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Die 1904 in München verstorbene Amelie Godin, eigentlich Amelie Linz, gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten deutschen Autorinnen von leichter Unterhaltungsliteratur. Der vorliegende Roman "Mutter und Sohn" spielt in der wunderschönen Bergwelt Tirols und wurde vor der Veröffentlichung als Buch in der Zeitschrift "Die Gartenlaube" abgedruckt.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2023
Mutter und Sohn
AMÉLIE GODIN
Mutter und Sohn, A. Godin
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849663711
www.jazzybee-verlag.de
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Zur Linken von einem massigen Bergkegel beschirmt, der seine dunklen Schatten weit in das Thal wirft, breiten sich auf der langhingedehnten Oberfläche einer felsigen Anhöhe die großartigen Ruinen einer jener Burgen aus, an denen Tirol so reich ist. Lange Jahrzehnte hindurch stand die Moosburg in märchenstiller Verlassenheit, aber in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hatte ein romantisch gesinnter Ausländer das interessante Felsennest käuflich erworben, und nun „sproßte neues neues Leben aus den Ruinen“, allerdings in modern romantischem Sinne. Noch standen die Grundmauern und Gewölbe, selbst die Eingangshalle des südlichen Flügels unversehrt. Der neue Besitzer ließ auf dieser Grundlage ein festgefügtes Wohnhaus emporwachsen, und schon schmückten Zinnen und Erker den in massigem Viereck aufstrebenden Bau, dessen zahlreiche Fenster gothische Bogen bildeten; ja, ihre in Rautenform bemalten Läden sahen, wenn man sie von fern erblickte, sogar wie alte Glasfenster aus. Das schwere, eisenbeschlagene Thor des Haupteinganges stammte wirklich noch aus vergangenen Jahrhunderten und führte in eine gewölbte Halle, durch deren schmale, schwere Thüren Generationen aus- und eingeschritten waren. Von dieser alterthümlichen Halle aus führte nun freilich eine ganz moderne Holztreppe zu den Wohnräumen des ersten und zweiten Stockwerkes hinauf.
Jener Fremde nun, welcher sich diese Heimstätte in der Bergeinsamkeit aufgebaut hatte, mochte derselben bald müde geworden sein; denn schon wenige Jahre, nachdem der Bau vollendet, bot er die Moosburg zum Kaufe aus, und rascher, als zu erwarten gewesen, fand sich ein Liebhaber dafür.
Herr von Riedegg – so nannte sich der neue Besitzer – zog spät im Herbst mit Frau und Dienerschaft in das eben erworbene Eigenthum ein. Die Wenigen, welche in der Gegend hiervon überhaupt Notiz nahmen, wunderten sich über den Einzug in so vorgerückter Jahreszeit; wer aber Gelegenheit fand, sich im Innern des Neubaues umzuschauen, der mußte zugestehen, daß die Moosburg auch im Winter als behagliches Heim gelten durfte. Den hohen Gemächern fehlten weder solide Kachelöfen, noch gute, zum Theil prächtige Polstermöbel und Teppiche. Für ein junges Paar mochte es sogar eigenthümlichen Reiz haben, die rauhe Jahreszeit in solcher gegen ihre Angriffe wohlgeschützten Abgeschiedenheit zu verleben. Jetzt lohnte jedenfalls das warme Wetter den Entschluß, sich hier häuslich niederzulassen.
Herr und Frau von Riedegg saßen an einem sonnigen Morgen auf der vorspringenden Terrasse, welche vom ersten Stockwerk aus weite Umschau bot. Das Geräth des zierlich servirten Frühstückstisches war bereits zurückgeschoben; der Hausherr hatte seinen Sessel dicht neben den seiner Gefährtin gerückt, und sein Arm umfing ihre Schultern. Die beiden einander so nahen Köpfe waren gleich interessant, wenn auch von ganz verschiedenem Gepräge. Das Gesicht des nicht jungen, aber noch jugendlichen Mannes fesselte, aber jenes der etwa in der Mitte der Zwanzig stehenden Frau überraschte, und zwar nicht allein durch seine große Schönheit, sondern mehr noch durch einen schwer zu bezeichnenden Ausdruck der classisch geschnittenen Züge. Es gab etwas in diesem Gesicht, das der Ruhe bedingenden Harmonie seiner reinen Bildung widersprach und doch dessen Reiz erhöhte, und dieses Etwas schlummerte in den dunkelgrauen Augen. Selbst im gegenwärtigen Moment, wo diese Augen sanft, ja beinahe schelmisch blickten, verrieth ihr Schnitt, die breite Wölbung der Lider unter hochgeschwungenen Brauen, daß ein ganz anderer Ausdruck in ihrem Grunde lag – ein Ausdruck von Gluth und Zauber. Es waren die Augen von Leonardo da Vinci’s „Monalisa“.
Des Mannes blaue Augen hingen mit leidenschaftlicher Bewunderung an ihren Zügen; leise wie ein Kind, das den günstigen Augenblick erhascht, etwas Erwünschtes, halb Verbotenes zu thun, hob er unerwartet die Hand und zog den goldenen Pfeil aus ihrem lose aufgesteckten Haar. Als die blauschwarzen schweren Flechten auf die in ein weißes Negligé gehüllte vollendet schöne Gestalt der Frau von Riedegg niederrollten, faßte er eine derselben und drückte seine Lippen darauf.
„Nicht doch, Meinhard," sagte sie; „heute ist kein Tag für Kindereien."
„Gerade heute!" scherzte er. „Giebt es wohl etwas im Himmel und auf Erden, das Du heute nicht mit Kind und Kinderei im Zusammenhang erblicktest? So laß mir auch die meine, Genoveva!"
Sie lächelte, entzog ihm aber mit leiser Bewegung das Haar und erhob sich, nachdem sie es achtlos wieder aufgenestelt.
Während sie an die Brüstung vortrat, zeigte sich die volle Höhe und königliche Haltung ihrer geschmeidigen Gestalt. Ihr Auge flammte auf, und sie breitete einen Moment die Arme aus, als wollte sie den weiten Himmel fassen. Eben stieg die Sonne glorreich über den Kegel des „Heiteren Lahn“ empor, und mitten im Inn, der sich durch die beiden Thalbuchten schlängelte, floß plötzlich ein zweiter Strom von blendendem Lichte. Glänzende Morgenpracht ergoß sich ringsum.
Genoveva ließ die Arme sinken und wandte lebhaft den Kopf:
„Sieh, welche Glorie den Tauftag unseres Sohnes vergoldet! Ein Omen, ein glückliches Omen!"
Meinhard war neben ihr und nahm ihre Rechte zwischen seine beiden Hände.
„Bedarfst Du himmlischer Zeichen?“ sagte er bewegt. „Ein Kind, so aus Glück und Liebe geboren, bringt goldene Flügel mit auf die Erde, selbst wenn keine Sonne ihm leuchtet.“
Ihr Auge wurde dunkler. Wie in Sinnen verloren, sprach sie die letzten Worte nach: „wenn keine Sonne ihm leuchtet wie düster das klingt!“ Ihre Hand preßte die seine mit starkem Druck, während sie mit vollem Blick in sein Auge fragtet „Ist heute nichts, was Dich schmerzt, Meinhard? nichts, was Du entbehrst, für Dich, für uns?’’
Flüchtiges Roth lief ihm über die Wange.
„Nichts!“ sagte er nach kurzer Pause voll Nachdruck. „Weshalb fragst Du so? “
Ein leichtes Geräusch schnitt die Antwort ab. Als Genoveva aufblickte, trat ihr eine Dienerin entgegen.
