Mostviertler Jagd - Helmut Scharner - E-Book

Mostviertler Jagd E-Book

Helmut Scharner

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Beschreibung

Mostviertel, Niederösterreich. Ein Zwölfender liegt erschossen auf einer Waldlichtung - der jüngste Fall einer Serie von illegalen Abschüssen, die Kommissar Brandner vor ein Rätsel stellen. Er geht zunächst von einem Wilderer aus, bis auch Menschen dem Täter zum Opfer fallen. Außer einem Schuhabdruck und dem Kaliber der Tatwaffe gibt es keine brauchbaren Indizien. Brandner ermittelt unter Sportschützen und Jägern, nicht ahnend, dass seine Ermittlungen ihn auf die Spur alter Bekannter führen …

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Helmut Scharner

Mostviertler Jagd

Kriminalroman

Zum Buch

Im Fadenkreuz Mostviertel, Mai 2015. Monatelang hat Hans Mayer mit seinem Scharfschützengewehr wie besessen trainiert. Er hat nur ein Ziel: Rache am chinesischen Industriellen Chan, der seine Ex-Verlobte auf dem Gewissen hat und für das Trauma seiner Schwester verantwortlich ist. Die anstehende Hochzeit zwischen Chans Tochter und dem Erben der Waidhofener Unternehmerfamilie Schuster bietet ihm die ideale Gelegenheit, um den skrupellosen Geschäftsmann endlich bezahlen zu lassen. Doch der Mann aus Fernost verfolgt mit der Vermählung einen eigenen hinterhältigen Plan, um sich das Schusterimperium unter den Nagel zu reißen.

Von alledem ahnt Kommissar Brandner vom LKA Stankt Pölten nichts, als er in seinem neuen Fall einem Wilderer nachspürt. Der Schütze hat bereits mehrere Rehe und Hirsche kaltblütig erschossen und in den Wäldern des Mostviertels zurückgelassen. Doch schon bald zielt er auch auf Menschen …

Helmut Scharner, geboren 1975 in Niederösterreich, ist derzeit als Sales Manager für den größten österreichischen Stahlkonzern tätig. Dabei zählt unter anderem die Schuhindustrie zu seinem Kundenkreis. Seine beruflichen und privaten Reisen führten ihn bisher in über 50 Länder. Mit seiner Familie lebt er im niederösterreichischen Mostviertel. Bewacht werden sie von der stets kampfbereiten Schmusekatze Hexi. In seinen Kriminalromanen »Mostviertler«, »Mostschlinge« und »Mostviertler Jagd« steht ein österreichischer Sportschuhhersteller im Brennpunkt. Helmut Scharner ist Mitglied der Autorenvereinigungen »Das Syndikat« und der österreichischen Krimiautoren.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mostschlinge (2017)

Mostviertler (2016)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © visualpower / shutterstock.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6172-9

Widmung

Allen gewidmet, die ihr Leben für andere riskieren.

Prolog Oktober 2014

Waidhofen

Der Tag der Abrechnung war gekommen. Seit den frühen Morgenstunden lauerte Hans auf seinem Platz. Von einer kleinen Anhöhe aus überblickte er die Umgebung, das Wäldchen schützte ihn vor neugierigen Blicken. Die Blätter der Laubbäume hatten sich herbstlich verfärbt. Hans befand sich inmitten eines Meeres aus Braun, Gelb und Orange und schon bald würde er dafür sorgen, dass sich der Asphalt des Parkplatzes vor der Schuster Schuhe GmbH rot färbte.

Hans trug seine dunkle Herbstjacke, dazu eine Kappe, die seine Ohren schützte, feste Stiefel und dünne Handschuhe. Obwohl er bereits Stunden wartete, spürte er die Kälte nur im Gesicht. Seine Finger waren nicht beeinträchtigt, er konnte sie gut genug bewegen, um ohne Probleme den Abzug zu betätigen.

In den vergangenen Monaten hatte sich Hans davon überzeugt, dass Steyr Mannlicher die besten Jagdgewehre herstellte. Er hatte sich mit seinem Steyr Elite vertraut gemacht und unzählige Schüsse abgefeuert. Mithilfe der Swarovski-Optik verfehlte er mittlerweile sein Ziel auch aus Hunderten Metern Entfernung nicht.

Hans blickte auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Gleich begann die Aufsichtsratssitzung. Mit dem Feldstecher suchte er die Umgebung ab. Ein Jeep näherte sich auf der Zufahrtsstraße dem Firmenparkplatz. Dahinter fuhr Valerie Schusters grüner Mini Cooper. Hans sah, wie die beiden Autos nebeneinander auf den Gästeparkplätzen direkt vor dem Eingang des Glasgebäudes einparkten.

Valerie Schuster trug einen hellroten Mantel, dazu farblich abgestimmte Stiefel. Samuel Schuster schien direkt von der Jagd zu kommen. Ich hätte eine ähnliche Kleidung wählen sollen, dann könnte ich jederzeit erklären, was ich hier mache, ging es Hans durch den Kopf. Er verfolgte, wie Valerie Schuster gemeinsam mit ihrem Onkel das Bürogebäude der Schusters betrat, und verwarf seinen Gedanken. Sämtliche Jäger der Umgebung waren den Einheimischen bekannt und vor allem kannten sich die Jäger untereinander. Ich könnte sie mit keiner noch so guten Tarnung täuschen. Wenn mich ein Waidmann sieht, fliege ich auf. Hans schaute nochmals auf die Uhr. Zwei Minuten vor zehn. Chan musste jeden Moment eintreffen. Alle anderen Mitglieder des Aufsichtsrats befanden sich bereits im Gebäude. Ausgerechnet sein Zielobjekt kam als Letzter.

Ich muss ruhig bleiben. Darf nicht nervös werden. Chan wird kommen. Er ist im Aufsichtsrat. Die Sitzung findet heute statt. Der Zeitpunkt für die Abrechnung ist gekommen.

Für Juliana.

Für Resi.

Seine Finger begannen, leicht zu zittern. Ein Windstoß wirbelte die Blätter auf. Er roch die feuchte Erde, die ihn umgab.

Chan wird Juliana ins Grab folgen, aber er wird in der Hölle schmoren. Zu lange lebt er schon mit seiner Schuld. Bald liegt er unter der Erde, modert vor sich hin und wird von den Würmern gefressen.

Hans atmete bewusst langsam aus. Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es inzwischen einige Minuten nach zehn war.

Alle sind im Gebäude, außer Chan. Ahnt der Chinese die Gefahr?

Das ist unmöglich, keiner weiß davon. Mutter vermutet etwas, aber ihr konnte ich es am allerwenigsten sagen. Im Gefängnis werden unsere Gespräche sicher aufgezeichnet.

