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Wien in den 80er und 90er Jahren. Wer damals nach Wien zum Studieren oder Arbeiten kam oder ohnehin in der Stadt geboren ward, kann ein Lied erzählen … von einer grauen Stadt voller Hundstrümmerl, als man noch in Schilling bezahlte und erstmals coole Lokale aus dem Asphalt wuchsen. Dieser humorvolle und historisch-persönliche Sammelband soll vielfältige Eindrücke des damaligen Nachtlebens vermitteln. Als die heute Über-Fünfzigjährigen jung und hungrig (durstig) waren nach Nachtleben, Gleichaltrigen und einer guten Zeit. Welche Lokale waren angesagt, wer hing dort ab, wo konnte man um 4 Uhr früh noch nachglühen, wie war denn so allgemein die Stimmung? Lokalmatadore von damals berichten über ihre persönlichen Kultlokale wie das U4, Europa, Blue Box, Nachtasyl, Chelsea, Pandoras Box … berichten, aber auch über grindige Branntweiner und abgeranzte Gasthäuser – wo man im letzten Jahrtausend halt so die Nacht verbrachte. Texte und Fotos von Ela Angerer, Robert Buchschwenter, Christian Fuchs, Max Freudenschuß, Katja Gasser, Walter Gröbchen, Amina Handke, Christopher Just, Rainer Krispel, Hans Platzgumer, Christian Schachinger, Götz Schrage, Christian Sollmann-Moser, Peter Zimmermann u. a. Und einem ausführlichen Interview mit dem Szene-Zeitzeugen Herbert Molin, Erfinder und Inhaber der Kultlokale Blue Box und RHIZ.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1987. Die graue Zeitlupenstadt Hans Platzgumer
Billiger als London und Innsbruck Christian Moser-Sollmann
Vom Minigolf ins Tausendste Peter Waldeck
Spät, aber doch nicht ganz Robert Buchschwenter
Die Welt steht nimmer lang Christian Fuchs
REVISITATIONEN Christopher Just
Drei gehen rein, zwei kommen raus Christian Schachinger
»Eigentlich waren immer alle besoffen.« INTERVIEW MIT HERBERT MOLIN
Gute und böse Geister Ela Angerer
Straight outta Hietzing Jan Kossdorff
Flash Memory: das U4 als Ur-Schlund der Adoleszenz Walter Gröbchen
Wien 198792 Amina Handke
Party with me Punker! Rainer Krispel
Challengers Max Freudenschuß
Ich war neunzehn und hatte kein Geld Vanessa Wieser
Sommer 1980 – Panik im Kopf und acht Patronen im Magazin Götz Schrage
Send In The Clowns! Edelrost der Achtziger Peter Zimmermann
Keine Dörflerin, keine Städterin Katja Gasser
Kurzbios der Mitwirkenden
Hansi Platzgumer und Ähnliche bestaunen einen Polizeieinsatz in der Ägidigasse, Ende 87/Anfang 88. Foto: privat
Der Ich-Erzähler dieses Berichts bin nicht ich, sondern war ich. Ich bin nicht mehr derselbe wie damals. Und auch die Stadt ist es nicht. Dieser Text ist die Erinnerung an ein Leben und eine Welt im vorigen Jahrhundert. Manches verschwimmt dabei, anderes bleibt glasklar erhalten. Es gibt keine Hierarchie in diesen Bruchstücken, und auch gibt es wenig Verlässlichkeit. Alles liegt wild herum irgendwo in meinem Wien des Jahres 1987. Alles damals war ein Rausch, in mir und um mich herum. Alles war analog, ausschließlich, war in eine Dreidimensionalität hineingestellt, hatte einen Geruch, Gestank, Geschmack, ich konnte es angreifen, davor davonlaufen, mich davor verstecken oder es in meine Hosentasche oder meinen Mund stecken – das ist wohl der bedeutendste Unterschied zur Jetztzeit, in der die Dinge zu weiten Teilen abstrahiert, in die Ferne gerückt sind. 1987 stand hinter jedem Tag, den ich erlebte, die Vermutung, er könnte der letzte sein. Nie aber war er es. Es kam immer noch einer und noch einer. Bis heute, 37 Jahre später.
