Multi Kulti Deutsch - Uwe Hinrichs - E-Book

Multi Kulti Deutsch E-Book

Uwe Hinrichs

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Die deutsche Sprache ist im Wandel begriffen. Vor allem in der gesprochenen Sprache sind die Einflüsse von Migration und Globalisierung deutlich zu spüren. Nicht nur das inzwischen omnipräsente Englische, sondern auch die Sprachen der Zuwanderer, das Türkische, Polnische oder Russische, prägen die deutsche Alltagssprache in zunehmendem Maße. Während Sprachpuristen den Niedergang der deutschen Sprache beklagen, geht es Uwe Hinrichs in seinem Buch um eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme: Welche Sprachen sind mit den Zuwanderern nach Deutschland gekommen? Welche Mischformen (so etwa «Türkisch-Deutsch» oder «Russisch-Deutsch») haben sich daraus entwickelt? Und welche Veränderungen im Deutschen hat dieses vielfältige «Sprachengemisch» bewirkt? Viele Entwicklungen in unserer Sprache lassen sich erst vor diesem Hintergrund wirklich verstehen. Hinrichs leistet damit zugleich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland. „Es geht bei diesem Buch nicht um defizitäres Deutsch von Migranten, sondern darum, wie die Mehrsprachigkeit Impulse auslöst, die unser aller Deutsch berühren und langfristig verändern.“ Harald Haarmann

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Seitenzahl: 416

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Uwe Hinrichs

MULTI KULTI DEUTSCH

Wie Migrationdie deutsche Sprache verändert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

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ZUM BUCH

Die deutsche Sprache ist im Wandel begriffen. Vor allem in der gesprochenen Sprache sind die Einflüsse von Migration und Globalisierung deutlich zu spüren. Nicht nur das inzwischen omnipräsente Englische, sondern auch die Sprachen der Zuwanderer, das Türkische, Polnische oder Russische, prägen die deutsche Alltagssprache in zunehmendem Maße. Während Sprachpuristen den Niedergang der deutschen Sprache beklagen, geht es Uwe Hinrichs in seinem Buch um eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme: Welche Sprachen sind mit den Zuwanderern nach Deutschland gekommen? Welche Mischformen (so etwa «Türkisch-Deutsch» oder «Russisch-Deutsch») haben sich daraus entwickelt? Und welche Veränderungen im Deutschen hat dieses vielfältige «Sprachengemisch» bewirkt? Viele Entwicklungen in unserer Sprache lassen sich erst vor diesem Hintergrund wirklich verstehen. Hinrichs leistet damit zugleich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland.

«Es geht bei diesem Buch nicht um defizitäres Deutsch von Migranten, sondern darum, wie die Mehrsprachigkeit Impulse auslöst, die unser aller Deutsch berühren und langfristig verändern.» Harald Haarmann

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ÜBER DEN AUTOR

Uwe Hinrichs, geb. 1949, ist Professor für Südslavische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität Leipzig. Er ist ein ausgewiesener Kenner zahlreicher Sprachen und beschäftigt sich seit langem intensiv mit den Auswirkungen der Migration auf die sprachliche Entwicklung.

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Für SOPHIA, die mir Jugendslang und Kiezsprache nahebrachte

und

für LJILJANA, das wandelnde Lexikon in Sachen Migration

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INHALT

Vorbemerkungen

Zusammenfassung

Erstes Kapitel:Sprachkontakte

  1. Sprachkontakte in der Welt und in Europa

  2. Migration

  3. Mehrsprachigkeit und Anderssprachigkeit

  4. Sprachtypen und Sprachfamilien

Zweites Kapitel:Die Migrantensprachen

  5. Portrait Türkisch

  6. Portrait Arabisch

  7. Portrait Russisch

  8. Portrait Jugoslavisch

  9. Portrait Albanisch

10. Portrait Polnisch

11. Kurzportrait Balkansprachen

12. ‹Neuanglodeutsch› und Vereinfachungen

Drittes Kapitel:Migrantendeutsch

13. Migrantendeutsch

14. Das Gastarbeiterdeutsch der 1970er Jahre

15. Der ‹Akzent› der Migranten

16. Codeswitching

17. Türkisch-Deutsch

18. Russisch-Deutsch

19. Jugoslavisch-Deutsch

20. ‹Kiezdeutsch›

Viertes Kapitel:Die Veränderungen im Deutschen

21. Veränderungen durch Sprachkontakt und sonstige

22. Der Fall der Fälle

23. Die Wortgruppe und die Endungen

24. Konfusionen mit dem Artikel

25. Neue ‹dunkle› Vereinfachungen

26. Sprachwandel: Formen-hopping und Trampelpfad

 

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

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«Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zum größten Einwanderungsland Europas entwickelt und wird immer stärker vom Bild einer multikulturellen und multilingualen Gesellschaft geprägt./../Die Sprachen der Immigranten/../sind mittlerweile fester Bestandteil unserer Gesellschaft und verändern die Sprachenkarte spürbar.»

Jörn Achterberg

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VORBEMERKUNGEN

Dieses Buch ist entstanden aus einem Essay, den Der Spiegel im Februar 2012 veröffentlichte, und hier vor allem aus den gegensätzlichen und zum Teil überschäumenden Reaktionen, die er hervorrief. Der Essay hieß: Hab isch gesehen mein Kumpel und hatte den Untertitel: Wie die Migration die deutsche Sprache verändert hat. In diesem Essay ging es wohlgemerkt nicht um den Slang ausländischer Jugendlicher, es ging nicht um das ‹Kiezdeutsch› oder die berühmt-berüchtigte ‹Kanak Sprak›, wie die etwas reißerische Überschrift auf den ersten Blick vermuten ließ. Es ging so gut wie ausschließlich um die subtilen, leisen und strukturellen Veränderungen in der gesprochenen Umgangssprache der deutschen Muttersprachler, also um Veränderungen in der Standardsprache, die sich in den letzten Jahrzehnten angebahnt haben und sich zur Zeit immer stärker durchsetzen. Und es ging um die Frage, welche Rolle die Migration dabei gespielt haben könnte und noch spielt, d.h. die neue Anwesenheit von vielen unbekannten Fremdsprachen, von vielen Varianten eines neuen Migrantendeutsch und von flächendeckenden Mehrsprachigkeiten mit ihren unabsehbaren Defiziten, Verwerfungen und Überlappungen in den sozialen Milieus.

Die Reaktionen auf jenen Essay fielen offenbar vor allem deswegen so heftig, so ambivalent und so schroff aus, weil dieses Thema über Jahrzehnte ein subtiles, wohlgehütetes Tabu war und noch immer ist – jedenfalls in der öffentlichen Kommunikation und in der linguistischen Wissenschaft. Ein essentielles, nagendes, latentes Problem der deutschen Gesellschaft drängte aus dem Dunkel des Unbewussten an die helle Oberfläche der Diskurse und der Medien und wollte gehört werden. Denn immerhin gaben 84 Prozent der Deutschen im Jahre 2010 an, sie bemerkten deutliche Veränderungen ihrer Sprache, und fast ein Drittel führte dies diffus auf den Einfluss von Migrantensprachen zurück (Gärtig et al. 2010).

Eben weil hier weithin Unklarheit herrscht, gab es aus dem Volk höchst ambivalente Reaktionen: seltsame und kuriose Fehldeutungen, absurde oder abstruse Missinterpretationen, ganz banale Missverständnisse, viele Unterstellungen und hier nichtwiederzugebende Kommentare und Anschuldigungen. Auf der anderen Seite gab es auch ordentlich Beifall und eine gewisse breitstreuende Genugtuung darüber, dass ein Tabuthema von einer ungewohnten, ganz neuen Seite beleuchtet wurde. Auch Lob von der falschen Seite war natürlich dabei und barsche Kritik von jenen, die sich selber für sprachlich sensible Zeitgenossen hielten. Bedient wurde die ganze Skala der Projektion: der Autor ein gezierter weltfremder Linguist im Elfenbeinturm, dem die tatsächliche Sprache im Lande abhanden gekommen ist; ein Deutschenfeind, der tatenlos, sprachlos zusieht, wie sich die Muttersprache seiner Zeitgenossen allmählich selber abschafft – bis hin zum besorgten, ‹guten› Wissenschaftler, der schwer an der Verantwortung für die Landessprache trägt und unbeirrt daran arbeitet, eine multikulturelle Vision der deutschen Sprachenlandschaft der Zukunft zu entwerfen.

