verlieren, wollte er den Raum wieder verlassen, da fiel ihm ein, dass er seiner Frau Eva noch gar nicht Bescheid gegeben hatte. Auch wenn er es ihr vor der Abfahrt nach Waidhofen schon angekündigt hatte, so musste er ihr doch noch einmal bestätigen, dass er nicht nach Hause kommen würde.

»Du hast meine Nummer gewählt, ich bin aber gerade mit Wichtigerem beschäftigt. Wenn du berechtigte Hoffnung hast, von mir zurückgerufen zu werden, hinterlasse mir eine Nachricht, ansonsten erspare uns beiden deine Demütigung und leg einfach auf.«

Sie hatte die Mobilbox neu besprochen. Fast hätte Brandner verabsäumt, auf das Tonband zu sprechen. Aber er hatte berechtigte Hoffnung, zurückgerufen zu werden, und daher informierte er sie, dass er in Waidhofen übernachten würde und nicht wusste, ob er am nächsten oder erst am übernächsten Tag zurückkehren würde. Dann legte er auf.

Sie hat die Nachricht neu aufgenommen. Die Sätze waren die einer überdrehten, ausgeflippten jungen Frau. Das passte nicht mehr zu Eva. Das war sie zwar einmal gewesen – genau in diese Eva hatte er sich damals verliebt – aber jetzt war sie die Mutter seiner Kinder und seine Gattin. Außerdem war sie nicht erreichbar. Das passte auch nicht zu ihr. Musste er sich Sorgen machen? Er war versucht, seine Schwiegermutter anzurufen. Falls sich Eva ohne ihn amüsierte, würde ihre Mutter aller Voraussicht nach auf die beiden kleinen Mädchen aufpassen. Brandner schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken sofort wieder. Er würde nicht seine Schwiegermutter anrufen. Er sah schon Gespenster, wo keine waren. Mit seiner Ehe war alles in Ordnung.

Brandner griff sich die Schlüsselkarte und verließ den Raum, um seinen ursprünglichen Plan umzusetzen. Der Aufzug brachte ihn wieder bis direkt vor die Rezeption, von dort nahm er die Stiege in das Untergeschoss. Links abzweigend, sah er hinter einer Glasfront die Hotelbar. Von dort hatte man wiederum einen schönen Ausblick durch Glasfenster auf die gegenüberliegende Ybbsseite. Nur wenige Hotelgäste nutzten an diesem Abend die Angebote der Bar. Er ging weiter, rechts waren die Toiletten für die Barbesucher angeordnet, dann brauchte er erstmals wieder den Zimmerschlüssel, um die nächste Tür zu passieren. Vom danach weiterverlaufenden Haupttrakt zweigten kürzere Gänge ab. Auch die Zimmer hier unten wurden für Hotelgäste genutzt.

Brandner folgte dem Haupttrakt, jetzt musste er sich bereits unter dem Veranstaltungszentrum befinden. Dann zweigte wieder ein Gang nach rechts ab, ein Hinweisschild kennzeichnete den Weg Richtung »Wellnessoase« und »Fitnesscenter«. Einmal noch blockierte ihm eine Tür den Zugang, die er wieder mit seinem Schlüssel öffnete. Dahinter befand sich ein größerer Eingangsbereich, den eine Sitzgarnitur mit einem schwarzen Lederbezug dominierte. Wasser und Tee standen auf einem Tischchen bereit, mehrere unbenutzte Gläser warteten darauf, mit der Flüssigkeit gefüllt zu werden. Links neben der Eingangstür sah Brandner einen weißen, geflochtenen Korb, in dem die Gäste ihre verwendeten Handtücher entsorgen sollten. Den Eingangsbereich verlängerte ein weiterer schmaler Gang. Zwei Türen an der rechten Seite führten in das Saunazentrum. Dazwischen lag die Umkleidekabine. »Ausschließlich für Hotelgäste« war dort auf einem weißen Schild vermerkt. Bisher war Brandner noch niemandem begegnet. Links führte eine Tür zum Solarium, eine weitere zum »Hypoxi«, und dann gab es noch einen Raum für Massagen. Brandner schaute in die Umkleidekabine. Nur das Gewand von zwei Gästen hing an den Kleiderhaken. Der Kommissar schloss die Tür und wandte sich der am anderen Ende des Ganges zu. Diese war von der Polizei gesichert worden. Ohne jegliches Problem löste Brandner die Klebestreifen, er brauchte dann nur mehr den Griff nach unten zu drücken und die Tür gegen einen leichten Federwiderstand aufstoßen. Auch nach dem Mord war sie also nicht abgesperrt worden. Für Slawitschek war es ein Leichtes, von der Sauna ins Studio zu gelangen.