Im Frühjahr 1987 hatte ich die Matura und damit die letzte Hürde hinter mich gebracht, die mich in meiner Geburtsstadt Innsbruck hielt. 17 Jahre lang hatte ich darauf gewartet, aus der Enge meiner Heimat auszubrechen. Nun war es so weit. Am Tag nach der Reifeprüfung setzten ein etwas älterer Freund und ich uns auf mein Moped, eine KTM Quattro, packten so viel Gepäck darauf, wie Platz fand, und machten uns auf den Weg. Drei Tage würden wir für die 500 Kilometer letztendlich brauchen. Nahe Rosenheim platzte bereits der erste Reifen. Gegen Ende der Reise verirrten wir uns im Wienerwald auf eine Autobahn, aber davon ließen wir uns nicht abbringen. Mit unseren höchstens 40 km/h blieben wir stur darauf, bis wir die Stadtgrenze erreichten.
Diese »Wien ist anders«-Schilder auf der A1-Einfahrt in die Stadt gab es schon damals. Ich weiß noch, wie mir das gefiel. Das Anderssein hatte für mich oberste Priorität. Ich wollte hinaus aus dem konservativ-reaktionären Mief, in dem mich meine Heimat hatte ersticken wollen. Nun war es gelungen, die Schilder bewiesen es. Alles würde ich von nun an anders machen, als es bislang gewesen war, egal ob besser oder schlechter, Hauptsache anders. Wir mussten nur mehr ein paar, vielleicht zehn, fünfzehn Kilometer geradeaus weiterfahren Richtung Osten. Der Wien, diesem Rinnsal, entlang. Und dann tauchte der Karlsplatz vor uns auf.
Bis zum Karlsplatz schafften wir es, keinen Meter weiter. Auch die Wiener Giftlerszene hatte es dorthin und nicht weiter geschafft. Um genau zu sein, schafften wir es nur bis zum Würstelstand am Eck zur Operngasse. Dort stellten wir das Moped ab, und dort blieb es dann auch stehen, bis es von irgendjemandem entfernt wurde, denn es sprang nicht mehr an und ich gab es auf. Unsere Hintern schmerzten und wir waren froh, uns nicht länger darauf setzen zu müssen. Den Umstand, dass wir es tatsächlich bis ins innere Wien geschafft hatten, feierten wir mit Schwechater und Käsekrainer. Vielleicht war es das letzte Schwechater, das ich bis heute getrunken, und die letzte Eitrige mit Buckel, die ich gegessen habe. Es war ein Hochgenuss. Wien war erobert. Jetzt konnte alles losgehen, am besten sofort. Alles musste ja immer sofort geschehen. Geschah es nicht augenblicklich, bestand die Gefahr, dass es nie geschah. Und das wäre jammerschade gewesen, egal, um was es sich handelte. Alles barg die Möglichkeit eines neuen Abenteuers in sich, eines neuen Durchbruchs. So sah ich zumindest damals die Welt.
Mit solcher Unrast aber, das merkte ich bald, war ich in Wien am falschen Ort. Diese Stadt hatte ein anderes Tempo. Sie verweigerte sich der Zeit und folgte ihrem eigenen Rhythmus. Die Uhren in Wien tickten langsamer, so wie die Menschen hier langsamer redeten und agierten als im Westen. In dieser Mentalität lag ein großer Vorteil, das erkenne ich heute, Wien konnte durch das Einstreuen von Zeitlöchern länger als andere Städte so manche Perversitäten der Moderne von sich fernhalten. Vieles in Wien ist bis heute altmodischer als anderswo. So sympathisch ich dies inzwischen finde, als getriebener 17-jähriger Tiroler (einer, dem heute ADHS diagnostiziert und der mit Ritalin ruhiggestellt werden würde) stand mir damals nicht der Sinn nach Abbremsung. Ich wollte nicht aufgehalten werden und kannte nur eines: Vollgas. Das stoische Wien aber ließ sich von meinem Ungestüm nicht beeindrucken. Ich hatte mich seinem Tempo anzupassen, nicht umgekehrt.
