Nach dem Eis - Malte Kersten - E-Book

Nach dem Eis E-Book

Malte Kersten

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Beschreibung

Riskante Forschung in Kiel: Nach dem plötzlichen Tod des Doktorvaters übernimmt der Institutsleiter die Betreuung des Protagonisten und Nachwuchswissenschaftlers. Auch die Wirtschaft zeigt überraschend ein Interesse an seinen Forschungen. Womöglich der Startpunkt einer großartigen, wissenschaftlichen Karriere. Würden sich nicht Hinweise häufen, die auf ein Geheimnis des verstorbenen Professors hindeuten. In den dunklen Archiven zeigt sich, der Protagonist ist nicht der Einzige, der das Rätsel lösen möchte. Dramatische Ereignisse hindern ihn an weiteren Nachforschungen. Alles Zufälle? Ein packender Roman tief in den Gängen des Forschungsinstitutes und den Weiten der Antarktis.

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Seitenzahl: 639

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Malte Kersten

Nach dem Eis

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Impressum neobooks

Prolog

Aus dem Nichts, traumlos. Ich erwachte am Ende der Welt. Die übliche Beschreibung für Ushuaia, Feuerland. Glucksende Heizkörper hatten mich aufgeschreckt. Benommen sprang ich auf, das Fensterbrett gab Halt. Ich sah auf die Avenida San Martin hinab. Ein kleines Hotel, gebucht im Internet. Kein Luxus, aber zentral gelegen am Hafen. Von Backpackern oft aufgesucht, hatte ich an den Bewertungen gesehen. Wer käme sonst nach Ushuaia? Ein Bett, ein Schrank, ein Nachttisch und ein Stuhl. Das war alles. Kein historisches Flair. Aber Ausland. Und Südamerika. Meine vollgepackte Tasche neben dem Bett. Daneben mein Kamerakoffer, gefüllt mit zwei Kameras und allen Objektiven, Filtern und sonstigen Dingen, die ich unterwegs vielleicht brauchen könnte. Bei richtig arktischen Temperaturen ist digital nicht Fortschritt. Hatte ich beim Packen vermutet und zusätzlich meine selten benutzte analoge Kamera sowie etliche Filmrollen im Koffer verstaut.

Es wurde bald hell. Drei- oder viergeschossige Gebäude. Unten Geschäfte, oben vielleicht Wohnungen. Alles eingetaucht in das gelbliche Licht der Straßenlaternen, zumindest die unteren Teile der Gebäude. Darüber ließ sich in der Dämmerung eine unglaublich weite Berglandschaft erahnen. Während der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel hatte ich in der Dunkelheit von den Bergen gar nichts, von der Stadt nur sehr wenig gesehen. Mein erster Kontakt zum Tango. Der Taxifahrer spielte mir eine lokale Größe dieser Musikrichtung vor. Jedenfalls mein Eindruck, mein Spanisch ist nicht perfekt. Seine Begeisterung war es. Die Heiligenfigur tänzelte neben den Fußbällen am Innenspiegel.

Unten schloss jemand ein Geschäft auf. Es war sehr warm im Zimmer. Ich öffnete das Fenster und atmete die kühle Luft ein. Es roch nach fremder Stadt, sogar nach fremden Erdteil. Windstill, zumindest jetzt in der Morgendämmerung. Scheppernde Geräusche einer Mülltonne. Der, der sein Geschäft aufschloss, rief jemanden ein paar Worte zu. Ein Auto fuhr vorbei. In der Ferne bellte ein Hund. Jemand lachte, wieder spanische Worte. Eine erwachende Stadt am Ende der Welt. Ich freute mich auf einen südamerikanischen Kaffee. Kaltes Wasser über den Kopf vertrieb einigermaßen meine Müdigkeit. Die Dusche musste noch warten, nach dem Kaffee. Aber ein frisches T-Shirt musste her. Einen Teil meiner Polarkleidung zog ich dabei mit aus der eng gestopften Tasche. Ich ließ alles so liegen und versuchte, den Zimmerschlüssel mit dem unhandlichen Anhänger in die Hosentasche zu stopfen. Der Flur war noch dunkel, das Licht funktionierte nicht. Am Abend hatte es funktioniert, da war ich mir sicher. Wahrscheinlich fand ich nicht den richtigen Schalter. Die Treppe als heller Fleck am Ende des Flurs. Wie spät war es eigentlich? Ein paar schwarz-weiß Bilder von indianischen Ureinwohnern waren trotz des Dämmerlichtes zu erkennen. Historisch sicher interessant, aber vom Bildaufbau eher langweilig. Unten war es ruhig. Kein Mensch war zu sehen. Weiter hinten hörte ich Geschirrgeklapper. Ich ging dem Geräusch nach und fand eine Frau, die Geschirr auf eine Anrichte stapelte. Schneidende Töne in der morgendlichen Ruhe. Spanisch, Englisch? Ich entschied mich für Englisch und fragte, ob ich einen Kaffee haben könnte. Ihre Gegenfrage verstand ich nicht. Spanisch. Ein Gesicht ohne Lächeln.

„Si“, ich nickte und hoffte auf ein Frühstück.

Sie verschwand, ohne weiter nachzufragen. Ich war der einzige Gast, zumindest zu dieser Uhrzeit. Auf der Straße war es noch sehr ruhig. Ich hatte den ganzen Tag Zeit. Zeit, um nichts zu tun. Zeit, um die Stadt zu erkunden. Zum Kaffee trinken. Und zum Fotografieren. Ich würde alles zusammen tun. Ich hätte mir doch noch mehr überziehen sollen. Etwas kühl war es im Frühstücksraum. Verglichen mit meinem Abflugsort sollten hier sommerliche Temperaturen herrschen, war es doch hier auf der Südhalbkugel immer noch Sommer. Glücklich entronnen, könnte man sagen. Es war nur wenige Tage her, aber mein Leben hatte eine vollständig neue Richtung bekommen.

Ihr Kommen kündigte sich mit dem Flip und Flop ihrer Flipflops an, bevor sie im Raum zu sehen war. Die Frau kam mit einem kleinen Tablett zurück. Sie brachte eine Tasse Kaffee und ein Körbchen mit ein paar Hörnchen. Das war ihre Frage gewesen. Sie schob den Serviettenhalter zur Seite und stellte alles wortlos bei mir am Tisch ab. Der Kaffee duftete fremd. Ihre Flipflops waren noch zu hören, als sie schon nicht mehr zu sehen war. Der Kaffee war heiß, die Hörnchen sehr süß. Erst knackte es, dann war leise Musik zu hören, Tango. Extra für den Gringo. Draußen hinter dem Parkplatz, hinter den Häusern, auf den entfernten Bergen hinter der Stadt begannen die schneebedeckten Gipfel in der aufgehenden Sonne zu glimmen.

Zufrieden. Als mein Becher leer war, war das Licht schon ein ganzes Stück den Berg herabgetropft. Aber das Schauspiel war noch nicht zu Ende. Ich sah mich nach der Frau um, konnte sie aber nicht entdecken. Mit dem Becher in der Hand unterbrach ich kurz meine Naturbetrachtung und machte mich auf die Suche nach einem weiteren Kaffee. Ich fand sie wieder in den hinteren Räumen. Mit dem Becher war es mir ein Leichtes, meinen Wunsch auszudrücken. Sie schenkte mir aus einer großen Thermoskanne nach. Mein „Gracias“ entlockte ihr den Hauch eines Lächelns. Zufrieden vertiefte ich mich wieder in den Anblick der Berge. War nicht Charles Darwin auch in diesem Landstrich unterwegs? Mit einer etwas zu glatten Serviette versuchte ich, die Zuckerreste von meinen Fingern zu wischen.

Bevor ich wieder nach oben ging, trat ich hinaus auf die Straße. Inzwischen war ich nicht mehr die einzig wache Person. Immer mehr Autos fuhren die Avenida entlang. Ich trat ein paar Schritte vor, um besser die Straße entlang schauen zu können. Die ältere Dame bremste abrupt ihren Toyota ab und hielt, um mich hinüber zu lassen. Ich ging dann wirklich hinüber. Das Hotel war architektonisch vielleicht nicht eine Perle, genau wie alle anderen Häuser in der Straße. Aber zumindest reihte es sich in die gewohnte Bauweise mit ein. Richtig alte Gebäude konnte ich nicht erkennen. Aber kein Wunder bei der Geschichte dieser Stadt. Der aufkommende Wind war zu kalt, daher lief ich wieder zurück.

Oben im Zimmer breitete ich meine neu gekauften Kleidungsstücke auf dem Bett aus. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt. Daher hatte ich das Meiste in Online-Shops eingekauft, in der Hoffnung, dass die Größenangaben mit meiner Größe übereinstimmten. Ich öffnete die Originalverpackungen und entfernte die Preisschilder. Umtauschen könnte ich diese Sachen nicht mehr. Ich würde erst in drei Monaten zurück sein. Sie mussten einfach passen. Die dicke Daunenjacke fand ich etwas übertrieben. Als ich sie überzog, konnte ich mich aber doch erstaunlich gut damit bewegen. Die vielen Knöpfe führten zu unglaublich vielen Taschen unterschiedlicher Größe und Formen. Ideal für Gesteinsproben, Pinguinfedern oder Filmrollen.

Ich war hier am Ende der Welt, am südlichen Ende, also im Sommer. Der beginnende Tag versprach sonnig und warm zu werden. Ungläubig betrachtete ich mich im Spiegel mit meiner Polarausrüstung. Dann legte ich alles zur Seite, suchte meine Kamera sowie ein passendes Objektiv heraus und verließ das Hotel.