Im Fitnessstudio war es finster, nur von draußen drang etwas Licht von den Laternen herein. Brandner tastete nach einem Schalter, er wurde neben der Tür fündig, sodass der Raum schon bald erleuchtet war.

Ein Empfangstresen mit Espressomaschine. Wasserbehälter für Erfrischungen. »Sportsfood« im verglasten Kühlschrank. In einer speziellen Vorrichtung steckten sechs Flaschen mit Mineralstoffgetränken, die Auswahl reichte von Lemon-Cactus bis zu Schwarzer Johannisbeere. In deren Nähe sah Brandner auch zwei Flaschen Desinfektionsmittel und Reinigungspapier. Ein großes Poster an der Wand zeigte eine junge Frau auf einem Felsen stehend, die gerade mit dem rechten Fuß einen karateverdächtigen Stoß ausführte. Der dabei beworbene Powerbar trainierte angeblich die Abwehrkräfte. Ob die Kräfte auch dafür reichen, den Frauenmörder abzuwehren und in die Flucht zu schlagen? Reine Geschäftemacherei. Brandner sah sich weiter um. Dieser Teil des Studios war offensichtlich für das Herztraining und zur Fettverbrennung gedacht, es befanden sich Ergometer, Laufbänder und Stepper darin. Drei Flachbildschirme sorgten für Abwechslung, die hintere Wand war verspiegelt und ließ den Raum daher fast doppelt so groß wirken. Seitlich verlief die Glasfront. Außen konnte Brandner nicht viel erkennen. Er nahm die Stufen nach unten. Dort befanden sich die Geräte zum Muskelaufbau. Die Hotelgäste konnten sich kaum beschweren. Es handelte sich tatsächlich um ein komplett ausgestattetes Fitnessstudio und nicht wie in vielen anderen Hotels nur um eine Einrichtung mit einem Laufband, einem Ergometer und einigen Hanteln. Unten war die Luft stickig, es war offenbar länger nicht gelüftet worden.

Am hinteren Ende des Raums war eine der beiden Türen nochmals extra gesichert worden. Ein Schild mit »Damen. Für Wertsachen wird keine Haftung übernommen«,erklärte, was sich dahinter befand. Neben der Tür hing ein Kalender mit einem jungen Mann in Lederhose, dessen nackter Oberkörper zwar trainiert war, aber immerhin nicht ganz so muskulös wirkte wie der eines professionellen Bodybuilders. Mit Arnold Schwarzenegger in jungen Jahren kann er es nicht aufnehmen, wahrscheinlich soll er aber die männlichen Kunden des Studios nicht zu schlecht aussehen lassen, schloss Brandner. Er löste die zusätzliche Sicherung und betrat die Damenumkleidekabine. Eine Holzbank, mehrere Kästen, ein Spiegel und der obligatorische Fön beim Wandspiegel. Die Toilette, ein Waschbecken, dann der Zugang zur Dusche. Der Vorhang war noch immer zur Seite geschoben. Die weiße Bodenmarkierung auf dunkelgrauen Fliesen veranschaulichte, wie Monika Steiners Leichnam dort gelegen hatte. Mehrere Minuten blieb Brandner stehen und ließ das Bild auf sich wirken, dabei rief er sich die Fotos mit der am Boden liegenden Monika Steiner in Erinnerung. Sie war vollkommen bekleidet gewesen, hatte noch ihr Trainingsgewand getragen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie nicht in der Dusche ermordet worden, sondern entweder in der Umkleidekabine oder sogar noch draußen an einem der Geräte. Der Täter musste die drahtige Frau dann in die Dusche geschleift haben, und zwar nicht, um sich an ihr zu vergehen, davon hatten sie keine Anzeichen gefunden, sondern um den Leichnam möglichst lange unentdeckt zu wissen. So musste es gewesen sein. Brandner verstand die Beweggründe des Täters, er konnte sich vorstellen, wieso der den Leichnam seines Opfers in der Dusche versteckt hatte. Weswegen es aber überhaupt zur Tat gekommen war, wusste Brandner nach wie vor nicht. Hier tappte er vollkommen im Dunkeln. Er hatte kaum Ansätze.