Im ersten Eindruck kam mir Wien 1987 vor wie eine untergegangene Welt. Tatsächlich war die Stadt zu diesem Zeitpunkt hoffnungslos überaltert und am Aussterben. Seit Jahrzehnten sank die Einwohnerzahl. Wien war keine blühende Metropole mehr wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Das Weltgeschehen spielte sich jetzt woanders ab. Wien war vom Zentrum der Welt in die Peripherie gerückt, es war die letzte Station vor dem Eisernen Vorhang. Weder Westen noch Osten war Wien, sondern irgendwo dazwischen in einen Dornröschenschlaf gefallen. Der Geburtenknick und die unvorteilhafte geografische Lage hatten die Stadt schrumpfen lassen. 1987, just mit meinem Auftauchen beim Würstelstand in der Operngasse, hatte Wien sein historisches Allzeittief erreicht und zählte nicht einmal mehr anderthalb Millionen Einwohner – ein Viertel weniger als heute oder auch als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und genauso präsentierte sich mir die schöne Stadt an der Donau: graue, leere Gassen, die den Anschluss zur Welt verloren hatten. Zahllose Fenster in den Häusern waren dunkel. Wenn Licht brannte, weil hier noch Menschen lebten, waren muffige, schwarzgraue Gardinen zu sehen. Durch die Straßen fegte ein bitterkalter kontinentaler Wind. Niemand außer missmutigen Pensionistinnen und Pensionisten, die sich bei ihren Alltagserledigungen nicht rasch genug fortbewegen konnten, hielt sich unter diesen Bedingungen lange im Freien auf. Die meisten Wiener Damen führten ein Schoßhündchen an der Leine, das, sobald es den Drang danach verspürte, ein Trümmerl fallen ließ. Die Gehsteige Wiens waren von diesen Hinterlassenschaften übersät, es gab noch kein gesellschaftliches Abkommen, dass Hundebesitzerinnen die Rückstände ihrer Lieblinge zu entsorgen hatten. Ich weiß nicht, wie oft ich, der ich ständig in Eile war und durch die Straßen hetzte, in Hundekot trat und lauthals fluchte.
Passanten, die keinen Hund an der Leine führten, zogen meist einen Einkaufstrolley hinter sich her oder schoben einen Rollator. Oder sie trugen, wie auch ich häufig, einen Ölkanister mit sich herum. Fast alle Wohnungen, in denen ich unterkam, waren mit einer Ölheizung ausgestattet. Der penetrante Ölgeruch, der sich im Zimmer breitmachte, sobald ich einheizte, machte jegliche Freude über die entstehende Wärme zunichte. Meist half nichts gegen das Frieren, als möglichst viel in Bewegung zu bleiben.
Ich rannte also zumeist durch die toten Wiener Straßenzüge und suchte lebenshungrig jene Orte auf, in der sich die Underground-Szene traf. Denn trotz aller Morbidität gab es Leben in der Stadt, trotz (nein: wegen) all des Leerstands gab es Freiraum für Subkultur. In Wien hatte sich, weil es sich hier billiger und unkomplizierter als anderswo leben ließ, ein großer Haufen schräger Vögel aus allen Bundesländern eingefunden. Wenn ich schon den kosmopolitischen Geist vermisste, den ich erhofft hatte, so lernte ich dennoch schrullige Persönlichkeiten kennen, grindige Punks, verschrobene Intellektuelle, exaltierte, selbst ernannte Künstlergestalten, ambitionierte Radiomacher, Fanzine-Betreiber, Althippies, die sich in ihren Batikwelten verloren hatten, oder konspirative Autonome, die in einen Agitationsrausch strudelten. Inmitten dieses Klüngels fühlte ich mich gut aufgehoben. In der Blue Box oder im Terrassenheurigen, im alten Chelsea, im Alt Wien oder im Anzengruber, im Beisl des besetzten Hauses in der Ägidigasse oder im WUK besprachen wir uns. Die GaGa (Kultur- und Kommunikationszentrum Gassergasse, das erste autonome alternative Jugendzentrum in Wien) gab es nicht mehr, das Flex in der Arndtstraße oder das EKH in Favoriten noch nicht, aber es mangelte trotzdem weder an Orten noch Gleichgesinnten, mit denen sich Pläne schmieden ließen. Wenn uns die leidige Sperrstunde in die Quere kam, zogen wir in Spelunken am Naschmarkt weiter, damals die einzige Gegend der Stadt, wo bis ins Morgengrauen getrunken werden konnte.
Auf seine Weise hatte Wien, das damals so wenig zu bieten hatte, viel zu bieten. Ich erlebte in jenen Tagen unter anderem zwei der besten Konzerte meines Lebens. Der Auftritt von The Jesus & Mary Chain im Wiener Metropol dauerte höchstens 15 Minuten. Nach wenigen Songs stellten die schottischen Musiker ihre Instrumente auf der Bühne ab und verschwanden wortlos. Ein ohrenbetäubender Lärm aus Feedbacks, Krachen und Rauschen machte sich aus den voll aufgedrehten Gitarrenverstärkern breit. Klirrende Soundwände überschlugen sich, es war schier unerträglich, was da aus den Lautsprechern dröhnte. Das meiste Publikum aber blieb wie ich noch lange im zur Lärmhölle gewordenen Saal stehen. Ich lächelte beglückt, als ich später auf die Hernalser Hauptstraße hinaustrat. So stellte ich mir ein gutes Musikerlebnis vor: ein kurzweiliges Hören mit Schmerzen.