Richtig viel zu sehen gab es nicht, so mein erster Eindruck. Die Stadt lebte mehr von dem rauen Hinterland. Auf der einen Seite konnte man immer wieder in den Straßenfluchten das Meer sehen, auf der anderen Seite überragten die schneebedeckten Gipfel die Stadt. Der Hafen ist oft der Ausgangspunkt für Polarausflüge. So ja nun auch für mich. Da ich schon auf dem Weg war, besuchte ich natürlich auch das antarktische Museum von Ushuaia. Dort traf ich auf die Touristen. Wobei Tourist vielleicht nicht der richtige Ausdruck war. Es waren meist Individualreisende, die ihre Rucksäcke im Eingangsbereich abgelegt hatten. Der Museumswärter erzählte mir, dass auch Kreuzfahrtschiffe hier einen Stopp auf dem Weg in die Antarktis einlegen. Dann wäre das Museum fast überfüllt. Der ältere Mann schmunzelte, als er erzählte, dass er dann oft vor dem Walskelett draußen für ein Foto posieren müsse. Sein feines Lächeln passte nicht zu seiner Uniform und dem Gebäude. Denn das Museum war in dem ehemaligen Gefängnis Presidio untergebracht. Aus Rücksicht auf das historische Gebäude war die ursprüngliche Art der Nutzung noch sehr gut zu erkennen. Langsam patrouillierten die anderen uniformierten Museumswärter durch die nach oben hin offenen Gänge. Der ältere Mann dagegen hatte offensichtlich seinen Platz in der Eingangshalle. Hier goss er sich vorsichtig einen Tee aus seiner verbeulten Thermoskanne ein und fragte mich, ob ich noch weiter in den Nationalpark reisen würde. Es roch nach Mate und die Seevögel kreischten vor dem Gebäude im Wind.

In der Halle sechzehn stieß ich auf altvertraute Bilder der tragischen Shackleton Expedition von 1914, hier nahezu in der Originalumgebung. Die eigentliche Mission scheiterte damals, sogar schon relativ früh. Aber dennoch war dies eine Expedition, die zu großem Ruhm führte. Statt der erhofften wissenschaftlichen Erkenntnisse brachte Shackleton alle Expeditionsmitglieder nahezu unversehrt wieder nach Hause. Welche Strapazen sie dabei durchmachen mussten, hatte der Fotograf Frank Hurley trotz beschränkter Mittel eindrucksvoll festgehalten. Eisberge mit Schlittenhunden, Eisberge mit Seeleuten, Eisberge mit dem sinkenden Schiff, Eisberge mit Rettungsbooten. Meine jüngste Vergangenheit zeigte ähnliche Verläufe. Auch wenn Eisberge bisher keine Rolle in meinem Leben gespielt hatten. Schiffbruch, vielleicht. Glückliche Heimkehr?

Überrascht war ich, als ich auf zwei Deutsche stieß, die von Alaska aus mit dem Fahrrad bis nach Feuerland gefahren waren und hier ihre Ziellinie überquerten. Hut ab, eindrucksvolle Leistung. Wir verabredeten uns für das Mittagessen bei einem Imbiss in der Stadt. Sie beschrieben mir den Weg und verließen dann das Museum. Ich hielt mich noch eine Weile in historischer Umgebung auf.

Der Tag verging schnell. Wobei der ungewohnt späte Sonnenuntergang mich etwas irritierte. Insgesamt ähnlich wie in Kiel an der Ostsee im Sommer, liegen doch beide Orte fast auf dem gleichen Breitenkreis, nördlich und südlich. Ich packte schon am Abend meine ganzen Sachen wieder ein, obwohl ich nicht besonders früh das Hotel verlassen müsste.

Dadurch, dass ich noch ein paar Stunden Schlaf nachholen musste, war ich etwas später dran und diesmal nicht der einzige Gast im Frühstücksraum. Gedämpfte Stimmen und verhaltenes Klingen von Kaffeetassen beim Umrühren. Die Gäste sahen überwiegend nach Touristen aus. Europäisch vielleicht. Die gesprochenen Sprachen konnte ich nicht verstehen. Tangomusik. Auf das morgendliche Schauspiel des Sonnenaufgangs musste ich am zweiten Tag in Ushuaia verzichten. Dichte Wolken waren aufgezogen. Es war sehr windig. Beim Kaffee riss die Wolkendecke kurz auf und ließ dramatisch die Sonnenstrahlen vereinzelt schneebedeckte Gipfel treffen. Der Reihe nach flammten sie auf. Meine Kamera leider im Koffer, oben im Zimmer. Feuerland hatte ja seinen Namen dem Herdfeuer von den Indianern auf deren Booten zu verdanken. Aber auch dieser Anblick deutete stark in diese Richtung.

Ich müsste meine Eltern anrufen, ging es mir durch den Kopf. Wegen der etwas überstürzten Abreise aus Kiel hatte ich vergessen, ihnen zumindest anzudeuten, dass es leichte Änderungen in meinem Lebenslauf gab. Änderungen, die mir wieder Luft zum Atmen ließen. Aber ich hatte Zweifel, ob meine Eltern mein freudiges Bauchgefühl teilen würden. Wie sollte ich es ihnen erklären? Meine Vorfreude auf das Telefonat war nicht so groß. Zumindest sollte ich mal andeuten, dass ich in der nächsten Zeit etwas schwerer zu erreichen wäre. Aber später, wegen der Zeitverschiebung. Oder früher? Nach dem zweiten Kaffee packte ich meine Sachen zusammen, zog mir die Daunenjacke über und verließ das Hotel.

Meine Tasche war wirklich schwer. Ich steuerte direkt den Hafen an. Der bestand im Wesentlichen aus einer langen Pier, die fast senkrecht von der Uferstraße aus in den Beagle-Kanal hinaus ragte. Der Beagle-Kanal ist einer der unzähligen Wasserstraßen zwischen den Inseln. Für jeden Kapitän bestimmt eine Herausforderung. Am Pier war genug Platz für einige größere Schiffe. Ich hatte keine Ahnung, wo mein Schiff festmachen würde. Ich suchte einem Unterstand, denn der Himmel zog sich bedrohlich zu. Draußen in der Bucht waren Schaumkronen zu sehen. Windstärke sechs würde ich sagen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob die Kieler Bedingungen auch hier gelten würden. Zumal überall dunkle Berge zu sehen waren, viele mit einer Schneekuppe. Der offene Ozean war erst dahinter. Ein paar Möwen jagten kreischend über meinen Kopf dahin. Kalt. Salzgeruch. Am Anfang der Pier lagen einige kleinere Passagierschiffe, Doppelrumpfschiffe, vielleicht Fähren, die zwischen all den Inseln verkehrten. Passagiere waren allerdings nicht zu sehen. War jetzt Nebensaison? An Land waren einige Lagerhallen und kleinere Gebäude. Dort würde ich mich bei einem Regenguss in Sicherheit bringen können. Der ganze Hafenbereich machte einen etwas unbenutzten Eindruck, frisch gefegt. An einer blauen Wellblechwand ließ ich mein Gepäck von der Schulter gleiten. Leichte kreisende Bewegungen vertrieben den Schmerz. Ich entdeckte nahe den Fährschiffen einen Imbiss und schlenderte hinüber. Kein Schiff in der Bucht. Weil ich nichts anderes zu tun hatte und das Kleingeld in meiner Hosentasche weiter reduzieren wollte, nahm ich einen Kaffee im Pappbecher und ging wieder zurück zu meinem Gepäck. Der Kaffee war heiß und während der zweiten Hälfte des kurzen Weges verbrannte ich mir vier Finger an zwei Händen.

Ich setzte mich auf meine Tasche und lehnte mich an das blaue Wellblech. Die Sonne kam heraus und wärmte mein Gesicht. Leuchtende Reflexionen brannten auf den Innenseiten meiner Lider. Ich hatte Katja versprochen, mich zu melden, wenn ich das Schiff erreicht hätte. Gibt es etwas Schöneres, als mit einem Becher heißen Kaffee an einem Hafenbecken in der Fremde an einer von der Sonne erwärmten Wellblechwand zu sitzen? Ruhe. In Fuhlsbüttel hatte ich noch laufen müssen, um die Boardingzeiten meines Flugzeuges nicht zu verpassen. Mein Mitbewohner hatte mich zum Flugplatz gefahren. Etwas zu spät waren wir losgekommen, typisch für ihn. Er hatte sich bei einem Kumpel einen Wagen ausgeliehen. Irgendwo gab es Probleme bei der Absprache. Jedenfalls kamen wir später los, als ich geplant hatte. Kein Problem, behauptete er und holte das Letzte aus dem kleinen Auto heraus. Ich dachte kurz an die Kommissarin. Es fühlte sich hier an wie Sommer in Kiel. Ich stöpselte mir meine Kopfhörer ein und suchte in meinem Handy einen lokalen Radiosender mit Tangomusik. Mehrere Sender spielten Musik dieser Richtung. Traditionsbewusst. Ich entschied mich für den dritten. Vielleicht war es der Sender, den ich schon im Taxi vom Flugplatz zum Hotel gehört hatte. Katja, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zum Telefonieren. Oder doch besser meine Eltern anrufen. Erst noch ein wenig in der Sonne sitzen und beim Tango die fremde Ruhe aufsaugen.