Obwohl, so ganz stimmte das nicht. Immerhin hatte er einen Vorbestraften, der sich in der Nähe des Tatortes aufgehalten hatte. Außerdem verdächtigte Juliana Haidinger die Arbeitgeber der Toten. So ganz ausschließen wollte er diese Option auch nicht. Immerhin traute er vor allem Chan alles zu. Brandner musste sich aber eingestehen, dass er noch nicht einmal nahe daran war, ein Motiv für einen Mord zu finden.

Ich stehe aber erst ganz am Anfang der Ermittlungen. Vielleicht handelt es sich ja doch um einen Serienmörder. Diese Möglichkeit ist ja auch der Grund, weswegen das Bundeskriminalamt ermittelt. Zwei Frauen wurden in Wien ermordet. Auf ähnliche Weise. Eva ist in Wien. Ich erreiche sie nicht.

Brandner spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er holte sein Handy hervor. Kein Empfang. Ich muss aufs Zimmer. Dort funktioniert es. Möglichst schnell Eva anrufen. Ihr darf nichts passiert sein! Brandner verließ die Umkleidekabine, er nahm die Stufen nach oben und verklebte rasch wieder die Verbindungstür zwischen Hotel und Fitnessstudio. Es war weit und breit niemand zu sehen. Er lief nun den langen Gang zurück. Eva darf nichts passiert sein. Über eine Million Frauen in Wien. Eva kann gar nichts passiert sein! Sie hat ihre Mobilbox wie eine junge Frau besprochen, aber das ist sie nicht mehr. Sie passt nicht ins Beuteschema. Über eine Million Frauen. Langsam beruhigte sich Brandner, er reduzierte sein Tempo, er lief nicht mehr, sondern schritt nur mehr schnell voran. Auch in der Bar waren die Lichter schon ausgegangen. Er nahm die Stufen nach oben.

An der Rezeption checkte gerade Slawitschek aus. Brandner war versucht, seinen Verdächtigen anzusprechen, ihm zu sagen, dass er jetzt wusste, wie einfach es für Slawitschek gewesen sein musste, vom Saunabereich ins Fitnessstudio zu gelangen. Aber was würde das bringen? Alles war vorerst bereits gesagt worden, Slawitschek hatte nie abgestritten, dass er ins Studio hätte kommen können.

Brandner musste sich unbedingt vergewissern, dass seine Eva in Sicherheit war. Also sprach er seinen Verdächtigen nicht an. Wenn er Eva wieder nicht erreichen konnte, dann würde er seine Schwiegermutter anrufen. Er drückte den Taster neben dem Aufzug. Die Tür öffnete sich, Brandner trat ein, ohne dass sein Verdächtiger seine Anwesenheit bemerkt hatte. Während Brandner mit dem Aufzug nach oben fuhr, summte und vibrierte es in seiner Jackentasche. Er nahm sein Handy heraus. »Zwei Anrufe in Abwesenheit«.Eva hatte versucht, ihn zu erreichen. Die Aufzugtür ging auf, er tippte auf »Anrufen«undstieg aus, dann wartete er im Gang stehend darauf, dass die Verbindung aufgebaut wurde. Es klingelte nicht. Statt des Läutens ertönte wieder die nun schon bekannte Ansage seiner Frau: »Du hast meine Nummer gewählt …«

»Ja, ich weiß, du bist gerade mit etwas Besserem beschäftigt.«

Brandner legte auf und wählte die Nummer seiner Mobilbox.

Eine neue Nachricht.

Voller Erstaunen stellte er fest, dass seine Eva mit einem ihrer Kollegen im Theater gewesen war. »… wie ich es dir gestern gesagt habe. Jetzt bin ich müde und gehe schlafen.«

Sie ist müde und liegt im Bett.

Gott sei Dank, alles ist in Ordnung!

Hoffentlich liegt sie auch allein im Bett. Und schläft.

Den Namen des Mannes hatte er noch nie gehört. Der Kollege musste neu sein. Noch nie gehört, war vielleicht nicht ganz richtig. Der Name eines Arbeitskollegen seiner Eva war Brandner einfach noch nie so wichtig erschienen, als dass er ihn sich hätte merken wollen. Auch jetzt beim Abhören der Mobilbox hatte er nicht gut genug aufgepasst. Sollte er sich die Nachricht noch einmal zu Gemüte führen, um sich den Namen von Evas Verehrer einzuprägen? Brandner beschloss, darauf zu verzichten. Stattdessen würde er seiner Eva in Zukunft aufmerksamer zuhören. Das war schließlich seine Stärke im Beruf. Dort entging ihm nicht die geringste Kleinigkeit! Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass sich, wenn er nicht achtsamer war, ernsthafte Schwierigkeiten in seinem Privatleben anbahnten. Oder waren sie schon da?