Auch der Auftritt der Henry Rollins Band im U4 dauerte nicht viel länger. Der amerikanische Straight-Edge-Hardcore-Poet war von oben bis unten tätowiert und durchtrainiert – heute das Normalste der Welt, damals jedoch eine fast außerirdische Erscheinung. In Österreich galt Tätowieren gesetzlich noch als Selbstverstümmelung. Es war verboten und ausschließlich Knastbrüdern vorbehalten. Ich selbst hatte in einem besetzten Haus irgendwo im 15. hinter dem Westbahnhof zwar illegal ein Tattoo in meinen Oberarm geritzt bekommen, doch im Vergleich zu Rollins’ gigantischem »Search and Destroy«-Schriftzug, der zusammen mit einer bösartigen Riesensonne seinen Rücken verzierte, war es lächerlich und harmlos.
Vor Konzertbeginn sah ich Rollins am Bühnenrand anstatt Bier zu trinken Hunderte Liegestütze machen. Dieser Mann war mit einer angsteinflößenden Energie und Aggressivität ausgestattet. Ich wollte ihm nicht zu nahe kommen – und wollte es doch. Im Gedrängel des Meidlinger Clubs blieb mir keine Wahl. Ich Zniachtal wurde ganz vor zum Bühnenrand geschoben. Rollins stand barfuß, praktisch nackt, nur mit schwarzen Boxershorts bekleidet, direkt vor mir und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Seine Band spielte so präzise und unmenschlich hart, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die Adern an Rollins’ Hals drohten jeden Moment zu platzen. Nach einigen Songs war er dermaßen außer sich, dass er ohne Vorwarnung blindlings eine Wasserflasche nach hinten warf. Er traf damit den Gitarristen, der unter Scherben und Blut zusammenbrach. Der Auftritt wurde abgebrochen. Ich hatte noch nie derart geballte, sich entladende Energie erlebt. Es war betörend, und doch war ich gewissermaßen dankbar, dass der Gig zu Ende ging. Vermutlich hätte ich diese Strapaz nicht mehr lange durchgestanden.
Wien bot in jenen Tagen ein »Weniger ist mehr«. Im Gegensatz zu heute, wo auch Wien ein konsumatorischer Überfluss erreicht hat, glänzte es damals mit einem Unterangebot. Junge Raunzer wie ich bekrittelten diese Tatsache zwar lauthals zu jeder sich ergebenden Gelegenheit – unser gutes Recht, aber in Wahrheit eröffnete es uns genau dadurch ungeahnte Möglichkeiten. Wien gab uns Platz und Zeit, ohne großen Druck von außen eigenwilligen Hirngespinsten jenseits des Mainstreams nachzuspüren. In der Stadt fanden sich noch ausreichend Spuren des »Roten Wien«, die auch für unorthodoxe, bohèmehafte Lebensentwürfe fern bürgerlicher Konventionen eine würdige Grundlage boten. Selbstredend gaben wir uns damit nicht zufrieden, dennoch fanden wir Spielraum und Freiflächen vor, die an anderen Orten der Welt bereits im Begriff waren zu verebben.
Weder ich noch irgendjemand in meinem Umfeld besaß in diesen Tagen Geld. Fast niemand aber schien aufgrund dieses Umstands große Entbehrungen erdulden zu müssen. War man irgendwo inskribiert, floss die Studentenbeihilfe, selbst wenn die Uni kein einziges Mal aufgesucht wurde. Kam man noch dazu aus einem fernen Bundesland wie ich, wurde zusätzlich ein Fahrtkostenzuschuss ausbezahlt. Tu felix Austria. Ohne sich dem schnöden Mammon hingeben zu müssen, fand sich normalerweise auch ein Dach über dem Kopf. Mühelos gelangte man, notfalls die Flucht vor Schwarzkapplern ergreifend, von einem Punkt der Stadt zum anderen und konnte ungehindert ein Event nach dem anderen zelebrieren. Auch gehungert wurde nicht. Fast jeden Tag fand in irgendeiner Galerie der Stadt eine Vernissage statt, und bei derartigen Anlässen wurde nicht nur Wein ausgeschenkt, sondern es gab ein Buffet. Monatelang besuchte ich fast täglich Ausstellungen, nur um mir den Bauch vollzuschlagen. Die Veranstalter nahmen es mir nicht übel. Wenn ich schon kein Geld beizusteuern hatte, so brachte ich wenigstens Leben in die Bude. Auch in den Bars wurde noch ohne kleinliche Abmess-Utensilien oder andere Überwachungsmethoden feierlich ausgeschenkt. Jeder und jede kannte irgendwo eine Barfrau oder einen wohlgesinnten Kellner, der nach eigenem Gutdünken mit der Getränkeausgabe verfuhr. Und von kleinen Lokalmatadoren wie mir wurde auch selten verlangt, den Eintritt zu Konzerten zu berappen. Meist wurde ich mit ähnlicher Selbstverständlichkeit an der Kassa durchgewunken, wie ich es beim hiesigen Urgestein Ronnie Urini mehrfach beobachtet hatte. Nur redete ich im Gegensatz zu ihm, der in der Öffentlichkeit gerne eine Art Wiener Englisch pflegte, in nach wie vor mehr oder weniger breitem Innsbruckerisch. Als etwas später – übrigens an der Bar des Volksgartencafés – zwei Hansis nebeneinandersaßen und ich das einzige Gespräch in meinem Leben mit Hansi Hölzel führte, verhielt es sich ähnlich: Falco redete halb Englisch, ich halb Tirolerisch. Wir verstanden uns schlecht. Seine Karriere befand sich bereits im Sinkflug, und ich nahm ihn ähnlich wenig ernst wie er mich.