„Die Jana hat Vögel gebracht,“ sagte sie, „wenn’s erlaubt wär’, möcht’ sie gern mit der Gnädigen reden. Sie hat sonst noch was, sagt sie.“
„Nun, warum ist sie nicht gleich mit Dir herausgekommen?“
„Sie wollt’ nit; glaub’ sie fürcht’ sich vor unserm Herrn.“
„Ich komme!“ nickte die junge Frau.
Der Hausherr lachte; sein Gesicht verjüngte sich dabei.
„Wer ist Jana, die sich vor mir fürchtet?“ fragte er.
„Wie? ist mein Schützling Dir noch nicht vorgestellt? Von ihr gesagt habe ich Dir schon. Du vergaßest wohl nur den Namen. Das jüngste Töchterlein des Müllers am Wildbach ist’s, Juliana getauft, Jana gerufen – Du weißt ja die Mühle, thaleinwärts, wo der Fall so schäumend niederstürzt und ich so gern raste. Dort trat ich manchmal ein, wenn ich ohne Dich des Weges ging; sie haben solch ein lauschiges Gärtchen, wo sich’s behaglich ausruht. Dann brachte mir Jana ein Glas Milch, und ich ließ mir von ihr erzählen.“
„Ist das nicht die Kränzewinderin, von der Du mir sagtest, daß sie allerlei Kunstwerk von Haargeflecht und Blumengespinnsten zu weben versteht, alle Festtags- und Brautkronen flicht?“
„Dieselbe! ein Mädchen licht und scheu wie Edelweiß und ebenso sammetweich. Sie hängt mir an, ihre Augen sagen mir das und manche Blumenspende auch. Jana’s Schwester ist eine Jägersfrau; daher bekommen wir all unser Wildpret; zuweilen bringt sie es mir, wenn die Schwester nicht vom kleinen Kinde weg kann. Heut war ich schon in Sorge, sie ließe uns im Stich, und nun ist das bestellte Geflügel doch noch rechtzeitig gekommen für den Taufschmaus. Was sie sonst hat, will ich jetzt erfahren.“
Genoveva durchschritt die Glasthür, welche die Terrasse vom luftigen Gemach des Hauses trennte. Das dunkelfarbige Holzgetäfel, womit dessen Wände bis zur Decke bekleidet waren, wurde heute durch Guirlanden von jungem Laub erfrischt, die sich in Bogen um alte ovale Bilder zogen. Dieser Schmuck schien noch vermehrt werden zu sollen; denn ein mitten im Zimmer stehender, von kunstreich geschnitzten Füßen getragener Eichentisch war mit einer Fülle von blühendem Strauchwerk beladen.
Neben diesem Tische stand ein zartgebautes Landmädchen. Der runde Hut mit Goldquasten, welcher ihr helles Gesicht beschattete, machte sie als Oberinnthalerin kenntlich. Ihre Hand umschloß einen Strauß Monatsrosen von so thauiger Frische, daß sie gewiß erst vor Kurzem vom Strauch geschnitten waren.
„Rosen!“ rief Genoveva erfreut, als das Mädchen ihr die Blüthen entgegenbot. „Wie kommst Du zu dieser Pracht?“
„Sie sind von daheim,“ sagte Jana mit wohlklingender, etwas dunkler Stimme. „Das Gärtchen ist vom Haus geschützt, und die Sonne scheint darauf nieder von früh bis Nacht; darum haben wir immer die ersten. Es wär’ mir so viel lieb, wenn die Gnädige sie annehmen möcht’.“
„Schönen Dank, Jana! Deine Rosen sollen auch zu Ehren kommen und auf dem Tauftische prangen.“
„Wird das Herrlein denn nicht drunten in der Kirche getauft?“ fragte das Mädchen verwundert.
„Nicht doch! Der Gang wäre für mich noch zu ermüdend, und ich muß dabei sein. Könntest Du über Mittag da bleiben, Kind? – Ja? – Das ist schön! Dann hilfst Du mir den Kranz winden, der um den Tauftisch soll; hier liegt schon Alles bereit dazu. Du kommst gerade recht. Ich mag das nicht den Dienstleuten überlassen, und es heißt eilig sein. Um zehn Uhr kommt Pater Alois, und schön machen muß ich mich auch noch. Erst sollst Du aber als Lohn für die Rosen das Taufkind sehen.“
Ohne von dem gewöhnlich schweigsamen Mädchen Antwort zu erwarten, ging die junge Frau, anmuthig zurückwinkend, durch das anstoßende Zimmer in das Gemach, das von der Mutterliebe selbst ausgeschmückt erschien. Es war dort so dämmerig und doch zugleich so heimlich helle, wie in einer dichtschattigen Laube, deren schwankendes Zweiggeflecht goldene Sonnenfäden durchziehen. In diesem weiß und grün ausgefütterten Nestchen saß eine frische Bäuerin neben der verhüllten Wiege und schaukelte sie leise, indem sie ein „G’sätzel“ summte.
„Schläft er?“ fragte Genoveva halblaut.
Die Wärterin nickte.
„Geh’ frühstücken! Ich bleibe inzwischen hier.“ Erst nachdem die Amme das Zimmer verlassen hatte, schlug die junge Mutter die seidene Gardine zurück. Alle Majestät ihres Wuchses, ihrer Haltung verwandelte sich in diesem Moment einzig in Grazie. In das zuweilen so unerforschliche Auge trat ein Blick himmlischer Zärtlichkeit, während es sich auf das zarte Geschöpf heftete, das leise athmend zwischen feinen Spitzenhüllen lag. Nun sah sie zu dem Mädchen auf, welches regungslos auf die Wiege starrte. Nicht die vornehme Frau blickte das Landkind an; des Weibes seliger Mutterstolz suchte Theilnahme und Bestätigung bei dem Weibe.
„Erst vierzehn Tage alt und so kräftig schon, nicht wahr?“ fragte sie heiter. „Aber die Amme sorgt auch für sich und ihn. Denke Dir, sie frühstückt jeden Morgen dreimal. Doch davon verstehst Du nichts.“
Jana stand blaß und stumm.
Als Genoveva, durch ihr fortdauerndes Schweigen aufmerksam. gemacht, sie schärfer in’s Auge faßte und nun plötzlich fragte: „Was ist Dir?“ da warf das Mädchen beide Hände vor das Gesicht und brach in so gewaltsames Schluchzen aus, daß jedes der zarten Glieder erbebte und was nun folgte, das war eine gar geheimnißvolle räthselhafte Scene.
„Jana, was ist mit Dir?“
„Ich darf’s nit sagen,“ athmete das Mädchen, glitt aber dabei auf die Kniee und barg ihr verstörtes Gesicht in die Falten von Genoveva’s Kleide. Ein Ahnen erfaßte die junge Frau.
„Du darfst mir Alles sagen, Jana; denn ich bin Dir gut und kann Dir vielleicht beistehen.“
„Das hab’ ich selber gemeint und bin von zu Haus mit dem Willen fortgangen, der Gnädigen Alles zu beichten, aber ich wag’s nit, und wenn’s heraus ist, so hab’ ich kein Anwerth mehr bei Ihnen, und das halt’ ich nit aus – ach, ich seh’ meiner Noth kein End’ und getrau mich für die nächsten Monde nit nach Haus – –“
Genoveva strich ihr über das lockige Stirnhaar.
„Auf, Jana!“ sagte sie kräftig. „Ich bin Dein Richter nicht, aber Dein Helfer will ich sein in Angst und Noth. Sprich getrost!“
Das Mädchen regte sich nicht. Kaum vernehmlich stammelte sie ein langes, banges Geständniß von Liebe und Schuld, vom todten Liebsten und unendlicher Herzensangst, und als nach einer Weile die Amme wieder in das stille Gemach trat, da senkte Jana, wie vor Schmerz und Scham, die langen Wimpern, und zwei große helle Thränen hingen daran.