Vereinzelte Gesprächsfetzen vom Betreuungsprofessor meiner Doktorarbeit, meinem ehemaligen Betreuer, drangen in mein Bewusstsein. Drängten an die Oberfläche und signalisierten noch deutlicher, dass ich hier, weit weg, richtig war. Wurden aber immer intensiver und drohten, die realen Eindrücke zu überdecken. Ich stand auf.

„Katja?“ Die Verbindung knackte, als sie endlich abhob und ich hörte neben meiner eigenen noch mindestens drei weitere Stimmen. „Ich bin es. Ich bin jetzt fast am Südpol. Kannst du mich hören?“

„Ja“, kam es zart zurück. „Aber nur schlecht. Bist du schon auf See?“ Eine der weiteren Stimmen stellte eine Frage.

„Nein, noch nicht, ich bin hier in Ushuaia und warte jetzt am Hafen auf das Schiff. Und ich muss dir sagen, du hast mir das Leben gerettet.“

Katja oder eine der anderen Stimme wollte mich unterbrechen, doch ich fuhr fort.

„Doch wirklich, ich weiß es jetzt ganz genau, hier bin ich richtig. Es war die absolut richtige Entscheidung. Ich wäre in Kiel nichts mehr geworden.“ Irgendeine spanische Antwort in doppelter Geschwindigkeit.

Ein Signalhorn erfüllte die gesamte Bucht. Ein kleines, blaues Schiff kam direkt auf den Hafen zu. Mein Schiff?

„Katja, ich glaube, das Schiff kommt jetzt.“

Ich hörte nur noch ein Durcheinander von leisen Stimmen und konnte Katjas Stimme nicht mehr heraushören. Das kleine Schiff sah einsam vor dem dramatischen Hintergrund aus.

„Katja? Danke, danke für alles. Wir sehen uns in drei Monaten wieder! Und Katja? Kannst du bitte meinen Arbeitsplatz aufräumen, einfach alles wegwerfen, okay? Alles wegwerfen.“

Den Rest schrie ich ins Telefon und war mir trotzdem nicht sicher, ob sie das noch hören konnte. Ich hatte Kiel überstürzt verlassen und keine Zeit mehr zum Aufräumen meines Arbeitsplatzes gehabt. Es tat mir natürlich Leid, Katja mit meinem akademischen Müll so allein zu lassen. Sie hatte mich einfach hinaus geschickt. Die Zeit wäre knapp und ich müsse zu Hause noch packen. Sie werde am Institut den Rest schon regeln. Viel wäre es ja nicht, hatte sie mit einem mitleidigen Blick auf meine fast leeren Bücherregale gesagt. Also hoffte ich, dass sie erstens meine Bitte verstanden hätte und zweitens es ihr nicht allzu viel ausmachen würde, alle meine Ausdrucke, Kopien und Konzeptpapiere in den Mülleimer wandern zu lassen. Einfach wegwerfen war mein Gedanke dabei. Nichts durchsehen, sortieren oder abheften, was eher Katjas Arbeitsweise war.

Ich steckte mein Handy ein und trat an die Kaimauer. Wie spät war es jetzt eigentlich in Kiel? Ich rechnete nach. Das kleine Schiff hielt immer noch auf den Hafen zu und wurde schnell größer. Klein war es bestimmt nicht. Wahrscheinlich mein Schiff. Die Aufbauten sahen nach Forschungsschiff aus und ich glaubte es von Abbildungen her wiederzuerkennen. Ein paar weitere Personen sammelten sich an der Kaimauer. Ein Lieferwagen kam angefahren und blieb mit laufendem Motor stehen. Ich schaute auf die Uhr. Der Fahrer vom LKW gesellte sich zu den anderen Wartenden. Hatte ich jetzt Katja morgens um fünf aus dem Bett geklingelt? Wie spät war es in Kiel? Ich nahm mein Gepäck und ging auf die Gruppe zu. Ich sollte Katja ein Geschenk mitbringen. Aber das hatte noch Zeit. Andererseits im Packeis gab es keine Geschäfte. Aber hier am Hafen waren auch keine Geschäfte zu sehen. Nur der Imbiss. Also später.

Meine Frage nach dem Schiff verstand natürlich niemand. Ich konnte es aber auch nur in Englisch formulieren. Es waren alle sehr bemüht. Sie stellten Fragen, die ich nun wiederum nicht verstand. Lediglich das Wort „científico“ kam mir bekannt vor. Da es grob in die richtige Richtung zu weisen schien, bejahte ich vorsichtig. Anerkennendes und verstehendes Nicken. Einer erklärte den anderen etwas mit großen Worten. Ich verstand nichts. Die Gespräche drohten zu verstummen. Der Mann zu meiner Linken zündete sich eine Zigarette an. Der erste fragte wieder etwas und wies mit der Hand zum Himmel. Ich sah hin, konnte aber nichts erkennen und verstand nicht, was er meinte. Er wiederholte die Frage. Dann war es klar. Er wies nach Süden und das Wort „antárctico“ fiel. Genau richtig. Ja, da wollte ich hin. Zumindest in die Nähe. Er nickte wieder und freute sich über den Fortschritt unserer multilingualen Kommunikation. Mein Schiff ließ wieder sein Signalhorn durch die gesamte Bucht schallen. Diesmal schon ziemlich laut. Es war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Deutlich konnte ich die Aufbauten erkennen. Sie leuchteten in der Sonne. Im Hintergrund hohe, dunkle Berge mit vereisten Gipfeln. Über mir wieder kreischende Möwen, schlanker als die Möwen in Kiel. Ich fühlte mich wie als Kind zu Weihnachten. Oder wie am Steuer des Porsches, keine Ahnung, warum mir das gerade wieder einfiel. Zu Hause hing ein zerschrammtes Lenkrad an der Wand. Mein Gesprächspartner blickte genauso gespannt wie ich dem Schiff entgegen. Mein Schiff. Mein Zuhause für die nächsten drei Monate. Schön sah es aus, als es in der Sonne im sachten Bogen auf den Anleger zuhielt. Er nickte.

Es dauerte noch einen Moment, bis das Schiff längsseits des Anlegers die Fahrt stoppte. Die Bug- und Heckstrahlruder schäumten das Hafenwasser laut auf, als es langsam auf die Kaimauer zu glitt. Hafenarbeiter standen jetzt am Kai und fingen rufend die zugeworfenen Leinen auf. Daran zogen sie kräftigere Tampen an Land und Motorwinden zogen diese fest. Die Möwen kreischten und die sich spannenden Seile spuckten seltsame Geräusche hervor.

Das Schiff war fest vertäut, aber die Maschinen machten weiter Krach. Jetzt, da das Schiff direkt neben mir lag und ich es fast mit ausgestrecktem Arm anfassen konnte, war es deutlich größer, als es anfangs schien. Ich legte den Kopf in den Nacken, um die Aufbauten sehen zu können. Ein Kran schwenkte über die Bordwand. Meine spanische Konversationsgruppe hatte sich aufgelöst. Der wartende Transporter kam rückwärts näher herangefahren. Ein Kollege winkte den Wagen heran und ich trat zur Seite. Wahrscheinlich sollten noch mehr Ausrüstungsgegenstände oder Proviant verladen werden. Ein Taxi kam herangefahren und stoppte.

„Hey, Cowboy. Auf dem Weg in den Süden?“

Weit über mir lehnte sich jemand in einer roten, dick gepolsterten Jacke über die weiße Reling und winkte mir gelassen zu. Vollbärtig und irgendwie als typischer Polarreisender zu erkennen. In Kiel hatte ich ihn nicht kennen gelernt. Aber hier war ich mir gleich sicher, Bernd vor mir zu haben. Spontan beschloss ich, mich in den nächsten Wochen nicht mehr zu rasieren.

„Ja, bin ich. Bernd?“

„Warte mal, ich komme runter, bin gleich da.“

Damit verschwand er wieder aus meinem Blickfeld. Es fühlte sich seltsam vertraut an, die ersten Worte in heimatlicher Sprache seit einigen tausend Kilometern zu hören (auch wenn es nur wenige Tage waren). Eine Gangway wurde ausgefahren und ein Durchgang in der Reling geöffnet. Einige von meinen wartenden argentinischen Bekannten gingen an Bord und diskutierten eindrucksvoll mit den Mitgliedern der Besatzung. Waren die Preise für die Waren noch nicht ausgehandelt? Bernd zwängte sich zwischen den Menschen hindurch und sprang die Gangway herab.

Ein kräftiger Händedruck war alles, er lief zum wartenden LKW hinüber und fragte den Fahrer etwas. In perfektem Spanisch, wie mir neidvoll bewusst wurde. Dann kam er wieder zu mir herüber.

„Hey, ist der neu?“

Bernd musterte anerkennend meinen Daunenparka und griff nach dem Preisschild. Hatte ich doch noch übersehen.

„Ich muss noch etwas mit den Ausrüstungsgegenständen regeln, bin gleich wieder da.“

„Wann geht es denn los?“, erkundigte ich mich schnell.

Bernd winkte ab. Es war noch genügend Zeit. Daher verdrückte ich mich ein wenig an die Seite, um nicht im Weg herumzustehen, und wartete ab. Der Argentinier fasste mich sachte am Arm. Er deutete auf das Schiff und sagte etwas. Ja, ich werde gleich an Bord gehen. Aber zunächst wartete ich noch auf Bernd, wo war er? Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Der Argentinier sagte noch etwas, was vielleicht gute Wünsche für die Reise waren. Ich bedankte mich.

Bernd war wieder da und wirkte jetzt deutlich ruhiger. Offensichtlich konnte er alles bestens regeln.

