My darkest prayer - S.A. Cosby - E-Book

My darkest prayer E-Book

S. A. Cosby

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Beschreibung

Nathan Waymaker arbeitet im Bestattungsunternehmen seines Cousins und ist nicht nur deshalb dafür bekannt, dass er weiß, wie man mit Leichen umgeht: Er, der ehemalige Marine und Deputy, hat sich in seiner Kleinstadt in Queen County, Virginia, einen Ruf als Mann aufgebaut, der helfen kann, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Als ein beliebter Pfarrer tot aufgefunden wird, bitten die Gemeindemitglieder Nathan, sich die Sache einmal genauer anzusehen, weil die Polizei den Fall eher unter den Teppich zu kehren scheint. Bald findet sich Nathan in einem Wirrwarr aus Kleinkriminellen, Gangsterbossen, Pornostars, korrupten Polizisten und halbseidenen Predigern wieder – und muss dabei stets befürchten, dass auch seine eigenen dunklen Geheimnisse an die Oberfläche kommen ...

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2023

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S. A. COSBY

MY DARKEST PRAYER

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN ENGLISCH VON JÜRGEN BÜRGER

ARS VIVENDI

Die Originalausgabe erschien als Neuausgabe einer älteren Fassung (von 2019) 2022 unter dem Titel My Darkest Prayer bei FLATIRON BOOKS.

Text Copyright © 2022 by S. A. Cosby

Published by arrangement with FLATIRON BOOKS.

All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von FLATIRON BOOKS durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Deutsche Originalausgabe

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (Erste Auflage 2023)

© 2023 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1,90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

eISBN 978-3-7472-0466-5

Für meinen Großvater Isaac Smith Sr., der mich gelehrt hat, dass es nie einfach ist, das Richtige zu tun, und dass es sich trotzdem immer lohnt.

INHALT

EINFÜHRUNG

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

DANKSAGUNGEN

MY DARKEST PRAYER

EINFÜHRUNG

Hey, kommen Sie mal her, ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen …

Das ist das einfache Angebot, das Ihnen jeder Schriftsteller unterbreitet, wenn Sie ein Buch in die Hand nehmen. Es ist ein Angebot, das auch ich Ihnen jetzt unterbreite. Es ist ein Versprechen, das schon gegeben wurde, als wir noch ums Lagerfeuer saßen oder Szenen auf Höhlenwände malten. Eine Tradition, so alt wie das Geschichtenerzählen selbst.

Was Sie in Ihren Händen halten, ist mein erster ernsthafter Versuch, dieses Angebot zu unterbreiten. Es ist das erste Mal, dass ich mich, bildlich gesehen, vor eine knisternde Flamme setze und Ihnen anbiete zuzuhören.

Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen …

Ich hätte nie gedacht, dass ich Romanautor werden könnte. Die Ungeheuerlichkeit, ein richtiges Buch zu schreiben, erfüllte mich mit unermesslichem Schrecken, und das ist auch gut so. Ein Buch zu schreiben ist ein so entmutigendes Unterfangen, dass Tausende es Jahr für Jahr versuchen, und doch schreiben nur wenige irgendwann das Wort »Ende«.

Was mir am meisten Angst machte, war die Vorstellung, dass ich das Interesse der Leser nicht über 250 Seiten aufrechterhalten könnte. Im Jahr 2017 war ich ein recht passabler Kurzgeschichtenschreiber. Ich hatte mehrere Veröffentlichungen in einem Magazin namens Thuglit, das von Todd Robinson, dem großen, geselligen Barden der Kriminalliteratur, gegründet worden war. Eine meiner Geschichten wurde sogar in einer Ausgabe von Best American Mystery and Suspense erwähnt. Mit Kurzgeschichten fühlte ich mich am wohlsten.

Aber Bequemlichkeit ist für Kunst das, was Zucker für Tee ist. Zu viel, und man verdirbt ihn.

Ich hatte große Angst davor, einen Roman zu schreiben, aber ich wollte unbedingt einen Roman schreiben. Ich weiß, das klingt etwas widersprüchlich, aber ich merkte, dass ich mich zunehmend an den Grenzen der Kurzgeschichte aufrieb. Ich wollte nuanciertere, komplexere Geschichten erzählen. Und viertausend Worte reichten dafür einfach nicht aus. Wie es das Schicksal wollte, hatte ich im Sommer 2017 die Gelegenheit, nach New York City zu reisen und Todd Robinson persönlich zu treffen. Während wir in einer Bar im East Village saßen und einen sehr guten Whiskey tranken, sprachen wir über Geschichten und das Geschichtenerzählen sowie über die Besonderheiten der Art von Geschichten, die wir beide gerne erzählen, und, was noch wichtiger ist, über die Art von Büchern, die wir gerne lesen.

Irgendwann (ich glaube, es war nach dem fünften Whiskey) fragte Todd: »Arbeitest du nicht in einem Beerdigungsinstitut? Das ist doch eine wahre Geschichtenfabrik. Du kriegst das hin. Was ist das Schlimmste, das passieren kann – dass es schlecht ist? Schreib das verdammte Buch.«

Darauf antwortete ich mit einem eindeutigen »Hm …«.

Dieses Gespräch ist mir immer noch so präsent wie damals, an jenem lange zurückliegenden Sommerabend. Ich hatte Geschichten zu erzählen. Ich hatte den Wunsch, sie zu erzählen, und die einzige Person, die mich davon abhielt, war … ich selbst.

Also ging ich zurück in mein Hotelzimmer und verfasste die ersten drei Kapitel von dem, was später My Darkest Prayer wurde, handschriftlich auf das Briefpapier des Hotels. Auf der Zugfahrt zurück nach Virginia las ich es und kam nach und nach zu dem Schluss, dass es gar nicht so schlecht war.

Dieser Meinung bin ich immer noch.

Kann man in der Struktur der Erzählung die Schwächen eines Debüts erkennen? Gibt es Stellen, die grob behauen sind wie der Kopf eines Spaltkeils? Ist es ein guter erster Versuch?

Ja. Ja. Und: Ich denke schon.

Ich denke, was Sie in diesem Buch beobachten können – abgesehen von einigen interessanten Charakteren, fesselnden Bösewichten und ein bisschen Südstaatenslang –, ist der Schatten eines Schriftstellers, der seinen Platz findet. Er findet seinen Platz am Lagerfeuer.

Ich hoffe, Sie genießen diese Geschichte über Verlust und Liebe und den Preis der Gewalt. Nathan, Skunk, Walt und der Rest der Crew sind einige meiner ältesten Freunde und waren schon vor den glücklichen Tagen da.

Sie haben mit mir die guten und die schlechten Zeiten durchgestanden, und dafür liebe ich sie.

Nun, genug der rührseligen Erinnerungen. Deswegen sind Sie doch nicht hier, oder?

Warum nehmen Sie nicht einfach Platz?

Entspannen Sie sich.

Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen …

S. A. Cosby

Gloucester, Virginia,

im April 2022

»Rache ist Eingeständnis des Schmerzes.«

Seneca, Über den Zorn

PROLOG

Ich sah, wie die Scheinwerfer durch die Dunkelheit und den Nebel schnitten, die den Friedhof einhüllten. Skunk fuhr langsam und vorsichtig, weil die Fahrbahn voller Schlaglöcher und Spurrillen war. Die Gethsemane Baptist Church befand sich auf der anderen Seite des Countys am North River. Ein Grab hinter dieser Kirche auszuheben war wie einen Brunnen zu graben. Viele Jahre, bevor ich auch nur ein Schimmern in den Augen meines Vaters war, hatten die Kirchenältesten ein Feld in der Nähe eines Hains verwachsener Maulbeerbäume erworben. Die Äste erinnerten jetzt im Scheinwerferlicht an tanzende Skelette. Ich stand neben einem frisch ausgehobenen Grab, das mit zwei großen Sperrholzplatten abgedeckt war. Ich stützte mich auf meine kurze Campingschaufel wie auf einen Stock. Eine klappbare Trittleiter lag zu meinen Füßen.

Skunk fuhr vor und stellte den Wagen so ab, dass der Kofferraum mit dem Rand des Grabes auf gleicher Höhe war. Er stieg aus, und ich hörte das Klirren seiner Schlüssel, als er den Kofferraum aufschloss. Ich hatte erwartet, von dem Gestank überwältigt zu werden, aber wir hatten die Leiche mit Klebeband und einer dicken Plane gut verpackt. Wir hoben die Sperrholzplatten zur Seite und legten den klaffenden Schlund des Grabes frei. Morgen würden die Totengräber eine tausend Kilo schwere, vorgefertigte Betongruft in dieses Loch hinablassen. Ein paar Stunden später würde ein hundertdreißig Kilo schwerer Sarg in das Gewölbe abgesenkt und das Ganze mit etwa fünfzig Kilo Erde bedeckt werden. Die Ränder würden aufgefüllt und festgestampft werden, und dann würden sich die Totengräber um ihren nächsten Auftrag kümmern.

Nur Skunk und ich wussten, dass dies die letzte Ruhestätte für zwei tote Seelen war. In meiner Kehle war ein heißer, schmieriger Film, als hätte ich Whiskey mit Benzin getrunken. Mein Mund füllte sich schnell mit Speichel.

Skunk drehte sich um und starrte mich an. »Alles okay, Hoss?«, fragte er.

Ich umklammerte die Schaufel. Am liebsten hätte ich gesagt, dass ich mich überhaupt nicht okay fühlte. Ich glaubte auch nicht, dass ich mich je wieder okay fühlen würde.

»Ja, mir geht’s gut. Bringen wir es hinter uns«, sagte ich.

1

Ich kümmere mich um die Leichen.

Das sage ich immer, wenn die Leute mich fragen, womit ich mein Geld verdiene. Ich habe festgestellt, dass es darauf zwei Reaktionen gibt. Entweder ziehen sie sich unauffällig auf die andere Seite des Raumes zurück und werfen mir den Rest des Abends verstohlene Blick zu, oder sie lachen nervös und lenken das Gespräch in eine andere, weniger makabre Richtung. Ich könnte natürlich einfach sagen, dass ich in einem Beerdigungsinstitut arbeite, aber wo bliebe da der Spaß?

Als ich noch beim Marine Corps war, sah man mich hin und wieder in Dienstuniform bei Starbucks oder im Walmart, dem Mekka der Moderne. Manchmal erwischten sie mich in meiner Ausgehuniform nach einem Militärball, wenn ich noch schnell was essen wollte, bevor ich zum Stützpunkt zurückkehrte. Sie kamen auf mich zu und sagten: »Danke für Ihren Dienst.« Ich murmelte etwas wie »Nein, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung« oder eine andere markige Erwiderung, und sie schlenderten mit einem netten, zufriedenen Gesichtsausdruck davon. Manchmal hätte ich lieber gesagt: »Ich hab mich um die Leichen gekümmert. Die Leichen, denen die Beine weggesprengt oder die Hände zerfetzt wurden. Die Leichen voller Stahlkugeln und Nägel und dem, was irgendein Junge gefunden hat, um seinen Sprengsatz zu basteln. Ich hab die Leichen aufgeladen und sie zurück zum Stützpunkt gefahren, und dann bin ich erneut auf Patrouille und hab zu einem Gott gebetet, der nur halb zuzuhören schien, dass heute nicht der Tag war, an dem sich jemand um meine Leiche kümmern müsste.«

Aber ich glaube eher nicht, dass das den Leuten das gleiche warme und wohlige Gefühl gegeben hätte.

Jetzt kümmere ich mich um die Leichen im Walter T. Blackmon Funeral Home in Queen County, Virginia. Heute war’s die Leiche von Mrs. Jeatha Tolliver aus Mathews, dem benachbarten County. Momma J, wie sie jeder in der Gemeinde nannte, war Diakonin und Kirchenälteste, und sie starb im Alter von achtundsiebzig Jahren, als sie gerade ihre Bingo-Nachbarin beschimpfte, weil die ihre Glücksbringer-Jesus-Statue weggestellt hatte. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Tirade mit so was wie »Vergelt’s Gott« beendet hätte, was bei uns im Süden so viel wie »Fick dich, du Schlampe« bedeutet, wenn sie nicht vorher tot umgefallen wäre.

Ich stand im hinteren Teil der Kapelle des Beerdigungsinstituts, während Reverend Duke Halston etwas über Hölle und Verdammnis ins Mikro brüllte. Die Trauergemeinde rutschte auf ihren Plätzen hin und her, als könnte sie spüren, wie die Flammen an ihren Hintern leckten. Der Reverend hatte ein knochenverankertes Hörgerät, das wie eine Mini-Satellitenschüssel an seinem Hinterkopf saß. Er brüllte, wenn er nach der Predigt mit einem sprach. Er brüllte, wenn er im Supermarkt war. Ich glaube, er hat schon vor Jahren den Lautstärkeregler verloren. Sobald er nach den Bestattern rief, würden mein Cousin Walter, sein Kompagnon Curtis Sampson, der Bestattungshelfer Daniel Thomas und ich zum Sarg gehen und den Leichnam wie vier schwarz gekleidete Fährmänner des Todes weiterbefördern. Mein Anzug passte mir nicht so richtig, er schien in ungünstigen Winkeln geschnitten und genäht zu sein. Der Knoten in meiner Krawatte versuchte ständig, nach links oder rechts zu wandern, bevor er sich schließlich ganz löste. Das hatte ich nun davon, meine formelle Kleidung in einem Secondhandladen gekauft zu haben.

»Jetzt, äh, legen wir den, äh, Gottesdienst, äh, wieder in die, äh, Hände der, äh, Bestatter«, stammelte Reverend Duke. Walter nickte mir zu, und wir machten uns auf den Weg durch den Mittelgang der Kapelle. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, war die Luft abgestanden und stickig. Das Flattern der Handventilatoren erinnerte mich an einen Bussardschwarm, der sich nach einer warmen Aasmahlzeit in die Lüfte schwang. Während wir Momma J zu ihrer letzten Autofahrt brachten, wiesen wir die stoischen Sargträger an, sich direkt vor der Tür der Kapelle aufzustellen, drei auf der einen und drei auf der anderen Seite. Die Sargträger, die Enkel der Toten, hatten offenbar keine Lust gehabt, zur Beerdigung ihrer Großmutter Anzüge anzuziehen. Einige trugen ihre Hemden über der Hose, andere hatten Basketballtrikots und T-Shirts mit dem Gesicht von Momma J an. Ich bin sicher, dass Momma J mit Stolz vom Himmel herabblickte, während die Darsteller eines Low-Budget-Hip-Hop-Videos sie in unseren Leichenwagen luden. Als Daniel begann, die Trauergemeinde zur Tür zu führen, damit wir zum Friedhof aufbrechen konnten, winkte Walter mir zu. Mein Cousin war eine pummelige Schokokugel von Mann, der mit beeindruckender Hartnäckigkeit am Michael-Jackson-Lockenschopf festhielt und dessen karamellfarbene Stirn ständig verschwitzt zu sein schien. Sein schwarzer Anzug war teurer als meiner, aber jeder Knopf an seinem Jackett schien um Hilfe zu rufen.