„Das ist nun Deine Genossin,“ sagte Frau von Riedegg, zu der Amme gewandt, „eine zweite Wärterin für den Kleinen. Sei gut mit ihr!“
Jana’s Augen strömten vor Dank über, Frau von Riedegg aber sagte mit dem stolz heiteren Ausdruck, der ihr gewöhnlich eigen war, hellen Tones:
„An’s Werk jetzt, kleine Kränzewinderin!“
„Auf die Gesundheit des jungen Herrleins!“ rief der alte Servitenpater, und seine schmalen, gutmüthigen Augen zwinkerten vor Wohlbehagen, während er das Glas hob, um mit der Schloßherrschaft anzustoßen. „Möcht’ ihm das heilige Taufwasser, so er empfangen hat, gütlich gedeihen und der christliche Name Sigismund ihm auch Sieg bedeuten über alle Fährlichkeiten an Leib und Seele!“
„Amen!“ erwiderte Genoveva lebhaft, während das Glas ihres Gatten hellen Klanges mit dem des Paters zusammentönte, dessen vergnügte Stimmung sich in jeder Miene kundgab. Das Amt war gebührend verrichtet, nun mochte er auch das Recht üben, sich die seltenen Freuden eines auserlesenen Taufschmauses zu Gute kommen zu lassen.
„Ja,“ hob er wieder an, indem er den goldig funkelnden Tokaier im frischgefüllten Glase mit fast gerührten Blicken betrachtete, „solch köstlich Tröpflein ist wahre Gottesgabe! Kommt so leicht nicht an Unsereinen – nicht einmal zu den heiligen Zeiten!“
„Ihr Kloster ist arm?“ sagte Meinhard; „und es ist doch ein gar stattliches Bauwerk. “
Der Mönch zuckte die Achseln; zwischen dem Vollbarte, dessen graudurchmischte Fülle das Gesicht etwas struppig umrahmte, spielte ein vieldeutiges Lächeln.
„Wohl, wohl,“ sagte er; „Mauern genug; unser Kloster ist richtig halb so groß wie’s ganze Städtle. An Platz thät’s nit fehlen, wär’ nur sonst von Allem g’rad’ so viel da. Wir armen Kutten laufen da drinnen ’rum wie die Kirchenmäuse im Dom. Wohl, wohl – zum Laufen sein wir ja da! Wann’s im Winter Flocken schneit, so groß wie ein Bauernhut, und wann im Juli die Sonne niederbrennt, daß man heil denkt, es bleibt nichts von Einem übrig, als ein Fettfleck, da müssen wir doch alleweil um einand’ laufen, bis in die höchsten Berg’ ’naufzannen, oder aber durch’s Wasser patschen, wo’s halt ’was zu amtiren giebt. Wären unserer zur Aushülf’ nur mehr, dann ging’s schon!“
Die alte Bronzeuhr schlug voll und langsam die dritte Nachmittagsstunde.
„Heilige Mutter Maria,“ sagte der Pater und schaute bestürzt nach der baroken Urne, welche das Zifferblatt trug; „schon so spät! Jetzt muß ich fort, sonst thät’ ich gar die Vesper versäumen.“
„Daraus wird nichts!“ lächelte die junge Frau. „Erst müssen Sie noch Kaffee trinken. Vom Programm der heutigen Festlichkeit wird Ihnen kein Iota erlassen, Pater Alois. Schlimm genug, daß Sie damals den Hochzeitwein nicht mit uns theilen wollten!“
Der Pater war auf seinen Füßen.
„Bscht, bscht!“ mahnte er und sah sich ängstlich rund um.
Ohne seiner weiter zu achtelt, stützte Genoveva ihre schlanke Hand auf die Schulter des Gatten
„Denkst Du den Tag?“ fragte sie halblaut und ließ ihr leuchtendes Auge durch das Fenster über Thal und Strom zum waldigen Brandenberge hinüber schweifen, wo es träumerisch an dem alten Bergkirchlein hängen blieb, das tief einsam zwischen dunkeln Tannen ruhte.
„Ob ich des Tages denke?“ wiederholte Meinhard leise und leidenschaftlich, indem sein Arm das schöne Weib umfaßte. „Allein! wir waren allein! Ueber Moos und Marmor schritten wir zwischen Föhrendunkel und feurigem Herbstlaub. Und als wir vor dem Altar standen, nur vom Priester und Eremiten geschaut, als einzelne Vogeltöne durch die heilige Morgenfrühe klangen, da bewegte der Frühwind das Glöckchen im Thurme und trug dem Walde die Kunde zu, daß Du mein geworden. Ein goldener Sonnenstrahl verklärte das Madonnengesicht über dem Altar
„Die Madonna mit dem Kinde!“ sagte Genoveva. „Sie ist gebenedeit.“
„Hörte ich recht?“ rief der Servitenpater und sein volles, heute etwas weingeröthetes Gesicht strahlte vor Freude. „Sie benedeien die heilige Muttergottes. So hat sich an Ihnen also die Gnade erwiesen, welche ich mit so manchem Vaterunser und englischem Gruße alle Tage vom grundbarmherzigen Himmel heruntergebetet habe? Sie kehren in den Schooß unserer heiligen Kirche zurück, oder sind gar schon –?“
Die junge Frau schüttelte heiter den Kopf.
„Nicht doch, Pater Alois! Was ich gewesen, das bin ich, und was ich bin, werde ich bleiben. Wär’s denn wirklich wahr, was ich einmal von Ihnen selbst meine vernommen zu haben: daß wir armen Lutheraner ewig in der Hölle brennen müssen?“
Der schalkhafte Zug, welcher nur in seltenen blitzartigen Momenten, dann aber als besonderer Reiz dieser vornehmen Erscheinung zu Tage trat, ging an dem guten Pater spurlos verloren.
„Mit nichten, mit nichten!“ sagte er eifrig und wehrte mit der Hand ab, als wären strafende Flammen schon bereit, aufzulodern. Mit seinem Behagen schien es aber vorbei. Unruhig schweifte sein Auge nach seinem breitrandigen Hute umher, und sobald er ihn erfaßt, sagte er etwas hastig. „Empfehl’ mich zu Gnaden – darf wahrhaftig nicht länger dableiben, wenn ich nicht leidige Rüge auf mich laden soll. Gelobt sei Jesus Christus!“ Meinhard hielt ihn auf:
„Der Taufschein, hochwürdiger Pater? Sie haben ihn ausgefertigt, mir aber noch nicht eingehändigt.“
„Wohl, wohl! Das hätt’ ich nun bald vergessen hab’ ihn an mich genommen.“
Er zog das Blatt aus der Brusttasche seines langen Klosterrockes, räusperte sich stark und legte es auf den Tisch, um sich dann eiligst zurückzuziehen.
Als Meinhard, nachdem er ihm Geleit gegeben, das Speisezimmer wieder betrat, fand er seine Frau tief verloren in Betrachtung des Taufzeugnisses. Sie blickte lebhaft zu ihm auf; ein gleich lebhaftes Wort schien auf ihren Lippen zu schweben, doch sprach sie es nicht ans.
Als er die Hand ausstreckte und das Blatt schweigend an sich nahm, senkte sich der heißfragende Blick der jungen Frau. Ein finsterer Zug, der plötzlich den ganzen Eindruck ihrer Physiognomie verwandelte, trat um die schöngeschwungenen Lippen.
„Genoveva!“
Eine Fülle von Liebe klang aus dem weichen Laut, womit er den Namen rief. Sie hob die Augen, blickte ihn einen Moment zögernd an und warf sich dann mit leidenschaftlicher Inbrunst in seine Arme.