Fünf Minuten nach zehn. Wieso kommt er nicht?

Eugen Schuster und Chans Tochter Jennifer waren bereits um 8 Uhr morgens eingetroffen. Mit Valerie und Samuel Schuster waren vier der fünf Mitglieder des Aufsichtsrates der Schuster Schuhe GmbH im Gebäude des Schuhherstellers. Für die Sitzung mussten alle Mitglieder anwesend sein, Hans hatte es mehrmals überprüft. Auch der chinesische Geschäftsmann, der Hans’ ehemalige Verlobte auf dem Gewissen hatte, würde an diesem Tag dabei sein.

Wieso taucht er nicht auf?

Hans spähte durch seinen Feldstecher. Ausgehend vom Parkplatz folgte er der Zufahrtsstraße. Sie schlängelte sich durch die hügelige Landschaft, verschwand hinter einigen Bäumen, tauchte wieder auf und verzweigte sich. Von dort führten Zufahrten zu anderen Firmen, der etwas breitere Zweig mündete nach wenigen Metern in die Bundesstraße. Ein Laster fuhr vorbei, dahinter hatte sich eine Kolonne von mehreren Autos gebildet. Keines der Fahrzeuge bog auf die Straße zum Schuhhersteller ein.

Entnervt legte Hans den Feldstecher zur Seite und holte sein Smartphone aus der Jackeninnentasche. Er entriegelte es und gab die Nummer der Schusters ein, die er noch immer auswendig kannte aus der Zeit, in der er selbst für den Schuhkonzern gearbeitet hatte.

»Müller von der ›Mostviertler Zeitung‹. Ich würde gerne Herrn Chan interviewen. Heute ist Aufsichtsratssitzung, daher befindet sich Herr Chan doch in den nächsten Tagen in Österreich, oder etwa nicht?«, fragte er die Dame an der Rezeption freundlich.

»Herr Chan ist leider krank. Daher hat er seine Reise nach Österreich abgesagt. Wenn Sie mir Ihren Namen und eine Telefonnummer für einen Rückruf nennen, frage ich gerne für Sie nach, wann Herr Chan oder eventuell seine Tochter für ein Interview Zeit haben.«

Verdammt! Alles umsonst!

»Herr Müller, sind Sie noch dran?«

»Danke für Ihr Angebot. Ich melde mich bei Ihnen«, sagte Hans rasch und beendete das Gespräch.

Eine Minute später startete er seinen schwarzen Opel Corsa mit dem Wiener Kennzeichen. Er fuhr die schmale asphaltierte Straße weiter bergauf. Vom Bergkamm bot sich ihm ein wunderschöner Panoramablick auf die hügelige Landschaft des Mostviertels. Die Basilika Sonntagberg thronte weithin sichtbar auf dem gegenüberliegenden Gipfel. Er blieb am Straßenrand stehen und stellte den Motor ab.

Was mache ich jetzt? Muss ich mich ein halbes Jahr gedulden? Bleibt dieser Teufel noch so lange am Leben?

Mir bleibt keine Wahl. Ich könnte zwar nach China oder Vietnam reisen und ihn dort töten. Aber auf unbekanntem Terrain wäre es schwieriger. Eine Waffe dorthin zu schmuggeln ist für mich unmöglich. Ich müsste sie vor Ort besorgen. Das wäre nicht einfach. Die Waffe würde ich nicht kennen, könnte nicht genug üben, mich mit ihr nicht anfreunden. Was würde passieren, wenn etwas schiefgeht? Was, wenn ich Chan nicht erledige? Wenn sie mich erwischen würden? In einem Gefängnis in Asien überlebe ich keine zwei Wochen.

Hans startete den Motor wieder. Ein letzter Blick auf die Basilika und er traf seine Entscheidung: Ich werde warten. Früher oder später wird Chan nach Österreich kommen. Und ich werde bereit sein.

Hans wendete den Blick von der Kirche ab, legte den ersten Gang ein und fuhr talwärts in Richtung Waidhofen.

Kapitel 1Mai 2015

Ybbsitz

Die grob geschotterte Forststraße auf den Friesling verlief steil ansteigend am Fuße des Berges, sodass sich der Allradantrieb in Brandners Audi auszahlte. Wenig später schlängelte sie sich flach durch einen Fichtenwald. Das Navigationssystem zeigte keinerlei befahrbaren Weg oder gar eine Straße an, stattdessen lotste Sepp Reitbauer den Kommissar per Telefon durch die Wildnis inmitten des Mostviertels.

»Rechts zweigt eine Straße ab, ich kann aber auch geradeaus weiterfahren«, sagte Brandner laut und deutlich, damit der Postenkommandant ihn durch die Freisprechanlage verstehen konnte.

»Immer geradeaus, gleich sind Sie da.«

Brandner folgte der Schotterstraße. In der Mitte der Fahrbahn wuchsen Gräser, die die Kühlerhaube seines Autos überragten. An der linken Straßenseite fiel der Hang steil bergab.

Ich möchte hier beim besten Willen kein Lastwagenfahrer sein, der das Holz einsammelt und es nach unten zum Sägewerk bringt. Brandner schüttelte den Kopf. Er war schon froh, mit seinem Audi A6 heil nach oben und später wieder hinunter zu gelangen, ohne eine tonnenschwere Last im Rücken zu wissen. Die Straße verlief nach rechts um den Bergkamm herum. Er sah die drei Polizeiautos vor sich. Davor stand der junge Postenkommandant und zeigte dem Kommissar mit einer Armbewegung, wie er hinter den Einsatzfahrzeugen einparken sollte. Brandner achtete nicht auf den Mann in Uniform, sondern blieb einfach stehen, stellte den Motor ab und zog die Handbremse an.

»So sieht man sich wieder«, begrüßte er Reitbauer, als er ihm die Hand schüttelte.

»Alle Jahre wieder«, antwortete Reitbauer. »Kommen Sie, der Tatort ist nicht weit von hier.«

Die beiden Männer kletterten über die steinige Böschung auf der rechten Straßenseite, die einen guten Meter hoch war. Auf der anderen Seite hatten sie das Moos des Waldbodens unter ihren Füßen.

»Ein Wildwechsel, daher ist hier mitten im Wald ein Pfad. Die Tiere müssen zwar die Straße queren, aber das dürfte sie kaum stören, da hier nur der Jäger und die Holzfäller unterwegs sind«, erklärte Reitbauer dem Kommissar.

Es war ruhig. Fast zu still, erschien es Brandner, für einen Tag mitten im Frühling. Nadeln und Zapfen säumten den Waldweg, dem sie folgten.