Nichts da, mit meiner Ehe ist allesin Ordnung!

Er musste sich nur wieder etwas mehr bemühen, so war das nun einmal. Richtige Probleme hingegen hatte er mit seinem Fall. Ein Frauenmörder lief frei herum. Leben oder Tod hingen von seinem schnellen Erfolg ab. Diese Erkenntnis schnürte ihm kurz die Luft ab. Sein Hals war trocken und kratzte. Er betrat sein Zimmer und ging sofort zur Minibar. Die Flasche Rotwein stand oben auf der Ablagefläche neben zwei Weingläsern und wartete darauf, von ihm entkorkt zu werden. Eine lange Nacht stand ihm bevor. Also öffnete er den Zweigelt aus dem Burgenland und schenkte sich eines der Gläser halbvoll ein. Dann roch er nach den Beeren, dabei schwenkte er das Glas leicht. Kurz danach spürte er, wie sich der angenehm samtene Geschmack in seinem Mund ausbreitete.

Mit meiner Ehe ist alles in Ordnung.

Er nahm einen zweiten Schluck und stellte dann sein Glas auf das Nachtkästchen neben dem Bett. Danach holte er die beiden dünnen Ordner aus seiner Aktentasche. Er schlug den ersten auf, die starren, grünen Augen einer jungen Frau mit blonden kurzen Haaren blickten ihm entgegen. Als er den zweiten Ordner öffnete, sahen ihn ebenso starre Augen an, diesmal waren sowohl Augen- als auch Haarfarbe braun. Beide Frauen waren jung gewesen. Nach Brandners Vorstellung waren Damen im Alter von Ende 20 nun einmal jung. Und beide waren attraktiv gewesen. Es gab Fotos in den Akten aus der Zeit, als sie noch das Leben genossen hatten. Der Tod war grausam gewesen, ihre Gesichter auf den Fotos der Gerichtsmedizin hatten nichts mehr von der unbekümmerten Leichtigkeit und Schönheit an sich, von der die Fotos aus ihrem früheren Leben erzählten.

Beide Frauen waren mit einem dünnen seilartigen Kunststoff stranguliert worden. Auch Monika Steiner dürfte auf dieselbe Weise erdrosselt worden sein. Das Seil hatte sich tief in den Hals der Opfer eingegraben und musste ihnen sofort den Atem abgeschnürt haben. Beide Gesichter waren schmerzverzerrt. Schöne Leichen sahen anders aus, aber die bekam Brandner in seinem Beruf ohnehin selten zu sehen.

Kapitel 7

Wie immer graute Brandner vor der Aufgabe, aber es musste sein. Es führte einfach kein Weg daran vorbei, selbst mit Monika Steiners engsten Angehörigen zu reden.

Immerhin brauchte er ihnen die schlechte Nachricht nicht mehr zu überbringen. Aus Erfahrung wusste er aber, dass es diese Tatsache kaum leichter machen würde. Auch der Sonnenschein, der blaue Himmel und die herrliche Aussicht, die er ohne das bevorstehende Gespräch vielleicht sogar hätte genießen können, verbesserten seine Stimmung nicht.

Sepp Reitbauer lotste ihn die schmale, asphaltierte Straße den Arzberg hinauf. Ein Bauernhaus nach dem anderen passierten sie. Noch grasten keine Kühe im Freien, noch blühte keiner der Obstbäume, deren Früchte zur Herstellung des Mostes später im Jahr verwendet würden. Aufgrund der warmen Temperaturen wuchs auf den Wiesen aber bereits saftig grünes Gras. Der Schnee hatte sich von der Sonnenseite des Mostviertels bereits vor Wochen verabschiedet, er hatte sich in diesem Winter überhaupt nur ganz selten gezeigt.

»Hier ist es, hier ist der Hof der Steiners.«

Brandner registrierte, noch während er einparkte, das alte Bauernhaus, den modernen Anbau, die große Garage für die Landmaschinen, und, etwas abseits gelegen, das Wirtschaftsgebäude, das die Stallungen für die Tiere und den Raum für das Futter beinhalten musste.

»Alle halten hier Kühe, entweder Mutterkuh- oder Milchkuhprinzip«, erklärte Sepp Reitbauer seinem Kollegen aus der Großstadt, während beide ausstiegen. Tief unten im Tal erkannte Brandner die Bundesstraße, die zwischen Waidhofen und Ybbsitz verlief, und natürlich den Fluss – die Ybbs. Links, hinter einem Hügel verborgen, mussten das Büro und die leer stehenden Hallen der Schuster Schuhe GmbH zu finden sein. Die Arbeitsstätte des Opfers.