Wir Modernen, im Reisen und Schauen Geübten sind durch den Besuch mancher öffentlichen Sammlung mit den Einzelnstücken früherer Einrichtungen ziemlich vertraut geworden. Wer alte Schlösser besucht hat, wird mit Interesse bei jenen eingelegten Möbelstücken, jenen kunstreichen Schlosserarbeiten, Waffen und Geräthen verweilt haben, welche unsere Vorstellung von altdeutscher Häuslichkeit schärfen. Der historische Sinn, welcher zur Zeit unserer Voreltern selbst im schlichten Bürgerhause dem Ererbten Werth beilegte und somit dem Urenkel ein Stück unberührter Vergangenheit übermittelte, ward aber von unserer schnelllebigen Generation längst in alle Winde verstreut.
Deshalb sind wirkliche Heimstätten alter Zeit ebenso selten geworden, wie jene Stammsitze von Geschlechtern, welche Jahrhunderte lang demselben Namen zu eigen geblieben. Wer heute ein solches durch vier oder fünf Jahrhunderte dem gleichen Stamm zugehörendes Schloß betritt, den ergreift ein seltsames Verstehen. Wie groß, wie stark mußten sich die fühlen, die hier wohnten! Die stummen Wände schon predigen dem Kinde, das hier heranwächst, vom Ansehen und Stolz seines Geschlechtes; was die Jahrhunderte im Ausdruck, den sie aufgeprägt, von einander unterscheidet, wird zur Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In der prächtigen Fülle, die sich hier vererbt, der immer neue Fülle hinzugefügt wird, lebt etwas Großartiges, ja sogar etwas Großmütiges; denn nirgends begegnet hier der Gedanke jenem Zuge unseres Jahrhunderts: auf Kosten jeder Freigebigkeit immer gleich wieder sparen zu wollen oder zu müssen. Man kann sich in solche gleichsam zur verkörperten Historie gestaltete Räume nichts Kleinliches hineindenken, weder körperlicher noch geistiger Art.
Das Stammschloß der Grafen Riedegg, seit einer Reihe von Generationen demselben Tiroler Adelsgeschlechte eigen, gehört in diese Kategorie. Es liegt unfern der Grenze des deutschen und italienischen Sprachgebietes, auf steilem, von der Ebene aus scheinbar unzugänglichem Felsenvorsprunge, von dunklen Föhren dicht umstanden. Tief drunten ich Thale braust der gelbe Eisack.
Das Gemach, welches wir zunächst betreten, hat einst eine Königin beherbergt; davon ist ihm der Name Königinzimmer geblieben; trotz der zierlichen Parquettirung und der außerordentlich schönen Schnitzarbeit der Decke zeigt es aber gegenwärtig ein strenges, jener weiblichen Bezeichnung widersprechendes Gepräge. Der gewaltige Eichentisch in der Mitte ist mit Büchern und Mappen beladen; Alles, was der Einrichtung dient, verräth Pracht und Ernst zugleich. Man möchte sich diesen Raum ungern als Wohngemach denken, böte nicht das weit hinausspringende Eirund eines der Eckthürme ein Asyl für Behaglichkeit. In diesem Ausläufer des weiten Gemaches schimmert zwischen zwei hohen Fenstern ein kostbar eingelegter Schrank, dessen halbgeöffnete Thür Schriften und Pergamente im Innern unterscheiden läßt. Auf einem der hochlehnigen Sessel, welche den runden Tisch umstehen, sitzt der Herr des Schlosses im Gespräch mit seiner ihm gegenüberstehenden Enkelin.
„Du siehst nicht froh aus, Großvater. Und doch ist heut ein Freudentag.“
„Es könnte ein Freudenfest sein.“
„Und wäre es kein Fest?“
Der Greis, an welchen sich diese Fragen richteten, sah allerdings nicht aus, als sei er im Begriff einen festlichen Tag zu begehen. Gedankenschweres Sinnen hatte sich in jeden Zug seines ausdrucksvollen Gesichtes eingegraben. Zwar zeigte die hünenhafte Gestalt des Grafen Riedegg nichts von der Last seiner hohen Jahre, diese Jahre mochten ihm aber eine um so schwerere Last von Erfahrnngen aufgebürdet haben. Er hatte stets für einen der schönsten Männer seiner Zeit gegolten und war dies in gewissem Sinne noch heute. Das intensive Blau des scharf blickenden Auges hatte nichts von seiner Färbung eingebüßt; Stirn und Schläfen schienen nur durch jene Linien gefurcht, die eine zwar unbeugsame, aber auch nicht ohne Enttäuschung gebliebene Energie zu graben pflegt. Haar und Bart waren gebleicht, aber noch in starker Fülle; Graf Riedegg’s Blick haftete in diesem Momente prüfend auf dem Gesichte seiner Enkelin, deren Stirn und Auge den seinigen wunderbar glichen.
„Fünfzehn Jahre!“ sagte er; „in diesem Alter trägt man sich mit langen Haaren und kurzen Gedanken. Laß’ Dich das aber nicht erzürnen!“ warf er ironisch dazwischen, als das heiß erglühende Kind eine der niederhängenden, vorwärts geglittenen Flechten mit stolzer Geberde über die Schulter zurückwarf. „Wir nehmen an, Du seiest eine Ausnahme, Ottilie, und Du sollst Antwort haben. Nein! es ist mir kein Freudenfest; denn Dein Vater kehrt nicht so zurück, wie er es mir verheißen. Die heutige Generation begreift adelige Pflicht nicht mehr.“
Die Gluth auf Ottiliens Wangen brannte heißer. „Du machst es meinem Vater zum Vorwurfe, daß er mir keine Stiefmutter geben will?" erwiderte sie in dunkelm Tone. „Ich bin ihm dankbar dafür.“
„Du bist doch noch ein Kind von kurzen Gedanken,“ sagte Graf Riedegg achselzuckend. „Stiefmutter – wie aus einem Ammenmärchen! Die Gattin meines Sohnes wird meiner Enkelin den Frauenschutz bieten, welcher für Deine Vorstellung unentbehrlich ist. Im Uebrigen handelt es sich darum, daß der angestammte Besitz dem Namen verbleibe.“
Sie blickte lebhaft auf; das feste Auge traf den Greis mit vollem Strahle, während ihr Kopf sich hob. „Wenn unser Name einst durch mich mit einem andern vertauscht werden sollte, so darfst Du darauf rechnen, Großvater, daß dieser andere von gleich reinem Klange ist.“
Ein kurzes, scharfes Lachen ging der Antwort des Grafen voraus: „Darauf rechne ich um so sicherer,“ sagte er, „als ich selbst dafür sorgen werde. Uebrigens ist Dein Vater noch ein junger Mann; was sich an fremden Höfen nicht gefunden, findet sich vielleicht in der Nähe. In meiner Berechnung dieser europäischen Reise fehlte leider eine Ziffer: Meinhard’s Schwanken jedem Entschlusse gegenüber.“
Das feine Ohr Olliliens empfand die leise Geringschätzung der letzten Worte.
„Du liebst meinen Vater nicht,“ sagte sie mit bedeckter Stimme, „und doch –“
„Und doch ist er der letzte Sohn , welcher mir geblieben, willst Du sagen?“
Ein weicher Zug, der diesem festgezeichneten jungen Gesichte nicht immer eigen war, trat voll Anmuth um des Mädchens Augen und Lippen.
