Musik ist Müll - Hans Platzgumer - E-Book

Musik ist Müll E-Book

Hans Platzgumer

4,8

Beschreibung

Von schrottiger und guter und der heute üblichen Abwertung aller Musik wissen die Co-Autoren versiert zu berichten. Sie kennen und belichten den an seiner Digitalisierung gescheiterten Musikmarkt und dessen Abgründe sehr genau. Genussvoll analysieren sie am Beispiel eines Generationenkonflikts den Müllstatus, den Popmusik 2012 eingenommen hat.

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Hans Platzgumer

Didi Neidhart

Musik ist Müll

Essay

1. Before Dawn

Montagmorgen, 06.45 Uhr, der Wecker gefühlskalt wie immer, der Fußboden kalt, stockdunkel. Können die nicht endlich die Zeitumstellung abschaffen!

Ich kämpfe mich aus dem Bett, weil irgendjemand in Österreich darauf beharrt, dass der Schulunterricht um 07.50 Uhr beginnen soll. Also muss ich meinen Sohn wecken. Er ist elf und geht ins Gymnasium. Er muss seinen Bus erwischen. Alles stressig und wortkarg wie immer. Nur dass er diesmal, während ich das Frühstück bereite, schon das Handy vor sich liegen hat. Nicht um zu telefonieren, sondern um die neueste Musik zu hören, die er sich aus dem iTunes-Store heruntergeladen hat.

„Papa, wie gefällt dir das?“

Er denkt nicht an die Uhrzeit, an die Dunkelheit, an mein Kopfweh und die steifen Glieder, die mir von der zu kurzen Nacht noch geblieben sind.

In blecherner Handyqualität, so laut wie möglich über diesen kleinen eingebauten Lautsprecher spielt er mir DJ Antoine Welcome To St. Tropez vor. Will im Ernst wissen, was ich von dieser Schrottmusik in diesem Schrottsound halte.

In meiner Schläfrigkeit bin ich nicht sehr wählerisch mit meinen Worten.

„Dafür hast du 1,29 Euro bezahlt?“

„99 Cent.“

„Das ist die 99 Cent nicht wert. Gib das Geld besser für was anderes aus.“

Sofort ist er beleidigt und geht auf Konfrontationskurs. Gegen einen Vater wie mich ist Musik aus der Ö3-Hitparade ein erfolgreiches Mittel zur Rebellion. Er kann von mir aus schlechte Noten, lange Haare und Probleme mit der Polizei haben, aber bitte keine Ö3-Musik!

Gib dein Geld nicht für Musik aus, habe ich gesagt.

Für diese Musik, habe ich gemeint.

Heutzutage muss ja niemand für Musik bezahlen, der nicht will. Bezahlt wird höchstens aus Dummheit oder Überzeugung. Freiwillige Spenden sozusagen – wenn überhaupt.

Aber wer entscheidet, für welche Musik noch Geld ausgegeben werden darf?

Ich entscheide es. Es gibt Musik, die benötigt Unterstützung, verdient Unterstützung! Und es gibt Musik, die verdient nichts, gar nichts, keine 99 Cent. DJ Antoine fällt in diese Sparte.

Aber erkläre das einem, der dreißig Jahre jünger ist als du.

„Das Stück findest du doch überall gratis im Netz. Das ist reiner Kommerz. Ich will nicht, dass du dafür was bezahlst!“

Ich will also, dass Musik gratis aus dem Netz gesaugt wird. Besser gratis als läppische 99 Cent dafür zu bezahlen. Dabei bin ich selbst Musiker und will Musiker unterstützen. Was rede ich da?

Bei uns scheint er wenigstens noch zu funktionieren, der Generationenkonflikt. Bei den permanenten Revivals ist es nicht leicht, etwas zu finden, bei dem es am Küchentisch kracht. Musikalisch ist das meiste amtlich abgehakt, rehabilitiert und steht, in opulente CD-Boxen verpackt, zur allgemeinen Verfügung herum. Bleibt als einziges Kriterium das idiotische Zurückziehen auf „Geschmack“. Selbst der blödesten Musik von „damals“ kann je nach Blickwinkel eine gewisse Qualität zugestanden werden. Entweder als Soundtrack oder Symptom einer Epoche oder weil sich das Hören verändert hat und es schwieriger geworden ist, Schrott einfach als Schrott zu benennen.