»Nate, du fährst den Blumenwagen. Ich werde Curtis bitten, den Leichenwagen zu fahren. Hoffentlich verlieren wir auf dem Weg zum Friedhof ein paar Leute, dann sind wir um vier wieder zurück. Ich bin so hungrig, dass ich schon krummbeinige Brötchen die Zuckersirupstraße runterwackeln sehe«, sagte Walter. Er verzog das Gesicht zu einem leicht finsteren Ausdruck. Mein Cousin liebte drei Dinge: seine Frau, sein Geld und sein Essen. Ich merkte, dass er bereits die Zeit berechnet hatte, die er brauchen würde, um am Friedhof anzulangen, Momma J unter die Erde zu bekommen und rechtzeitig ins Büro zurückzukehren, um noch das Tagesgericht in Nick’s Restaurant bestellen zu können. Bevor ich etwas erwidern konnte, hörten wir laute Stimmen und Rufe direkt vor den Türen der Kapelle.

Ich schlüpfte an Walter vorbei. Momma Js Sohn Carter und seine zukünftige Ex-Frau mit dem misslichen Namen La’Unique stritten sich neben dem Leichenwagen. Ich sah einige Leute, die ihre Handys hochhielten.

Außerdem sah ich Leute, die versuchten, die beiden zu trennen. Das mussten die Angehörigen sein, die noch an die Achtung vor den Verstorbenen glaubten. Eine geschmeidige Gestalt schlüpfte durch die Menge. Sie hatte etwas Metallisches in ihrer Hand. Es fing das letzte Licht der untergehenden Sonne ein und glitzerte einen Augenblick lang.

Ich drängte mich vor und ergriff den Arm des dünnen Mannes, als er ihn gerade hinter Carters Kopf hob. Er hielt den Kugelkopf einer Anhängerkupplung in der Hand. Seine kleinen rattenähnlichen Augen musterten mich mit einer Mischung aus Schock und Wut.

Carter drehte sich um. »La’Unique, siehst du, dass dein Typ mir in den Rücken fällt wie eine kleine Bitch? Und für den hast du mich verlassen? Fick dich und ihn!«, schrie er.

Der Mann versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, aber meine Hand war größer als sein ganzer Arm. Er drehte den Kopf und wollte mir in die Innenseite des Unterarms beißen. Ich trat ihm mit dem rechten Fuß in die linke Kniekehle, und er ging zu Boden, als würde er mir einen Antrag machen. Es war eigentlich nur ein kleiner Schubser. Ich wollte ihm nicht das Bein brechen. Ich drehte sein Handgelenk gegen den Uhrzeigersinn und nahm ihm die Anhängerkupplung ab.

»Bitte begeben Sie sich jetzt alle zu Ihren Fahrzeugen«, sagte ich so laut und tief wie möglich. Ich muss lauter gewesen sein, als ich dachte, vielleicht hatte aber auch der Anblick, wie ich Ratboy entwaffnete, die Menge beruhigt, denn die meisten gehorchten.

Nachdem Carter in seinen Wagen gestiegen war, ließ ich Ratboys Arm los und gab ihm seine Anhängerkupplung zurück. »Geh und steig in dein Auto, Mann«, sagte ich.

Wenn Blicke töten könnten, wäre ich in diesem Moment auf dem Tisch für die Einbalsamierung gelandet. Er humpelte rückwärts und behielt mich dabei die ganze Zeit im Auge. »Wir sehen uns noch mal, Alter«, sagte er.

Ich zuckte in meinem schlecht sitzenden Anzug mit den Achseln und kehrte ins Gebäude zurück. Ich hatte ihn gerade vor seiner Frau lächerlich gemacht. Wenn er mir nicht gedroht hätte, wäre ich enttäuscht gewesen.

Walter wartete auf mich. »Narren und Mücken können mich nicht verzücken, aber je mehr ich über Narren weiß, desto mehr sind Mücken der heiße Scheiß«, meinte er grinsend.

Ich lächelte zurück. Sinn für Humor war eine der Voraussetzungen für die Arbeit im Bestattungsgewerbe. »Hoffentlich gibt’s am Grab nicht noch mal Ärger«, sagte ich.

»Ja, hoffe ich auch. Wir müssen nur noch Trudy Wise überstehen, die am Grab ihre Pfingstkirchlernummer abziehen und einen auf superfromm machen wird. Ach ja, die Damen von Reverend Watkins’ Kirche haben gerade angerufen. Sie haben endlich seine Tochter erreicht. Ich muss Gloria wohl bitten, mir was zum Abendessen vorbeizubringen«, sagte Walter, als wir zur Vordertür gingen. Seine Schultern hingen merklich herunter.

Reverend Esau Watkins war der Pfarrer der New Hope Baptist Church in Mathews County gewesen. Vor ungefähr zwei Wochen war er tot in seinem Haus aufgefunden worden. Sheriff Laurent und seine Leute hielten sich bedeckt, was Einzelheiten betraf, aber in der örtlichen Gerüchteküche munkelte man von Selbstmord. Reverend Watkins war Witwer und hatte keine Geschwister. Seine einzige Tochter hatte die Stadt ein paar Jahre nach meinem Eintritt in die Marines verlassen. Seitdem hatte man nichts mehr von ihr gehört. Ich konnte es ihr nicht verdenken.

Reverend Esau Watkins war früher als E-Money Watkins bekannt gewesen, als Dieb, Drogendealer und illegaler Pfandleiher. Ihm hatte ein Friseurladen im Süden von Queen County gehört. Damals war das der einzige schwarze Friseursalon diesseits der Coleman Bridge. Ich weiß noch, wie ich als Kind mit meinem Vater dort hinging. Ich kann noch immer die Augen der Männer im Laden sehen, die meinen Vater musterten, während wir dasaßen und darauf warteten, dass ich an die Reihe kam. Die Toilette befand sich hinter einem kitschigen Perlenvorhang. Direkt vor der Toilettentür stapelten sich Videorecorder, Fernseher und allerlei Wertgegenstände, die die Leute zu E-Money brachten, um ein paar Dollar für die Stromrechnung, für Schulkleidung oder Nachschub für ihre glänzende neue Crackpfeife zu bekommen. Ich weiß noch, wie Watkins meinen Vater beäugte, als er mich auf den Friseurstuhl setzte. Erst als ich älter war, begriff ich, dass sie alle neidisch auf Dad waren, weil er ein weißer Mann war, der eine der hübschesten schwarzen Frauen im County geheiratet hatte.