„Und doch ist mein Vater so liebenswerth. Das wollte ich sagen. Onkel Wolf ist seit langen Jahren todt – ihm trauerst Du heute noch nach, Großvater, liebst den todten Sohn mehr als den lebenden. Sonst hättest Du Papa gewiß nicht beredet oder auch nur darein gewilligt, daß er so lange von uns fern blieb. Papa ist gut – ich liebe ihn. Daß er heimkehrt, macht mich froh, daß er allein heimkehrt, macht mich glücklich.“
Der Graf hob die Brauen.
„Worauf wartest Du denn? Kleide Dich geziemend an! Der Wagen wird nach einer Stunde abfahren.“
„Ich darf also?!“ Das Wort brach voll Gluth hervor.
„Wie ich Dir gestern gesagt. Mademoiselle begleitet Dich nach Brixen zur Frau von Lichtwehr. Schüller fährt mit, erwartet auf der Post Deines Vaters Eintreffen und macht Dir Meldung, während der Vorspann besorgt wird.“
Die helle Stirn des Mädchens zog sich zusammen. „So nicht, Großvater,“ sagte sie verstimmt. „Daß ich nicht allein fahren darf, weiß ich ja – also mag Mademoiselle mitkommen. Ist das aber nicht genug? Zu Lichtwehrs? Ach, sie werden mir während der ganzen Wartezeit den Kopf summen lassen vor lauter Gerede, und dann wird der alte Herr am Ende gar mitkommen wollen, um Papa zu begrüßen. Nein, nein! wenn ich ihn nicht mit Mademoifelle im Posthause erwarten und dort allein empfangen darf, bleibe ich lieber zu Hause.“
„So bleibe zu Hause!“ sagte Graf Riedegg sehr ruhig, aber in einem Tone, welchen seine Enkelin gut zu verstehen schien. Sie wechselte die Farbe, strich sich mit stolzer Wendung des Kopfes das kurze Gelock aus der Stirn, machte eine Verbeuguug, welche jedem Hoffräulein zur Ehre gereicht haben würde, und verließ das Zimmer ohne ein Wort zu erwidern. Draußen im Bogengange, der diesen Mittelflügel mit jenem verband, welcher die eigentlichen Wohngemächer umschloß, warf sie einen flüchtigen Blick in den Hofraum und wendete sich nun der steinernen Säulentreppe zu, um hinabzusteigen.
Von dem weiten Quadrat des inneren Hofes aus gesehen, boten die großartigen Verhältnisse des Schlosses stets einen fürstlichen, heut einen festlichen Eindruck. Die auf massivem, von uraltem Epheu umgittertem Gefüge des Unterbaues ruhenden Gallerien, welche sich in gothischen Bogen kühn und luftig um das erste und zweite Stockwerk zogen, waren mit schweren Laubgewinden umkränzt. Der Springbrunnen inmitten des Hofraumes warf seinen glitzernden Strahl aus einer Fülle blühender Gewächse empor, womit der Marmorrand schon in erster Morgenfrühe umzogen worden. Einige Dienstleute waren am Flügel der Einfahrt beschäftigt, letzte Hand an einen Triumphbogen zu legen, der aus Laubgewinden, Fähnchen und alterthümlichen Waffen zusammengefügt worden.
Das Grafenkind trat mit kurzem Nicken gegen die Beschäftigten hinaus auf den umwaldeten Plan, der sich westwärts weit hindehnte, während der Fels, auf welchem das Schloß vom Thale aus wie auf spitzer Nadel stehend erschien, sich nach Osten zu steil niedersenkte. Durch den Wald wand sich in weiten Krümmungen ein wohlgehaltener Fahrweg, während, dem Schlosse ziemlich nahe, ein gleichfalls geschlängelter, trotzdem mitunter jäher Fußpfad sich zwischen einem wohlgepflegten Hain von Kastanien und Wallnußbäumen niederzog. Ganz nahe unterhalb des Schlosses erhob sich eine starke Esche, deren weitaus gespannte Zweige eine Bank mit rundem Tische davor beschatteten.
Dies war Ottiliens Lieblingsplatz, und dorthin wandte sie sich jetzt. Den Arm leicht aufgestützt, saß sie müßig und folgte mit den Augen dem Spiel des Sonnenlichtes, das mit jedem Windhauche die Schatten des Laubes neugestaltig tanzen ließ. Die schlanke, lichte Gestalt erschien ganz in Uebereinstimmung mit dem hellen Tage; mit tiefem, freiem Athemzuge genoß das Kind Einsamkeit und Schweigen; es blieb aber nicht lange ungestört.
Eine stattliche Dame, überaus genau, fast pedantisch in schwarze Seide gekleidet, näherte sich vom Schlosse her.
„Mademoiselle – Sie wünschen?“ fragte Ottilie und richtete sich auf.
„Wie ich eben erfuhr, werden wir nicht ausfahren, Comtesse,“ antwortete Jene mit großer Artigkeit, die eine leise Färbung geheimen Verdrusses nicht ganz verdecken wollte oder konnte. „Ich erinnere deshalb an die englische Stunde. Es ist zehn Uhr.“
Das Mädchen nahm den vorigen Platz wieder ein.
„Sprechstunden – heute? Sie vergessen den Feiertag.“
„Von einem heutigen Festtage ist mir nichts bekannt, Comtesse.“
Ottilie sah staunend auf.
„Wir erwarten meinen Vater,“ sagte sie langsam und sah ihre Gouvernante mit eigenthümlich bestimmtem Ausdruck an; „das wäre Ihnen nicht bekannt, Mademoiselle?“
„Nachmittags.“
„Und Morgens und in jedem Augenblick! Glauben Sie wirklich, daß ich heute Sinn für Vocabeln hätte?“
„Excellenz wird unzufrieden sein.“
„So fragen Sie an!“ rief Ottilie unmuthig. „Freiwillig setze ich mich nicht in das Schulzimmer.“
Ohne zu antworten, verneigte sich das Fräulein vorschriftsmäßig, wie zuvor, und kehrte nach dem Schlosse zurück. Ottilie sah ihr einen Moment nach; zwischen ihren dichten Brauen stieg eine Linie gegen die helle Stirn auf und nahm derselben alles jugendliche Licht – freilich nur für eine Secunde; dann schlug sie die Arme übereinander und spann sich wie zuvor in ihre Gedanken ein. Es waren zukunftsfrohe, hoffnungsreiche Gedanken – von der Heimkehr des Vaters erwartete das Kind eine neue Phase der eigenen bisher in enge Schranken gebannten Existenz. Sich von diesen Schranken ganz eigentlich frei zu wünschen, kam Ottilie allerdings nicht in den Sinn; denn der in ihrem Hause gültige Begriff des noblesse oblige war ihr zu sehr in’s Blut übergegangen, als daß sie sich gegen irgend eine Einschränkung hätte auflehnen mögen, welche mit solcher Anschauung zusammenhing. Eines aber wußte sie: der kühle Hauch, welcher sie seit so langer Zeit umgeben, daß sie sich bereits an solches Klima gewöhnt hatte, würde von dem Augenblick an sonnendurchwärmt sein, in welchem der lang Entfernte wiederkehrte. Und doch hatte sie den Vater weit weniger lebhaft entbehrt, als sie sich nun auf ihn freute! Erst als seine Heimkehr in naher Aussicht stand, war ihr sein mildes, angenehmes Gesicht aus schlummernder Erinnerung wieder lebendig in’s Gedächtniß gestiegen. Als er schied, war sie ein Kind gewesen, das Alles als selbstverständlich hinnahm, was das Leben gab. Heute war sie noch eine Schülerin, aber kein Kind mehr. Die kühlen Lehren der Weltweisheit, vom Großvater dem jungen Ohre allmählich eingeträufelt, eine in Kenntnissen mancher Art bereits vorgeschrittene Bildung, wie sie der alte Graf an den Frauen geschätzt, mit denen er auf der Höhenstufe seiner eigenen Generation verkehrt hatte, und die er bei den heutigen Damen alter Geschlechter oft mit scharfem Urtheil zu vermissen pflegte, hatten Ottiliens Geist zu einer für ihre Jahre fast zu großen Reife geführt. Doch läßt sich die Jugend zwar Alles geben, aber nicht Alles nehmen. Was in dem fünfzehnjährigen Herzen an Kindlichkeit, Feuer und Glücksbedürfniß nur immer unzerstört geblieben, das wallte heute auf und strömte, blühte der idealen Gestalt entgegen, als welche des Vaters Bild im Innersten dieses Herzens geborgen war.