Denken wir an die Bands, mit denen wir die Wände unserer Jugendzimmer in Form von Poster-Poesiealben vollgekleistert haben. Welche davon hören wir noch? Von welchen haben wir noch Platten? Bei welchen sind wir peinlich berührt, wenn das Gespräch darauf kommt? Und: Welche hätten wir damals unter keinen Umständen aufgehängt, die wir jetzt aber schätzen? Es gibt diesen Pool an Bands, der dafür verantwortlich ist, warum wir uns immer noch für Popmusik interessieren, weil es mit jenen Bands angefangen hat, die wir damals unter anderem auf Ö3 gehört haben – eben auch blöde, schrottige und völlig aus dem Pop-Rahmen fallende. Gab es damals schon das Paradigma „Ö3-Musik“? Was soll das überhaupt sein? Musik kann doch nicht nur wegen dem Sender oder dem Format, auf und in dem sie gespielt wird, Müll sein. Zahlreiche Entdeckungen wären uns durch die Lappen gegangen. Wenn über Pop und Ideologie gesprochen werden will, müssen immer die Charts im Auge behalten, die Ohren damit gefüttert werden. Erstens, weil grausliche Musik oft parallel zu grauslicher Politik die Charts anführt. DJ Ötzis Anton aus Tirol stürmte bekanntlich die österreichischen Charts genau zu dem Zeitpunkt, als Schwarz-Blau an die Macht kam. Und 2011 teilten sich die Spitzenplätze pikanterweise der „Volks-Rock’n’Roller“ Andreas Gabalier und Hubert von Goisern – beide in FPÖ-Kreisen äußerst beliebt. Zweitens gibt es seit den Nuller-Jahren kein einziges avanciertes Genre, das nicht zugibt, sich auch von Hitparadenmusik inspirieren zu lassen. Das reicht von den Affinitäten bei Dubstep zu digitalem R&B und „Klingelton-HipHop“ bis zu den knarzenden Kindergarten-Acid-Lines David Guettas und LMFAOs. Beides ist zwar Techno bzw. Electro auf niederster Stufe (und erscheint bei letzteren sogar als dämlicher Comedy-Ulk), aber Pump Up The Jam (Technotronic) oder No Limit (2 Unlimited) haben in den frühen 90ern doch auch mehr Leute auf Techno aufmerksam gemacht als tausend obskure Underground-Maxis. Der Unterschied besteht eher darin, dass solche Sounds damals (wirklich) aus den Hitparaden herausgestochen sind. Ähnlich wie zuvor I Feel Love (Donna Summer) oder wenn sich Kraftwerk mal in die Charts verirrt hatten.

Wie auch immer. Ich will nicht, dass er dafür Geld ausgibt. Das Bezahlen für Musik verläuft im 21. Jahrhundert auf freiwilliger Basis. Als freier Ausdruck von Wertschätzung. Grundsätzlich ist dank Internet und Digital Lifestyle alle Musik frei zugänglich und ohne Qualitätsverlust endlos kopierbar geworden. Jeder, der bis drei zählen kann, weiß, wo er im Web seine Musikfiles findet, ohne für sie bezahlen zu müssen. Ob das nun Piraterie genannt werden soll oder nicht. Wen kümmert es letztlich. Der Slogan „Hometaping is killing music“ mit seinem Zusatz „and it’s illegal“ der britischen Plattenindustrie hat in den 80ern auch niemanden davon abgehalten, Kassetten zu bespielen. Heute ist dieses Hometaping einfacher geworden, als sich Musik zu kaufen. Auf irgendwelchen Blogspots, Musik-Bibliotheken, YouTube oder anderen Servern finde ich alle mp3s kostenlos, wenn ich nur ein bisschen suche. Meist lade ich mir sogar Songs aus dem Netz, die ich auf CD besitze, weil es einfacher geht, sie aus dem Netz zu ziehen, als meine eigene CD zu rippen. Wenn ich für Musik bezahle, dann nur, weil ich bezahlen will, weil ich das Gefühl habe, Gutes, Richtiges damit zu tun, jemanden bei seiner Arbeit zu unterstützen. Bei vielen Produktionen habe ich dieses Gefühl nicht. Bei DJ Antoine zum Beispiel. Der freilich auch kein DeeJay ist. Wer weiß, für was sein „DJ“ überhaupt steht. Was ist ein DJ Bobo? Ein Diskjockey? Sicher nicht.