„Das ist unser Schiff, kein Traumschiff. Willst du wirklich an Bord? Noch kannst du es dir überlegen. Wir legen erst in drei Monaten wieder in der Zivilisation an.“

„Genau richtig. Der Südpol ist das Mindeste, was ich jetzt brauche.“

Bernd lachte. „So etwas der Art habe ich gehört. Wir werden lange Abende an Bord haben, ich bin gespannt auf die ganze Geschichte.“

Ich winkte vorsichtig ab. Eigentlich war ich hier, um zu dieser Geschichte einen möglichst großen Abstand zu gewinnen. Ein Aufwärmen lag nicht unbedingt in meinem Interesse.

„Aber komm erst einmal an Bord. Ich zeige dir deine Kammer.“

Es ging los. Kammer heißt es hier, konnte ich lernen. Bernd griff sich meinen Kamerakoffer und wir stiegen über die schwankende Gangway auf das Schiff. Den Fuß auf ein Schiff zu setzten, war für mich immer etwas Besonderes. Auch wenn das Schiff groß war und nicht unter meinen Tritt nachgab, spürte man doch ganz zart aber unmissverständlich, dass das ein schwimmendes Gebilde war. Eine ganz leichte Bewegung war es, die einen daran erinnerte, dass man ab jetzt von Wasser umgeben war. Es ist dieser Schritt vom festen Land auf das Schiff, ab jetzt als ein Fremdkörper umgeben vom Ozean.

An Deck stieß Bernd eine schwere Metalltür auf und verschwand im Schiff. Mit meiner großen Tasche hatte ich ein bisschen Mühe, ihm zu folgen. An der Treppe hatte ich ihn eingeholt.

„Wir wohnen etwas weiter unten.“ Bernd grinste.

Im Maschinenraum? Noch zwei Decks tiefer hielt Bernd vor der Tür mit der Nummer fünfundvierzig. Der Gang war eng und das gut gewischte Linoleum glänzte im nackten Deckenlicht. Viele gleiche Türen reihten sich aneinander. Bernd stieß die Tür auf und ließ mich eintreten. Ich zwängte mich vorbei und warf meine Tasche auf das Bett. Als Bernd auch den Raum betrat, war die Kammer voll.

„Nett hier, oder? Alles was man braucht ist da. Auch wenn es etwas kleiner ist. Hier ist das Badezimmer.“

Bernd öffnete eine schmale Tür zu einem noch schmaleren Badezimmer.

„Ja, ich glaube, hier kann ich es aushalten.“

Ich ging zum Fenster und zog das Rollo hinauf. Die Sonne schien herein. Es sah alles gemütlich aus. Tosende Schneestürme würde ich hier mit einem guten Buch gut abwarten können.

„Das wirst du noch brauchen. Das Rollo meine ich. Wenn wir im Süden sind, wird es nicht mehr richtig dunkel. Dann wirst du dich darüber freuen. Ich muss jetzt noch ein paar Geräte auspacken, die eben an Bord gekommen sind. Sehen, ob alles ganz geblieben ist. Vielleicht schaust du dich selber schon einmal um. Ich werde dich dann nachher herum führen und dir alles zeigen. Und dem Kapitän vorstellen. Wir werden bald ablegen. Hast du alles dabei? Noch kannst du an Land gehen. Zahnbürste?“ Er grinste.

Hatte ich. Aber wie viel Zahncreme würde ich in drei Monaten brauchen?

„Okay, dann würde ich sagen, wir treffen uns in zwei Stunden auf dem Achterdeck. Hinten im Schiff“, fügte er hinzu.

„Bernd, ich komme aus Kiel. Werde ich finden. Alles klar.“

Bernd war gegangen und ich schmiss mich mit Schwung auf das Bett. Was ich gleich bereute. Das Bett war ziemlich hart. Ich rollte mich auf den Rücken, um die schmerzende Schulter zu entlasten, und starrte an die Decke. Dämmplatten bildeten ein geometrisches Muster. Die Aussicht für die nächsten drei Monate. Nicht unbedingt. Ich hatte auch das Fenster. Davor stand ein kleiner Tisch, daran ein Stuhl. Zusammen mit dem Nachttisch am Bett die einzigen Einrichtungsgegenstände. Mehr hätte nicht hineingepasst. Ich musste mich ein wenig bücken, um die dunklen Berge vor dem unruhigen Wasser sehen zu können. Das kleine Fenster war niedrig angebracht. Nicht rund, aber mit abgerundeten Ecken. Die Sonne glitzerte auf den Wellen. Am Tisch sitzend konnte ich ausgezeichnet nach draußen sehen. Jetzt einen Kaffee. Ob ich hier auf dem Schiff einen finden würde? Bestimmt, doch wo? Oder es noch schaffen könnte, an Land mir einen zu kaufen? Ein ganz feines Vibrieren durchlief das Schiff und endete an der Tischplatte und meinen Fingerkuppen. Kurzfristig verstärkte es sich, ein Zeichen für das baldige Ablegemanöver. Ich griff mir meine Daunenjacke sowie meine Kamera und suchte den Aufstieg nach oben. Bis zum verabredeten Treffpunkt auf dem Achterdeck war noch reichlich Zeit, aber ich wollte den Abschied von der Zivilisation nicht verpassen. Der letzte Außenposten würde bald am Horizont verblassen.

An Deck sah es tatsächlich so aus, als würden wir in Kürze ablegen. Vereinzelt wurden Kommandos durch die Lautsprecheranlage geschickt und die Hafenarbeiter auf der Pier liefen erst hin und her, bevor sie dann ruhig das Manöver betrachteten. Unser Schiff ließ noch einmal und mit beeindruckender Lautstärke sein Horn hören. War es ein Abschiedsgruß oder das Zeichen, dass die Maschinen rückwärts liefen? Da kein anderes Schiff zu sehen war, welches auf das Manöver aufmerksam gemacht werden musste, war es wohl eher ein Abschiedsgruß. Nicht gerade lautlos glitt das große Schiff von der Hafenmole weg. Die Hafenarbeiter standen in einer kleinen Gruppe zusammen, rauchten und sahen dem Schiff hinterher. Ich winkte noch einmal dem Festland zu. Keiner der Arbeiter reagierte, sie hatten mich nicht gesehen. Der Lieferwagen fuhr zurück auf die Straße, ein Stück die Uferstraße entlang und verschwand dann zwischen den Häusern. Dort auf der Uferstraße, nahe dem Museum, hielt ein Reisebus und die Reisenden begannen auszusteigen. Bei genügend großem Abstand zum Ufer drehte unser Schiff. Langsam glitt der Hafen aus meinem Blickfeld. Daher suchte ich das Achterdeck auf. Was zugegebener Maßen nicht ganz leicht war. Nach etlichen Treppen und schmalen Gängen stand ich an der Reling und machte Fotos von Ushuaia in der Mittagssonne. Immer wieder brachen imposante Strahlen durch die Wolken und platzierten Spots auf den sonst dunklen Bergen und dem aufgewühlten Wasser. Vereinzelte Schaumkronen leuchteten hell auf. Die Bilder sahen kälter aus, als es eigentlich war. Anfangs war. Der Wind frischte immer weiter auf, je weiter wir von der Küste wegfuhren. Meine Polarkleidung würde ich brauchen, da war ich mir jetzt ganz sicher. Nach dem zehnten oder zwanzigsten Bild ließ ich die Kamera am Hals baumeln und schaute zurück auf das aufgeschäumte Heckwasser unseres Schiffes. Wir hatten jetzt Fahrt aufgenommen und fuhren durch die Inselwelt dem offenen Ozean entgegen.

Meine subpolare Naturbetrachtung wurde jäh durch das hier ziemlich fremde Geräusch meines Handys unterbrochen. Dieses Geräusch katapultierte mich augenblicklich zurück nach Kiel: Regenwetter, Dunkelheit, Doktorarbeit, versäumte oder zu lange schleifen gelassene Abgabetermine. Mit ungutem Gefühl fischte ich das Gerät aus meiner Jackentasche. Ich hätte es ausschalten sollen und holte erleichtert Luft.

„Hallo Mama.“

Wo ich denn ständig nur wäre. An den Festnetzanschluss würde ich nicht gehen und der Handyempfang jetzt wäre ja wirklich schlecht. Ob ich nicht mal kurz nach draußen gehen könne.

Ich musste lachen. Obwohl ich jetzt komprimiert meinen veränderten Lebensweg nicht nur darlegen, sondern auch noch verteidigen müsste. Vielleicht käme ich wegen eines nur kurzen Telefonats um die Rechtfertigung herum.

„Ich bin draußen“, begann ich ganz am Anfang. „Aber ich bin am anderen Ende der Welt, in Argentinien. Beziehungsweise jetzt auf einem Schiff mit Richtung Südpol. Grobe Richtung“, ergänzte ich.

Sie fragte, wo ich wäre. Der Empfang wäre schlecht, sie könne mich nicht verstehen. Nein, sie hatte nicht Südpol verstanden.

Ich wiederholte meine Ortsangaben.

„Mama?“

Sie war noch dran. Wie weit reichten die Funkmasten von Ushuaia? Ich hatte das Gefühl, dass ich die wichtigen Dinge schnell klären müsste. Bald würde der Handyempfang gänzlich abreißen. Einer von der Besatzung deutete an, dass er genau dorthin musste, wo ich gerade stand. Ich machte an der Reling Platz und er begann ein Arm dickes Seil einzuziehen.