Die Uhr auf dem westlichen Thürmchen des Schlosses schlug Elf. Noch war der letzte Ton nicht verhallt, als mit jener Pünktlichkeit, mit der jeder Anordnung des alten Grafen Folge geleistet wurde, der zur Einholung des Erwarteten bestimmte Wagen durch das Portal rollte und bald auf dem Fahrwege zwischen den Föhren verschwand, welche sich auf dem Kamm des Schloßberges entlang zogen.
Ottilie sah dem Gefährte mit leuchtendem Blicke nach. Flüchtig hob sie den schlanken Zeigefinger an die Lippen und warf einen Kuß in die Lüfte. Als sie aber nun den Kopf wandte und ihr Auge achtlos den niederwärts schlängelnden Fußpfad streifte, entschlüpfte ihr plötzlich ein lebhafter Ausruf. Das Blut schoß ihr bis in die Stirn. Dort unten, wo der Weg sich um die Felswand bog und nur für eine kurze Strecke von hier oben erschaut werden konnte, hatte sie eine Gestalt erblickt – nur eine Secunde lang; denn der Wanderer verschwand eben, als ihr Auge ihn traf, zwischen den Bäumen – dennoch deutlich genug für das Falkenauge, für das wache, bereits in die Ferne lauschende Herz. Wie von Schwingen getragen flog sie abwärts, um nach wenigen Minuten glühend, athemlos, fast taumelnd an der Brust des Vaters zu liegen, der sie fest in die Arme schloß, durch ihr Erscheinen in diesem Moment nicht minder überrascht, als sie durch das seine.
Dicht an der Stelle, wo Beiden dieses Wiedersehen vom Himmel gefallen, stand eine der zahlreichen Bänke, die im Wäldchen zur Rast luden. Wie auf Verabredung wandten Vater und Kind sich derselben zu, sobald sie einander aus den Armen gelassen, und jetzt erst schaute Eines das Andere mit jenem Blicke an, der nur beim Scheiden und beim Wiedersehen so aus dem Herzen in die Augen steigt – jenem Blicke, der beim Abschied uns selbst fragt: „Wirst Du auch jeden Zug festhalten? Schaue! schaue! Du siehst Dein Liebstes lange nicht, vielleicht niemals wieder“ – der beim Wiederfinden den Andern fragt: „Bist Du es auch noch?“
Meinhard Riedegg hatte sich gesetzt und hielt nun die beiden Hände seiner Tochter, die vor ihm stand, in den seinen. Sein Auge schien in der That zu fragen: „Bist Du es noch?“ Selbst in diesem Momente, wo Glück und Freude sie mit lichtem Schimmer übergossen, glich das schlanke hohe Mädchen gar wenig dem Kinde, von dem er vor zwei Jahren geschieden. Weit mehr glich sie den Briefen, welche er, namentlich neuerdings, von ihr erhalten, deren Ausdruck ihn oft ebenso frappirt hatte, wie ihn heute die bereits jungfräuliche Erscheinung überraschte.
„Wie groß Du geworden bist, Tila!“
„Und Du,“ flüsterte sie, erröthend vor Freude über den Schmeichelnamen, welcher ihr nie von anderen Lippen erklungen. „Wie siehst Du jung aus! Gar nicht wie ein Vater. Und jetzt – nicht wahr – jetzt bleibst Du bei uns? Jetzt gehörst Du mir – ganz allein?“
Er wich dem dringenden Blicke des Kindes aus, indem er sich erhob, ihren Arm unter den seinen zog und auswärts zu wandern begann. Erst nach einigen Augenblicken sagte er lächelnd:
„Ganz allein? Dem Großpapa wirst Du doch wohl ein Besitztheilchen abtreten müssen.“
„Das meine ich nicht – Du verstehst mich schon. Mir war so bange vor –“
„Wovor bange, Tila?“
„Vor Deiner zweiten Frau!“ Scheu und heftig kam das Wort heraus.
Er stand plötzlich still und sah sie an, blaß und stumm. „Meiner zweiten Frau?“ wiederholte er betroffen.
„Die es ja nicht giebt, die es hoffentlich niemals geben wird. Großpapa spricht ewig davon, Du würdest mir eine Mutter zuführen – wozu bedarf ich einer Mutter, jetzt, nun ich erwachsen bin? O, wie lieb’ ich Dich dafür, daß Du denkst wie ich! Wir Beide wollen zusammenhalten; Alles, was Du verlangst, kann ich thun und Dir sein.“
Meinhard strich ihr das lockige Haar aus der Stirn. „Laß das ruhen, Tila!“ sagte er weich. „Ja, Kind, wir wollen zusammenhalten – zunächst uns wieder kennen lernen; denn über das Maß, was ich von meinem Töchterchen in mir trug, bist Du weit hinausgewachsen. Finde ich noch mehr Veränderungen hier in Riedegg? Wie geht es meinem Vater?“
„Gut!“ sagte Ottilie. „Der Großpapa verändert sich nie – das weißt Du. Was könnte hier auf Riedegg anders geworden sein? Alles geht regelmäßig auf und nieder, wie die Sonne – nein, das paßt nicht; die Sonne verbirgt sich zuweilen, und dann sehnt man sich nach ihr – die Sonne warst Du. Großpapa und Mademoiselle sind immer sichtbar, immer an der gleichen Stelle und bezeichnen die Stunden durch das ewige Gleichmaß ihres Thuns.“
„Du liebst Deine Erzieherin nicht, Ottilie?“
Sie warf einen staunenden Blick aus den Vater.
„Lieben? Was sollte sie damit anfangen? Mademoiselle ist ein Born der Weisheit; daraus schöpft und trinkt man – und ich habe viel Durst. Der Bronnen selbst aber lockt nicht zum Weilen. Nein, Papa, wir lieben uns nicht. Was würde auch Großpapa dazu sagen, wäre es anders?“
Meinhard schüttelte leise den Kopf. Ein nachdenklicher Zug legte sich, fast wie Trauer, um den feinen Mund.
„Armes Kind!“ murmelte er kaum hörbar; „ich blieb zu lange fern.“ Er drückte den Arm, der in dem seinen lag, fester an sich und sagte mit heiterer Ironie: „Mir scheint, Du bist selbst ein Born der Weisheit, Tila. Sprichst Du immer in Gleichnissen?“
Sie wurde roth und lachte. „Nicht immer, Papa! Warum sprechen wir überhaupt von den Anderen, während ich dürste, von Dir zu hören? Wie viel hast Du geschaut, erlebt in fremden Ländern? – Davon wirst Du mir nun erzählen – nicht wahr? Und später nimmst Du mich mit Dir hinaus in die weite Welt.“
„Die doch nicht um ein Haar weiter ist, als unser schönes Heim.“
Sie hatten das Plateau erreicht. Im hellen Morgenglanze schimmerte dem Grafen der fürstliche Sitz seines alten Geschlechtes entgegen, auf dessen östlichem Thurme soeben eine roth-weiße Flagge aufgezogen ward. Sein Kind am Arme trat Meinhard elastischen Schrittes durch das geschmückte Portal in den Schloßhof, auf dem er sich kaum gezeigt hatte, als das dort noch mit festlichen Vorbereitungen beschäftigte Gesinde ihn mit lauten Rufen des Staunens und der Freude umringte. Blitzschnell drang die überraschende Kunde in das Innere des Schlosses. Noch hatte der Ankömmling dessen Eingangsworte nicht erreicht, als zwischen einem Bogen der Gallerie die Hünengestalt des alten Grafen für einen Moment sichtbar wurde. Er hob den Arm zum Gruße und trat dann sogleich zurück. Das Familienoberhaupt erwartete den Sohn im eigenen Gemache.