Irgendwann während meiner Zeit bei den Marines fand Esau Watkins zum Glauben, und als ich nach Hause zurückkehrte, war die New Hope Baptist Church die größte Kirche diesseits des James River. In der Woche, in der meine Eltern getötet wurden, hatte die New Hope gerade den Grundstein für ein neues Gotteshaus gelegt, das dreimal so groß war wie das erste. Die Menschen im County, Schwarze wie Weiße, waren entsetzt, als Reverend Watkins seine Kirche mitten in ein angebliches Naturschutzgebiet am Fluss baute.

»Na, das ist ja mal interessant. Ich habe Lisa Watkins nicht mehr gesehen, seit sie auf der Highschool in Dramatische Literatur hinter mir saß. Damals war sie ein kleines, dünnes Ding. Ich dachte immer, wenn sie zu stark hustet, bricht ihr das Brustbein«, sagte ich.

»Ich erinnere mich nicht an sie. Wir Oberstufenschüler hatten keine Zeit, euch Unterstufenschüler kennenzulernen. Wir mussten Toiletten in die Luft jagen«, sagte Walter.

Ich schüttelte den Kopf. Eine langjährige Tradition der Abschlussklassen an der Queen County High School war es, am letzten Schultag Feuerwerkskörper in den Toiletten zu hinterlassen.

Das gab der Redewendung »mit einem Paukenschlag gehen« eine ganz neue Bedeutung.

Nach der Beerdigung von Momma J fuhr ich nach Richmond, um E-Money aus der Gerichtsmedizin abzuholen. Da nun seine Tochter kam, um alles Notwendige zu veranlassen, konnten wir die sterblichen Überreste in Empfang nehmen. Jedes Mal, wenn ich dorthin fuhr, begegnete ich einem anderen Pathologen, Praktikanten oder Pfleger. Die meisten waren trotz des morbiden Charakters unserer Branche fröhlich und freundlich. Nicht jeder, der in einem Leichenschauhaus arbeitet, ist merkwürdig oder schräg drauf. Auch das ist ein Klischee, mit dem Bestattungsunternehmer zu kämpfen haben.

Ich war gerade wieder im Büro und hatte den Leichensack mit Watkins auf den Tisch für die Einbalsamierung gelegt, als es an der Tür klingelte. Ich ging durch den Flur und öffnete.

Vor der Tür standen zwei überaus reizende ältere schwarze Damen. Die eine war groß und schlank und hatte ein leichtes Glitzern in den Augen. Die andere war kleiner und hatte ein Gesicht, das schon viele harte Tage gesehen hatte, doch die meisten ihrer Falten waren Lachfältchen. Mein Bewusstsein registrierte diese Damen, und ich nickte ihnen höflich zu. Das Tier, das südlich meiner Gürtellinie lebte, bemerkte jedoch die Frau, die hinter ihnen stand. Sie war ebenfalls groß, aber gebaut wie eine Sanduhr. Ihr Körper hatte Kurven an Stellen, wo die meisten Frauen nur Hoffnungen und Träume hatten. Sie trug eine schulterfreie, straff anliegende weiße Bluse und einen schwarzen Minirock, der so eng war, dass er auch ein Tattoo hätte sein können. Ihre langen Beine mündeten in schwarzen Stöckelschuhen, und ihre braune Haut war mit einem hellen, glänzenden Schimmer überzogen. Eine honigblonde Mähne fiel ihr über den Rücken bis zu ihrer schmalen Taille. Sie hatte ein hübsches Sümmchen für ihre Extensions ausgegeben, aber kein Mann, der ihr begegnete, hätte etwas dagegen gehabt. Ihre vollen Lippen schienen die Erfüllung jeder dunklen Fantasie zu versprechen, die man hatte, und sogar einiger, von denen man nicht einmal wusste, dass man sie haben konnte. Ihre smaragdgrünen Augen musterten mich kurz, dann wurden sie kalt und dunkel.

Ich bat die drei Frauen, hereinzukommen. »Äh, Mr. Blackmon ist hinten, aber ich kann die Damen schon mal in sein Büro bringen. Er wird gleich bei Ihnen sein«, stammelte ich.

Die beiden älteren Frauen lächelten mich an und bedankten sich, während sie zu dem Büro links vom Eingang gingen. Die junge Frau folgte den beiden. Ihr Minirock wippte bei jedem Hüftschwung. Sie lächelte nicht, und sie sagte auch nichts. Ich versuchte mich an die Drei-Sekunden-Regel zu halten, während ich ihr hinterherstarrte: Wenn ich länger als drei Sekunden hinsah, betrat ich perverses Terrain. Ich nahm an, dass die beiden älteren Frauen Mitglieder des Verwaltungsrats der New Hope waren. Was das dritte Mitglied dieses Triumvirats betraf – nun, ich schätze, Lisa Watkins war wohl erwachsen geworden.

2

Ich steckte den Kopf in den Umkleideraum, wo Walter seine formelle Kleidung gegen legere Klamotten tauschte und vor sich hin grummelte, weil Gloria im Krankenhaus Überstunden machte und ihm kein Abendessen vorbeibringen konnte. Dann ging ich in das winzige Kabuff im hinteren Teil des Gebäudes, das ich mein Zuhause nannte, zog den Konfektionsanzug aus und meine Alltagsklamotten an: schwarzes T-Shirt, Jeans und schwarze Kampfstiefel. Anschließend ging ich durch die Garage nach draußen und machte mich daran, Leichenwagen und Transporter zu waschen. Das Wetter hatte diese perfekte Temperatur erreicht, die es im Süden nur zwischen Ende September und Anfang Oktober gibt. Tagsüber wurde es nicht mehr wärmer als vierundzwanzig Grad, und nachts ging es selten unter sechzehn Grad runter. Gutes Wetter zum Schlafen, wenn man dazu bereit war. Ich brachte es normalerweise nur auf drei oder vier Stunden die Nacht.

Ich spritzte gerade den Leichenwagen ab, als ich das unverwechselbare Klackern von High Heels auf Beton hörte. Ich warf einen Blick um die Ecke des Carports und sah die Frau, von der ich vermutete, dass sie Lisa Watkins sein musste, an einen schwarzen Lexus gelehnt. Sie paffte an einer Zigarette, als wäre sie vergiftet worden und das Gegengift würde sich im Filter befinden. Ich drehte das Wasser ab und ging um die Ecke.

»Hey, bei Ihnen alles okay?«, fragte ich. Ich war es gewohnt, dass Leute aus dem Büro stürzten, wenn sie die nötigen Vorkehrungen für eine Beerdigung trafen. Einen geliebten Menschen zu verlieren war eine Sache, aber die Einzelheiten der letzten Ruhestätte schwarz auf weiß zu sehen, machte manchen erst die Endgültigkeit der ganzen Geschichte klar. Manchmal war das einfach mehr, als sie ertragen konnten.

Die Frau paffte erneut an ihrer Zigarette. Ihre Augen waren trocken. »Mir geht’s gut. Die beiden alten Damen glauben zu wissen, wer mein Daddy war, aber sie haben nicht die geringste Ahnung. Sie sitzen da drin und reden über schicke Särge und bestellen Limousinen, in denen seine Diakone zum Trauergottesdienst kommen. Als wäre er der verdammte Papst gewesen. Ich bin nur zum Unterschreiben hier, damit sie seinen Arsch unter die Erde bringen können. Aber diesen Scheiß muss ich mir echt nicht anhören«, sagte sie zwischen zwei Zügen.