Ob die Reise für meine Forschungen wäre. Forschung war ja irgendwie richtig, das ließ ich mal so stehen. Aber meine Forschungen waren es nicht. Ich hatte hier an Bord andere Aufgaben. Es war eigentlich ein Job. Vielleicht nicht in ganz gewohnter Umgebung. Aber irgendwie ein Job. Ob ich mir mit der Reise eine Pause von meiner Doktorarbeit leisten könne, wollte sie besorgt wissen. Ob sie den finanziellen oder den zeitlichen Aspekt meinte, war mir nicht klar. Aber Pause, das war definitiv falsch. Das sollte ich richtigstellen. Das hätte ich richtigstellen müssen. Der Empfang wurde deutlich schlechter. Alle Sätze mussten zwei bis dreimal wiederholt werden. Jetzt wirklich nur das Wichtigste: meine zeitlich beschränkte Erreichbarkeit.

„In drei Monaten bin ich zurück. Hallo? Mama? In drei Monaten.“

Ich hörte nur noch kurz die Stimme meiner Mutter ganz leise, dann brach das Gespräch ab. Das Display zeigte keinen Empfang mehr.

„Das kannst du jetzt wegpacken. In der nächsten Zeit gibt es keinen Empfang mehr.“

Der Seemann kontrollierte seine aufgerollten Seile und trottete davon. Das war jetzt in allerletzter Minute und irgendwie zu kurz. Ich müsste in der nächsten Zeit mit dem Satellitentelefon noch einmal nachfragen, ob sie alles verstanden hatte. Zumindest meine zwischenzeitlich eingeschränkte Erreichbarkeit.

In einem sanften Bogen lag unsere Spur aus weißem Schaum auf dem bewegten Wasser. Bis zum Hafen von Ushuaia reichte diese Spur zurück. Und auch diese Verbindung zum Festland verwischte sich immer mehr. Bald würde davon nichts mehr zu sehen sein. Und das war gut so. Je mehr Wasser zwischen mir und dem Festland lag, umso besser. Kurz hatte ich das Bedürfnis, mein Handy ins tiefe Wasser zu werfen. Einfach alle Brücken abzubrechen. Aber dann wurde mir bewusst, dass ohne Empfang diese Brücke sowieso nutzlos wäre. Ich schaltete es aus und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Einige Möwen schwebten fast bewegungslos dem Schiff hinterher. Das aufgeregte Kreischen im Hafen hatte sich gelegt. Ruhig beäugten sie mich von der Seite und glichen eine Windbö mit minimaler Flügelveränderung aus.

Ein Neuanfang. Das spürte ich ganz deutlich, als ich zurückblickte. Auf diesem zwar recht stattlichen Schiff, aber im Vergleich zum Ozean doch winzigen Nussschale, fühlte ich mich so vollkommen sicher, wie schon seit langem nicht mehr. Niemand konnte mich hier finden. Unerreichbar für alles, auch Nachrichten. Unauffindbar. Komplett abgenabelt zu meiner Kieler Zeit. Ein Schnitt, wie er deutlicher kaum sein konnte. Nicht eine Auszeit, ein Neuanfang. Auch kein Richtungswechsel, etwas ganz Neues. Und spannend dazu. Ich wollte Eisberge sehen, mit Walen schnorcheln oder unter das Packeis tauchen. Sonnencreme. Ich hatte die Sonnencreme vergessen. War nicht über der Antarktis die Ozonschicht sehr dünn? Schnorcheln und Tauchen gehörten natürlich nicht zu meinen Aufgaben und auch nicht zu meinen praktizierten Sportarten. Aber sehen und wenn möglich auch anfassen wollte ich alles.

Es könnte ungemütlich werden, hatte Bernd gesagt. Er meinte damit den Seegang. Die brüllenden Vierziger. Nur ein paar Tage, dann wäre es überstanden. Ich kam aus Kiel. Ich wusste nicht nur, wo achtern beim Schiff war, ich war auch einigermaßen seefest. Die ersten Symptome ignorierte ich. Völlig überrascht warf ich mein Buch weg, mit dem ich den Sturm aussitzen wollte, sprang vom Bett auf und schaffte es beim beginnenden Würgen gerade noch bis zum Waschbecken. Ich umklammerte die winzige Blechschüssel, um vom Schlingern des Schiffes nicht umgeworfen zu werden. Meine Zahnbürste nebst Zahnputzbecher rollten über den Fußboden. Mit einem leichten Scheppern stieß der Becher an die Wand und machte sich auf den Rückweg. Rollendes Geräusch bis er an die Wand sprang und wieder zurück musste. Ein Schluck kaltes Wasser beruhigte ein wenig meinen Magen. Der beißende Geschmack blieb. Auf den Horizont schauen, erinnerte ich mich. Einen festen Punkt für das Auge suchen. Ich ließ das Waschbecken zögerlich los und stolperte zurück in mein Schlafzimmer. Meine Tasche lag am Boden und bewegte sich zart synchron zu den Schiffsbewegungen. Ich musste mich ein wenig bücken, um den Horizont sehen zu können, beziehungsweise den Bereich, den ich für den Horizont hielt. Tiefe Wellentäler und weiße Gischt in dreckigen Streifen zogen an meinem Fenster vorbei. Weit konnte ich nicht sehen. Bald verschwamm alles in dunklem grau. Meine Versuche, die Balance zu halten, hatten zur Folge, dass mein Bullauge vor mir auf und ab tanzte. In meiner jetzigen Verfassung pures Gift für meinen Magen. Also an Deck. Frische Luft wäre sowieso das Beste. Obwohl in einer Lautsprecherdurchsage auf die Gefahren im Freien hingewiesen wurde. Ich versuchte, mich zu orientieren und die Leeseite an Deck zu erwischen. Auf der anderen Seite hätte ich die Tür gegen den Wind nicht aufstemmen können.

Ich war nass, bevor ich den Türgriff losgelassen hatte. Unter Deck war es laut gewesen. Das Schiff ächzte und immer mal wieder waren dumpfe Schläge zu hören, die ein gesundes Vertrauen in die Technik verlangten. Aber draußen war der Krach deutlich stärker. Niederprasselnde Wellen, zischender Wind in den Masten der Kräne und den Aufbauten sowie das Aufschlagen des Schiffs auf Wellentäler vermischten sich zu einem fast homogenen Klangteppich in erdrückender Dichte.

Zwischen Reling und Rettungsboot fand ich mich beim nächsten Wellental wieder und klammerte mich am Befestigungsarm des Bootes fest. Ich musste mich wieder übergeben. Richtige Seite – ging es mir noch durch den Kopf, bevor ich mich zusammenkrampfte und kniend zwischen zwei Würgeattacken nach Luft rang. Das Würgen nahm kein Ende. Der Regen peitschte mein Gesicht. Immer noch froh, nicht mehr in Kiel zu sein? Das Schiff machte einen kleinen Sprung und einen Moment lang verlor ich den Halt. Meine Hände verkrampften sich an dem eisigen Eisen der Reling. Nie mehr loslassen. Verschweißt mit dem Metall. Zum beißenden Geschmack im Mund und Rachen kam jetzt noch das Salz. Tränen oder Salzwasser. Meine Arme schmerzten. Es war ein seltsames Gefühl fest an das Schiff geklammert dessen Bewegungen zu folgen. Die Bewegungen waren weit und gleichmäßig (viel weiter ausholend, als ich es je gedacht hätte), aber überlagert von kurzen, unregelmäßigen Stößen.

Ja, ich war froh, dort zu sein. Ich schrie gegen das Getöse aus Wind und Wassermassen an und war überzeugt, dass ich dennoch nicht zu hören war. Und es tat gut. Ich war mir sicher, dass die Seekrankheit vorübergehen würde, ohne Panikattacken. Graupelkörner bohrten sich in meine Haut. Ich stieß mir den Kopf am Geländer. Die Kälte zerrte an meinen Kräften und das nasse Hemd knallte im Wind. Zeit, wieder zurück in die Koje zu gehen. Wenn da nicht die paar Meter nassen, glatten Decks wären, welches ich überbrücken müsste. Ich wartete ein Wellental ab, um zumindest grob in Richtung Tür zu fallen, und ließ mein Geländer los.

Zittrig vor Kälte und Anstrengung taumelte ich an der Essensausgabe vorbei, um mich ein wenig mit zuckerhaltigen Getränken einzudecken. Ich begegnete niemanden auf meinem mühsamen Weg. Ein Geisterschiff. Zurück in meiner Kammer zog ich erst das Rollo runter (der Anblick der richtungslosen Wassermassen war der reinste Horror) und ließ mich dann auf das Bett fallen. Mit ganz kleinen Schlucken gelang es mir ganz passabel, etwas zu trinken. Es kamen zwar keine weiteren Durchsagen mehr aber trotzdem oder gerade deswegen hoffte ich, dass die technische Grenze unseres Schiffes noch nicht erreicht und die Besatzung noch an Bord wäre. Ganz tief in meinem Inneren war ich aber immer noch zufrieden oder gar glücklich. Obwohl mein Kopf von dem Schlag gegen die Reling schmerzte, die Bewegungen des Schiffs beängstigend waren und kleinste Gedankenfetzen an feste Nahrung mir Würgeanfälle bescherten. Dem Unglück gerade noch entkommen. Wie Robinson Crusoe, der beim Erwachen nach dem Schiffbruch zwar nasses aber doch festes Land unter seiner Wange spürte. Nur mit dem Unterschied, dass ich das Festland verlassen hatte und mich jetzt auf hoher See befand. So dämmerte ich dem Süden immer näher.

„Na, schon eingelebt hier an Bord?“

Ich erkannte Bernd im Dämmerlicht schemenhaft. Er beugte sich über mich und sah mich aufmerksam an.