Unschwer lässt sich hinter diesen Reaktionen die Fernwirkung jener Syndrome und Komplexe ausmachen, die die Deutschen auch auf vielen anderen Gebieten quälen. Sie gehen letztlich auf den großen Krieg des 20. Jahrhunderts zurück, auf seine Verwüstungen und langfristigen Schuldenlasten, auf die vielen Anstrengungen der Vergangenheitsbewältigung, die den Bürgern einen klaren, leidenschaftslosen Blick auf das, was in ihrem Land vor sich geht, erschweren, ja oft unmöglich machen: Da ist der uneingestandene Scham-und-Schuld-Faktor gegenüber den Migranten, den die Deutschen mit ihren europäischen Nachbarn, den Engländern, Franzosen und Niederländern, gemeinsam haben (Bruckner 2008); da ist der Wut-Faktor darüber, dass die Politik jahrzehntelang reglos verharrt und ihrem Volk nicht erklärt, was vor sich geht und wie es weitergehen soll; da ist der mächtige Faktor der Political Correctness, das neue amerikanische Kultur-Über-Ich, jene alle Diskurse beherrschende, dunkle neudeutsche PC-Norm, die nur das durch den Filter von Talkshows und Medien hindurchlässt, was sie selbst nicht unmittelbar gefährdet; da ist die mächtige Chimäre eines liberalen, sich immer noch alternativ gebenden Bewusstseins, das alles relativieren möchte, was auch nur entfernt nach einer absolut herrschenden Meinung (oder: der Meinung der Herrschenden) aussieht und sich dabei oft selbst auf den Leim geht – ein altes 68er-Erbe. Und da ist letztlich eine linguistische Wissenschaft, die sich gegenüber der Migration und ihren Einflüssen auf die deutsche Sprache bis heute seltsam lautlos verhält.

Nur wenige kritische Äußerungen haben hinter dem Rauch der vielen Wortbomben das Anliegen gesehen, das es wert ist, herausgehoben und gewürdigt zu werden: das sehen, was viele sehen, aber gern verschweigen; das beschreiben, was vor sich geht, warum es vor sich geht und warum es jetzt vor sich geht; es einordnen in die Analogien, die die Geschichte und die Sprachen in der Welt bieten, und einen Blick in die Zukunft zu wagen. Es geht um die Öffnung, die Weiterentwicklung, die Veränderung, die Anreicherung, ja vielleicht die Erneuerung des Deutschen im Kontakt mit vielen anderen Sprachen und Kulturen. Es ging deshalb beileibe nicht um einen kalten, nur beschreibenden Ansatz. Aber wie wollte man denn eine komplexe Entwicklung richtig einschätzen, wenn man noch nicht einmal die Fakten kennt, wenn man nicht einmal zuverlässig weiß, worum es sich im Einzelnen genau handelt? Die vielen selbsternannten Sprachpfleger, die Studiendirektoren und schreibenden Kulturschaffenden, denen das korrekte Deutsche angeblich so am Herzen liegt – sie müssen sich auch fragen lassen: Was soll man denn sonst mit gutem Gewissen tun? Oder: Was soll man tun, wenn die Politik und die offiziellen Sprachinstitutionen ihr Volk mit seiner Sprachsituation weitgehend allein lassen und auch selber ziemlich sprachlos sind?

Ein privater Migrationshintergrund

Seit ziemlich genau fünfzig Jahren bin ich, privat und beruflich, von Ausländern, Migranten, ihren Sprachen und ihren Eigenheiten umgeben. Mein engerer Bekanntenkreis in den 1960er Jahren in Wolfenbüttel bestand vor allem aus jugoslavischen, genauer kroatischen Gastarbeitern, die aus dalmatinischen Städten wie Split oder Makarska kamen. Daneben gab es auch griechische und türkische Gastarbeiter, mit denen ich durch die Ferienarbeit in der Fabrik und auf der Baustelle in Kontakt kam. Sie waren ohne ihre Familien gekommen und blieben teils einige Jahre, teils ein volles Jahrzehnt, teils das ganze Arbeitsleben. Viele von ihnen kehren auch im Rentenalter sporadisch in ihre zweite Heimat Deutschland zurück. Oft hat das den Grund, dass ihre Kinder hier geboren und aufgewachsen sind, eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert haben und Deutsche der zweiten bzw. dritten Generation sind. Meine Vagabundenjahre vor dem Studium verbrachte ich – irgendwie logisch – hauptsächlich auf dem Balkan und in der Türkei, was mir außer der Bekanntschaft mit dem Islam schon früh einige Grundkenntnisse des Türkischen bescherte.

Die nächsten Stationen: In den 1970er Jahren studierte ich an der Freien Universität Berlin Slavistik und Balkanologie. An Sprachen waren das Russisch, Serbokroatisch und Polnisch in der Slavistik, Bulgarisch, Rumänisch und Neugriechisch in der Balkanologie. Nebenher absolvierten wir Grundkurse des Albanischen und fuhren jeden Sommer auf den Balkan. Nach dem Magisterexamen 1977 verbrachte ich im Rahmen eines Aufbaustudiums ein Universitätsjahr (russisch učebnyj god) in Vorónesh, Mittelrussland, und lernte dort das gesprochene Russisch aus erster Hand kennen. Privat war ich mehr als einmal mit Frauen liiert, die aus Ost- und Südosteuropa stammten; meine derzeitige Frau kam 1992 aus Bosnien und unsere Kinder verstehen wenigstens diese Sprache einigermaßen (wenngleich sie sie auch nicht aktiv perfekt beherrschen). Muss man erwähnen, dass auch eine Handvoll Freundinnen und Freunde im Migrationsspiel der Jahre mitspielten, aus Griechenland und Rumänien, aus Polen, Tschechien und aus Albanien, das damals noch ein weißer Fleck auf der Landkarte und im Kopf der Deutschen war? Diese privaten Details sind für das Buch nicht unwichtig, weil sie eine lange Erfahrung mit den gesprochenen Umgangssprachen belegen, mit den Tücken und Lücken der Zweisprachigkeit, mit dem sogenannten ‹Akzent› im Deutschen (Migrantendeutsch) und nicht zuletzt mit jenen Attitüden und Ressentiments, die deutsche Muttersprachler gegenüber Migranten und ihren Ausdrucksweisen oft an den Tag legen – sowie auch mit Vorurteilen von Migranten gegenüber den Deutschen und ihrer Sprache.

Last but not least: Meine Tätigkeit als Hochschullehrer für Slavistik und Südosteuropa-Linguistik von 1981 bis 2013 an den Universitäten Berlin, Göttingen, Konstanz, Erfurt und Leipzig hatte mit den slavischen und den Balkansprachen zu tun, mit ihren vielfältigen Kontakten und Konflikten in Geschichte und Gegenwart, die die Sprachen miteinander verbinden und sie gleichzeitig verändern. Ich habe Südslavistik und Balkanlinguistik unterrichtet, lange Jahre auch Kurse in bulgarischer, makedonischer und albanischer Grammatik gegeben. Seit einiger Zeit befasse ich mich mit den Grundzügen des Persischen und Arabischen – teils aus Neigung, teils aus Interesse für die aktuellen politischen Bewegungen. Sprachkontakte waren deshalb nicht nur ein vollkommen naturgegebener Faktor, sondern immer auch das Prisma, durch das auf die Sprachen und den Alltag gesehen wurde. Die Ausweitung des Horizontes auf Eurolinguistik und Migrationslinguistik musste dann irgendwann zu der Frage führen, wie denn die vielen neuen Sprachen auf das gesprochene Deutsch einwirken und welche Spuren sie auch in der eigenen Sprachpraxis hinterlassen.

Bestandsaufnahme und Status quo

Dieses Buch ist wohlgemerkt nur eine Bestandsaufnahme, ein Blick des geschulten Linguisten auf den deutschen Status quo, so, wie er sich jetzt vor der Folie der Forschungslage und der eigenen Erfahrung darbietet. Aufgrund der letztlich noch mangelhaften Forschungssituation ist etwas anderes zur Zeit noch gar nicht möglich. Es gibt keine größeren Textkorpora mit Material, keine feldforscherischen oder soziolinguistischen Projekte, die aufschlussreiche Daten zum Einfluss der Migrantensprachen auf das Deutsche oder zum Migrantendeutsch liefern oder die unübersehbaren Veränderungen im Deutschen vollständig und ohne Relativierungen behandeln würden. Ja, es gibt noch gar keine ernsthafte Korrelation zwischen Politik, Mehrsprachigkeit und sprachlicher Veränderung. Der Linguist Volker Hinnenkamp beschreibt die Lage so:

«Die Sprachwissenschaft im deutschsprachigen Raum hat bisher nur wenige der gegenwärtigen migrationsspezifischen Sprachkontaktkonstellationen des Deutschen dokumentiert und analysiert. (…) Wenig[er] Beachtung fanden (…) die Veränderungen der mitgebrachten Sprachen in Deutschland, die Entwicklung der Zweisprachigkeit (…), die zweisprachigen Kommunikationspraktiken der Migranten (…) sowie die Vielfalt (…) und Konsequenzen von Mehrsprachigkeit.» (Hinnenkamp/Meng 2005, 9, letztes Kursiv U. H.). Genau um diese Konsequenzen, die sich für das gesprochene Deutsche ergeben haben, geht es aber, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie bis heute ein weißer Fleck auf der Landkarte der deutschen Linguistik geblieben sind.