»Hast du nicht in Dramatischer Literatur hinter mir gesessen? Bei Mrs. Stone? Sie hat damals Ärger bekommen, weil sie immer versuchte, vor dem Unterricht mit uns zu beten. Weißt du noch, wie sie zu Tim Dawson gesagt hat, er kommt in die Hölle, weil er Danzig hörte, und wie er ihr geantwortet hat, sie kommt in die Hölle, weil sie die Jungs des Basketballteams beim Training anglotzt?«, fragte ich.

Die Frau lächelte einen Sekundenbruchteil. Hätte man geblinzelt, hätte man es nicht mitbekommen. »Tut mir leid. Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«

Ich streckte die Hand aus. »Nathan Waymaker. Alles cool. Ich war in der elften und du in der neunten. Hätte auch nicht gedacht, dass du dich an mich erinnerst. Lisa, richtig?«

»Ja. Dann kanntest du meinen Dad?«, fragte sie.

»Als kleiner Junge war ich ein paarmal im Friseurladen. Aber in seiner Kirche war ich nie.«

Sie nickte. »Die Kirche. Diese armen Ladys da drin quälen sich mit jeder kleinsten Kleinigkeit ab. Weißt du, was mein Dad mir über diese Kirche gesagt hat, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hab?«

»Nee, weiß ich nicht.«

Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. »Er hat gesagt, das wär die beste Abzocke, an der er je beteiligt war. Noch viel besser als die Drogenbranche. So war er, mein Dad.«

Ich war nicht sicher, was ich darauf antworten sollte, also flüchtete ich mich in den braven Bestatterjargon, den ich bei Walt aufgeschnappt hatte. »Wir werden ihn sauber um die Ecke bringen, Lisa.«

Zuerst reagierte sie gar nicht, doch dann lachte sie. Es war ein spitzes, sprödes Geräusch. Wie eine Glasscheibe, die in der Kälte splittert.

»Es interessiert mich einen Scheiß, wie ihr ihn um die Ecke bringt. Schaufelt ihm einfach ein schön tiefes Grab, damit er so nah wie möglich an der Hölle ist«, sagte sie und schnipste die Kippe weg.

Bevor mir noch ein weiterer brillanter Bestatterspruch einfallen konnte, kam Curtis angerollt und hüpfte aus seinem winzigen Hybridauto.

»Hey, Nate. Hallo, Ma’am«, sagte er, als er sich uns näherte. Curtis war klein, aber so sauber und adrett wie neues Geld. Die Falten seiner Hose waren scharf genug, um Käse damit schneiden zu können. Sein Bart war penibel gepflegt. Ich hatte den Verdacht, dass er sich überall rasierte, hatte ihn aber nie gebeten, das zu bestätigen. Ich sah, wie sein Blick Lisa abtastete.

»Hallo«, sagte sie, drehte sich dann um und verschwand wieder im Büro.

Nachdem sie fort war, sah Curtis mich an und nickte mir verschwörerisch zu. »Das ist wirklich erstklassiges Biofleisch! Ich glaube, ich bin gerade meiner nächsten Ex-Frau begegnet.« Im zarten Alter von fünfunddreißig Jahren war Curtis bereits dreimal verheiratet gewesen. Auch ich hatte einen gesunden Appetit auf das andere Geschlecht, aber während ich nur ab und zu mal meine Partnerin wechselte, war Curtis geradezu unersättlich. Er schnitzte Kerben in seinen Bettpfosten, wie sich Jäger Trophäen an die Wand hängen.

»Du brauchst Hilfe, Mann. Das ist Esau Watkins’ Tochter. Ich bin mit ihr zur Schule gegangen. Obwohl ich zugeben muss, dass sie im Unterricht nicht annähernd so ausgesehen hat«, sagte ich lachend.

»Echt? Ich hab das Gefühl, ich kenn sie von woandersher.« Er kniff die Augen zusammen und dachte eine Sekunde darüber nach. Dann ließ er es auf sich beruhen. Curtis war kein Mann für die gründliche Introspektion. »Wie lange sind die schon hier? Ich muss mir noch meinen Scheck für den Gottesdienst heute abholen«, sagte er und klaubte eine verirrte Fluse vom Revers seines Blazers.

»Nicht so lange. Vielleicht gehst du in den Fernsehraum und wartest da. Ich denke, das dauert noch ein bisschen«, sagte ich.

Curtis runzelte die Stirn. Das war offensichtlich nicht das, was er hören wollte. Er wollte schon etwas sagen, als Lisa Watkins wieder aus dem Gebäude trat. Diesmal marschierte sie ohne ein Wort schnurstracks zu ihrem Lexus. Der Wagen sprang röhrend an, und die Reifen drehten durch, als sie von unserem Parkplatz fegte und auf die Route 33 einbog. Ich sah zu, wie die Rücklichter in der Ferne verschwanden.

Wenige Sekunden später tauchte Walter in der Tür auf. »Nathan, die Damen möchten mit dir sprechen«, sagte er. Seine Stimme war gedämpft, und ein mürrischer Ausdruck schlich sich in sein Gesicht.

Als ich an Walter vorbeirauschte, raunte er mir ins Ohr: »Vielleicht ein Job für dich. Das Büro gehört dir.«

Ich biss auf die Innenseite meiner Unterlippe. Die beiden älteren Frauen saßen in Walts Büro und starrten mich an. Ich konnte das Gewicht ihrer Erwartungen bereits auf meinen Schultern spüren. »Was kann ich für die Damen tun?«, fragte ich, als ich den Raum betrat. Sie sahen einander an, dann mich, dann wieder einander. Ihre Gesichter waren nervös, aber entschlossen.

»Ich bin Eloise Parrish«, sagte die größere Frau. »Wir sind Mitglieder der Gemeinde von Reverend Watkins in der New Hope Baptist Church. Sie sind Gordon Waymakers Junge. Schrecklich, was Ihren Eltern zugestoßen ist. Einfach nur schrecklich. Und dass dieser Vandekellum-Junge einfach so davongekommen ist. Jesus, ich habe damals für Sie gebetet. Aber Ihre Eltern wären sehr stolz, wenn sie Sie jetzt sehen könnten. Sie haben Jim Sutter geholfen, sein Mädchen zurückzubekommen. Meine Tochter arbeitet mit seiner Frau unten im Altersheim. Sie hat mir alles erzählt.«

Ich sagte nichts.

»Ich bin Louise Sheer. Wir … wir wissen, dass Sie ein gutes Herz haben, Nathan«, stammelte die andere Frau. Dann wurde ihre Stimme zu einem leisen Flüstern. »Ich habe gehört, dass Sie sich um diesen Hewitt-Jungen gekümmert haben, der die Kinder in der Tagesstätte betatscht hat.«

Die beiden Frauen wirkten wie regelrechte Musterbeispiele für Würde und Anstand und hielten ihre grau gewordenen Köpfe hoch erhoben. Ich wollte ihre Seifenblase wirklich nicht zerplatzen lassen, aber ich hatte kein gutes Herz. Mein Herz war an dem Tag zerbrochen, als meine Eltern starben. Seit ich nicht mehr beim Sheriff’s Department arbeitete, hatte ich für einige Leute das eine oder andere erledigt und mir den Ruf eines Mannes erworben, der einem stillschweigend helfen konnte. Der Dinge erledigte, die die Cops nicht erledigen konnten oder wollten.