Neben seinen spezifischen Vorzügen offerierte Wien durchaus auch die notwendige Angriffsfläche, um mein junges Begehren nach Rebellion zu unterfüttern. Praktisch bei jedem Nachhauseweg nachts durch die ausgestorbenen Gassen hielt – als hätte ich darum gebeten – ein Polizeiwagen neben mir an und ich wurde gefilzt. Mit der Kleidung, die ich trug (mehr Schnürlsamt als Leder, ausschließlich Stücke aus dem carla am Mittersteig oder anderen Secondhand-Läden, die im Nachhinein aufgepeppt, geschmückt, bemalt, verziert wurden), und meinen gefärbten Haaren zog ich Polizisten (wie im Übrigen auch Skinheads) magnetisch an. Vor Skinheads rannte ich, sofern ich es schaffte, davon, um nicht verprügelt zu werden. Vor den Bullen musste ich nicht flüchten. Sie wollten nur, dass ich meine Hosentaschen herausstülpte. Sie sahen dann, dass ich nichts besaß, und waren zufriedengestellt. Jedes Mal dieselbe Prozedur, immer Ärgernis und Freude zugleich.
Die Wiener Ordnungshüter waren lästig, aber lange nicht so feindselig wie ihre Kollegen in Innsbruck, dieser konservativen Hölle, der ich entflohen war. Wiener Straßenpolizisten waren träger, arbeitsscheuer, weniger verbissen als ihre Pendants anderswo, dennoch taugten sie als Feindbild – besonders als etwas später im Rahmen des größten Polizeieinsatzes der österreichischen Geschichte die Ägidigasse im Sechsten zwei Tage lang mithilfe von Wasserwerfern geräumt und dann abgerissen wurde. Dieses bunte Chaotenhaus, das mir so gefallen hatte, gab es dann nicht mehr, wenig später ging das Flex in der Arndtstraße daraus hervor. In Wien wurde wie andernorts in Europa zwischen den Autoritäten und Autonomen schwer gerungen. Mal behielten die einen, mal die anderen die Oberhand.
Platz zum Wohnen und Untertauchen bot die Stadt jedenfalls weiterhin. Ein Zimmer in einer WG zu finden, war eine Frage von Tagen. Hielt man es irgendwo nicht mehr aus, mietete man sich woanders ein. War es nicht gratis, war es erschwinglich. Wer sich als Künstler oder Künstlerin fühlte, fand mit etwas Glück ein ansprechendes Atelier, wo das kreative Schaffen ohne Zeit- oder finanziellen Druck vorangetrieben werden konnte. Wer Lärm machen wollte, kam in irgendeinem Probekeller unter, für den kaum Miete zu bezahlen war. Im Gegensatz zum heutigen war das damalige Wien ein Kaff und ein Paradies zugleich. Internationale Immobilienspekulanten hatten die Stadt noch nicht auf ihrer Agenda. In anderen Metropolen hatte die Jagd nach Betongold bereits eingesetzt und begonnen, jenen Menschen, die in einer Wohnung einfach nur leben wollten, den Boden unter den Füßen wegzuziehen. In Wien, ähnlich wie in Berlin, das auch durch die geografische Nähe zum Ostblock noch eine Weile lang vor den Auswüchsen der um sich greifenden Profitgier geschützt war, genoss der Underground eine Schonfrist. Erst ein, zwei Jahrzehnte später setzte sich diese Entwicklung, die jeden Ort der Welt zum Unort zu machen vermag, auch hier durch. In den 1980ern schien Wien noch Lichtjahre von einer Gentrifizierung entfernt, selbst der siebte, besonders aber der zweite Bezirk. Diese unhippen Gegenden war unattraktiv für Investoren. Die Stadt war mehr oder weniger noch ihren Bewohnerinnen und Bewohnern überlassen.