Es gibt daher auch keine großen Untersuchungen zur jüngsten deutschen Standard-Umgangssprache und ihren inneren und äußeren Verwerfungen, wie sie so sorgfältig und engagiert in anderen Ländern erarbeitet worden sind, z.B. von Elena Zemskaja für das Russische (‹razgovornaja reč’› ‹Umgangssprache›), von Olga Müllerová für das Tschechische (‹obecná čeština› ‹Gemeinsprache›) oder von Jan Mazur für das Polnische (‹język potoczny› ‹Alltagssprache›). Bezeichnenderweise liegt ein sage und schreibe 48-Stunden-Korpus zum Jugendslang und zum sogenannten ‹Kiezdeutsch› vor, aber es gibt keines der spontan gesprochenen deutschen Umgangssprache von Migranten und Deutschen, an dem der neue, kontaktbedingte Sprachwandel und der Einfluss der Mehrsprachigkeit wirklich studiert und belegt werden könnte. Es gibt auch keine einschlägigen Studien, die die sprachlichen Interferenzen, d.h. die direkten Übernahmen aus dem Türkischen, Arabischen oder Russischen wirklich eingehend analysierten. Keine theoretischen Entwürfe, die den Weg des Neudeutschen vor dem Hintergrund der Mehrsprachigkeit erhellten.

Und es gibt, und dies ist wohl das wichtigste Faktum, noch keine überzeugte Bereitschaft der linguistischen Zunft, wirklich über den Tellerrand der Disziplin hinaus zu sehen, über den Schatten der Zurückhaltung zu springen und ohne Scheuklappen auf den Ist-Zustand des gesprochenen Deutschen zu blicken. Sie gibt sich (noch) nicht den entscheidenden Ruck. Dazu gehört durchaus – und das mag besonders verwirrend sein –, dass ab und an doch einmal in einem Nebensatz, sozusagen zufällig, auf den Einfluss von Migrantensprachen hingewiesen wird: «Tatsächlich (…) ist der deutsch-monolinguale Alltag von der Anders- und Mehrsprachigkeit nicht unberührt geblieben. Damit meine ich (…) das hörbare und sichtbare Eindringen der Anders- und Mehrsprachigkeit in die Sphären der Mehrheitssprache» (Hinnenkamp, 2000, 143; kursiv U. H.). So Recht man Hinnenkamp hier sofort geben will: In der Linguistik ist man diesem Appell bisher nicht gefolgt; und die Beschreibung des ‹hörbaren Eindringens› hat bis jetzt nicht stattgefunden.

Hier ein typisches Beispiel, das erahnen lässt, wie groß der Abstand zwischen den aktuellen Veränderungen und der nebenher laufenden Forschung noch immer sein mag: Das renommierte ‹Institut für Deutsche Sprache› (IfdS, Mannheim) präsentierte sich auf seiner Frühjahrstagung im März 2012 mit dem vielversprechenden Titel «Das Deutsch der Migranten». Unter Programmpunkt vier wollte man dies behandeln: «Wie verändert sich die deutsche Sprache unter dem Einfluss von Migration?» Ein Blick ins Programm belehrt den Interessenten dann aber darüber, dass dieser Punkt mitnichten eingelöst wird: Einige Beiträge befassen sich zwar exemplarisch mit den Sprechweisen von einigen Gruppen junger Türken und Russen in der Region (Mannheim), doch sucht man vergeblich nach Beiträgen oder Runden Tischen zum Deutsch der Migranten, zum Akzent, zur Mehrsprachigkeit und zum Einfluss auf die deutsche Umgangssprache.[1]

Die Hauptquelle für die sprachlichen Beispiele in diesem Buch ist notgedrungen vor allem die eigene, über lange Jahre gefestigte Erfahrung und penible Beobachtung, die ständige, jahrzehntelange Praxis mit dem Migrantendeutsch und, daraus erwachsen, eine Art unbestechlicher Intuition. Das Korpus, das gesprochene Skript, existiert quasi bereits im Kopf, und das Risiko von Fehleinschätzungen wird eher gering sein, zumal bei einem, der seit Jahrzehnten die Entwicklung des gesprochenen Deutschen im Kontrast zu anderen gesprochenen Umgangssprachen (Russisch, Serbisch, Bulgarisch) verfolgt, analysiert und dokumentiert hat.[2] Ohne Intuition und ein deutliches Ausschlagen des inneren Pendels gibt es ohnehin keine vernünftige Daten-Präsentation (oder: sie schwingt im Leeren), und die Verantwortung für die Authentizität der Belegfälle kann in jedem einzelnen Falle voll und ganz übernommen werden.

Was ist zur Zeit noch nicht möglich?

Einige Dinge können jedoch aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes in diesem Buch nicht geleistet werden und sie sollten auch nicht erwartet werden:

Es ist zur Zeit unmöglich, die Veränderungen im einzelnen und den sich daraus ergebenden Entwicklungstrend des Deutschen wirklich schlüssig zu beweisen – jedenfalls nach dem gängigen Muster der europäischen Wissenschaften, d.h. über Hypothesen, Empirie und Experiment, Verifizierung etc.

Es können, zweitens, keine hieb- und stichfesten statistischen Daten zu den sprachlichen Fakten geliefert werden, wie sie sich vielleicht aus Feldforschungen, Fragebogen-Aktionen oder Sprachtests ergeben würden.[3]

Es kann (noch) keine linguistische Feinanalyse erfolgen, die wirklich erschöpfend wäre und die schon Licht bringen würde in den kommunikativen und psychischen Hintergrund, der die Phänomene erzeugt. Es kann – um ein Beispiel zu nehmen – mangels einschlägiger Forschungen nicht endgültig ermittelt werden, unter welchen Bedingungen der Kasus Dativ am ehesten geschwächt und ersetzt wird, wann z.B. am schnellsten zu dem Muster «Er musste sich eine_ (statt ∗einer) Behandlung unterziehen» gegriffen wird. Gesichert ist hier nur, dass es zur Zeit in vielen Kategorien der deutschen Grammatik eine steigende Zahl von Varianten gibt und dass diese Varianten in Konkurrenz stehen und sich ihre Abgrenzungen immer mehr verwischen. Es gibt keine eindeutige, einziggültige Norm mehr und das Norm-Bewusstsein als solches ist deutlich gelockert.

Was es aber gibt, sind einige Indizien, die sich auf hundertfache Beobachtung stützen: Oft kann man im gesprochenen Deutschen feststellen, dass die ‹falsche› Variante (im Beispiel oben: eine Behandlung, also Akkusativ) im Gespräch zuerst geäußert wird und dann später, quasi an zweiter Stelle, die ‹richtige› Variante (einer Behandlung, also Dativ) noch nachfolgt. Zuerst also das Neue, Markierte, darauf folgend das Gewohnte, Unmarkierte: Ich nenne dies später ‹das Prinzip new forms first›. Oft kann man sogar beide Varianten im selben Zusammenhang hören, vielleicht in Sätzen wie diesem:

– Die Redaktion hat mit den Autor gesprochen und dann später noch mit einem weiteren Autoren Kontakt aufgenommen.

Und schließlich: Relativ wenig können wir zur Zeit sagen über die gegenseitigen Abhängigkeiten, die ‹Interaktion› der neuen Züge: Wie hängt der Verfall der Kasus genau zusammen mit dem neuen Gebrauch von Präpositionen – wie kommt es also genau dazu, dass eine alte Form sich zurückzieht, einer mittleren Platz macht und schließlich eine neue favorisiert:

alt:

Die Teilnehmer übermittelten dem Veranstalter ihren Dank.

mittel:

Die Teilnehmer übermittelten den Veranstalter ihren Dank.

neu:

Die Teilnehmer übermittelten ihren Dank an den Veranstalter.