„Geht so.“ Matte, müde Worte. Ich musste irgendwann eingeschlafen sein.

„Na los, dann auf, wir gehen etwas essen. Und die Lüftung solltest du einschalten.“

„Alles, nur das nicht.“ Ich meinte das Essen und hatte noch immer nicht den geringsten Appetit.

„In Ordnung, dann zieh dir mal was über, ich zeige dir etwas.“

Er sah sich um und verkniff sich offensichtlich einen Kommentar.

Den Inhalt meiner Tasche hatte ich noch nicht in die Wandschränke sortiert. Zwei Tage lang rollten meine Sachen über den Fußboden und blieben am Ende erstaunlich gleichmäßig verteilt liegen. Mit wackeligen Knien suchte ich eine Hose und einen Pullover heraus.

Das Schiff machte keine bockigen Bewegungen mehr und die Maschine war kaum zu hören. Ich folgte Bernd die Treppe nach oben und war nicht auf das gefasst, was ich dann sah. Bernd stemmte die schwere Metalltür auf und verschwand im gleißenden Licht. Ich war derart geblendet, dass ich die Augen einen Moment lang schließen musste. Außerirdische hatten ihren Leitstrahl auf uns gerichtet. Ich orientierte mich am Treppengeländer und folgte ihm tastend in die eiskalte Luft nach draußen. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ein spiegelglattes, dunkelblaues Meer. Fast spiegelglatt, die Wogen des vergangenen Sturms hoben und senkten unser Schiff immer noch sehr sanft. Weiße Eisberge glänzten schimmernd und setzten sich als Spiegelbilder im Blau fort. Über allem ein fast so dunkelblauer Himmel wie das Wasser. Blau in allen Schattierungen. Blau. Und die Sonne. Sonst nichts bis zum Horizont. Und das war weit.

„Da, schau!“

Bernd wies mit ausgestrecktem Arm aufs Wasser hinaus. Langsam und mit einer bewundernswerten Ruhe tauchten ein paar Wale auf und bliesen mit einem eigenartigen Geräusch ihren Atem in die eiskalte Luft. Ich war überwältigt. Ich konnte nur noch schauen. Dieser Kontrast zu den letzten Tagen hätte kaum größer sein können. Oder zu den letzten Monaten. Ein Paradies aus Wasser, Sonne, Eis und einigen Lebewesen. Ich beschloss, den Rest meines Lebens hier an der Reling zu stehen und diese Ruhe und Gelassenheit zu leben. Der Zauber war nicht zu übersehen. Es war durchgestanden, überstanden. Ich war angekommen und atmete tief durch. Und musste husten. Die kalte Polarluft reizte die Bronchien. Eine anstrengende Zeit lag hinter mir, wenn ich es mal so neutral ausdrücken soll. Aber hinter mir und vor mir dieses tief blaue Meer.

Das traumhafte Polarwetter hielt weiter an. Bei dem Wetter wäre die Expedition von Shackleton ganz anders verlaufen. Und hätte sicher nicht die Popularität erreicht, wie die dramatische Rettungsaktion der Expeditionsmitglieder. Nach dem ersten Stopp an den ersten Eisbergen, nachdem unsere Biologen ihren ersten Kontakt mit den Walen ausgiebig dokumentiert hatten und ich die ersten Fotos gemacht hatte, fuhr unser Schiff immer weiter nach Süden. Für mich gab es dabei wenig zu tun, sodass diese Tage, abgesehen von den ersten Polarfotos, aus dem Erkunden des Schiffes und den gemeinsamen Essen mit Bernd und seinen und jetzt auch meinen Kollegen in der Kombüse bestand. Gemäß alter Seemannstradition war das Essen erstaunlich gut. Drohende Meutereien wurden schon oft mit gutem Essen oder einer Extraration Rum abgefedert.

Beim Nachtisch rief mich die Lautsprecherdurchsage zu den Satellitentelefonen. Die Gespräche bei Tisch verstummten einen Augenblick und meine neuen Kollegen schauten überrascht auf. Ich guckte Bernd fragend an, er zuckte die Achseln, zeigte mir aber eilig den Weg zu den Telefonen. Es musste dringend sein. Ich nahm den Hörer ab, das Gespräch wurde vermittelt. Es knackte und rauschte ein wenig. Ich fühlte mich hundert Jahre zurückversetzt in der Kommunikation. Als ich „Hallo?“ sagte, begriff ich, dass die Verbindung schon bestand. In der Stille hinein erkannte ich, dass ich nicht allein am Telefon war.

„Reimann hier.“

Trocken, tonlos, eine einfache Information. Mit Konsequenzen. Wie hatte er mich hier am Ende der Welt? Unmöglich, woher wusste er? Mit einem Mal war ich nicht mehr zehntausend Kilometer von Kiel entfernt. Nebenan, im Einflussbereich dieses Mannes. Ich suchte mit dem Blick Bernd, konnte ihn aber nicht erblicken. Alle anderen gingen ihrer Arbeit nach oder scherzten an der Ecke zum Gang. Die junge Biologiestudentin zeigte zwei Wissenschaftlern etwas und erntete herzhaftes Lachen. Waren es Fotos?

„Sind Sie noch dran?“

Klar und deutlich. Die paar Tage unter südlicher Sonne konnten nicht ausreichen, einen wirklichen Abstand zu meiner Zeit in Kiel herzustellen. Da reichten auch zehntausend Kilometer nicht. Ich war sofort wieder zurück an meinem Arbeitsplatz. Eingeholt von meiner Vergangenheit. Eben nicht Vergangenheit. Gegenwart. Reimann hatte mich aufgespürt. Wie konnte es nur so weit kommen? Mir war warm. Heiß. Das Telefon war an der Wand befestigt. Ich konnte mich nicht mehr als eineinhalb Meter davon entfernen. Es hatte so harmlos begonnen. So erfolgreich, so aussichtsreich. Was waren meine Eltern stolz auf mich. Ich muss sie anrufen, ging es mir durch den Kopf. Einer von der Besatzung fasste mich sanft an der Schulter und deutete auf die straff gespannte Telefonschnur. Was wollte Reimann, konnte er nicht akzeptieren, dass ich jetzt weg war? Das waren die Konsequenzen, die ich bereit war zu tragen. Wir hatten uns eben getäuscht. Wir hatten akribisch die Einzelteile zusammengefügt. Lücken hatten wir durch logische Schlussfolgerungen geschlossen. Das Ganze hatte immer mehr Gestalt angenommen. Wir hatten unseren logisch geschulten Verstand eingesetzt und mühsam die Wahrheit aus dem Wust überflüssiger Informationen herausgeschält. Letztendlich hatte das Bild konkrete Konturen angenommen. Es hatte gepasst, mehr oder weniger. Es hatte logisch richtig ausgesehen. Zumindest annähernd. Im Rahmen des Möglichen. Und dann waren es doch nur Zufälle. Eine Kette von Ereignissen. Kein kausaler Zusammenhang.

Wenn ich hätte den Anfang benennen sollen, dann war es sicher der plötzliche Tod von meinem ersten Doktorvater. Würde er noch leben, wäre alles anders verlaufen. Mit seinem Tod hatte alles angefangen. Auf einer Sympathieskala von eins bis zehn pendelte er sich sowieso nur bei einer Fünf ein. Aber nach seinem Tod und dem, was er mir dadurch eingebrockt hatte, sank er nochmals um ein bis zwei Punkte. Denn, obwohl tot, war er daran keinesfalls unbeteiligt.

Aus Rücksicht auf die noch lebenden Personen sind im Folgenden alle Namen verändert. Auch die Schauplätze, zum Beispiel das Forschungsinstitut, gibt es so nicht. Der hauptsächliche Handlungsort ist die Stadt Kiel, könnte aber jede andere norddeutsche Universitätsstadt sein. Meine Erlebnisse stehen hier im Mittelpunkt, nicht eine Kette von kausalen Fakten.

Es begann etwa ein halbes Jahr vorher.

1. Kapitel

Das Fauchen der Espressokanne weckte mich aus meinen Träumen. Ich wollte den Tag etwas früher beginnen und war beim Warten auf den Kaffee schon wieder in einen Schlaf ähnlichen Zustand gerutscht. Mit dem Dampf verbreitete sich das Kaffeearoma in unserer kleinen Küche. Mühsam erhob ich mich und goss mir einen Kaffee ein. Leise knisterte der Toast im Toaster. Die Wanduhr vom Flohmarkt tickte gleichmäßig aber fünf Minuten zu spät.

Hans, mein Mitbewohner, schloss die Wohnungstür auf. Er kam jetzt erst nach Hause. Erschöpft ließ er sich auf dem Küchenstuhl fallen. Dankbar nahm er eine Tasse Kaffee. Er brachte Kälte und den Geruch von Nässe und Zigarettenrauch mit herein.

„Das war zu lange. Eindeutig.“

Er sah fertig aus. Logisch. Obwohl ich geschlafen hatte, stand ich noch immer neben mir. Nach mehreren Schlucken Kaffee schleppte Hans sich in sein Zimmer. Schlafen. Alles andere musste warten. Ich dagegen hängte mir die Tasche über und verließ die Wohnung. Hoch motiviert, nahm ich mir jedenfalls vor. Draußen war es noch dunkel, kalt. Ideal, um aufzuwachen. Der Weg war zu kurz, um das Fahrrad aus dem Keller zu holen, aber weit genug, um beim leichten Regen nass zu werden. Heute wollte ich mal richtig etwas schaffen. Ich war stolzer Doktorand am Institut für angewandte Umweltforschung in Kiel. Die orientierungslose Anfangsphase der Doktorarbeit war fast überstanden. So langsam wusste ich, was ich wollte, was mein Professor von mir wollte. Vereinzelte Textpassagen oder zumindest Konzepte gelangen mir schon ganz gut. Vernichtende Korrekturtermine bei meinem Betreuer wurden zunehmend seltener. Ich realisierte immer mehr, dass ich in der Wissenschaft angekommen war.