Für keines der Zimmer, in denen ich damals hauste, zahlte ich mehr als ein paar hundert Schilling im Monat. Keines aber reichte auch über die Kategorie »Substandard« hinaus. Das Gemeinschaftsklo am Hausgang war allgegenwärtig, ebenso wie die in der Küche provisorisch eingebaute Dusche oder das Fehlen einer Heizung. Ich erinnere mich gut an den Anblick der Eisblumen an der Innenseite meines Fensters, die ich von meinem Bett in der Belvederegasse aus bestaunen durfte. Dort bewohnte ich eine Weile lang das Durchgangszimmer zwischen zwei Tiroler Kumpanen. Unsere Freundschaft litt bald unter diesen Bedingungen, weniger wegen der ungemütlichen Temperatur in unserer Bude, sondern wegen meiner Vorliebe, sobald ich frierend erwacht war, mein Lieblingsalbum auf den Plattenteller zu werfen und mit maximaler Lautstärke abzuspielen: »Reign in Blood« der amerikanischen Thrash-Metal-Band Slayer. Ich liebte diesen frischen, neuartigen, hyper-aggressiven Metal über alles und hatte das Gefühl, er heizte besser ein als jedes Feuer. Meine Mitbewohner waren anderer Meinung. Eines Morgens wurden unsere Differenzen unüberwindbar. Wortlos trat mein Zimmernachbar zu mir herüber, riss die von mir wie ein Heiligtum verehrte LP vom Plattenteller und warf sie aus dem Fenster.
Noch im selben Monat zog ich aus und verließ Wieden. Am Neubaugürtel hatte ich eine Ein-Zimmer-Wohnung für 1100 Schilling (in etwa 75 Euro) gefunden. Das erste Mal in meinem Leben wohnte ich alleine, wenn auch nur wenige Wochen. Bald zog ein Freund zu mir, mit dem ich mir die doch recht teure Miete teilen konnte. Das einzige Fenster der Wohnung war nicht zum brachialen Autolärm und den Abgasen des achtspurigen Gürtels hin, sondern zum düsteren, schlundartigen Innenhof ausgerichtet. Vom vierten Stock aus wurde mein Blick unabwendbar in die Tiefe gezogen. Schaute ich aus dem Fenster, wurde ich sofort von einem Vertigo erfasst – obwohl Höhenangst nicht auf der langen Liste von Ängsten und Zwängen steht, die mich normalerweise durchjagen. Vom Fensterbrett meiner Wohnung aus gab es nur eine Richtung: hinab, hinunter in die Finsternis und in den Schmutz. Es ist ein Wunder, dass ich dem Drang, mich dort hinunterziehen zu lassen, über Monate hinweg widerstanden habe. Wohl lag es daran, dass ich so wenig Zeit wie möglich zuhause verbrachte, und auch der alte Kastanienbaum, der mitten im Hof stand und aus der Dunkelheit zu mir hochragte, lenkte ein wenig vom unheilvollen Sog ab. Das verzweigte Astwerk hätte meinen Sturz in die Tiefe wohl abgefangen.
Dennoch machte auch dieser zwischen den engen Gemäuern trostlos eingesperrte Baum einen wenig erquickenden Eindruck auf mich. Bald fühlte ich mich wie er: inhaftiert, zu allen Seiten von schäbigen Mauern und gardinenverhangenen Fenstern umgeben, aus denen immerfort der Geruch von gebratenen Zwiebeln und der Lärm von Stimmen strömte, die miteinander zu schreien und streiten schienen. Es dauerte nicht lange, bis diese Atmosphäre auf mein Gemüt drückte. Nichts als ein Knast-Innenhof war mir geblieben. Den Himmel konnte ich nur sehen, wenn ich den Kopf verrenkte und mich aus dem Fenster beugte. Doch wann immer ich mich dazu aufraffte, erblickte ich auch dort oben nichts als konturloses Grau.
Ganz Wien wirkte unter diesen Umständen auf mich bald wie ein gewaltiges Grab. Franz Kafka hatte diese Stadt in den 1920er Jahren als »absterbendes Riesendorf« bezeichnet, 60 Jahre (und einen Weltkrieg und Holocaust) später erweckte es nun den gleichen Eindruck auf mich. Von Tag zu Tag wurde ich schwermütiger. Statt Slayers Thrash-Metal hörte ich nur mehr das depressive »All The People I Like Are Those That Are Dead« meiner neuen Lieblingsband Felt in Dauerschleife. Und auch wenn praktisch alle Freunde, die ich hatte, in dieser Stadt wohnten, und mir Wien so viele Gelegenheiten gab, mich ungezwungen zu entwickeln, nutzte ich bald jede Chance, die sich ergab, um von hier fortzukommen.