Vögel sollten zwitschern! Ein Specht, der einen Baumstamm malträtiert. In meiner Kindheit habe ich immer einen Specht im Wald hämmern gehört. Brandner konzentrierte sich, schärfte sein Gehör, soweit es ihm möglich war. Nach einer knappen Minute, in der er gemeinsam mit Reitbauer den Waldweg entlanggegangen war und nur die Geräusche der eigenen Schritte an seine Ohren gedrungen waren, hörte er zwar keinen Specht, aber Männerstimmen.

Der Tatort war pflichtgemäß abgesperrt. Die Männer befanden sich außerhalb des gesicherten Bereichs. Drei Polizisten in Uniform und ein Jäger in einem grünen Lodenmantel mit passendem Hut begrüßten den Kommissar. Der Waidmann trug sein Gewehr geschultert, er war im Pensionsalter, sein Oberlippenbart ergraut.

»Ich war heute früh im Wald. Es muss gegen 6 Uhr gewesen sein, als ich den Schuss gehört habe«, erklärte der Jäger.

»Haben Sie jemanden gesehen?«, wollte Brandner wissen.

»Nur gehört, ich hielt weiter oben am Berg Ausschau von meinem Hochstand. Dann fiel der Schuss, kurz danach wurde der Motor eines Autos gestartet. Es war nicht allzu weit weg. Der Knall kam nicht vom Nachbarrevier.«

Brandner nickte. »Sind Sie dem Fahrzeug gefolgt?«

»Nein, ich hab gewusst, dass er ungefähr von hier weggefahren sein muss. Den Wildwechsel kenne ich natürlich, daher bin ich stehengeblieben und den Pfad entlanggelaufen bis hierher. Da habe ich ihn gesehen.«

Brandners Blick folgte der Armbewegung des Jägers.

»Er war sofort tot, perfekter Schuss«, stellte der Waidmann fest. »Ich hab ihn schon einige Monate lang angesprochen. Er war neu in meinem Revier. Ein Zwölfender.«

Brandner duckte sich, hob das Band der Absperrung leicht an und schlüpfte darunter durch. Er bat den Jäger, ihm zu folgen.

Der Hirsch lag seitlich ausgestreckt auf der kleinen Lichtung, die sich mitten im Wald auftat. Wären das Einschussloch und die geöffneten, reglosen Augen nicht gewesen, hätte Brandner vermutet, der Hirsch hielte ein Schläfchen. Blut war kaum aus der Wunde ausgetreten. Der Geruch, der vom Hirsch ausging, war anders als der von einem toten Menschen, kam es ihm in den Sinn, er konnte aber nicht sagen, was genau den Unterschied ausmachte.

»Der Wilderer hat ihn also nur erschossen. Sonst hat er nichts mitgenommen«, stellte Brandner fest.

»Stimmt, nicht einmal die Trophäe. Aber vielleicht hat er mich ja gehört und ist schnell geflohen«, merkte der Jäger an.

»Möglich«, sagte Brandner.

Der Kommissar glaubte jedoch nicht daran. Der Jäger hatte laut seiner vorigen Angabe erst reagiert, als der Wilderer den Motor seines Autos gestartet hatte. Wie hätte er ihn vorher hören sollen? Außerdem handelte es sich bereits um den zweiten Fall von Wilderei im Mostviertel, der innerhalb der letzten drei Wochen gemeldet worden war. Das erste Opfer war ein Rehbock gewesen. Das Tier war erst nach zwei oder drei Tagen von einer Gruppe Wanderer entdeckt worden. Der Wilderer hätte alle Zeit der Welt gehabt, den Bock in sein Fahrzeug zu verfrachten, ihn vor Ort auszunehmen oder wenigstens die Trophäe abzutrennen und mitzunehmen.

Nein, darum geht es ihm nicht. Er will töten, sonst nichts, dachte Brandner. Eventuell ist es doch nicht so verkehrt, dass mich Böck hierhergeschickt hat.

»Woher, denken Sie, kam der Schuss?«, fragte er den Waidmann.

»Schwer zu sagen.«

»Wenn Sie hier auf dieser Lichtung einen Abschuss tätigen wollten, wo würden Sie Position beziehen?«

Der Jäger sah sich um, dann deutete er geradeaus. »Wir befinden uns in einer leichten Senke. Dort drüben ist man etwas höher. Man hätte einen guten Blick. Außerdem kommt der Wind aus der entgegengesetzten Richtung.«

Hinter zwei Fichten stießen sie auf zertretenes Gras. Von dort verlief die Spur entlang des Waldrandes herum um die Lichtung, bis sie in den Pfad des Wildwechsels mündete.

»Danke, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Brandner, als sie hinter die Absperrung zu Reitbauer und den anderen Polizisten zurückkehrten.

»Er hat von dort hinten geschossen, ich habe die Stelle gerade dem Kommissar gezeigt!«, erklärte der Jäger den Polizisten stolz.

»Soll ich die Spurensicherung rufen?«, fragte Reitbauer.

»Nein, das ist nicht nötig.«

Mich hat Böck zwar hierhergeschickt, aber der Mordsaufwand mit den Kriminaltechnikern lohnt sich wegen einem Wilderer nicht. Die haben Wichtigeres zu tun. Die Kugel stellen wir dennoch sicher. Dann haben wir einen Beweis, falls wir ihn erwischen.

»Und Sie konnten wirklich nichts erkennen, haben das Auto oder den Fahrer nicht gesehen?«, fragte er den Mann in dem Lodenmantel noch einmal.

»Nein, nur den Schuss, eine Autotür und danach das Motorengeräusch habe ich gehört. Gesehen habe ich rein gar nichts.«

»Wie klang das Fahrzeug?«

»Na ja, ich schätze, ein kleineres Modell. Kein Jeep und auch kein Range Rover.«

Kapitel 2

Wien

Lächelt sie mich tatsächlich an? Flirtet sie mit mir? Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Hans so etwas wie Schmetterlinge in seinem Bauch.

Sie befanden sich allein in seinem Büro der ›Baugart‹, einer Zulieferfirma für Baumärkte und Gärtnereien, für die Hans im Ein- und Verkauf arbeitete. Die beiden saßen eng nebeneinander, sodass sie einen guten Blick auf den großen Flachbildschirm hatten und abwechselnd die Tastatur bedienen konnten. Ein leichter Frühlingsduft umschmeichelte seine Nase.

»Habe ich doch gerne gemacht«, sagte Hans zu Natalie.

»Trotzdem, ich weiß, dass du auch ohne mich mehr als genug zu tun hast.«

»Du sollst uns möglichst bald entlasten. Es kommt mir also selbst zugute, wenn du schnell deine Aufgaben beherrschst. Und du lernst wirklich rasch, das muss man dir lassen.«

»Danke.«

Aus ihren braunen Augen strahlte Natalie ihn einen Moment lang an, bevor sie – zu schnell für seinen Geschmack – ihren Blick abwendete, um den Text auf dem Bildschirm vor ihr zu studieren.