Solche Dinge haben in vielen Sprachen bereits stattgefunden, im Englischen, Bulgarischen oder Persischen, allerdings schon vor vielen Jahrhunderten. Aber aus den Daten kann man ziemlich sicher ableiten, dass es eine solche Reihe gibt und der Output so gut wie immer eine neue Wendung mit Präposition ist.

Relativierungen

Zu all dem kommt ein (sprach)politisches Faktum hinzu, das die Sache nicht einfacher macht: Wenn man sich mit den sozialen und geographischen Existenzformen des Deutschen befasst, dann stellt man schnell fest, dass hier der Spielraum für Relativierungen sehr groß ist, viel größer als im Englischen oder Russischen. Im Deutschen ist einer neoliberalen Tradition ohne weiteres Tür und Tor geöffnet, die sich jedoch oft eher als ein subtiles Hindernis erweist, als dass sie einen wirklich alternativen Blick auf die Dinge ermöglichte. Relativierende Argumente, mit denen Kontakte und Konflikte mit den Migrantensprachen wegretuschiert werden können, bieten sich (unglücklicherweise?) überall und schnell an: Nirgendwo gibt es so viele Dialekte wie in Deutschland mit all ihren Besonderheiten, die oft auch gern als Belege von Mangel oder Defizit auf Seiten der Deutschen selbst herhalten müssen. Klassiker sind die Verwechslung der Kasus (Ick nehm’ dir inn Arm) oder ein falsches Tempus (Hertha war wieder jut jewesen, wa) im Berlinischen; aber auch viele andere Dialekte wie Bayrisch oder Rheinisch sind wie ein Füllhorn der Abweichungen vom Standard-Deutschen (Henn-Memmesheimer 1985) vom Typ wir fahr’n im Urlaub; meinem Vater sein Hut oder ich war die Uhr am Reparieren. Dass der Hamburger Seemann den bayrischen Waldkauz eventuell nicht mehr verstehen kann (die Dialekte also maximal auseinander liegen), wird flugs als willkommener Beweis dafür gedreht, dass die Deutschen sich in ihrer Sprache ja schon untereinander nicht verstehen (als wie: was muss man da über Migrantendeutsch diskutieren!). Nicht zuletzt sorgen auch Bildungsferne und eine verbreitete Lese-Abstinenz, ausgelöst durch wachsenden Internet-Konsum, auch von deutschen Jugendlichen, dafür, dass sich reale Sprachmängel auch in die muttersprachliche Kompetenz einschleichen (und dann vom Migrantendeutsch ‹automatisch› weiter gestützt werden).

Dass also überall leicht, ja mitunter leichtfertig relativiert werden kann, hat natürlich einen negativen Kontraeffekt: Die realen sprachlichen Probleme, die ja weiter existieren, können nicht erkannt, nicht präzise analysiert und nicht effektiv bekämpft oder gar gelöst werden; sie rumoren aber im Innern der Sprachpraxis unweigerlich weiter und erhöhen unter der Oberfläche ihren schädlichen Einfluss. Ein Beispiel für die schier unantastbare Macht der Political Correctness ist die jüngste Anhebung des sogenannten ‹Kiezdeutsch› auf die Stufe eines «neuen deutschen Dialektes» (Wiese 2012). Die unkritische Verklärung eines Großstadt-Pidgin mit absehbarer Halbwertzeit als kreatives Sprachlabor des Deutschen trägt unweigerlich bei zur Zementierung der sozialen wie der sprachlichen Probleme ganzer Bevölkerungsschichten – wie auch übrigens zum wachsenden Unmut in der Gesellschaft. Sie ist kontra-kreativ – auch deswegen, weil es die Optik von Experten und Laien, von Deutschen wie Migranten, falsch einstellt. Ich komme darauf zurück.

Das Menetekel, das eigentliche Motiv für die generelle Zurückhaltung der Linguisten gegenüber den Migrantensprachen ist aber wohl eine reale oder phantasierte Scheu davor, dass man durch die allzu genaue Analyse von Sprachkontakten und Sprachkonflikten in Deutschland unversehens in eine Diskriminierungsfalle geraten könnte. Es droht das gefürchtete Stigma der Ausländerfeindlichkeit, der Hauch des Ewiggestrigen, ja der politischen Rechtslastigkeit. Hier ist die Empfindlichkeit in Deutschland deutlich größer als anderswo, und der Faktor der Political Correctness tut ein Übriges. Ein zweiter Grund könnte darin liegen, dass an der neuen deutschen Sprachsituation zu viele exotische Sprachen beteiligt sind, Fachleute wie Laien hoffnungslos überfordert sind und einschlägige Projekte jeden überschaubaren Rahmen sprengen würden. Dazu kommt eine ganze Reihe von neuen Grammatiken, die niemand ohne weiteres überblickt. Wer kann schon Arabisch oder Albanisch oder Russisch – geschweige denn alle drei zusammen? Wer könnte einen Einfluss des Türkischen oder Serbischen wirklich kompetent belegen? Wer wollte etwas wirklich Relevantes zu jenem Einfluss sagen, den Migrantensprachen auch untereinander und aufeinander ausüben? Hier müssten Turkologie und Slavistik, Islamwissenschaften und weitere Disziplinen zusammenarbeiten, was leider in weiter Ferne liegt. Aber alle Linguisten wissen auch, dass man eine Sprache nicht unbedingt perfekt beherrschen muss, um aus ihr Daten für eine schlüssige Argumentation zu gewinnen.

Abschied von alten Torheiten

Das gesprochene Deutsche befindet sich heute, 2013, in dem fortgeschrittenen kritischen Stadium eines beschleunigten, zu großen Teilen durch Sprachkontakte ausgelösten Sprachwandels. Wenn man dem näher kommen will, was sich tatsächlich im Deutschen tut, d.h. worauf die Spuren an der sprachlichen Oberfläche tatsächlich hinweisen, muss man unbedingt zwei Attitüden ablegen, die nur unnötig Barrieren aufstellen. Da ist

der alte Sprachpflege-Blick. Er guckt besorgt auf das mündliche Sprachgeschehen besonders der Jugend, wittert überall Sprachverlotterung und Sprachverfall und fordert vehement und immer wieder – und vollkommen vergeblich – die Einhaltung fester Sprachnormen. Diesen Blick haben oft Nichtlinguisten, Journalisten und Schriftsteller, die sich die Sorge um das Deutsche auf die Fahnen geschrieben haben. Der Sprachpflege-Blick gilt in Deutschland als konservativ. Zuweilen kommt diese Attitüde auch höchst populär, ja komödiantisch daher, versehen mit dem spröden Charme des Feuilletons, wie z.B. in den (ungemein erfolgreichen) Büchern von Bastian Sick (Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod). Seine Fallbeispiele werden locker, humorig und augenzwinkernd dargeboten – und trotzdem regiert auch hier im Hintergrund unausgesprochen immer der Sprachpflege-Zeigefinger, der säuberlich richtiges von falschem Deutsch trennt. Hier werden die Geheimnisse des inneren Wandels des Deutschen eher verschleiert als gelüftet, und man mag sich fragen, ob das nicht letztlich ein Bärendienst ist, der die Zeitgenossen allzuleicht auf falsche Fährten lockt. Aber auch die großen Mahner der deutschen Sprachöffentlichkeit wie der virtuose Wolf Schneider oder der geniale Nabokov-Übersetzer Dieter E. Zimmer haben sich noch nicht vollkommen vom Sprachpflege-Blick emanzipiert: Dieser diktiert weiter die deutschen Sprachratgeber – ob nun im Seminar des Stil-Lehrers oder in den Warnungen vor dem wachsenden Einfluss des Englischen.

Da ist weiter, sozusagen am anderen Pol des Zeitgeistes,

der alte Political-Correctness-Blick. Er besteht darauf, dass die Sprache ein dynamisches Ganzes ist und sich ständig in Bewegung befindet – obwohl das niemand bestreitet. Für ihn ist Sprachwandel jeder Art eine Bereicherung, schiere Buntheit und fördert quasi automatisch die Kreativität von Sprache und Sprechern. In der PC-Perspektive bilden Sprache und Multikulturalität eine wogende ungeklärte Melange und diese erhält ungefragt einen Wert an sich. Je mehr Sprachen und Kulturen, desto besser. Der PC-Blick lebt von der Relativierung: Sprachwandel habe es schon immer gegeben, so die Argumentation, und eine klagende Sprachpflege sei beileibe nichts Neues, und Deutschland sei überhaupt schon immer ein vielsprachiges Land gewesen. Da beweise einer das Gegenteil! Der PC-Zeitgenosse reklamiert für sich immer eine besondere Art von insight, die es missionarisch zu verbreiten gilt – so, als ob er ein Sonderrecht auf tiefere Erkenntnis erworben hätte. Ob Linguist, Kulturschaffender oder bewegter Laie – er ordnet sich gern in den herrschenden Zeitgeist ein und gibt ihn aus als einen ethisch-moralischen Wert an sich. Diese Attitüde gilt in Deutschland als progressiv. Sie hat auch dafür gesorgt, dass exotische Sprechweisen von migrantischen Randgruppen in der Forschung bis heute eine unkritische Priorität genießen, was dann unweigerlich auf Kosten des allgemeinen Migrantendeutsch wie auch der gesprochenen Standardsprache gehen muss.