DJ Antoine jedenfalls „rappt“ weiter darüber, wie geil das Leben in St. Tropez ist. Definitiv zu geil für meinen Geschmack. Und für diese dunkle Uhrzeit! Ich liege nun mal nicht gerade auf dem Sonnendeck meiner Yacht an der Côte d’Azur, mit Goldketten und Adidashosen bestückt, in die ich zwanzigmal hineinpassen würde. Ich sitze im kalten finsteren Österreich um sechs Uhr irgendwas morgens und streiche ein Jausenbrot. Und dieser Antoine wagt es, mir irgendeinen Stumpfsinn über seine Heili-geili-Welt zu erzählen.

Leicht lachen hat er ja: Wie DJ Bobo ist auch DJ Antoine Schweizer, ist Geschäftsführer des jährlich über 100.000 Gäste anziehenden Party- und Plattenlabels Houseworks, das für Lifestyle und Luxus steht und Sublabels unterhält, die „Egoïste“ oder „VIP Recordings“ heißen. Der international erfolgreichste Schweizer House-DJ, der sich mit seinem sozialkritischen Album DJ Antoine – Stop! (2008) auch gegen Jugendgewalt und für Zivilcourage aussprach, unterhält bei Welcome To St. Tropez mit dem Einsatz des russischen Rap-Stars Timati eine schweizerisch-russische Connection. Da fehlt eigentlich nur noch das Wort Liechtenstein. Soll für gewisse Musik auch die Unschuldsvermutung gelten?

So stellen sich mittelständische Kleinunternehmerhirne Popmusik vor. Das kann im Prinzip nur als Scripted Reality überleben, als Popmusik, die lediglich dazu dient, eine Dauerwerbesendung zu unterbrechen, wie wir es bei Casting-Shows beobachten können. Gibt es überhaupt noch ernstzunehmende Stars aus der Film- und Musikbranche, die bei dem mitmachen, was heutzutage Jet-Set darstellen soll? In Helmut Bergers Autobiografie Ich stolperten wir andauernd über Namen wie David Bowie, Mick Jagger, Grace Jones, Amanda Lear oder Marc Bolan. Dieter Bohlen kann doch nicht glauben, auch nur irgendetwas mit Marc Bolan gemein zu haben!

Andererseits kann auch niemand stichhaltig erklären, warum der deutsche Ballermann-Sound, diese Mischung aus Herrenwitz-Spießerschlager und unfunky „teutschem“ Tekkkno nie aufzuhören scheint. Das dauert jetzt ja schon länger an, als die gesamten 80er und 90er, auf die er sich bezieht. Recycelt sich da einfach Müll durch Müll? Ist die Sammlung mit 80s/90s-Maxis, viele davon erst in den letzten Jahren nachgekauft, bloß eine nostalgische Verblendung? Müll, der als Teil eines autobiografischen Poesiealbums nur im Glanz der eigenen Discokugel gesehen werden kann und im Grunde ebenso doof ist wie DJ Antoine? Vielleicht sind sogar DJ Antoine & Co in zwanzig Jahren wichtige, wenn auch sich darüber selbst überhaupt nicht bewusste Vorläufer von etwas Tollem und Innovativem. Etwas kultisch Verehrtes, als Schnäppchen Gejagtes wie zig damals verschmähte ZYX-Maxis mit vermeintlich grauslicher Italo-Discomusik heutzutage. Wie viel Müll wurde denn in den letzten Jahren von Flohmärkten wieder nach Hause geschleppt? Tonnenweise Müll, und ein paar echte Schmankerln. Klar wird da immer mit der Pappnase im Gesicht eingekauft: Wenn der Trash nur privat aufgelegt wird, ist es im Grunde egal. Aber wer weiß das schon? Verbergen sich nicht auf der Maxi-Version von Ryan Paris’ Dolce Vita nach dem eigentlichen Song zwei astrein nach Kraftwerk klingende Minuten, die bei jeder Party und in jedem Kontext für große Verwunderung sorgen? Solche Geschichten könnten jetzt ewig weitererzählt werden. Denn retrospektivisch wird mit neuen Ohren gehört, mit anderen Kriterien beurteilt und Müll williger als solcher erkannt und entsorgt. Das hat nichts mehr mit Fasching zu tun oder mit Masochismus oder mit Unsinn wie „ironisch gebrochen“. Wenn sich Boney M. an In-A-Gadda-Da-Vida vergehen, dann klingen sie weniger nach Disco aus Saarbrücken, sondern stellen eher die ultimative Punk-Version dieses Songs dar. Die totale Respektlosigkeit gegenüber einem aufgeblasenen Rock-Klassiker, der durch ganze Generationen von Popohren gejagt wurde. Das ist Punk. Die geballte Discofaust, straight in the face. Doch wie will man das irgendwelchen Easy-Listening-Deppen klarmachen, die sich mit DVD-Boxen der Deutschen Hitparade eindecken und glauben, das sei Kult. (Ausgerechnet deutsche Schlager, jenes Genre, das uns immer als umgedrehter Eisberg präsentiert wird, bei dem die Spitze unter Wasser gehalten wird. Das Spießertum als Hipstertum. Coole Spießer, die den Katalog des Cool um gestrickte Klopapierüberzieher ergänzen. Mehr dazu später.)