»Ich hab nicht viel gemacht, als ich mit Jim nach Richmond gefahren bin, wo wir sein Mädchen fanden. Hab nur versucht, so furchterregend wie möglich auszusehen«, sagte ich.

Mrs. Parrish lächelte. »Oh, Sie sind nicht furchterregend. Sie sind doch nur ein großer alter Teddybär.« Mrs. Sheer warf ihr einen missbilligenden Blick zu, den Mrs. Parrish aber nicht mitbekam. Und falls doch, war’s ihr scheißegal.

Mrs. Sheer räusperte sich. »Wir haben den Sheriff gefragt, was Reverend Watkins zugestoßen ist, aber die wollten uns nichts sagen. Es ist jetzt drei Wochen her, und wir haben nicht ein Wort von denen gehört!« Sie drückte den Henkel ihrer Handtasche wie eine Schlange, die sie zu erwürgen versuchte.

»Ich vermute, die haben darauf gewartet, dass seine Tochter in die Stadt kommt«, sagte ich.

Mrs. Sheer schüttelte den Kopf. »Das haben wir auch gedacht. Aber als wir dann mit Lisa dort hingegangen sind, haben sie uns immer noch nichts gesagt. Und dieses Mädchen führt sich auf, als wäre es ihr vollkommen gleichgültig, was ihrem Daddy zugestoßen ist.«

»Und jetzt möchten Sie, dass ich im Sheriff’s Department nachfrage, was Reverend Watkins zugestoßen ist?«, fragte ich. Beide nickten. Ich beugte mich vor. »Ladys, Sie wissen beide, dass ich vor fünf Jahren bei der Polizei aufgehört habe. Die werden mir nicht mehr sagen als Ihnen.«

»Wir wollen doch nur wissen, was ihm zugestoßen ist«, sagte Mrs. Sheer ernst.

»Was ist denn Ihrer Meinung nach passiert?«, fragte ich.

Sheer sah wieder Parrish an. »Wirglaubenerwurdeermordet«, sagte sie so schnell, als wären schon allein die Silben unsauber, und sie wollten vermeiden, dass sie ihre Zunge verunreinigten.

Ich trommelte mit den Fingern auf Walts furchtbar ordentlichen Schreibtisch. »Wirklich? Weil ich nämlich gehört habe, es könnte anders gewesen sein.«

Mrs. Parrishs Schultern verkrampften sich. »Reverend Watkins hat sich nicht umgebracht! Ich weiß nicht, woher das kommt, aber ich weiß, es stimmt nicht! Das hätte Esau niemals getan!«, fauchte sie.

Ich nickte. Als Kind einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters hatte ich die kulturellen Eigenheiten auf beiden Seiten meiner Abstammungslinie beobachten können und war schon immer verblüfft gewesen, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gab. Doch mir war aufgefallen, dass die Leute in der schwarzen Community Selbstmord nur äußerst ungern als Todesursache akzeptierten. Anscheinend fassten manche Selbstmord als Beleidigung jener Widerstandsfähigkeit auf, für die Schwarze bekannt waren. Walt hatte mich einmal einen Verstorbenen abholen lassen, der die Kanone in seinem Schoß und einen Abschiedsbrief am Kühlschrank hinterlassen hatte, und trotzdem spannen manche bis heute wilde Theorien darüber, wie der Mörder es schaffen konnte, dass der Tote sich die Waffe in den Mund steckte. Nur eine einzige Sache hielt mich davon ab, Mrs. Parrishs Verleugnung kurzerhand abzutun, und das war etwas, das ich wusste, sie jedoch nicht: Das Queen County Sheriff’s Department war käuflich und mitunter völlig unfähig. So hatte es der betrunkene Rassist, der meine Eltern von der North River Bridge abgedrängt hatte, geschafft, ungeschoren davonzukommen. Dank des Queen County Sheriff’s Department hat Steven Vandekellum für den Mord an meiner Mutter und meinem Vater keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen. Stattdessen feierte er eine Woche nach ihrem Tod seinen Geburtstag in Aruba, während ich versuchte, Kontakt zu der Familie meines Vaters zu finden, die seit meiner Geburt kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte.

Wir saßen da, das Ticken von Walts Wanduhr im Ohr, und die letzten verzweifelten Strahlen der untergehenden Sonne warfen hinter mir horizontale Schatten durch die Jalousien vor dem Panoramafenster. Nach allem, was ich gehört hatte, war Watkins ein ziemlich übler Bursche gewesen. Ob er nun ermordet worden war oder Selbstmord begangen hatte – ich glaubte nicht, dass die Welt allzu sehr unter seiner Abwesenheit leiden würde. Seine eigene Tochter vergoss keine Träne um ihn. Im Büro des Sheriffs herumzuschnüffeln würde den Cops schrecklich auf die Eier gehen, und mein Abgang war damals nicht gerade ideal verlaufen. Von den sechs Polizisten hatten mich vier ganz eindeutig nicht leiden können, einer hatte mich geduldet, und eine andere hatte sich gelegentlich von mir bumsen lassen, bis ich sie bei einem Rendezvous besoffen mit dem falschen Namen ansprach.

Mrs. Sheer musste mein Schweigen wohl als Verhandlungstaktik missverstanden haben: »Wir können Sie bezahlen.«

»Es geht hier nicht um Geld, Mrs. Sheer. Ich glaube nur einfach nicht, dass ich besonders viel für Sie tun kann.«

»Zweitausend Dollar. Nur damit Sie ein paar Fragen stellen«, sagte sie.

Jede Wette, dass meine Augen so groß wurden, als hätte ich den Finger in eine Lampenfassung gesteckt. Zweitausend Dollar für ein paar Fragen? Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass Watkins’ Kirche so viel Geld hatte, doch jetzt fragte ich mich, ob sie im Badezimmer Zehndollarscheine als Toilettenpapier hatten.

»Sind Sie errettet, Nathan?«, fragte Mrs. Parrish.

Ich blinzelte. »Meine Eltern hatten’s nicht so mit der Kirche, Ma’am. Aber ich glaube, dass es Gut und Böse gibt. Positive und negative Energie, verstehen Sie? Ich glaube, wenn man sich Menschen gegenüber anständig verhält, bekommt man etwas zurück. Das Gleiche gilt, wenn man Unrecht tut.«

Ich dachte an die Skinheads, die Jim Sutters Tochter festgehalten hatten. Ich dachte an all die Dinge, zu denen sie sie in diesem kleinen Schuppen am Stadtrand von Richmond gezwungen hatten. Ich dachte an ihre Gesichter, als ich mit zwei Kugelhämmern, einer abgesägten Schrotflinte und meinem Freund Skunk bei ihnen aufgetaucht war. Ich glaube, Skunk hat denen mehr Angst eingejagt als die Hämmer und die Schrotflinte.