Beide Haltungen sind letztlich ideologisch, unfrei, auf dem Sprachenauge oft seltsam blind und behindern die Aufklärung, auf die die Bevölkerung, ob nun migrantisch oder nicht, einen Anspruch hat. In Deutschland scheinen sich beide Standpunkte obendrein vollkommen unversöhnlich gegenüberzustehen, was für sich schon ein erstaunliches Faktum ist. Was hier zuallererst nottut, das ist Klarheit darüber zu schaffen, was vor sich geht, warum es vor sich geht und wie das genau geschieht.

In der nahen Zukunft werden sich die bereits eingetretenen Veränderungen im Deutschen weiter ausbauen und Einzug in die Schulen halten. So wird es z.B. mit dem Muster ‹mit diesen Problem/nach diesen Ergebnis/von meinen Nachbar› sein, mit den neuen ‹schwachen› Formen dem Bär_, dem Präsident_ oder mit der neuen Steigerung mit mehr: mehr zugänglich. Nach einer gewissen Verzögerung werden solche Veränderungen auch in das schriftliche Deutsch der Medien und der Literatur wandern und irgendwann in der Zukunft werden sie – als letzter Schritt – von der Grammatik kodifiziert. Währenddessen werden weitere neue, heute noch unbekannte Züge Einzug in den mündlichen Sprachgebrauch halten. Es ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der deutschen Linguistik – eventuell mit einem Blick auf Nachbarländer und Nachbarsprachen –, diese aktuellen Prozesse des Wandels und der allmählichen Standardisierung zu verfolgen, zu beschreiben und zu deuten.

Was ändert sich?

Es ändert sich vor allem die gesprochene Sprache, die mündliche Existenzform des Deutschen, genauer: die spontan gesprochene Umgangssprache in ungezwungenen Situationen, und hier besonders jene Ausdrucksformen, die durch den Kontakt und unter dem Einfluss von mehrsprachigen Sprechern im Alltag zustande kommen. Dieses im Prinzip mehrsprachig-fundierte Alltagsdeutsch ist der Fokus, das Milieu, das Epizentrum, in dem die Veränderungen entstehen, durch ständigen Gebrauch stabilisiert werden und sich dann immer weiter verbreiten. Von hier aus gehen die neuen Formen ins Volk, hier werden sie über die Normierungsfunktionen von Talkshows, Internet und Radio auf die Straße getragen und erzeugen subtile Veränderungen der Sprechnorm einer Sprachgemeinschaft, in diesem Falle der deutschen. Es ändert sich nicht (allenfalls im Schneckentempo): die geschriebene Form der Standardsprache, wie sie uns in den Druckmedien, in der Literatur oder im Schulunterricht entgegentritt. Das Schreibdeutsch mit seiner Bewusstheit, mit seiner Distanz von Schreiber und Leser, mit seiner langen Tradition als Sprache der ‹Dichter und Denker› ist zu träge, um Veränderungen sofort wiederzugeben, deren Produktion ja vor allem mündlich und unbewusst vor sich geht. Man achte aber auf bereits regelmäßige ‹Fehler› in jeder Zeitung, die als subtile Spuren die Norm der Sprechsprache wiedergeben, die sich schon nicht (mehr) mit dem schriftlichen Gebrauch deckt.

Dazu ein typisches Beispiel: Wir haben heute bereits eine vollkommene Spaltung zwischen Präpositionen, die im Schreibdeutsch mit dem Dativ stehen, im mündlichen Gebrauch[4] aber durch die Bank mit einer anderen Form stehen: Oft haben wir z.B.

schriftlich: Er befindet sich unter dem Verdacht der Veruntreuung.

mündlich aber: Er befindet sich unter den Verdacht der Veruntreuung.

Überschreiten diese ‹Fehler› ein übliches Maß und stoßen an eine kritische Grenze, ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich neue Formen im mündlichen Gebrauch bereits weitgehend verfestigt haben und irgendwann den nächsten Schritt in die Schreibsprache gehen werden. Kein Nachrichtensprecher von Tagesschau oder ‹Heute› sagt noch spontan unter dem Verdacht und an diesem Modell mag man ablesen, was auf vielen anderen Feldern auf den deutschen Sprachusus zukommen mag.

Zu einem objektiven Blick gehört schließlich auch die Frage: Wo ändert sich etwas? Gibt es Epizentren, Kulminationspunkte, ja vielleicht so etwas wie ‹Sprachveränderungshochburgen›? Ja, die gibt es. Im Osten Deutschlands schlagen die Veränderungen des Deutschen viel weniger durch, weil der Bevölkerungsanteil der Migranten im einstelligen Bereich liegt und einfach viel weniger zutage tritt. Wenn es hier überhaupt nennenswerte Minderheiten gibt, dann Russen und Polen in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen und Vietnamesen in Sachsen und Sachsen-Anhalt.[5] Oft trifft man in den neuen Bundesländern auch auf eine sehr konservative Attitüde gegenüber Sprache und Sprachpflege und auf eine Art eiserner, gewissermaßen historischer Einsprachigkeit (ein paar Brocken Schulrussisch zählen nicht). Hochburgen der Veränderung sind natürlich die (west)deutschen Großstädte mit ihrer Anziehungskraft, ihrem Sprachengemisch und ihren vielen neuen Mehrsprachigkeiten: Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, Köln, Düsseldorf, Mannheim, Mainz – mit einer weiten Ausstrahlung in Städte mittlerer Größe. Und hier wurden auch bislang die ersten Feldprojekte zu Jugendslangs durchgeführt, z.B. in Mannheim oder Berlin. Denn der neue Sprachwandel wird sich hier am ehesten zeigen und am schnellsten durchsetzen.

Warum ändert sich etwas?

Kein Phänomen, kein Sprachzug, keine Änderung steht für sich allein oder fällt plötzlich vom Himmel. Immer gibt es ein ganzes Bündel von Gründen und Motiven, die sich auch noch gegenseitig beeinflussen. Und kein Wissenschaftler kann sich heute noch so weit vorwagen und nur eine einzige, womöglich noch ‹seine› Erklärung präsentieren. Oft ist es sogar so, dass sich passable oder plausible Erklärungen erst dann abzeichnen, wenn man sich in den Nachbarwissenschaften umsieht und den Horizont erweitert. So ist es auch mit dem aktuellen Sprachwandel des mündlichen Deutschen. Migrantensprachen und Migrantendeutsch sind keineswegs die einzigen Faktoren, die den aktuellen Sprachwandel vorantreiben – vielleicht sind sie noch nicht einmal die maßgeblichen: Dies kann aber erst eine Migrationslinguistik erweisen, die diesen Namen auch verdient. Auf jeden Fall sind die Migrantensprachen und ihr wachsender Einfluss ein unbeschriebenes Blatt, eine ganz unterbelichtete Seite im Buch der Kontaktlinguistik und des Sprachwandels – und allein dieses (im Grunde empörende) Faktum ist Grund genug, die Migrantensprachen und die Migranten thematisch in den Vordergrund zu stellen.

Fassen wir die anderen Einflussfaktoren im Stichwort zusammen: Sprachen wandeln sich heute im Kontext der Globalisierung und einer immer weiter um sich greifenden Anglisierung. Die Medien, Fernsehen, Talkshows und ganz neue Formate fordern und fördern Schnelligkeit im Denken und Reden, die sich immer weniger auf geschriebene Dokumente stützt. Verbunden damit gibt es eine landesweite, ja europaweite Renaissance der Mündlichkeit: Die alten Standards der Hochgrammatiken vermischen sich immer mehr mit Normen aus der Sprechsprache – ganz besonders deutlich und auch dokumentiert in osteuropäischen Ländern nach 1989 (Zybatow 2000). Das Internet hat neue Kommunikationsformen und -foren erzeugt, die ihre eigenen Codes haben und kaum noch grammatisch im alten Sinne sind: Facebook, Twitter, SMS und Chat. Mit Sicherheit wirkt ein gesunkenes Niveau der Allgemeinbildung und ein nachlassendes Interesse an ihr noch zusätzlich auf die Sprachsituation ein. Letztlich gibt es auch noch den großen übergreifenden Sprachwandel der europäischen Sprachen (‹longue durée›), über den sich der aktuelle Turbowandel des Deutschen wie eine hochaufragende Amplitude aufwirft. Und dies alles spielt sich ab vor dem Hintergrund der Migration, die gerade ihren 50. Jahrestag beging.