„Ich mag HipHop eben!“, sagt mein Sohn kampfeslustig.

Jetzt beleidigt er nicht nur mich, sondern die gesamte HipHop-Kultur auf einen Schlag. Ich denke an Public Enemy, Run DMC, Atmosphere, Notorious B.I.G., N.W.A. und all die anderen Rapper, die sich Rapper nennen dürfen, und DeeJays, die sich DeeJays nennen dürfen. Kurzzeitig habe ich Angst um das Leben meines Sohnes, wenn er so etwas in der Öffentlichkeit sagen würde, so etwas Unverschämtes wie DJ Antoine als HipHop zu bezeichnen!

„Das ist doch kein HipHop!“, sage ich und wieder entscheide ich, was was ist und was was nicht ist. Was nichts ist.

„Das ist Eurotrash. Ibiza …“ Ich ringe um Worte und finde nur Ausdrücke, die meinem Sohn nichts bedeuten.

Was wird nicht alles HipHop genannt und ist im Grunde nicht mehr als Sprechgesang zu irgendwelchen Beats. Wenn du mit zwanzig bis dreißig Jahre jüngeren HipHop-Fans ins Gespräch kommst, kannst du dein blaues Wunder erleben. Da gilt mitunter nicht einmal Missy Elliott als HipHop, dafür gibt’s die Einheitsfront Eminem, Sido und Bushido. Es soll ja auch Leute geben, für die Soul nur aus Adele und Xavier Naidoo besteht. Nun gut, wenigstens versucht HipHop nicht, sich auf der Ebene eines ewigen Revivals auszuruhen. Auch wenn die nun plötzlich von überall herfliegenden Ibiza-Samples eine mitunter sehr schwere Kost sind, sind sie doch immer noch besser als das x-te Funk-Sample. Die klassische Old Skool ist doch auch einem Boden entwachsen, der ebenso mit Disco wie mit Rock wie mit Charthits gedüngt worden ist! Und wieso nicht Ibiza? Es ist zwar komisch, dass es in den USA scheinbar dreißig Jahre gedauert hat, bis das nicht pauschal als Schwuchtelmusik abgetan wird, aber dafür entstehen daraus jetzt massive neue Styles wie bei Nicki Minaj. Und für die White Middle Class Kids gibt es basslosen Dubstep namens Brostep, dessen Credo es ist, möglichst rasch produziert zu sein, hingeschissen von Absahnern wie Skrillex. (Diesen Absahner wiederum will uns der Retromania-Analyst Simon Reynolds plötzlich als „Rock der Zukunft“ verkaufen. So treffen sich Jung und Alt im devisionierten Vakuum.)

Während ich noch um Worte ringe, hat mein Sohn mich längst schon abgeschrieben, mich Rock-Opa, und hat den Tune gewechselt. Auch in seinen Augen war das höchste Zeit, glaube ich, denn das Stück übertraf bereits die übliche Ein-Minuten-Zeitspanne, die Elfjährige auf ihren Handys den einzelnen Musiktiteln maximal gönnen. Wenn heute ein Song nicht sofort nach einer geilen Strophe in einen doppelt geilen Refrain abzischt, wird er von der Festplatte gelöscht. Eine zweite Strophe und weiteren Schnickschnack müssten die Musikproduzenten eigentlich gar nicht mehr machen, denn das hört sich ihre Zielgruppe ohnehin nicht an. Was in den 70er-Jahren 50-minütige Konzeptalben waren, sind heute Single-Edit-Downloads. Dafür gibt es davon 100 Millionen mehr.