Dabei war ein Doktortitel durchaus nicht immer Bestandteil meiner gewünschten Berufsbiografie. Ich hatte mein Studium bereits ein paar Jahre zuvor abgeschlossen und mit dem Diplom in der Tasche verschiedene Jobs angenommen. Kein Job konnte mich richtig begeistern. Allerdings hatte auch das Studium mich nicht richtig begeistert. Nach dem Abschluss hatte ich keine klare Vorstellung davon, wie mein weiteres Leben aussehen sollte. Ich probierte ein wenig herum, wurde aber immer mutloser. Diese Unzufriedenheit (sehr subjektiver Eindruck, viele, so auch meine Eltern, waren oder wären sehr zufrieden mit meinem geregelten Berufsleben) bekam hin und wieder energischen Rückenwind durch meine Oma. Ja, meine Oma.

Meine Oma verkörperte in etwa das Gegenteil von dem, was meine Eltern sich für meine berufliche Entwicklung gewünscht haben. Die Wünsche meiner Eltern tendierten zu einer soliden Ausbildung, gefolgt von einer gesicherten Anstellung innerhalb eines anerkannten Unternehmens. Obwohl ich die ersten sechs Lebensjahre überwiegend bei meiner Oma lebte, konnte ihre Lebensart nicht auf mich abfärben, leider wie sie sagte (zum Glück, wie meine Eltern dachten). Aus Sicht meiner Oma war ich genauso konventionell wie mein Vater, ihr Sohn. Bei ihm waren ihre Bemühungen umsonst gewesen. Bei mir hatte sie noch Hoffnung. Als ich später wieder bei meinen Eltern wohnte, blieb meine Oma trotzdem meine wichtigste Bezugsperson. Ich mochte ihre impulsive Art. Ihre Begeisterung war ansteckend. Sie versuchte immer wieder, mich aus dem geregelten Leben zu holen („Das kann warten, bis du alt bist.“). Am liebsten hätte sie mich in einer Zirkusgruppe in Südfrankreich gesehen oder zumindest als Lehrer im Tschad. Als sie hörte, dass ich mal in der Kletterhalle trainierte, mobilisierte sie bereits all ihre Kontakte, um mir eine Expedition ins Himalaja zu ermöglichen (und sie hatte Kontakte, ich musste tatsächlich zwei Anrufe tätigen, um das Vorhaben zu stoppen). Sie war es dann auch, die noch kurz vor ihrem Tod mich deutlich ermunterte, die Doktorstelle anzunehmen, zumindest eine Bewerbung abzugeben. Innerlich dürfte sie allerdings auch bei dieser beruflichen Ausrichtung geschaudert haben. Aber sicher war sie der Meinung, besser etwas Neues, als den gleichen Trott weiter zu machen. Oder sie hatte eine ihrer typischen Vorahnungen. Denn wenn ich alles zusammen betrachte, dann würde ich vermuten, dass mein Lebensabschnitt mit der Doktorarbeit genau nach ihrem Geschmack war. Obwohl oder gerade weil er sich ganz anders entwickelte, als ich angenommen hatte.

Ich hatte mich am Institut eingelebt und begeisterte mich langsam für das Thema meiner Arbeit. Eine notwendige Eigenschaft, wie Professor Oster, mein Betreuer, bemerkte. Als Doktorvater war er nicht unbedingt meine erste Wahl (falls ich ihn vorher schon gekannt hätte, hatte ich aber nicht) und seine cholerischen Anfälle hatten mir anfangs sehr zu schaffen gemacht. Aber er hatte auch ganz menschliche Momente. Ganz umgänglich. Sogar eher unkonventionell. Er kam aus Dresden. Dort hatte er eine Professur, bevor er nach Kiel kam. Im Grunde kamen wir beide gleichzeitig als die Neuen ans Institut. Eine Gemeinsamkeit, die uns verband, zart aber manchmal spürbar. Bei ihm zog sich der Abnabelungsprozess aus Dresden noch eine ganze Weile hin, sodass er zwischen Kiel und Dresden hin- und herpendelte. Dazu kam, dass er unzufrieden mit der Ausstattung seiner Kieler Büroräume war. Er konnte es durchsetzen, dass diese aufwendig renoviert wurden, bis er dort tatsächlich einzog. Das hatte zur Folge, dass er an seinen Kieler Tagen mein Büro belegte. Tage, an denen ich auf andere Räume oder die Bibliothek ausweichen musste. Es kam aber eher selten vor, meist ohne vorheriger Absprache oder Ankündigung.

Eine Nebenerscheinung der zunehmenden Identifikation mit der Forschung war die, dass ich mein bisheriges soziales Leben immer mehr vernachlässigte. Fuhr ich bisher immer mal wieder nach Lübeck, um Freunde oder meine Eltern zu besuchen, wurden jetzt diese Ausflüge seltener. Aus dem einfachen Grund, weil ich weniger Zeit hatte. Die Beschäftigung mit meiner Doktorarbeit erforderte mehr als einen acht Stunden Tag. Vielleicht auch, weil wir eher Ergebnis orientiert arbeiteten und sich Ergebnisse nicht automatisch nach acht Stunden Arbeitszeit einstellten. Dazu kam, dass es allen oder zumindest den meisten Doktoranden genauso erging. Aus dieser Schicksalsgemeinschaft heraus entwickelten sich schnell Freundschaften. Die wurden umso fester, je mehr Schicksal wir miteinander geteilt hatten. Und Gelegenheiten für größere und kleinere Schicksalsschläge gab es reichlich. Zu zwei Kollegen habe ich heute noch Kontakt. Aber davon später mehr. Fakt ist, dass auch unser soziales Leben immer mehr in der Forschungslandschaft verankert war.

Unser Institut war neben der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel eines der wenigen und wichtigen Forschungseinrichtungen Deutschlands, die sich mit Forschungsfragen aus dem angewandten Umweltbereich beschäftigten. Dem Bereich, dem ich wegen meines Forschungsthemas zugeordnet war. Und ein Bereich, der innerhalb des Institutes immer mehr Gewicht bekam. Aufgrund der Nähe zur Uni war der wissenschaftliche Austausch natürlich ausgeprägt. Aber dennoch war unser Institut bestrebt und allen voran der Dekan, in der Fachwelt für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen, als die natürlich deutlich größere benachbarte Fakultät der Universität Kiel. Dies hatte zur Folge, dass unsere Arbeiten und Veröffentlichungen ein Niveau haben mussten, das meist über dem der vergleichbaren Arbeiten der Uni lagen. Ein Umstand, der zwar die Doktorandenzeit mühevoll machte, aber unter Umständen auch eher einen der begehrten Jobs in der Wirtschaft oder weiter in der Wissenschaft bringen konnte. Das jedenfalls war unser Trost, wenn die Kollegen von der Uni schon lange am Strand lagen oder Fußball spielten, während wir noch Daten analysierten oder Literatur wälzten.

Mein Mantel war schon etwas nass, als ich unser Institut erreicht hatte. Eine Treppe hoch, dann stand ich vor meiner Bürotür und mühte mich mit dem Schloss ab. Der hochgeschlagene, nasse Kragen klebte mir am Hals, ich hatte meinen Schal vergessen. Die Tür war nicht verschlossen. Ich trat ein und sah sofort, dass ich nicht allein war. Professor Osters Jacke lag quer über dem Schreibtisch. Gewachst, abgegriffen. Herr Oster selbst saß mit dem Rücken zu mir in seinem oder meinem Bürostuhl und starrte aus dem Fenster. Er hatte mein Eintreten nicht bemerkt. Durch seine eher zierliche Gestalt und der hohen Rücklehne lag sein Kopf entspannt auf der Nackenstütze. Bis auf den fast kahlen Schädel und seinem linken Ellenbogen auf der Armlehne, war von ihm wegen der Rückenlehne nichts zu sehen.

Er ließ sich durch mein Erscheinen nicht aus seiner Gedankenwelt holen. Obwohl ich diese Haltung von ihm schon kannte, irritierte es mich. Es war totenstill im Raum. Keiner rührte sich. Er starrte aus dem Fenster und ich wartete, dass er zum Ende damit kam. Dann erst registrierte ich das Chaos in meinem Büro. Einige Schubladen standen offen, viele Dinge lagen auf dem Boden verstreut herum. Ich begriff schnell, Oster hatte etwas gesucht aber nicht gefunden und hatte nun Mühe, einen cholerischen Anfall zu unterdrücken. In einer Animationsserie würden ihm jetzt Dampfwolken aus den Ohren pfeifen. Höchste Zeit für mich, den Raum geräuschlos zu verlassen. Was ich aber nicht tat. Die Wünsche eines Professors von dessen Augen abzulesen gehörte in den Bereich, den ich nicht gewillt war auszuführen, zumal er mir den Rücken zukehrte. Dann sollte er es schon sagen, wenn er ungestört bleiben wollte.

Ich missachtete also die aufsteigenden Dampfwölkchen und klopfte am Türrahmen. Dabei wünschte ich, so freundlich wie es mir gerade noch möglich war, einen guten Morgen. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet, er ließ sich von mir in keiner Weise ablenken. Das Pfeifen der Dampfwolken war kaum noch zu überhören. Der Countdown hatte begonnen.