Wie geht das Buch vor?

Das Buch geht, um den aktuellen Veränderungen der deutschen gesprochenen Sprache auf die Schliche zu kommen, wie folgt vor. Es hat vier Kapitel:

Das erste Kapitel geht kurz auf die Sprachkontakte in der Welt und in Europa ein und spricht die wichtigsten Kontaktzonen und die Konsequenzen dieser Kontakte an. Ein kurzgefasster Überblick über die Migration nach Deutschland führt zum neuen Phänomen der Mehrsprachigkeit von Migranten und Deutschen und der doppelten oder mehrfachen Anderssprachigkeit. Abschließend wird gezeigt, welchen großen Sprachfamilien und Sprachtypen die neuen Migrantensprachen angehören.

Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten Migrantensprachen Türkisch, Arabisch, Russisch, Jugoslavisch, Albanisch (und einige weitere) in einem knappen Portrait vorgestellt. Zur Einstimmung auf Laut- und Schriftbild wird ein kurzer Text in der Sprache vorangestellt, mit einer ‹normalen› und, wo es nötig erscheint, auch einer wortwörtlichen Übersetzung, die die Grammatik zeigt. Dann folgen Verbreitung, kultureller Hintergrund, grundständige Grammatik (immer mit Blick auf das aktuelle Deutsche), etwas Sprachgeschichte. Man muss wissen, womit man es zu tun hat: Niemals wird man die neudeutschen Veränderungen in ihrem Kern erfassen, wenn man dabei die grammatischen Grundzüge der Migrantensprachen und den kulturellen Hintergrund außer Acht lässt. Außerdem wäre es nicht sehr realistisch anzunehmen, dass tiefere Kenntnisse hierüber in der deutschen Bevölkerung ohne weiteres vorhanden wären. Die Abschnitte zu den einzelnen Sprachen können deshalb auch separat oder zwischendurch gelesen werden – sie bieten allgemeine, aber sehr notwendige Informationen zur jeweiligen Migrantensprache und ihrer Bedeutung für das Deutsche.

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem, was man heute über das Migrantendeutsch weiß, angefangen vom ‹Gastarbeiterdeutsch› der ersten Migranten über die vielen hybriden Sprachformen junger Türken, Russen und Jugoslaven bis hin zum ‹Kiezdeutsch›, dem Multi-Kulti-Slang von Jugendlichen mit vielfältigem Migrationshintergrund in Großstädten wie Berlin oder Hamburg. Hierzu gehören auch Grundinformationen zum typischen ‹Akzent› der Migranten im Deutschen. Akzent und ‹Ethnolekte›[6] sind wichtige Voraussetzungen für das Verständnis der aktuellen Veränderungen des gesprochenen Standard-Deutschen, die im vierten Kapitel durchdekliniert werden: Da sind die subtilen Verschiebungen der vier Fälle, die neue Rolle von Präpositionen, der Abbau der grammatischen Übereinstimmung der Endungen, Probleme mit dem Artikel. Zum Schluss geht es um neueste, noch ganz unbewusste Phänomene, die sich erst seit ganz kurzer Zeit im Kontext von Migration und Multikulturalität ergeben, wie z.B. Vereinfachungen in der Wurzel von Wörtern:

– Sie brachte später noch starkere Argumente. (statt: stärkere)

‹Clash of Languages›?

Ein letztes, notwendiges Wort zum Reiz-Begriff des Clash of Languages, der an vielen Stellen im Buch auftaucht. Wir wollen beileibe keinen Linguisten-Streit vom Zaun brechen, etwa der Art, wie er sich in der Folge von Samuel Huntingtons bekanntem Buch ‹Kampf der Kulturen› (deutscher Titel; englisch: ‹Clash of Civilisations›) überall ergeben hatte. Auch wollen wir nicht das negativ besetzte Szenario ‹Sprache und Gewalt› an die Wand malen und jene Demokratisierungsprozesse gefährden, zu denen sich die Linguistik in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank endlich durchgerungen hat (Stichworte: Minderheitenlinguistik; Migrationslinguistik).

Auch geht es nicht um die ‹Rettung› der Hochsprache oder darum, nationalsprachliche Mythen wieder aufleben zu lassen. Immer muss man sich bewusst sein, dass Deutschland ein multilinguales Land ist und seine neuen Sprachen mit dem Deutschen in unübersehbare Kontakte und Konflikte treten können. Deshalb wollen wir die Perspektive darauf richten, dass ‹Sprachkontakt› ein neutraler Begriff sein sollte, der nicht automatisch auf ‹gute› oder ‹schlechte› Kontakte abzielt.

Sprachkontakt ist andererseits aber auch kein Vakuum, in dem sich Sprachen friedlich und demokratisch miteinander abgeben und sich alles Gute wünschen. Der Altmeister der Kontaktlinguistik, der Brüsseler Linguist Peter Nelde, prägte schon vor Jahrzehnten das Wort von «Sprachkontakt und Sprachkonflikt». Für ihn ist Sprache ein mächtiges «Sekundärsymbol für zugrundeliegende Konfliktursachen soziopolitischer, politischer, religiöser oder historischer Art» – wofür das Jugoslavische ein unwiderlegbares wie tragisches Beispiel ist. Und die in South Carolina wirkende Linguistin Carol Myers-Scotton nannte Kontaktsprachen «duelling languages», Sprachen im Duell. Das Oben-Unten-Verhältnis von Sprachen ist also im großen Maßstab eine Konstante; die Tendenzen zunehmender Gleichberechtigung erscheinen erst im 20. und 21. Jahrhundert auf der Sprachenkarte.

Niemand sollte so naiv sein zu glauben, dass Dutzende von fremden Sprachen, die innerhalb eines Territoriums oder eines Staates unter dem Dach einer Mehrheitssprache aufeinandertreffen, nicht massiven Einfluss auf diese ausüben: Warum sollte auch, was in persönlichen Beziehungen, im Kunstbetrieb oder in der Wirtschaft gang und gäbe ist, für die Sprache nicht gelten? Die Geschichte der Sprachen in der Welt zeigt, dass die meisten Sprachen irgendwann einmal Minderheitensprachen waren oder noch sind, die von anderen Sprachen dominiert werden, dass bei Sprachkontakt immer auch schiere Dominanz im Spiele ist, Sprachherrschaft und Unterdrückung, ja eine Art linguistischer Darwinismus, der immer versucht hat, eine Sprache gegen die anderen auszuspielen und ihre Herrschaft in einem politischen Raum zu sichern. Dies hat der in Helsinki wirkende Linguist Harald Haarmann in seiner Weltgeschichte der Sprachen (2006) in faszinierenden Details beschrieben. Schließlich werden sich Sprachenpaarungen jeglicher Art auch gegenseitig verstärken, also türkisch, arabisch, russisch geprägte Migrantendeutschs werden auch untereinander mit der Zeit unabsehbare Gemeinsamkeiten ausbilden (z.B. bei den allseits bekannten Schwankungen im Artikelgebrauch des Deutschen).

Des langen Vorworts kurzer Sinn: Das Deutsche ändert sich seit einiger Zeit rasant, vor unseren Augen, zum Greifen und Hören nah, in situ. Ohne den Sprachenkontakt und sein Wirken aber bleibt alles im Dunkeln. Dies wollen wir verhindern und Aufklärung betreiben. Um die wahren Gründe, die eigentlichen Triebfedern und die Richtung des Sprachwandels aufzudecken, muss man zuerst die Perspektive richtig einstellen und auch die Migrantensprachen mit ins Visier nehmen.

Zum Formalen: In wissenschaftlichen Arbeiten wird meistens zuviel zitiert (eine deutsche Marotte), was nicht besonders leserfreundlich wirkt. Es ist deshalb in diesem Buch fast ganz auf Anmerkungen und das ständige Nennen von Jahreszahlen und Werken verzichtet worden, um den Textfluss nicht unnötig zu stören. Wichtige Zwischenergebnisse und Thesen werden in hervorgehobenen Absätzen zusammengefasst. Auch Autorennamen werden eher sparsam gesetzt: Jedes im Text angesprochene Thema findet sich aber in der Literaturliste in einschlägigen Werken wieder. Beispiel Migration: Bauer et al. (Hrsg.) (2005). Für Jugoslawien/jugoslawisch schreibe ich in slavistischer Manier ‹Jugoslavien›/‹jugoslavisch›.