Irgendwann, 1987 war bereits vergangen, reiste ich mit der Mitfahrzentrale nach Westberlin. Wie bunt und lebendig Kreuzberg im Vergleich wirkte! Statt alten Damen mit ihren Schoßhündchen lungerten junge Punks mit Straßenkötern herum. Auch diese versorgten wohl die Trümmerln ihrer Lieblinge nicht, aber das fiel mir nicht auf. Das Burenhäutl ersetzte ich durch einen Döner, der doppelt so groß und halb so teuer war wie in Wien und an jeder Ecke angeboten wurde. Es gab keine Sperrstunde, und ich wurde nicht länger sinnlos von Polizisten schikaniert. Nein, es war nicht meine unmittelbare Absicht gewesen, als ich wenig später an einer Tankstelle in Berlin-Schöneberg meine Jacke mit sämtlichen Ausweisen und Papieren, die ich besaß, auf dem Autodach liegen ließ. Doch es störte mich wenig, als ich es erst bemerkte, nachdem wir längst losgefahren waren. Die Jacke war nicht mehr aufzufinden. Ich hatte alles verloren, was meine Identität hätte belegen können. Damit war ich eingesperrt in einer westlichen Enklave mitten in der DDR, und es würde lange dauern, die nötige Ausstattung wiederzuerlangen, um den Eisernen Vorhang erneut überschreiten zu können. Wien war mit einem Schlag in weite Ferne gerückt. Es dauerte eine lange Zeit, bis ich eine neue Wohnung bezog, diesmal in Meidling. Aber das ist eine andere Geschichte. Sie wird ein andermal erzählt.
Wir nutzten als 24/7-Partypeople den Zug zwischen Lienz und Wien für Spontanfeiern. Foto: privat
Mein bei Kolping und in der Pfarre sozial engagierter Papa wetterte beim Frühstück gerne gegen die Bundeshauptstadt: Wacker Innsbruck spiele einen herrlich offensiven, kämpferischen und mitreißenden Stil, während die Austria Wien den Ball nur im Mittelfeld hin- und herschiebe. Und dieser Anton Polster könne nicht laufen. Außerdem versumpere das Steuergeld der fleißigen Tiroler in der Bürokratie des Wasserkopfs Wien. Hinter all dem Spott bedauerte Papa die Wiener einfach nur aufrichtig: keine Berge, keine Gipfel, keine Herz-Jesu-Feuer, kein Naturbahnrodeln, kein Eisstockschießen, keine Skitouren. In Wien gäbe es weder Wälder, Wiesen noch Bergseen, und deshalb versauerten die armen Geschöpfe dieser Stadt den ganzen Tag in stickigen Beisln. Papa konnte sich nicht vorstellen, dass ich oder irgendein Mensch in Wien glücklich werden könnte, daher warb er in Lobreden auf Tirol, wenn wir über meine Zukunft redeten, für den Studienort Innsbruck. Ich aber bekam regelmäßig Post von DJ W.A.S.S.
Mein Lieblingsonkel legte als DJ W.A.S.S. im H.A.P.P.Y. im WUK und in der Donau-Bar auf und arbeitete als Sahnehäubchen drauf auch noch im besten Plattenladen Österreichs, dem Black Market. Mein großherziger Onkel Werner schickte mir als Entwicklungshilfe eine leuchtende Zukunft vertonende House-Mixtapes oder Schallplatten. Darunter befanden sich Perlen wie die Geto Boys, die Gründerväter des Südstaaten-Rap, oder Too $hort, der mit seinen Schmuddelreimen mein Teenagerherz im Sturm eroberte und wegen dem ich Englisch lernte: Young and tender, sweet Denise, get her in the bed and the girl’s a beast.