Als Meinhard die Schwelle des Königinzimmers überschritt und seinem Vater in sichtlicher Bewegung entgegeneilte, sprühten gleichsam Funken aus dem Erz, aus welchem des Greises Züge gegossen schienen. Ein rascher Freudenstrahl brach aus dem kalten Auge, das die ganze Erscheinung des Heimgekehrten wie ein Blitz überflog. Das Adlerauge des scharfen Menschenkenners hatte in dem Gesichte, das er durchspäht, einen neuen Zug erfaßt – dieser Zug sprach von Kraft.
„Willkommen auf Riedegg, Meinhard! Du siehst gut aus! Wir sind überrascht – Dein Reiseplan ließ Dich frühestens zum Abend erwarten.“
„Ich traf schon gestern in Brixen ein, wenn auch spät, und nahm heute frühzeitig Extrapost. Wagen und Gepäck folgen; es lockte mich, unten im Dorfe auszusteigen und in Einsamkeit unsere alten Kastanien wiederzugrüßen.“
Die tiefe Falte , welche seit langen Jahren zwischen den Brauen des alten Grafen hauste, grub sich schärfer. Er wandte sich seitwärts und murmelte: „Immer noch der alte Phantast!“
Es giebt wenig Einflüsse, die mächtiger wirken als eine Autorität, welche aus der Stellung und der Individualität ihres Trägers zugleich herangewachsen ist. Das galt im vollen Umfange für den Grafen Raimund Riedegg. Er hatte lebenslang starke Empfindungen hervorgerufen, war viel gefürchtet, nachhaltig und ernsthaft geliebt worden; denn seine Kraft trat so energisch zu Tage, daß man ihr volle Berechtigung zugestand und ihm jedes Böse, das er unterließ, nicht weniger hoch anrechnete, als das Gute, welches er that. Er besaß einen scharfen Verstand; dennoch wurzelte seine Festigkeit nicht hierin, sondern im Willen, während sein durchdringender Geist den Menschen und Dingen bis auf den Grund blickte und ihm so eine verborgene, selten versagende Macht über dieselben gab. Vollendeter Weltmann, hatte er in seiner Jugend am Wiener Hofe geglänzt, im frühen Mannesalter schon bedeutende Erfolge als Diplomat errungen. Daß sich der Greis in die Einsamkeit seines Schlosses zurückgezogen, war nicht die Folge nachlassender Kraft, sondern die Wirkung des einzigen Schicksalsschlages gewesen, dem sein Bewußtsein nicht gewachsen war. Für jeden Menschen giebt es ein Wesen, dem gegenüber er schwach ist – Graf Raimund war es für seinen ältesten Sohn, in welchem ihm ein Ebenbild erwuchs, mit dem ihn jene starke Liebe gleichgestimmter Individualitäten verband, welche selbst dann, wenn sie zusammenstoßen wie Stahl und Stein, nur den im Kiesel verschlossenen Funken weckt. Jede Kraft, die er selbst besaß, entfaltete sich auch im Stammhalter: Scharfblick, Menschenkenntniß, die Gabe zu regieren. Auf Jahrhunderte hinaus dachte er sich so die nachfolgenden Generationen seines Geschlechtes, einer Eiche gleich, die auf freier Höhe steht, mit den Wurzeln tief in den Boden hinabsteigt, die Schatten der mächtigen Krone weithin breitet. Solche Kronen aber trifft mitunter der Blitz.
Graf Wolf fiel im Alter von fünfundzwanzig Jahren im Duell, als er eben im Begriff war, sich zu vermählen. Der Rückschlag auf den Vater wirkte zerschmetternd. Er mochte einer Welt nicht mehr genießen, die ihm fortan keinen Ausblick auf die Zukunft bot, und zog sich mit seiner Familie nach Riedegg zurück.
Noch lebte ihm ein Erbe seines Namens und Stammes. Der seinem Bruder um sechs Jahre nachgeborene Meinhard war aber zu spät gekommen; alles, was das kalt-leidenschaftliche Herz des Vaters auszugeben hatte, gehörte bereits dem Andern, dem Stärkeren, Glänzenderen. Der Jüngere blieb seiner Mutter überlassen, einer zartbesaiteten, verschüchterten Natur, deren Seele voll Liebe und Furcht an ihrem Gatten hing, stets bemüht, die Höhe beider Gefühle vor ihm zu verbergen, und der Alleinbesitz des Knaben ward zum schmerzlich süßen Glück ihres entbehrungsreichen Daseins.
Menschen von Graf Raimund’s Schlage sind nur gegen die gerecht, welche sie lieben. Mutter und Sohn standen ihrem ganzen Wesen nach für ihn gleichsam auf einem andern Ufer. Nachdem ihn das Leben so furchtbar beraubt hatte, verwandelte sich diese Gleichgültigkeit in ein Gefühl, das an Abneigung grenzte.
Meinhard, welcher, als sein Bruder starb, aus der Universität weilte, wohin er unter Obhut des Caplans gesendet worden, dem zuvor seine Hauserziehung anvertraut gewesen, ward ein halbes Jahr später vom Vater nach Riedegg berufen. Mit prüfendem Blick forschte der alte Staatsmann nach einem Boden für neue Saat, aber bald sagte er sich in tiefem Mißmut, daß er seinen jüngsten Sohn dennoch zu oberflächlich beurtheilt und daß es heute zu spät sei, das Versäumte einzubringen: Was er als unüberwindlich erkannte, war keineswegs die erwartete Mittelmäßigkeit, sondern ein theils angeborener, theils durch den Einfluß der Mutter in jeden Nerv übertragener Idealismus. Der Vater sah scharf und klar, daß es ihm nie gelingen würde, dem Sohn etwas von seiner eigenen Kraft mitzuteilen. Dies ward ihm zur Richtschnur: der nicht sein Zögling sein konnte, mußte sein Abhängiger bleiben.
Ein Jahr nach Wolf’s Tode führte der Zwanzigjährige auf Befehl des Vaters die verwittwete Braut seines Bruders zum Altar, obgleich er wußte, daß Jene einzig das Bild des Todten im Herzen trug. Der „Träumer“ war nicht dazu geartet, eine hervorragende Rolle auf der Weltbühne zu spielen; deshalb zog das Familienhaupt vor, ihn dort überhaupt nicht auftreten zu lassen. Graf Raimund’s letztes Hoffen richtete sich auf die Zukunft – noch fühlte er Lebenskraft genug in sich, um dem Stammhalter, welchen er von dieser Zukunft erwartete, etwas von seinem Geiste einzuimpfen. Aber auch diese Hoffnung schlug fehl. Die Ehe des jungen Paares blieb lange kinderlos, und nachdem Gräfin Blanka im fünften Jahre ihrer Verbindung mit Meinhard diesem eine Tochter geschenkt, siechte sie hin, ohne sich wieder erholen zu können. Die kleine Ottilie hatte eben ihr zwölftes Jahr angetreten, als der schwache Hauch ihrer Mutter erlosch, fast zu derselben Zeit, als auch Meinhard’s Mutter die müden Augen schloß, und nun überkam diesen eine unsägliche Schwermut, die mit jeder Woche, jedem Monat wuchs, bis sich endlich Alles, was Gesundheit in ihm war, gegen diesen kranken Zustand wehrte.