Die Sprache des Buches ist nicht zu linguistisch; außer ein paar unumgänglichen schulgrammatischen Ausdrücken gibt es kein Fachchinesisch: jeder kann verstehen, worum es geht.

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4391721 erstellt.

 

 

ZUSAMMENFASSUNG

Eine Zusammenfassung gehört an den Anfang. Da weiß der Leser gleich, was ihn genau erwartet, in Theorie und Praxis und im Ergebnis. Deshalb fassen wir die Grundthesen des Buches bündig in zehn Sätzen zusammen.

  1. Viele Standardsprachen in Europa, z.B. das Englische, Französische und Deutsche, werden seit einigen Jahrzehnten verstärkt von neuen Migrantensprachen beeinflusst. Dadurch lockert sich allmählich die Standardnorm und es wächst auf der anderen Seite die Bedeutung von Sprachformen am Rand und außerhalb des Standards wie Umgangssprache oder Slang.

  2. Die deutsche Sprache verändert sich in einer Zeit, die von Migration, Multikulturalität, Mehrsprachigkeit und ungesteuerter Integration geprägt ist, viel schneller und nachhaltiger, als sie es jemals früher getan hat.

  3. Es verändert sich vor allem die mündliche gesprochene deutsche Standard-Umgangssprache. Es entwickelt so etwas wie eine ‹Norm zweiter Ordnung›. Die meisten Veränderungen (z.B. Abbau der Kasus) haben sich lange vorbereitet und gehen auf die ersten neuen Sprachkontakte Ende der 1960er Jahre zurück.

  4. Den beschleunigten Wandel des Deutschen lösen vor allem sechs Faktoren aus: Die neue Anwesenheit von Dutzenden fremden Sprachen, die mit dem Deutschen und untereinander in Kontakt stehen – die wichtigsten sind Türkisch, Arabisch, Russisch und Jugoslavisch. Neue Mehrsprachigkeiten, an denen noch viele andere Sprachen beteiligt sind. Eine Renaissance der Mündlichkeit, die sich von dem geschriebenen Standard entfernt und auf Schnelligkeit setzt. Ein subtiler Einfluss des Englischen. Eine Anlage im Deutschen selbst, das sich mitten in einer typologischen Drift befindet, an der viele Sprachen in Europa teilnehmen.

  5. Eine besondere Rolle übernimmt dabei eine Vielzahl von neuen ‹Ethnolekten›, die sich in Deutschland herausbilden. Die wichtigsten sind verzweigte Sprachformen der großen Migrantengruppen, die im Buch unter der Benennung Türkisch-Deutsch, Russisch-Deutsch, Jugoslavisch-Deutsch und Kiezdeutsch behandelt werden. Besonders durch das ‹Codeswitching› wird die Grammatik sowohl der Migrantensprachen als auch die des Deutschen relativiert.

  6. Der Komplex ‹Einfluss der Migrantensprachen› hat im wesentlichen diese Lesarten: Mehrsprachigkeit als neues psychosoziales Phänomen. Der sogenannte ‹Akzent› der Migranten im Deutschen. Codeswitchung in neuen gemischten Ethnolekten. Übernahmen und Kopien aus den Herkunftssprachen.

  7. Veränderungen, die auf Migration, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit zurückgeführt werden können, finden auf allen sprachlichen Ebenen des Deutschen statt: Die Linguisten sprechen von der phonetischen, der morphologischen, der syntaktischen, der semantischen, der phraseologischen und der pragmatischen Ebene.

  8. Die wichtigsten Veränderungen sind: Abbau der Kasus, Erosion der Endungen, Abbau des grammatischen Zusammenhangs, Schwankungen beim Artikel, neue Rolle der Präpositionen, neue lexikalische Modelle, neue Fremdwörter aus anderen Kulturkreisen. Last but not least: Es entsteht ein neues, offeneres Kulturbewusstsein bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

  9. Das Deutsche (in seiner gesprochenen Form) befindet sich heute in einer bestimmten Etappe des Sprachwandels: von einer im Prinzip noch verdichteten Sprachstruktur (‹synthetisch›) hin zu einfacheren und offeneren Strukturen (‹analytisch›). Es nähert sich damit weiter an die westeuropäischen Sprachen an, was durch den immensen Einfluss des Englischen zusätzlich unterstützt wird. Die Konfrontation mit Migrantensprachen ist der wichtigste ‹Katalysator› dieses Wandels.

10. Dieses Buch ist eine Bestandsaufnahme – mehr nicht. Sie bleibt notwendigerweise punktuell und fasst eher die Landschaft des aktuellen Sprachwandels im Überblick zusammen, als dass sie bereits umfassende Analysen der einzelnen Merkmale bieten kann. Diese Bestandsaufnahme könnte aber so etwas wie der Startschuss sein für eine neue Vision der Sprachensituation im Deutschland der Zukunft.

Dieses eBook wurde von der Plattform libreka! mit der Transaktions-ID 4391721 erstellt.

 

 

 

ERSTES KAPITEL

SPRACHKONTAKTE

 

 

 

1. SPRACHKONTAKTE IN DER WELT UND IN EUROPA

Mittlerweile beginnt jede Einführung in Dinge des Sprachkontaktes mit dem Hinweis darauf, dass Kontakte zwischen Sprachen und Mehrsprachigkeit weltweit nicht die Ausnahme, sondern die Regel seien. Offenbar sieht sich die Linguistik heute gezwungen, das Selbstverständliche, Normale besonders zu betonen: Dies ist eigentlich nur deshalb notwendig, weil sie sich allzu lange solchen Erkenntnissen verschlossen hatte. In der Geschichte der europäischen Sprachwissenschaft gibt es denn auch so etwas wie einen Blinden Fleck, gewissermaßen eine schiefe Ebene, die man heute erst wieder im Nachhinein begradigen muss. Wenn man genauer hinsieht, kann man drei ‹Sünden› ausfindig machen, die bis heute ihre Spuren hinterlassen haben:

Viel zu lange standen europäische Sprachen mit ihrem weltweiten Kultur- und Herrschaftsanspruch im Vordergrund. Die Sprachen des alten Kerneuropas, Englisch, Deutsch und Französisch, waren die ‹westlichen Kultursprachen›, die uneingeschränkte Priorität beanspruchten und die Sprachenfülle der Welt über lange Zeit vom Horizont der Wissenschaft fernhielten.

Das hat, zweitens, seit dem 19. Jahrhundert dazu geführt, dass man im Prinzip nationenorientierte Philologie betrieb und deshalb die Vernetzung von Sprachen und Kulturen in großen Arealen nicht erkennen konnte.

Und dies wiederum hat, drittens, dem Mythos von der einen Sprache Vorschub geleistet, die den Staat, die Nation oder den Kulturraum dominiert. Das Prinzip ‹Ein Staat – eine Nation – ein Volk – eine Sprache› hat in Europa lange Schatten geworfen und dient auch heute noch politischen Zwecken. Auf dem Balkan, aber auch in manchen modernen Staaten Westeuropas, kann man die Folgen dieser einseitigen Perspektive bis heute besichtigen (Haarmann 2012).

Erst im Zuge der neuen Globalisierung, ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hält die Erkenntnis endgültig Einzug, dass die Geschichte der Sprachen vor allem eine Geschichte ihrer Kontakte ist und dass Sprachveränderung ein Phänomen ist, das hauptsächlich durch Kontakt und Konflikt von Sprachen (und Sprechern) angetrieben wird. Der amerikanische Kontaktlinguist und Kreolsprachenforscher Salikoko Mufwene drückt das Prinzip so aus: «I contend that the ecological factors and selective restructuring which produced creoles are of the same kind as those which produced ‹normal› language change. Contact, I argue, is a critical factor in almost any case of language change» (1998, 316f.; kursiv U. H.).

Am eindringlichsten gestalteten sich die Sprachkontakte und ihre Wechselwirkungen in den oft viel intensiveren Kontaktzonen außerhalb von Europa. Als sich die europäischen Sprachen am Beginn der Neuzeit in die Welt aufmachten und den halben Globus kolonisierten, drückten sie Hunderten von Pidgins und Kreolsprachen ihren Wortschatz-Stempel auf: in der Karibik, in China, Indonesien und in Afrika. In diesen verbindet sich ein europäischer Wortschatz mit einer fremden, radikal vereinfachten Grammatik, und es zeigt sich, dass die Verständigung nicht nur nicht beeinträchtigt ist, sondern die Kommunikation vollkommen reibungslos funktioniert.