»Also, wir haben das Material im System angelegt, das wir bestellen wollen. Jetzt geht es mit der Bestellanforderung weiter. In Kurzform nennen wir die ›Banf‹.«

Natalie machte einen Screenshot, stand auf und ging Richtung Drucker, der an der Wand neben der Eingangstür stand und schon mit seiner Arbeit begonnen hatte. Hans blickte ihr nach. Sie war schlank und um einiges kleiner als er selbst, trug dunkelblaue Jeans und ein rotes Top. Mit Stöckelschuhen versuchte sie, größer zu erscheinen. Ihr Gang und ihre Haltung wirkten weiblich und selbstbewusst. Die dunkelbraunen Haare trug sie schulterlang und leicht gelockt.

Natalies Haare ähneln Julianas. Sonst haben die beiden kaum etwas gemeinsam.

»Treibst du eigentlich Sport?«, fragte er, als Natalie mit dem Blatt Papier in der Hand zurückkam.

Sie schaute ihn verdutzt an. Sofort bereute er seine Frage.

»Ja, wie kommst du darauf?«

Natalie blieb vor ihm stehen, den rechten Arm stützte sie auf ihrer Hüfte ab, die Brust drückte sie heraus.

Was für eine blöde Frage. So aus dem Nichts. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Hans stieß sich mit den Füßen ab, brachte mit seinem Rollsessel etwas Abstand zwischen sich und Natalie. »Du siehst sehr sportlich aus, daher dachte ich ja … du musst eine Sportart betreiben, die sehr …«

Natalie blickte ihn fragend an.

»Wie muss die Sportart sein, die ich betreibe?«

Wieso verunsichert sie mich so?

»F… fordernd … ja, fordernd muss diese Sportart sein … für den ganzen Körper«, antwortete er.

»Ach so.« Natalie setzte sich zurück an den Schreibtisch. »Wie geht es jetzt weiter mit der ›Banf‹?«

Hans rollte näher heran, sofort roch er wieder den Frühlingsduft. Jetzt, da sie ihn so verunsichert hatte, war ihm ihre Nähe umso bewusster.

Ich lerne sie an, kein Grund, nervös zu sein, redete er sich in Gedanken zu, als er ihr die nächsten Schritte am Computer erklärte, die notwendig waren, um eine Bestellanforderung zu erstellen. Mit jeder Erläuterung, jedem weiteren Schritt wurde er souveräner.

Als Hans am Abend die Schulung beendete, dachte er nicht mehr an das Gespräch. Er meldete sich ab und fuhr den Computer herunter. Natalie heftete ihre Ausdrucke in einen Ordner, danach stand sie auf und blickte Hans an.

»Wakesurfing«, sagte sie zu ihrem erfahrenen Kollegen.

»Was?«, fragte er verwirrt.

Natalie grinste ihn schelmisch an. »Du wolltest wissen, welchen Sport ich treibe.«

»Wakesurfing.«

»Genau«, bestätigte sie. Dann drehte sie sich um, griff nach ihrer Handtasche und dem Ordner, trat einen Schritt in Richtung Tür, stoppte jedoch in der Bewegung und wendete sich noch einmal Hans zu.

»Also, wenn du willst«, sagte sie, »nun, du trainierst mich hier ja praktisch für den Ein- und Verkauf. Wenn du möchtest, bringe ich dir Wakesurfen bei.«

Perplex stand Hans auf. Will sie sich mit mir verabreden? Erneut machte sie ihn vollkommen unsicher, sodass anstelle einer abgeklärten Antwort nur ein Stammeln von ihm zu hören war. Einen Moment lang herrschte eine unangenehme Stille.

»Also, wenn du nicht willst, dann nicht. Ich dachte nur, wir könnten auch außerhalb des Büros etwas unternehmen.«

Während sie die Worte gesprochen hatte, war Natalie zur Bürotür gegangen.

»Warte«, lag es Hans auf der Zunge. Er wollte ihr nachlaufen, sie aufhalten, ihr sagen, dass er gerne mit ihr Wakesurfen lernen würde – was immer das genau war –, dass er alles tun würde, was sie wollte, um mit ihr Zeit außerhalb des Büros zu verbringen.

Natürlich sagte er nichts dergleichen.

Es geht zu schnell, redete er sich ein. Ich kenne Natalie erst einige Tage, und ich muss mich auf meine Aufgabe konzentrieren, darf nicht den Fokus darauf verlieren, darf mich nicht ablenken lassen.

»Bis morgen!«, rief er ihr nach.

Später am Abend in seinem Schlafzimmer blickte Hans durch das Fernrohr, das er am Fenster seines Schlafzimmers aufgebaut hatte. Er kam seiner Lebensaufgabe nach, ein wachsames Auge auf seine Schwester zu haben. Das war er seiner Mutter, Waltraud Mayer, schuldig, da sie auch für ihn im Gefängnis saß, verurteilt für die Morde an Josef und Jakob Schuster sowie den Mord an den alten Schusters Jahre zuvor. Sie hatte die Schusterfamilie für den Tod ihres Mannes, Hans’ Vater, verantwortlich gemacht und Josef Schuster auf der Schusteralm getötet. Aber erst, nachdem Hans Josef Schusters Neffen Jakob erstochen hatte. Hans’ Mutter hatte beide Morde gestanden und büßte für ihren Sohn die Strafe ab. Jakob hatte mit Juliana, die mit Hans verlobt gewesen war, geschlafen und dann seinen gierigen Blick auf Hans’ kleine Schwester Resi geworfen, die am Anfang einer Schauspiel- und Gesangskarriere stand. Hans kam es zu, seine Schwester zu beschützen, nachdem der Vater auf einer Baustelle ums Leben gekommen war. Deshalb musste Jakob Schuster sterben. Vor einem Jahr hätte er dennoch fast versagt. Juliana, mit der er beinahe eine neue Beziehung begonnen hatte, wohnte mit Resi in einer WG, als Chan seine Schergen schickte. Seine Ex-Verlobte war dem chinesischen Geschäftsmann und seinen skrupellosen Machenschaften zu nahe gekommen und musste beseitigt werden. Der Serienmörder Peter Schwarz, Produktionschef der Schuster Schuhe GmbH, war mithilfe einer fingierten E-Mail an den Tatort gelockt worden, um ihn als Sündenbock dastehen zu lassen. Neben Julianas Leiche war Schwarz dort auf Resi getroffen, nur Hans’ Auftauchen hatte wenigstens das Leben seiner Schwester gerettet, er hatte Schwarz in einem Kampf getötet.