»Kommen Sie, Herr Brandner, hier entlang, man wartet sicher schon auf uns.«

Die Beamten hatten sich für 10 Uhr morgens angekündigt. Es war schon eine halbe Stunde später. Ohne anzuläuten, trat Sepp Reitbauer ein. Brandner folgte dem ortskundigen Polizisten. Sie fanden sich in einem dunklen Flur wieder. Reitbauer klopfte an der nächstgelegenen linken Holztür an und trat auch hier ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Wieder folgte ihm Brandner und sah sich einer Gruppe von schwarz gekleideten Personen gegenüber, die alle an einem großen Küchentisch mit dunkler Holzplatte saßen. Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht, den Brandner zwischen 50 und 60 Jahre alt schätzte, stand auf und hieß sie willkommen.

»I bin da Moni ia Foda. Sitzt eich nida.«

Er gab Brandner und Reitbauer nacheinander die Hand.

»Mia kinnans no oiwi nad glaum.«

Sepp Reitbauer sah das fragende Gesicht des Kommissars.

»Fraunz, Herr Brandner ist aus Wien, könnt ihr daher bitte versuchen, in Schriftsprache zu sprechen?«

Franz Steiner, Monikas Vater, nickte. »Entschuldigung, Herr Kommissar. Das hätte ich mir auch selbst denken können, dass Sie unseren Dialekt nicht verstehen«, bemühte er sich, für den Wiener nun verständlich zu sprechen. Dabei reduzierte er auch deutlich seine Sprachgeschwindigkeit.

»Unsere Monika hat ja auch immer nach der Schrift gesprochen. Sie hat sich das so angeeignet, damit sie im Beruf vorankommt.« Er stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab, die Stirn landete in seiner Handfläche. »Sie war auch für den deutschen Markt zuständig.«

Brandner bemerkte, wie der Vater damit kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. »Sepp, du weißt das ja sicher auch. Sie war so stolz darauf, den größten Markt für die Schusters zu betreuen.«

Sepp nickte. »Das stimmt.«

Brandner schaute Reitbauer überrascht an. Reitbauer hat das Opfer gekannt! Wieso hat er das bisher nicht erwähnt? Der Kommissar beschloss, vorerst nicht nachzuhaken. Das gehörte nicht hier vor der Familie der Ermordeten geklärt. Aber er würde dem nachgehen müssen.

Nacheinander stellten sich alle Familienmitglieder vor: Monika Steiners Mutter brachte kaum ein Wort heraus. Die Großmutter erzählte von ihrer Kleinen, als sie noch mit Puppen gespielt hatte. Natürlich hatte die Oma damals immer auf die kleine Monika achtgegeben. Der Großvater paffte seine Pfeife und schien in Gedanken woanders zu sein. Außerdem waren noch Monikas Schwester, deren Mann und ihre drei kleinen Kinder da.

»Monika war immer die Sportliche von uns, und sie war auch die Belesenere«, stellte die Schwester fest. »Wer hat das nur getan? Mitten in Waidhofen, mitten in unserer Heimat, meine kleine Schwester!«

Der Kommissar nickte, genau die Antwort auf diese Frage wollte, ja, musste er herausfinden.

»Hatte Ihre Schwester einen Freund?«

Er sah in die Runde. Schweigen. Dann antwortete die Schwester: »Nicht dass ich wüsste. Sie war ungebunden, hat sich amüsiert, wollte sich noch nicht festlegen.« Sie schien jedes Wort genau abzuwägen, ihr Blick streifte kurz Reitbauer, dann ergänzte sie: »Monika hat gern mit Männern geflirtet, aber es war nichts Ernstes in Sicht. Zumindest soweit ich das abschätzen kann.«

»Können Sie uns bitte eine Liste mit den Namen ihrer Verehrer und Freunde erstellen. Auch wenn Sie sagen, es war nichts Ernstes, so will ich doch mit allen reden, die mit ihr gelegentlich in Kontakt waren, auch mit den Freundinnen.«

»Werden wir«, bestätigte Monikas Vater. Seine Tochter sah wieder Sepp Reitbauer an. Der erwiderte ihren Blick nicht, sondern schaute auf die Tischplatte. Für Brandner war die Reaktion des jungen Postenkommandanten daher umso verdächtiger.

»Hat Monika eigentlich je etwas Auffälliges über ihre Arbeitgeber bei Schuster Schuhe gesagt?«, wollte Brandner noch wissen.