»Ich frage Sie deshalb, weil Sie das für uns tun würden, wenn Sie Christ wären, anstatt hier herumzudrucksen. Sie würden es tun, weil es das Richtige ist. Es ist noch nicht so lange her, seit ich errettet worden bin, deshalb kann ich manche Dinge sagen, die Louise wahrscheinlich nicht sagen würde. Dieser ganze Scheiß fühlt sich einfach nicht richtig an. Es ergibt keinen Sinn. Und wir brauchen Antworten. Esau war nicht immer ein guter Mensch, und ich denke, manche Leute werden sagen, er hat das geerntet, was er zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens gesät hat. Aber er hat es nicht verdient, in seinem eigenen Haus getötet zu werden. Und der Sheriff scheint nicht genug Feuer unter dem Hintern zu haben, um der Sache auf den Grund zu gehen. Für die ist er nur ein weiterer toter Schwarzer. Aber für uns war er Pfarrer und Freund, und wir glauben, er hat etwas Besseres verdient«, sagte Mrs. Parrish.

Ihre offenen und ehrlichen Augen fixierten mich. Ich stellte mir vor, dass sie genau diesen Blick auch als junge Frau Mitte zwanzig draufgehabt hatte, kurz bevor sich die Schlafzimmertür schloss. Mrs. Sheer andererseits sah so verkniffen und angespannt aus, als hätte sie sich auf eine Reißzwecke gesetzt und versuchte nun, nicht zu schreien. Ich denke, Mrs. Parrishs Ausdrucksweise hat sie leicht verärgert. Ich erinnere mich, dass ich dachte: Tja, kann ja nicht schaden, ein paar Fragen zu stellen.

Narren und Mücken. An diesem Tag war ich eines von beiden. Ich geb Ihnen einen Tipp: Ich habe keine Flügel.

3

Als Mrs. Parrish und Mrs. Sheer gingen, hatten sie mein Versprechen in der Tasche, dass ich morgen früh als Erstes im Büro des Sheriffs vorbeischauen würde. Ich kehrte in den Einbalsamierungsraum zurück, um Reverend Watkins aus dem Leichensack zu holen, aber Walt und Curtis waren bereits dabei loszulegen.

»Sorry, Walt, diese Ladys haben mich aufgehalten«, sagte ich.

»Kein Problem, Cuz. Curtis und ich haben ihn schon im Griff«, sagte Walt. Genau genommen war er mein Chef, aber er redete mit mir nicht wie mit einem Angestellten, und ich missbrauchte sein Vertrauen nie.

»Was wollten die überhaupt?«, fragte er, als er einen kleinen Einschnitt in Reverend Watkins’ Hals machte. Er schaute nie von seiner Arbeit auf, und seine Hände waren ruhig wie ein Fels. Walt konnte eine Leiche so gut herrichten, dass man meinte, sie könnte jeden Moment aus dem Sarg hüpfen und in ihrem neuen Anzug in einem Club einfallen. Ihm war etwas bewusst, das vielen seiner Kollegen abging: Um in der Bestatterbranche wirklich gut zu sein, musste man zu gleichen Teilen Wissenschaftler, Künstler und Geschäftsmann sein.

»Sie sind überzeugt, dass ihn jemand umgebracht hat« – ich deutete auf die Leiche von Reverend Watkins – »und sie möchten, dass ich Laurent Feuer unter dem Arsch mache, um herauszufinden, wer.«

Walt schaute auf. »Hältst du das für eine gute Idee? Dass du aufs Polizeirevier gehst, meine ich?« Seine Stimme war eine Oktave tiefer geworden.

»Keine Sorge. Ich werde niemandem auf die Nase hauen. Und niemanden durchs Fenster werfen. Oder …«, sagte ich, doch Walt hob die Hand, um mir zu bedeuten, nicht weiterzusprechen.

»Wusste ich’s doch, dass ich ihren Arsch von irgendwoher kenne!«, sagte Curtis. Er hatte seine Handschuhe ausgezogen und scrollte auf seinem Handy herum.

»Erzähl mir nicht, dass du sie gevögelt hast und sie dir zur Erinnerung Fotos von ihren Titten geschickt hat«, sagte ich.

»Nur in meinen Träumen, Mann. Sieh dir das an«, sagte er und reichte mir sein Handy.

Ich sah auf das Display. Ein Video von zwei Frauen. Die eine schwarz, die andere weiß. Die Schwarze leckte die weiße Frau, als wäre zwischen ihren Beinen eine goldene Eintrittskarte für Willy Wonkas Schokoladenfabrik versteckt.

»Ich steh nicht so auf diesen Girl-on-Girl-Kram, Curtis«, sagte ich.

»Sieh’s dir weiter an«, sagte er und strahlte dabei wie eine Grinsekatze.

Die schwarze Frau unterbrach ihren Tiefseetauchgang lange genug, dass ich einen Blick auf ihr Gesicht und ihre funkelnden grünen Augen erhaschen konnte. Ich sah Curtis an, dann wieder sein Handy.

»Ich wusste doch, dass ich sie kenne! In dem Film heißt sie Cat Noir! Die Szene da hat den Preis für die beste Girl-on-Girl-Szene bei den 2009er AVN Awards gewonnen. Sie macht da so was mit der Zunge … Also, egal, ich schätze, jetzt wissen wir, wieso sie sich den Lexus leisten kann«, meinte Curtis.

Ich gab ihm das Handy zurück. Es fühlte sich plötzlich schmutzig an, so als hätte ich eine benutzte Windel in der Hand.

»Zwei Fragen. Erstens: Wieso kennst du die einzelnen Kategorien der AVN Awards auswendig? Zweitens: Glaubst du, eine Frau kann sich nur dann einen Lexus leisten, wenn sie Pornostar ist?«

Curtis’ Lächeln schwankte, fing sich dann aber wieder. Er schloss das Browserfenster auf seinem Handy. »Ich sage ja nur, dass sie wahrscheinlich gutes Geld verdient. Scheiße, sie wird für was bezahlt, das eine Menge Frauen gratis tun. Ich urteile ja nicht über sie. An Sex ist nichts auszusetzen, Brother. Sogar in der Bibel gibt’s ein eigenes Kapitel darüber. Im Hohelied Salomos geht’s nur um Sex. Ich sag ja nur, wenigstens können wir jetzt sicher sein, dass wir für unsere Arbeit am Ende auch bezahlt werden.« Er grinste wie ein Halloweenkürbis. Das Bedürfnis, ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, flammte kurz in meinem Kopf auf, aber ich ignorierte es.

»Oh, wir werden bezahlt werden. Nur eben nicht von Watkins’ Tochter. Sie hat sich verabschiedet und vorher dem New-Hope-Verwaltungsrat alle Vollmachten gegeben, soweit es um die Beisetzung des Reverends geht. Ich habe bereits den Scheck von Mrs. Parrish erhalten«, sagte Walt, während er Flüssigkeit in das Balsamiergerät füllte.

»Die Kollektenteller von denen müssen so groß wie Pizzableche sein. Sie geben mir zweitausend Dollar, nur damit ich mal beim Sheriff vorbeischaue«, sagte ich.

»Meine Güte, Nate, meinst du nicht, dass du ein bisschen zu viel berechnest?«, fragte Walt.