Zusätzlich machte sich mein Onkel auch noch als Sprachrohr des Wiener Szenetratschs verdient. Werner erzählte mir von einem sagenumwobenen Clubbing namens Soulseduction im Volksgarten: »Da tanzen jeden Montag 700 Leute: Schwarze, Latinos, Supermodels oder Schauspielerinnen wie Cordula Reyer und Sonja Kirchberger.« Werner zeigte mir im Lifestylemagazin WIENER seine DJ-Kollegin Lady Funk und ermahnte mich bei Familienfesten eindringlich, nicht denselben Fehler wie er zu machen: Schon sein Vater hatte ihm unsere schöne Bundeshauptstadt schlechtgeredet, er habe folglich zehn sinnlose und abscheuliche Jahre in Innsbruck verbracht und erst dann den befreienden Schritt gewagt. »Christian, Innsbruck ist keine Stadt für dich, du musst nach Wien.« Kraft seiner DJ-Autorität gehorchte ich ihm, obwohl ich als Kind nur den Kasperl und die Wiener Austria gekannt und geliebt hatte. Die Wienwoche im siebten Gymnasium hatte mich bis auf die Altbauten mit ihrer Ostblockanmutung wenig beeindruckt, das ekelhafte Essen in der Mensa am Praterstern deprimierte mich und die Stadt meiner Jugendträume war »Swinging London«, aber als Landei aus einem Osttiroler Bergdorf mit gezählt 484 Einwohnern lag eine solche Metropole außerhalb meiner realistisch finanzierbaren Lebensplanung.
Ich stand also als Provinzflüchtling im September 1991 mit einer vollgepackten Sporttasche alleine am Südbahnhof und fuhr mit dem D-Wagen zum Kolpingheim. Noch kannte ich außer Onkel W.A.S.S. niemanden; meine drei besten Freunde blieben vorerst daheim oder gingen nach Innsbruck, weil es für Tiroler emotional schwer ist, das Heilige Land zu verlassen. Meine erste Bleibe fand ich nach Vorsprache meines Vaters im Kolping-Studentenheim im neunten Wiener Gemeindebezirk gleich neben der alten Wirtschaftsuniversität. Diese Unterkunft hatte trotz Einzelzimmer einen gravierenden Nachteil: Wenn ich später als um 22 Uhr nach Hause kam, musste ich 35 Schilling Öffnungsgeld zahlen. Das war zu teuer, daher beschloss ich spontan, beim Weggehen einfach durchzumachen bis zur ersten U-Bahn.
Für einen notorisch klammen Jungerwachsenen war Wien das gelobte Land: Ich schlängelte mich ab halb drei in Clubs rein, weil da kein Eintritt mehr verlangt wurde; ich wurde von menschenfreundlichen Türsteherinnen wie Parsia Kananian ins WUK geschleust; ich wurde vom Rausschmeißer der Arena gegen ein bescheidenes Bestechungsgeld von 100 Schilling ins ausverkaufte Nirvana-Konzert gelassen. Ich machte allerdings auch Fehler: Nach einer meiner ersten Vorlesungen schlenderte ich durch die Innere Stadt, entdeckte die Delikatessen vom Meinl am Graben und bezahlte für eine Semmel mit Meeresfrüchten gleich viel wie für meinen Abend mit Kurt Cobain. Das hat mich aus der Fassung gebracht, denn die damals übliche Preisspanne für eine Wurstsemmel lag bei 7 bis 10 Schilling von Extrawurst mit Gurke bis Salami. Abseits dieser Panne prägte leistbares Leben meine Wirklichkeit. Nach 132 Tagen Studentenheim – ich hatte jeden Tag Heimweh, weil meine Freundin noch in Osttirol wohnte – zog ich in meine erste Wohngemeinschaft, standesgemäß mit einem Lienzer: Robert. Unsere Bude lag neben dem Gürtel in der ersten Seitengasse der Thaliastraße. Auf der anderen Seite des Gürtels habe ich zum ersten Mal Prostituierte in einer Auslage gesehen, die mich mit eindeutigen Gesten lockten. Die zwei Damen, kaum älter als ich, standen hinter einer Glaswand und haben mir eher leidgetan als mich erregt. Ich war geschockt. Im fortschrittlichen Osttirol ist Sexarbeit verboten. Ich habe dann schamhaft die Straßenseite gewechselt, weil ich mich nicht in Gespräche verwickeln lassen wollte. Ich sprach als leichtgläubiger Landjunge mit jedem, der mich anquatschte. Erfahrene Stadtmenschen erkennen Provinzdeppen, die man leicht linken oder übervorteilen kann, instinktiv. Bis auf das Laufhaus mit dem Schaufenster war aber nichts verrucht an der U6-Station Thaliastraße, wo es nur einen Würstelstand, aber noch keine angesagten Gürtel-Lokale gab. Bei einer Käsekrainer erklärte mir ein blunzenfetter Landtagsabgeordneter der SPÖ gelegentlich spontan die Welt. Gerne holte ich mir bulgarischen Schafskäse am Brunnenmarkt oder beim Iraner in der Lerchenfelder Straße, wo das Fladenbrot mit Schwarzkümmel verschönert war, einen leicht persisch inspirierten Lammdöner.