Eines Tages – es mochte ein halbes Jahr seit den Trauerfällen vergangen sein – sprach er seinem Vater den Entschluß aus, zu reisen, die Welt zu sehen, ein Verlangen, das vom alten Grafen mit Befriedigung vernommen wurde. Endlich doch einmal ein Wille, eine Initiative!
Es war der Wunsch Graf Raimund’s gewesen, den Sohn für eine zweite Ehe zu stimmen; er rüstete ihn mit Empfehlungsbriefen an alle Höfe Europas aus und stellte ihm unbeschrankte Mittel zur Disposition. In der Stunde des Scheidens machte er es ihm nachdrücklich zur Pflicht, nicht heimzukehren, ehe er eine zweite Wahl getroffen.
Zwei Jahre waren vergangen und darüber. Nun kehrte der Erbe des Hauses zurück – aber allein. Mit einer Vorsicht, die weder seinem starrköpfigen Temperament, noch seinen autokratischen Gewohnheiten entsprach, vermied der alle Graf zunächst jede Berührung der für ihn brennenden Frage. Seinem Scharfblicke bestätigte sich, trotz der ersten mißmuthigen Regung über des Sohnes „Phantasterei“, mehr und mehr der Eindruck, daß mit Meinhard etwas vorgegangen sei. Er harrte auf eine Eröffnung. Daß solche bevorstand, lag ihm außer Zweifel, aber welcher Art sie sein würde, ließ sich nicht berechnen. Scharf beobachtend, bedächtig sondirend, wartete er und notirte jeden Widerspruch, der ihm bei den Berichten des Sohnes auffiel, schweigsam im Kopfe.
An solchen Widersprüchen fehlte es nicht. Während Meinhard im Anschlusse an frühere Briefe lebendig und präcis auf die Erlebnisse seines ersten, im Auslande zugebrachten Reisejahres einging, glitt er mit kaum verhehlter Absichtlichkeit rasch über die Gründe hinweg, welche ihn später zur Abkürzung des Wiener Aufenthaltes, zur abermaligen Reise nach Italien veranlaßt hatten. Was er aber auch zurückhalte mochte, Eines ergab sich aus seiner ganzen Art: daß ein Anderer heimgekehrt, als der vor wenigen Jahren in die Fremde gezogen. Mit nie geübter Freimüthigkeit, die während seiner Kindheit durch Furcht, später durch Gewöhnung des Schweigens erstickt worden, ließ er nun seinem ursprünglichen Wesen vollen Lauf.
Echte Liebenswürdigkeit gleicht der Sonne; es geht eine Wärme von ihr aus, die jedes Eis aufthaut Zum ersten Mal regte sich in Graf Raimund etwas wie Vaterstolz dem Sohne gegenüber. Wie in jenem Märchen vom steinernen Reiche alles Lebende aus der Versteinerung erwacht, sobald der Erlöser es betreten und der erste Morgensonnenstrahl es berührt, war ein fröhliches Regen und Treiben über Riedegg gekommen. Heiter thaten alle Diener ihre tägliche Pflicht, der ein freundliches Wort des jungen Gebieters Reiz gab. Nirgends war die Ordnung unterbrochen, aber in die starre Regelmäßigkeit war ein Wohlbehagen gekommen, das ihr gleichsam einen frischeren Pulsschlag verlieh. Selbst Mademoiselle, die personificirte Regel, gab ohne Bemerkung nach, als der Vater sich zunächst volle Ferienfreiheit Ottiliens bedingte.
Die Harmonie dieser Stimmungen warf ihren Glanz vor Allem auf die junge Tochter des Hauses. Ottilie war wie verwandelt. In dieser spröden Kindesnatur machte sich etwas Lauschendes geltend, ihre Augen und Gedanken trennten sich nicht mehr von der lieben Gestalt, die gleichsam als ein Neues in ihr Leben getreten; jeder Strahl von des Vaters anmutiger Intelligenz wurde begierig von ihr aufgesogen. Fühlte sie, daß er voll heimlicher Dringlichkeit um sie warb, daß er sehnsüchtig danach strebte, ihr volles Verständniß seiner eigensten Natur zu wecken, ihr jene große Liebe einzuflößen, welche Alles giebt und vergiebt?
Ungefähr um die gleiche Stunde, wo Ottilie vor acht Tagen ihren Vater zuerst erblickt, saß Meinhard eines Morgens unter der gleichen Esche, wie damals. Ottilie hatte hier mit ihm eine jener. frühen Tagesstunden verplaudert, zu denen der alte Graf noch nicht sichtbar zu sein pflegte, und war eben in’s Schloß gegangen, um sich zu einem verabredeten gemeinschaftlichen Ausritte zu rüsten Meinhard sah ihr nach, bis die schlanke Gestalt im Thore verschwand, und versank tief in Gedanken. Ein Wort seiner Tochter hatte ihn daran erinnert, daß seit seinem Hiersein eine volle Woche verflossen war. Eine Woche – wie wenig Zeit das ist! Und doch kann in solcher kurzen Reihe von Tagen unendlich viel versäumt, unendlich viel gewonnen werden. Wer sich mit Entschlüssen, ja mit Notwendigkeiten trägt, für den bedeutet eine Woche untätigen Zögerns Unberechenbares. Es geht mit der Zeit zuweilen wie mit einem Menschen, dem man begegnet, dem man Wichtiges zu sagen hätte und an dem man doch vorübergeht – man besinnt sich, wendet sich und versucht den Andern einzuholen. Da sieht man betroffen, daß sich dieser inzwischen schon so weit entfernt hat, daß er nicht mehr einzuholen ist.
Ein Augenpaar drang über Berg und Thal und fragte vorwurfsvoll: Worauf wartest du? – Und sein Gedanke antwortete: Wüßtest du nur! Ich kam gerüstet zum Kampfe mit einem Riesen, statt seiner fand ich ein Kind; ich kann es, darf es nicht zu Boden werfen; ich muß es auf meine Arme, an mein Herz heben – nur so wird unser Weg frei!
Des Menschen Seele ist ein wundersames Instrument. Derselbe Ton, der gestern noch als reine Lösung der Dissonanz klang, die unseres Lebens Harmonie untergräbt, läßt morgen vielleicht die straff gespannte Saite springen. Was Meinhard bisher beschwichtigt, was er sich noch eben wiederholt, traf sein eigenes Ohr plötzlich wie leerer Schall. Stärker, gewaltiger klang das Echo der berechtigten Frage: Worauf wartest du? Jähe Gluth stieg ihm bis in die Stirn. Ihm war, als müßte er die Augen niederschlagen vor Allem, was ihm lieb und theuer zugleich, und er schlug sie lebhaft auf, mit dem Blitze des Entschlusses darin.
Als er im Begriffe war, dem Schlosse zuzuschreiten, kam ihm ein Diener mit der Meldung entgegen, die Comtesse sei bereit. Wirklich saß Ottilie schon in Hut und Schleier auf dem ihr zugehörenden Maulthier, während der Reitknecht daneben Meinhard’s Fuchs am Zügel und in der Linken Reitpeitsche und Mütze hielt. Mit jener angeborenen Eleganz, die jede seiner noch durchaus jugendlichen Bewegungen kennzeichnete, schwang sich der Graf in den Sattel. Die Augen der Bediensteten folgten dem Paare mit jener gemütlichen Eigenthumsfreude, die Herrn und Hof als „unsere“ umfaßt.