Resi lümmelte auf der Couch herum, neben ihr stand ein Glas Rotwein auf dem Beistelltisch. Hans schwenkte das Fernrohr. Der Cabernet Sauvignon kam aus Frankreich. Die Flasche war fast leer. Wie in den Nächten zuvor lief auf ihrem Flachbildschirm ›Flashdance‹. Hans konnte nicht sagen, wie oft seine Schwester den Tanzfilm aus den 80ern schon angesehen hatte, seit sie aus der Nervenheilanstalt als wiederhergestellt entlassen worden war und in der gegenüberliegenden Wohnung in der Pramergasse lebte. Irgendwo zwischen zehn- und zwanzigmal hatte er zu zählen aufgehört. Einige Male hatte er sicher versäumt, Resi war ja tagsüber daheim, während er arbeiten musste. Immer wieder derselbe Film, den sie sich bis zum Exzess zumutete, und dazu der gesteigerte Alkoholkonsum. Sie bereitete ihm Sorgen und auch für ihn wurden so die Nächte kurz.

Resi hat es nicht verkraftet, sie kommt nicht darüber hinweg. Kein Wunder, um Haaresbreite ist sie dem Tod von der Schippe gesprungen.

Seine Schwester füllte ihr Glas Rotwein auf und leerte dabei die Flasche vollständig.

Alles wegen diesem Chan. Ich darf nicht aufgeben. Noch in diesem Jahr ist er fällig!

Hans drehte sich um und ging zum kleinen Wandschrank, der sich neben dem größeren Kleiderkasten befand. Er holte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, schloss mit dem kleinsten Schlüssel auf und öffnete die Flügeltür. Dahinter kam das Jagdgewehr zum Vorschein.

»Du wirst mich nicht im Stich lassen.«

Mit seiner rechten Hand strich er behutsam über den Lauf der Waffe. Er nahm sie aus der Halterung, legte sie an seine Schulter und schaute durch das Objektiv. Der Lauf zeigte dabei ständig Richtung Mauer. Das Fenster mied er beinahe krampfhaft. Hans hatte zwar keine Gewissensbisse, seine Schwester ohne deren Wissen durch das Fernrohr zu beobachten, aber mit dem Gewehr im Anschlag wollte er sie keinesfalls ins Visier nehmen. Mehrmals rasch hintereinander setzte er die Waffe ab und nahm sie in Anschlag. Er wog sie in seinen Händen. Wie jeden Tag hantierte er eine gute Viertelstunde mit dem Steyr Elite. Auch wenn er nur an den Wochenenden zum Schießstand fuhr, nutzte er die Tage dazwischen, um sich mit der Waffe noch vertrauter zu machen.

Sie ist ein Teil von mir geworden, mit ihr fühle ich mich sicherer als voriges Jahr. Chan, deine Tage sind gezählt. Du entkommst mir nicht!

Als er fertig war, fixierte Hans das Gewehr in der Vorrichtung im Wandschrank und schloss ab. Die Waffe hatte er legal erworben, und er bewahrte sie gemäß den Vorschriften auf. Mit seiner Waffenbesitzkarte konnte ihm nichts passieren, solange er sich nichts zuschulden kommen ließ. Erst nach dem Anschlag werden sie mich jagen.

Kapitel 3

»Wir sollten uns bald entscheiden«, stellte Leopold Brandner fest.

Seine Frau Eva strich Butter auf ihr Vollkornbrot und antwortete ihm nicht. Nur ihre Miene verfinsterte sich. Selina, seine jüngste Tochter, war damit beschäftigt, Nutella auf ihr Brot zu schmieren. Seine ältere Tochter, Isabella, meldete sich energisch zu Wort: »In Sankt Pölten gehe ich sicher nicht zur Schule. Ich bleibe in meiner Klasse in Wien!«

»Aber, wenn wir alle nach Sankt Pölten …«

»Leo, du siehst, es hat keinen Sinn«, unterbrach ihn Eva. »Überleg doch selbst, wie es früher für dich war, als du jung warst. Wie hättest du dich gefühlt, wenn du dich auf einmal von all deinen Freunden hättest trennen müssen, weil dein Vater seinen Arbeitsplatz gewechselt hat? Also, ich verstehe nur zu gut, wieso sich Isabella dagegen wehrt«, fügte sie hinzu.

Und selbst bleibst du auch lieber in Wien, statt mit mir nach Niederösterreich zu ziehen, wollte Brandner am liebsten antworten, verkniff sich jedoch die bissige Bemerkung. Stattdessen schaute er demonstrativ auf die Uhr. »Wir diskutieren ein anderes Mal weiter, jetzt muss ich los.«

»Ich bleibe in Wien!«, schrie Brandners älteste Tochter. Gleichzeitig schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Das Scheppern des Geschirrs hallte noch nach, als sie längst aus der Küche hinausgestürmt war.

Eva zuckte die Achseln.

Die kleine Selina begann zu weinen.

»Ich muss fahren.«

»Ja, lass mich mit ihnen allein, jetzt, wo du uns den Tag versaut hast«, hörte Brandner Eva ihm hinterherrufen, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Er schlüpfte in sein Sakko. Genau im selben Augenblick meldete sich sein Smartphone.

»Herr Brandner, Reitbauer hier. Er hat wieder zugeschlagen.«

»Der Wilderer? Wo?«

»Auf der Schusteralm in Hollenstein. Wollen Sie sich den Fundort selbst ansehen?«

Eigentlich nicht, aber Böck hat mich auf den Wilderer­fall angesetzt.

»Ja, ich bin noch in Wien, rufe nur kurz im Büro an, dann fahre ich sofort nach Waidhofen und erst gar nicht ins LKA.«

Zwei Stunden später traf Brandner mit Reitbauer in Hollenstein ein. Er steuerte seinen silbernen Audi A6 in Richtung des Skigebietes Königsberg, dann bogen sie auf die Bergstraße ab, die zur Schusteralm hinaufführte.

»Schon komisch, vor zwei Jahren sind wir im Winter hier hochgefahren.«

»Damals hat es stark geschneit«, bestätigte Brandner. Lebhaft konnte er sich daran erinnern.

Der Einsatz hier auf der Schusteralm war der Anfang von meinem Ende beim BKA. Während der Ermittlungen zum Tod von Jakob Schuster war Brandner mit der Schusterfamilie und dem chinesischen Industriellen Chan auf der Alm eingeschneit worden. In der Nacht nach dem Mord an Jakob war Josef Schuster ermordet worden, während Brandner unter demselben Dach gewesen war. Der Mord an Josef Schuster, während ich in der Hütte war, hätte nie passieren dürfen. Der hat mich angreifbar gemacht. Auch der Frauenmörder trieb im Mostviertel sein Unwesen. Den Fall habe ich gelöst, trotzdem verdanke ich ihm meine Versetzung ins LKA.