Sprachkontakt – ein neues Paradigma der Linguistik

Kontakt ist der Motor allen Sprachwandels: Von dieser neuen Perspektive zeugen relativ junge Disziplinen wie die Sprachtypologie, Kontaktlinguistik oder Kreollinguistik und große Projekte, die die Sprachen der Welt (und ihre Kontakte) insgesamt in den Blick nehmen. Die Highlights auf diesem neuen Horizont sind:

das Projekt EUROTYP aus den 1990er Jahren, dessen Leiter, der Berliner Anglist Ekkehard König, mit über einhundert Linguisten aus über zwanzig Ländern etwa einhundertfünfzig Sprachen auf Gemeinsamkeiten hin durchleuchtete;

der World Atlas of Language Structures von 2005, in dem unter der Ägide der Leipziger Typologen Bernard Comrie und Martin Haspelmath am Max-Planck-Institut der gesamte Globus nach ähnlichen Sprachstrukturen durchgescannt wurde;

die Weltgeschichte der Sprachen von den Anfängen bis in die Gegenwart, in der der in Helsinki wirkende Linguist Harald Haarmann u.a. den Reichtum und die Macht von Sprachkontakten all over the world zeigt.

Vorbereitet und begleitet wurden diese Trends durch anspruchsvolle Handbuchprojekte, die die Disziplinen in großem Maßstab darstellen oder zusammenfassen.[1] Wir können mit Haarmann resümieren: «Kontakte zwischen Sprachen und deren Sprechern sind Realitäten, die unsere Kulturgeschichte und damit unser kulturelles Gedächtnis seit jeher geprägt haben. (…) Sprachkontakte sind keine Begleiterscheinung sprachlicher Realitäten, sie konstituieren diese Realitäten schlechthin. (…) In den Sprachen Europas sind so gut wie sämtliche Manifestationen von Sprachkontaktphänomenen nachzuweisen, die sich in einer allgemeinen Typologie unterscheiden lassen, angefangen von einfachen lexikalischen Interferenzen bis hin zu komplexen Fusionsprozessen, ja sogar bis zur Ausbildung neuer Sprachsysteme, und zwar von Pidgins.»[2]

Dies ist unsere Leitlinie: Die entscheidenden Wandlungsprozesse in der Sprachenwelt Europas lassen sich zum ganz überwiegenden Teil nicht nur auf eine multilinguale Situation zurückführen, sondern oft auch durch einfache Sprachkontakt-Mechanismen (‹Interferenzen›) erklären. Hierfür stehen drei allgemeine neue Forschungsfelder der Linguistik, die die große Kulisse abgeben für die neuen Sprachveränderungen im Deutschen: Angetrieben und gesteuert von Sprachkontakten

wandeln sich alle Sprachen Europas mit der Zeit allmählich zu Sprachen, die eine zu komplizierte Grammatik abbauen und durch einfachere Strukturen ersetzen (s. Hinrichs 2004). Der Westen Europas ist hier progressiver, der Osten konservativer. Das moderne Musterbeispiel ist das Englische;

können sich in benachbarten Sprachen weitgehende Umstrukturierungen auf allen Ebenen ergeben, vom Wortschatz über die Wortstellung bis hin zu lautlichen Ähnlichkeiten, die alle direkt auf Sprachkontakte und Mehrsprachigkeit zurückgehen. Musterbeispiele sind die Balkansprachen und ihr «Sprachbund». (Steinke 2012, Hetzer 2010);

werden Sprachen, die vom europäischen Typus weit entfernt sind, wie Ungarisch, Baskisch oder Türkisch, mit der Zeit durch Kontakt mit den Eurosprachen der Umgebung immer ‹europäischer›; sie gleichen viele Strukturen einander an (Heine/Kuteva 2006). Eben dieses Phänomen lässt sich auch im Einwanderungsland Deutschland nachweisen: So werden das hier gesprochene Türkische, Russische, Jugoslavische mit der Zeit immer ‹deutscher› (‹Deutschland-Türkisch› etc., s.u.). Wir halten vorläufig fest:

Sprachkontakt war und ist der Normalfall weltweit. Sprachkontakte bewirken immer Änderungen in allen beteiligten Sprachen. Je intensiver der Kontakt ist, desto intensiver die Änderungen. Wandel ohne Sprachkontakt mag es auch geben – er fällt aber kaum ins Gewicht und besitzt für das Europa des 21. Jahrhunderts kaum noch Bedeutung. Dass auch das Deutsche seine Sprachkontakte auf vielen Ebenen widerspiegelt, ist also zu erwarten (und nicht erst zu postulieren).

Sprachkontakte und Sprachkonflikte at all times

Mittlerweile scheut man sich auch nicht mehr – da Sprachkontakte nicht wirklich etwas besonderes sind –, sie at all times zu betrachten, auch wenn es für sehr weit zurückliegende Kontakte keine Belege gibt. «Seit den Zeiten der Antike gibt es keine Kultur mehr, deren Entwicklung nicht deutlich durch Kontakte mit Nachbarkulturen – und damit auch mit deren Sprachen – beeinflusst worden wäre. Seit Beginn der Neuzeit (…) sind Sprachkontakte eine allgemeine Erscheinung der Kulturgeschichte (…). Sie manifestieren sich in allen Lebensbereichen, von der höchsten offiziellen Ebene sprachpolitischer Beziehungen … bis hin zur Szene der populären Kultur.» (Haarmann 2006, 330)

Menschen und ihre Sprachen begegnen sich nicht nur, sie geraten auch aneinander. Sie können in ihren Ausdrucksweisen konkurrieren, wobei sich meist Effektivität, politische Macht und vitale Stärke durchsetzen. Sprachkontakte und Sprachkonflikte gehen immer parallel.

Der erste, hier relevante Clash of Languages ist der Kontakt der von Osten her einwandernden Indogermanen mit den Ursprachen Europas im 5. Jahrtausend v. Chr. Hier war zum ersten Mal eine Population gezwungen, eine vollkommen fremde Sprache zu übernehmen und zu akzeptieren, dass sich kulturelle Dominanz vor allem sprachlich ausdrückt: «Die Alteuropäer lernten die fremdartige indoeuropäische Sprache der Steppenleute, denn die Sprache der Elite genoss uneingeschränktes Prestige und diente den Herrschenden als Instrument ihrer politischen Kontrolle.»[3] Dies war so etwas wie Europas ‹Urszene› der Konkurrenz von Mehrheits- und Minderheitensprache. Das Baskische mag der letzte lebende Ausläufer dieses großen Clash sein. Spuren lassen sich aber auch in ‹unseren› Sprachen nachweisen: Wörter wie griechisch thálassa ‹Meer› oder der Name der Stadt Korinth, auch das lateinische persona (etruskisch ‹Maske›) gehen auf untergegangene Ursprachen zurück.

Weitere Clashes prägen das europäische Mittelalter: Im 1. Jahrtausend glichen Bulgarisch, Rumänisch und Albanisch in intensivem Kontakt viele Strukturen einander an: So haben sie z.B. den europäischen Infinitiv weitgehend abgeschafft und ihn durch einen Nebensatz ersetzt – in Europa eine ganz exotische Sache! Das slavische Bulgarische hat in seinem Clash mit der Sprache der einwandernden Turkstämme im 7. bis 9. Jahrhundert sogar alle seine (sechs) Kasus verloren!

Und auch das Englische geht auf einen typischen Clash zurück: Durch die jahrhundertelange Herrschaft der französischsprachigen Normannen auf der britischen Insel hat sich das Altenglische einer wahren Revolution unterziehen müssen und ist am Rande der Neuzeit quasi runderneuert als ein anderer Sprachtyp, eben als das moderne Neuenglische, das wichtige Teile seiner Grammatik eingebüßt hat (oder: sie anders ausdrückt), wieder aufgetaucht.

Gerade in Europa haben sich in der Geschichte einzigartige Regionen und Städte herausgebildet, an denen Sprachkontakte wie auf dem Präsentierteller untersucht werden könnten: Die Vielvölkergemische Österreich-Ungarn und der Balkan, Venedig und die Schweiz waren und sind die großen europäischen Ausstrahlungszentren; aber auch am Beispiel des bosnischen Sarajevo, des griechischen Thessaloniki oder im ukrainischen Lemberg kann quasi an Musterbeispielen studiert werden, wie viele verschiedene Sprachen (und Kulturen) zusammenleben und welche Auswirkungen das auf die Sprachenwelt hat.