»Hey, die sind mit der Summe gekommen. Ich hätt’s auch gratis gemacht, aber sie haben’s mir angeboten. Ich meine, ich fühle mich ein klitzekleines bisschen von Schuldgefühlen geplagt. Ich werde einfach den Kopf durch die Tür stecken, mich nach dem Verstorbenen da erkundigen und wieder gehen. So leicht hab ich noch nie zwei Riesen verdient. Und das schließt unseren Trip nach Atlantic City ein, als ich am Blackjacktisch eine 16 hatte.«

»Scheiße, Mann, die lassen hier so richtig Kohle regnen«, sagte Curtis, während er begann, Watkins’ Arme und Beine zu massieren und so dafür zu sorgen, dass sich die Balsamierflüssigkeit gleichmäßig verteilte.

»Ich sag euch was. Der hat sich nicht umgebracht«, meinte Walt.

»Du glaubst es nicht?«, fragte ich.

»Nee. Da sind keine Schmauchspuren um die Wunde herum. Und sieh dir den Eintrittswinkel an. Wer schießt sich bitte aus mindestens anderthalb Metern Entfernung selbst in die Brust? Nee. Sofern er es nicht mit einem Selfiestick gemacht hat, würde ich sagen, jemand hat ihn erschossen. Wahrscheinlich mit einer .32er oder einer .38er«, sagte Walt.

Toll. Lisa Watkins war also offenbar Pornodarstellerin, und Walt hatte gerade bestätigt, dass ihr Vater höchstwahrscheinlich ermordet worden war, genau wie es die Damen von der Kirche befürchtet hatten. In weniger als zehn Minuten hatte sich mein Zweitausend-Dollar-Spaziergang in ein Minenfeld verwandelt.

»Wenn er sich nicht selbst umgebracht hat, frage ich mich, wer’s war?«, meinte Curtis.

»Ist mir egal. Ich muss nichts anderes tun, als beim Sheriff reinzuschauen und zu fragen, was Sache ist. Das ist alles. Ich bin nicht Sherlock Holmes«, sagte ich.

»Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass dein Schädel in eine Deerstalker-Mütze passt«, sagte Walt mit einem Grinsen.

4

Als sie den verstorbenen Reverend Watkins fertig vernäht, verklebt und mit Flüssigkeiten vollgepumpt hatten, war es acht Uhr. Curtis musste weg, also half ich Walt, die Leiche vom Balsamiertisch auf den Ankleidetisch zu verlagern. Als das erledigt war, gingen wir wieder nach vorne.

»Das war’s heute für mich. Vielleicht finde ich jetzt was zu essen. Die Beerdigung ist am Dienstag in der Kirche in Mathews. Ach, und halte morgen früh Ausschau nach dem Sargtransporter. Falls du hier bist«, sagte Walt.

»Alles klar. Wahrscheinlich werde ich hier sein. Aber heute Abend gehe ich vielleicht mal aus. Fahre nach Gloucester und gehe ins Cove. Mal sehen, was Raheem so macht. Spiele ein paar Partien Billard.«

Walt blieb in der Tür stehen. Er hatte eine Hand auf dem Querriegel in der Mitte und sah mich an. »Mit dir alles okay? Kann mir vorstellen, dass es üble Erinnerungen geweckt haben muss, als die Ladys über den Sheriff sprachen.«

Ich streckte die Arme zur Decke aus und hörte, wie es in meinem Rücken knisterte und knackte wie bei einem Lagerfeuer. »Alles gut. Falls ich ausgehe, schließe ich hier alles ab.«

»Nacht, Cuz«, sagte er.

»Nacht, Cuz«, erwiderte ich.

Ich verriegelte die Tür hinter ihm und ging den Flur hinunter zur Garage. An der Tür links zwischen den Toiletten und der zweiten Kapelle blieb ich stehen, holte meinen Schlüssel heraus und sperrte auf. Mein kleines Kabuff war weder besonders gemütlich noch geschmackvoll eingerichtet, aber es war ein ruhiger Ort, an den ich mich zurückziehen konnte. Es gab Zeiten, in denen mir die Stille zu viel wurde; dann rannte ich den Flur hinunter, um irgendwohin zu gehen, egal wohin. Irgendwohin, wo ich nicht meine eigenen Gedanken hören musste, die in den Höhlen meines Verstandes widerhallten. An der Wand hinten rechts stand ein Einzelbett, links davon eine kleine Kommode mit vier Schubladen, deren große Messinggriffe aussahen wie die Knöpfe eines Admiralsmantels. Mein Zimmer als karg zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen. Ich legte mich auf mein Bett und schloss fest die Augen. Ich dachte über Mrs. Parrish und Mrs. Sheer nach. Darüber, wie ich zum Büro des Sheriffs gehen würde. Meine Brust zog sich zusammen, als ob ein Kobold darauf sitzen würde.

Ich stand auf und spritzte mir ein bisschen Eau de Cologne ins Gesicht. Dann nahm ich mein Handy heraus und schickte meinem Freund Raheem eine Nachricht. Fragte, ob er Lust auf ein paar Stunden Bier, Pool und Blödsinn reden hätte. Er antwortete, ihm sei tatsächlich danach, ein bisschen die Sau rauszulassen, und er könnte in dreißig Minuten im Cove sein.

Ich machte die Fliege und sprang in meinen Pick-up.

5

Das Cove war mal eine kleine Bikerkneipe mit einem Publikum aus verurteilten Verbrechern oder demnächst verurteilten Verbrechern gewesen. Vor zwei Jahren waren dann der Besitzer Ricky Callipher und seine Freundin verschwunden. Das letzte Mal hatte man sie gesehen, nachdem die Bar an einem heißen, schwülen Freitagabend im Juni geschlossen hatte. Dann hatte man sie noch mal an der Tankstelle Ecke Route 198 und Route 14 gesichtet. Die meisten Leute dachten, sie wären wegen Schulden aus der Stadt verduftet. Schulden im juristischen Sinn wie überhaupt. Auf der Straße erzählte man sich, sie wären mit Jungs aneinandergeraten, die unter dem Namen »Dixie Mafia« bekannt waren. Man munkelte, dass sie irgendwann wieder auftauchen würden, wenn ein bisschen Gras über die Sache gewachsen war. Ich glaubte das nicht. Eine Woche bevor Ricky und seine Frau verschwanden, bin ich meinem Freund Skunk in der Stadt über den Weg gelaufen. Ich wusste, dass Skunk manchmal als Freelancer für die Dixie-Jungs arbeitete. Wenn sie Skunk auf Ricky angesetzt hatten, konnte man wahrscheinlich Rickys Zeitungsabo kündigen.

Musik ließ die Luft vibrieren, als ich meinen Pick-up parkte, ein mattschwarzer, komplett aufgearbeiteter 57er Chevy mit 5l-V8-Maschine und Viergangschaltung. Mein Dad und ich hatten ihn im Sommer vor seinem Tod auf Vordermann gebracht. Ich war an meine Ersparnisse gegangen, um die Karosserie zu kaufen, aber Dad und ich hatten die meiste Arbeit selbst gemacht. Der 57er war immer mein Traum gewesen, und mit meinem Dad daran zu arbeiten war ein wahr gewordener Traum.

Die Fassade des Cove ähnelte einem Herrenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Vier weiße Säulen stützen ein grau gedecktes Dach über einer breiten Veranda. Ich stieg die drei Betonstufen hinauf und ging an einem gelangweilten Türsteher vorbei, dessen Bart so dicht war, dass er die Bundeslade darin hätte schmuggeln können. Das Innere des Cove