Hier hat alles begonnen.

Brandner lenkte den Audi an dem Kreuz vorbei, das am Straßenrand platziert war und hinter dem es steil talwärts ging. Das Andenken an den Firmengründer der Schuster Schuhe GmbH stand genau dort, wo er vor vielen Jahren mit seiner Frau tödlich verunglückt war, weil die Bremsen seines Autos manipuliert worden waren. Waltraud Mayer hat ganze Arbeit geleistet, ging es Brandner durch den Kopf. Vier Familienmitglieder der Schusters hat sie um die Ecke gebracht. Vielleicht waren es auch nur drei, wenn ihr Sohn für den Mord an Jakob Schuster verantwortlich ist. Jedenfalls sitzt sie dafür hinter Gittern und wird hoffentlich nie wieder einen Fuß außerhalb der Gefängnismauern setzen.

Der Kommissar war überzeugt, dass Jakob Schuster von Hans Mayer ermordet worden war, und dass seine Mutter für ihn die Schuld auf sich genommen hatte. Aber beweisen konnte er das nicht. Brandner seufzte laut auf. Neben ihm sah ihn der uniformierte Reitbauer fragend an.

»Ich habe nur an die gute alte Zeit zurückgedacht«, erklärte Brandner dem Waidhofener Postenkommandanten.

»Verstehe, was Sie meinen. Es ist doch ganz etwas anderes, einen Mörder zu jagen. Ein Wilderer ist da keine große Sache, keine wirkliche Herausforderung für uns.«

Vor Brandner tauchte die Schusteralm auf. Samuel Schuster, der eine grüne Jägersmontur trug, stand neben zwei Polizisten vor der Eingangstür.

»Vergessen Sie nicht den Wilderer vom Annaberg. Er hat mehrere Polizisten erschossen, bevor wir ihn gekriegt haben. Um ein zweites Desaster wie dieses zu vermeiden, ermitteln wir von Beginn an mit äußerster Sorgfalt. Wir dürfen keinen Fehler machen!«, ermahnte Brandner, als er neben dem Polizeiauto einparkte.

Die Schusteralm hat sich nicht verändert, im Frühling sieht sie aber um einiges freundlicher aus als am Ende eines langen Winters, stellte Brandner fest. Umso besser verstand er jetzt Samuel Schuster, der seit Jahren den Großteil seiner Zeit auf der familieneigenen Alm verbrachte und sich nicht mehr um das Unternehmen kümmern wollte, an dem er eine Beteiligung hielt. Eugen Schuster, Jennifer Chan und vor allem ihr Vater widmeten sich mit großem Einsatz der Geldvermehrung, während das Familienoberhaupt hier oben auf die Pirsch ging.

Der Kommissar schüttelte Samuel Schuster die Hand. Dessen Gesicht war gerötet und vom Wetter gegerbt. Das grünweiße Hemd hielt den Bauch des Trägers nur schwer im Zaum. Sein Gewehr trug der Waidmann in der linken Hand.

»Zeigen Sie uns bitte die Stelle«, sagte Brandner nach der Begrüßung. Lassen Sie aber bitte ihr Gewehr hier, dachte er sich, hielt sich jedoch zurück. Auch wenn es ihn störte, wenn Personen, die nicht in Uniform waren, Waffen mitführten, so konnte er dem Jäger die Mitnahme seines Gewehrs in dessen Jagdrevier kaum verwehren.

Der Rehbock war viel zu jung gewesen, um geschossen zu werden, erfuhr Brandner von Samuel Schuster. Die Trophäe war nicht der Rede wert, der Wilderer hatte sie auch diesmal nicht mitgenommen. Bis auf das Einschussloch war der Rehbock unversehrt und lag wie der Hirsch auf dem Friesling seitlich ausgestreckt auf dem Waldboden. Der süßliche Geruch, der von ihm ausging, war intensiver als beim Hirsch vor wenigen Tagen. Der Fäulnisprozess war weiter fortgeschritten. Mit Schusters Unterstützung fanden sie erneut rasch die Stelle, von der aus der Täter den Rehbock vermutlich erlegt hatte. Es handelte sich um einen der Hochstände, die der Waidmann regelmäßig für seine Beobachtungen nutzte. Sollte er das Holz auf Fingerabdrücke untersuchen lassen? Brandner verwarf den Gedanken. Wahrscheinlich hatte der Wilderer Handschuhe angehabt. Zu aufwendig die Untersuchung, zu hoch die Kosten, wegen einem Wilderer …

»Wir müssen die Kugel sicherstellen und von der Kriminaltechnik den Abgleich anfordern – erst dann haben wir Gewissheit«, bemerkte Brandner zu Reitbauer gewandt.

»Es handelt sich um einen Wiederholungstäter, oder?«, wollte Schuster wissen.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit«, bestätigte Brandner.

»Ich bin erst gestern am Abend auf die Alm gekommen. Heute Morgen beim Rundgang habe ich ihn gefunden. Ich gehe immer dieselben Stellen ab. Den Bock kenne ich gut, ein paar Jahre hätte ich ihm noch gegeben.«

»Sie haben demnach nichts gehört oder gesehen?«

»Nein, er muss ihn schon vor meiner Ankunft geschossen haben.«

Brandner nickte. Das macht Sinn. Zuletzt ist es richtig eng für den Schützen geworden. Der Jäger in Ybbsitz hätte den Wilderer fast gesehen. Er hätte ihn stellen können, wenn er es darauf angelegt hätte.

»Der Wilderer hat sich vergewissert, dass niemand hier war, und erst dann zugeschlagen.«

»Sieht so aus«, stimmte Schuster zu. »Die Alm wird ja eigentlich nicht mehr bewirtschaftet. Ich bin sowieso der Einzige, der sich hier oben regelmäßig aufhält. Rindviecher holen wir uns gar keine mehr rauf. Dann müsste rund um die Uhr jemand auf sie aufpassen und sie betreuen.«

»Wir haben nicht mehr Anhaltspunkte als zuvor. Der Täter ist vorsichtiger geworden und nicht sehr wählerisch, was die Auswahl seiner Zielobjekte betrifft. Der Bock ist viel jünger als der Hirsch, aber er nimmt ohnehin keine Trophäen mit. Er erlegt die Tiere nur um des Tötens willen.«

»Wenn ich den erwische, dann gnade ihm Gott!«

Schuster befand sich mit Brandner und Reitbauer auf dem Rückweg zu den Gebäuden der Alm, als er die Drohung aussprach. Brandner blieb stehen, zwangsläufig stoppte Schuster hinter ihm. Der Waidmann sah Brandner an, als wüsste er nicht, was den Kommissar dazu bewegt hatte, stehen zu bleiben.

»Herr Schuster, spielen Sie nicht den Helden. Dieser Wilderer ist gefährlich. Er erschießt die Tiere, um zu töten. Sollte Ihnen in Zukunft etwas Verdächtiges auffallen, verständigen Sie uns umgehend, aber halten Sie Abstand zum Wilderer.«

Brandner konnte im Gesicht des Waidmanns keine Gefühlsregung erkennen.

»Versprechen Sie mir bitte, dass Sie keine Alleingänge unternehmen«, beharrte der Kommissar auf eine Antwort.

Schuster nickte kurz, drängte sich an Brandner vorbei und schritt auf dem Waldweg voran, ohne ein Wort zu sagen. Nur die gedämpften Schritte, das Knacken der Äste und zaghaftes Vogelgezwitscher waren zu hören. Vor den drei Männern tauchte die Alm auf und sie gingen geradewegs zu Brandners Auto.

»Übrigens, wie geht es Ihrem Neffen Eugen?«, wollte Brandner von Samuel Schuster wissen, als sie sich voneinander verabschiedeten.

»Gut, denke ich. Wir sind sehr erfolgreich mit unseren fair hergestellten Sportschuhen. Die Fußballweltmeisterschaft letztes Jahr hat uns dabei noch einmal zusätzlich Auftrieb verliehen.«

»Freut mich.« Brandner schüttelte Schuster die Hand. »Wir sehen uns hoffentlich nicht allzu bald wieder.«

Auch Reitbauer verabschiedete sich von Schuster und stieg zu Brandner in den Audi.

»Ein komischer Kauz, dieser Schuster. Da fragen Sie ihn nach Eugen und ihm fällt nichts Besseres ein, als über die fair produzierten Schuhe zu reden.«

Brandner startete den Motor, blickte kurz zu seinem Beifahrer, während er den ersten Gang einlegte. Reitbauer sagte nichts, war offenbar noch nicht bereit weiterzureden, und Brandner wusste nicht, worauf er hinauswollte. Der Kommissar schaute daher nach vorne durch die Windschutzscheibe und konzentrierte sich auf die steile Bergstraße, die er hinabfuhr.

Einige Minuten vergingen, bis Reitbauer endlich weitersprach.

»Ich meine ja nur, in Waidhofen und Ybbsitz reden alle von der bevorstehenden Hochzeit, und er erwähnt sie mit keinem Wort. Der alte Schuster ist wahrscheinlich nicht allzu glücklich darüber.«

Welche Hochzeit? Diesem Reitbauer muss man heute alles aus der Nase ziehen. Das war doch früher nicht so, da war er viel klarer in seinen Aussagen und kam schneller auf den Punkt. Aber vielleicht bin ich auch nur sentimental, dachte Brandner, bevor er Reitbauer die Frage stellte, wer wen heiraten würde.

Kapitel 4

»Steht dein Angebot noch für das Wakesurfen?«, fragte Hans.

Natalie saß ihm gegenüber, sie aßen gemeinsam in der Kantine zu Mittag. Von nun an musste seine neue Kollegin allein zurechtkommen – es war der letzte Schulungstag. Hans hatte Natalie alles beigebracht, was er über das SAP-System, den Bestellablauf und die Auftragsabwicklung wusste. Den Rest musste Natalie selbst herausfinden. Erfahrung konnte man nicht lehren und auch nicht einfach weitergeben.

Natalie wird mir fehlen, die Zeit mit ihr hat mir gut getan. Jetzt ist sie nicht mehr von meinem guten Willen abhängig, sie muss nicht zusagen, nur um ihren Lehrmeister bei Laune zu halten. Über das Wakesurfing habe ich im Internet recherchiert, das sieht nach jeder Menge Spaß aus. Wieso sagt sie nichts?

Natalie schaute ihn an. Mit ihrem Messer schnitt sie ein Stück ihrer vegetarischen Lasagne ab und führte es mit der Gabel zum Mund. Kurz zögerte sie in der Bewegung, für Hans schien es so, als wolle sie ihm antworten, bevor sie das Stück aß, doch dann zuckte sie entschuldigend mit den Achseln und kaute genussvoll.

Hans war nicht nach essen zumute. Er sah, wie sie, während sie hinunterschluckte, bereits den nächsten Happen abschnitt und mit der Gabel aufspießte.

»Nun sag schon, ob du noch immer mit mir surfen willst!«

Natalie hielt inne.

»Woher der plötzliche Sinneswandel? Vor einigen Tagen warst du überhaupt nicht interessiert.«

»Das ist doch gar nicht wahr!«

»Ich habe es dir angeboten und du hast nicht darauf reagiert. Daran kann ich mich noch sehr genau erinnern.«

Natalie saß aufrecht auf ihrem Stuhl.

»Ich habe es dir angeboten, als ich mich zum Feierabend von dir verabschiedet habe und gegangen bin. Außer einem ›Bis morgen‹, habe ich von dir beim besten Willen nichts gehört!«

Natalie sah Hans anklagend an. Sie hat recht, aber so wie sie mich davor überrumpelt hatte, habe ich einfach nichts herausbekommen.

»Was ist jetzt? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Was macht diese Frau nur mit mir? Kaum reden wir nicht über die Arbeit, komme ich mir vor wie ein Schuljunge.

»Es stimmt, Natalie, ich habe nichts gesagt. Aber es hatte nichts mit dir zu tun, oder nein, so stimmt das auch nicht«, beschwichtigte er, als er sah, dass Natalie ihm ungläubig entgegenblickte. »Es hatte sehr wohl etwas mit uns zu tun«, fügte er hinzu. »Ich lerne dich ein, und da wollte ich nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, in deiner Freizeit etwas mit mir zu unternehmen, nur weil ich dein Lehrer bin und du dich nicht getraust, mir eine Abfuhr zu erteilen.«

»Darüber hast du dir Gedanken gemacht? Das ist nicht dein Ernst.« Natalie schüttelte den Kopf, ließ die Gabel los, beugte sich über den Tisch und klopfte ihm leicht auf die Hand.

»Doch, mein voller Ernst!«

»Und da heute mein letzter Schulungstag ist, denkst du, es ist nun in Ordnung, mit deiner ehemaligen Schülerin surfen zu gehen?« Natalie tätschelte nochmals leicht sein Handgelenk. Tadelnd schüttelte sie währenddessen weiterhin den Kopf.

»Genau«, antwortete Hans.

Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein. Am liebsten wäre er im Erdboden versunken. Er spürte die Schamesröte, die ihm ins Gesicht stieg. Aber ihre Berührung hatte sich gut angefühlt, beinahe elektrisiert saß er da.

Was ist los mit mir? Fühlen sich so Flugzeuge im Bauch an?

»Du bist ja süß! Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Wie wäre es gleich mit heute Abend?«

»Was?«

Natalie lächelte.

»Du hast mich schon verstanden. Heute ist unser letzter gemeinsamer Schulungstag, und danach hast du das Vergnügen, von mir Wakesurfen zu lernen.«

So schnell? Blamiere ich mich nicht dabei?

»Wo und wann treffen wir uns?«, fragte er.

Er konnte jetzt keinen Rückzieher machen, wenn er sein Gesicht nicht komplett verlieren wollte.

Und ich will es ja selbst. Ich will Zeit mit ihr verbringen. Surfen mitten in Wien … das kann ja was werden.

Es war später Nachmittag. Das Motorengeräusch war lauter, als er es sich vorgestellt hatte. Auf der Website des Anbieters hatte die coole Musik das Getöse der ›MasterCraft X Star‹ übertönt, die sie mit ihren 380 PS auf die Donau hinausbrachte.

Aber die Frau auf dem Boot ist noch schöner als die Models aus dem Video, dachte Hans und war mehr als zufrieden damit, dass er sich nicht davor gedrückt hatte, mit Natalie surfen zu gehen. Deren Luxuskörper konnte er nun in aller Ruhe bewundern: Natalie steckte in einem eng anliegenden Neoprenanzug, der deutlich über den Knien endete und dazu den Blick auf ihre gebräunten Oberarme gewährte. Ihr Gesicht strahlte Zuversicht aus. Sie freute sich darauf, über die Wellen zu reiten. Außer dem Fahrer befand sich noch ein zweites Paar auf dem Boot. Die beiden waren jung und wirkten routiniert, sie hatten schon oft mitten in Wien gesurft, erfuhr Hans von den beiden. Die Blondine würde an diesem Frühlingsabend nicht wie ihr Freund ins Wasser springen, sie trug nur ein knappes Höschen und ein weißes Shirt, das sie nun auszog. Sie legte sich auf den Bauch und ihr Begleiter ölte ihr den Rücken mit Sonnencreme ein. Immer tiefer wanderten die Hände des Mannes auf dem Körper seiner Freundin, sie schoben sogar das Höschen leicht über den Poansatz nach unten. Hans wendete seinen Blick ab, aus den Augenwinkeln sah er, dass ihn Natalie beobachtet hatte. Ein Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab, vielsagend schüttelte sie den Kopf. Hans spürte Hitze in seinem Gesicht aufsteigen. Seine Hände waren plötzlich schweißnass, er wischte sie sich am Stoff seiner marineblauen Bermudashorts ab.

»Ich gehe zuerst rein«, erklärte Natalie.

Der Fahrer und Hans zeigten ihre Daumen nach oben. Der zweite männliche Surfer war mit dem Eincremen seiner Freundin beschäftigt und reagierte gar nicht. Natalie schnappte sich das kurze Board, warf es in die Donau und sprang selbst hinterher. Sekunden später hielt sie sich an der Leine fest und wartete darauf, dass das Boot beschleunigte. Der Motor heulte auf, das Seil spannte sich. Hans sah Natalies Muskeln und Sehnen an Armen und Beinen hervortreten, ihr Gesicht blieb entspannt. Das Boot wurde schneller, Natalie richtete sich halb im Wasser auf, wurde mitsamt dem Board mitgezogen. Sie balancierte auf dem Brett, war schließlich ganz aus dem Wasser und surfte über die vom Boot erzeugte Welle. Hans hörte ein lautes »Yes«, als sie die Leine losließ und völlig frei, ohne gezogen zu werden, auf der Welle ritt. Natalie stand mit leicht angewinkelten Beinen auf dem Board, der linke Fuß befand sich vor dem rechten. Als es nicht mehr weiter vorwärtsging, richtete sie sich auf, winkte Hans kurz zu und sprang kopfüber ins Wasser.

Der Kapitän wendete das Boot, zog eine Schleife und schloss von hinten zu Natalie auf, die bereits auf ihrem Brett saß und sich die Leine griff. Sofort beschleunigte das Boot wieder.

Nach vier weiteren Versuchen kletterte sie aus dem Wasser. Hans, der jetzt an der Reihe war, half ihr dabei. Es sieht ganz leicht aus. Ich muss nur ans Skifahren denken, dann wird es schon klappen, sprach er sich selbst in Gedanken Mut zu, während er sein Poloshirt auszog. Natalie trocknete sich mit einem Handtuch ab, Hans sah, dass sie ihn musterte. Ob ihr gefiel, was sie sah, konnte er in ihren Augen nicht ablesen. Gott sei Dank gehe ich seit einigen Monaten regelmäßig ins Fitnessstudio. Und zwar nicht, um den Mädels zu gefallen, sondern um fit für die Abrechnung mit Chan zu sein. Bei dem Gedanken an den Chinesen verflüchtigte sich das Urlaubsgefühl, das sich innerhalb der letzten Minuten in Hans breitgemacht hatte.

»Ganz entspannt sein, genieß es einfach«, riss Natalie ihn aus seinen Gedanken. Seine Begleiterin trat auf ihn zu, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, dann beförderte sie ihn mit einem Stoß, der ihn vollkommen überraschte, aus dem Boot. Hans schrie auf, als er in die kalte Donau eintauchte.

Das »Viel Glück!«, das ihm Natalie nachrief, hörte er kaum. Seine Ohren und Nase füllten sich mit Wasser. Er blieb ein oder zwei Sekunden untergetaucht. Als er zurück an der Oberfläche war, hielt ihm Natalie die Leine entgegen.

»Ich dachte, so wie du ausgesehen hast, traust du dich sonst nie!«

»Dir werde ich es zeigen!«

Hans schnappte sich das Board, griff sich die Leine und beförderte danach seine Beine auf das Brett. Mit beiden Händen hielt er den Griff fest. Der Motor heulte auf. Er sah, wie Natalies Daumen nach oben zeigten. Fast kippte sie hinten aus dem Boot, als es beschleunigte, aber sie konnte sich mit einer Hand gerade noch abstützen. Das Seil straffte sich, Hans spürte den Zug an seinen Armen, er spannte seine Muskeln an, zog sich langsam aus dem Wasser und versuchte, auf dem Board zu balancieren. Das Brett rutschte seitlich unter seinen Füßen weg, er wurde nach vorn gezogen und landete mit einem Bauchfleck im Fluss. Sein Kopf geriet unter Wasser und er ließ die Leine los.