Was sollte ich tun, wieder hinausgehen? Ich musterte ihn einen kurzen Moment. Was war mit ihm los? Doch keine Dampfwolken? Ich ging auf ihn zu, keine Reaktion. Ich stand direkt an seiner Seite. Nichts.

„Herr Oster?“

Wirklich nichts, denn er war tot.

Es wurde mir klar, als mir seine blasse Gesichtsfarbe und sein unbeweglicher Blick bewusst wurden. Ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Aber in dem Moment hatte ich keinen Zweifel. Er lag in seinem oder meinem Bürostuhl. Niedergestreckt von schwergewichtigen wissenschaftlichen Problemen. Eine konkretere Todesursache war nicht zu erkennen. Feine Holzsplitter ragten von der geborstenen Schublade heraus. Die Schublade, deren Inhalt ich noch nie gesehen hatte. Nur Oster hatte einen Schlüssel dafür. Ich hatte angenommen, dass diese Schublade für Oster ein Symbol seiner Gegenwart in Kiel war. Wichtige Unterlagen befanden sich wohl kaum dort. Nun stand sie offen.

Ich musste raus, raus aus dem Raum mit dem Toten und am besten mich setzen. Mein erster Gedanke war, diese traurige Geschichte unserer Sekretärin, Frau Hubertus, weiter zu geben. Traurig ist nicht die richtige Beschreibung. Überrascht, bestürzt oder erschrocken passen vielleicht besser. Irgendetwas in diese Richtung.

Das Sekretariat war leer, Frau Hubertus war nicht am Arbeitsplatz. Bald aber näherten sich vom Flur her ihre eiligen Schritte. Wahrscheinlich war sie die Post holen. Sie grüßte munter und fragte freundlich, ob ich meinen Schlüssel vergessen hätte. Sie deutete auf meine Tasche, ob ich nicht in mein Büro hinein käme. Nein, das war es nicht. An ihrem Arbeitstisch angelangt legte sie einige Briefe ab und schaute mich fragend an. Wie sollte ich es ihr erklären? Ihr Blick glitt zurück zum Stapel der Briefe. Sie griff sich einige und schaute kurz auf. Auf meine knappe Information, dass er tot wäre, also Herr Oster, reagierte sie für mich überraschend, nämlich gar nicht. Sie ging zu den Postfächern, um die Briefe einzusortieren.

„Gestorben?“, fragte sie beiläufig, drehte einen Brief und las aufmerksam die Anschrift, bevor sie ihn einordnete.

Ich bat sie, mich in mein Büro zu begleiten.

„Mein Gott“, hauchte sie, als sie mit geraden Blick an mir vorbei zurück in den hellen Flur glitt. „Ihr Betreuer ist ja wirklich tot.“

Wir hatten wieder das schützende Sekretariat erreicht. Sie hatte mich nun verstanden und sich gleich, zumindest sprachlich, etwas vom Geschehen distanziert. Die Geschichte in meinen Verantwortungsbereich geschoben. Anders als ich hatte sie ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse angewendet und zumindest den Puls von Herrn Oster gesucht. Nichts.

„Was ist denn nur in Ihrem Büro passiert? Es sieht ja fast so aus, als hätte dort ein Kampf stattgefunden.“

Das fand ich etwas übertrieben. Aber irgendetwas war dort in der Tat passiert. Normal sah es nicht aus. Zumal Oster nun tot daneben saß. Gestorben an einen cholerischen Anfall? Meine letzte Textpassage, die ich ihm vor ein paar Tagen geschickt hatte? Das überarbeitete zweite Kapitel meiner Doktorarbeit?

„Wen müssen wir denn jetzt benachrichtigen?“, fragte Frau Hubertus.

„Doch bestimmt zuerst den Dekan oder sollen wir die Polizei rufen?“

„Den Notarzt?“

Überflüssig, vermutete ich, doch sollten wir nichts unversucht lassen. Daher bot ich an, einen Rettungswagen zu rufen. Frau Hubertus wollte den Dekan benachrichtigen. Sie nahm etwas zögerlich den Telefonhörer in die Hand, besann sich einen Moment und wählte dann eine kurze Nummer. Ich nahm mein Handy und wählte die Notrufnummer. Gleichzeitig nahm offensichtlich beim Dekan jemand das Gespräch entgegen.

Mit zarter Stimme sagte Frau Hubertus: „Else, hier ist etwas Schreckliches passiert!“

Sie stockte einen Moment und blickte mich suchend an, als würde sie jetzt eine angemessene Formulierung für diese ungewöhnliche Situation brauchen. Im selben Moment nahm die Notrufzentrale meinen Anruf an.

Ich nannte meinen Namen und den Ort, von dem ich anrief.

„Professor Oster liegt tot in seinem Büro.“

Frau Hubertus übernahm in etwa meine Formulierung. Es trat eine Pause ein, in der sie der Sekretärin des Dekans lauschte.

Ich beschrieb kurz, was wir gesehen hatten, Oster tot in seinem Stuhl, zumindest ohne Puls, ohne Atmung, mit offenen Augen, keine sichtbaren Verletzungen.

Nach kurzer Zeit fuhr Frau Hubertus fort: „Guten Morgen Herr Professor Elster, ja – es ist schrecklich, wir haben eben Herrn Professor Oster in seinem Raum gefunden“.

Sie lauschte kurz in den Hörer, während sie sich mit der freien Hand die Telefonschnur um den Zeigefinger wickelte.

Es wurde mir ein Notarzt versprochen und ich beendete das Gespräch mit einer kurzen Beschreibung der Zufahrt auf dem Institutsgelände, denn mir fiel die Hausnummer unseres Gebäudes nicht ein.

„Nein, haben wir noch nicht, wir haben noch niemanden benachrichtigt, wir haben gleich bei Ihnen angerufen. Ich glaube, das hat auch keinen Sinn.“

Als ich mein Handy in die Tasche steckte, korrigierte sich Frau Hubertus.

„Nein, einen Notarzt haben wir schon gerufen. Trotzdem.“

Pause, sie lauschte.

„Ja, der Doktorand von Herrn Professor Oster.“

Sie lauschte.

„Nein, es ist nichts zu sehen, wir konnten nichts entdecken. Vielleicht ein Herzinfarkt, wir wissen es nicht. Es ist alles durchwühlt. Vielleicht war es auch ein Einbruch.“

Sie lauschte.

„Nein, natürlich nicht, Herr Professor Oster hat ja einen Schlüssel. Irgendjemand anderes. Wir wissen es nicht. Es sieht schrecklich aus.“

Sie lauschte.

„Um Gottes willen, nein, wir werden nichts anfassen.“

Sie lauschte.

„Gut, dann warten wir hier auf Sie.“

Damit legte sie den Hörer auf.

Wir warteten eine Minute wortlos.

„Wann kommt der denn bloß, das kann doch nicht so lange dauern!“

Frau Hubertus lief zur Tür und schaute angespannt rechts und links den Flur entlang.

Der Notarzt hätte eigentlich auch schon da sein sollen. Mein Betreuer war tot. Meine Arbeit ohne Betreuung. Meine Doktorarbeit vor dem Aus? Hatte Oster das Büro selbst so zugerichtet? Oder jemand anderes. Wäre das möglich?

„Ich behalte mal lieber den Flur im Auge“, sagte Frau Hubertus, „es soll da niemand hineingehen, bis der Dekan hier ist.“

Nervös ging sie einige Schritte in den Flur hinaus.

Dass ich mich in letzter Zeit mit Herrn Oster nicht allzu gut verstanden hatte, wusste hier am Institut jeder, zumal es keiner für möglich hielt, dass man sich mit Herrn Oster überhaupt verstehen konnte. Alle Begebenheiten, die dieses Bild von Herrn Oster bestätigen konnten, hatte ich auch gern in der Runde der Kollegen erzählt und sorgte damit für großes Gelächter. Galgenhumor. Allein das äußere Bild von mir und meinem Betreuer, ehemaligen Betreuer, sorgte oft für ironische Bemerkungen. Oster klein, mitunter bissig wie ein Terrier und ich groß (an die zwei Meter, in der Schulzeit hatte ich einen nicht unerheblichen Anteil am Aufstieg der C-Jugend im Basketball in Lübeck) und eher gutmütig, würde mich jemand fragen. Irgendwie konträr oder zumindest komplementär unsere gemeinsamen Auftritte im Institut oder bei gemeinsam besuchten Tagungen.

„Er kommt.“

Frau Hubertus ging dem Dekan einige Schritte entgegen.

„Es ist schrecklich“, hörte ich sie ihn begrüßen.

„Was ist denn nur hier los, Frau Hubertus?“, vernahm ich seine etwas langsame und sehr tiefe Stimme. Er hatte einen beruhigenden Tonfall angeschlagen, um das Problem allein durch seine besonnene Art zu lösen. Ich ging zu Tür und sah beide näher kommen. Er erwiderte kaum merklich meinen Gruß. Frau Hubertus machte sich nicht mehr die Mühe, das Geschehen zu erklären, sondern führte Herrn Elster an mir vorbei zur Tür meines Büros.

„Mein Gott!“

Seine tiefe, kräftige Stimme drang bis auf den Flur hinaus. „Was ist denn hier passiert?“

Als ich den Raum erreichte, sah ich Herrn Elster weit nach vorn gebeugt vor Oster stehen und dessen Gesicht betrachten. Mir kamen seine naturwissenschaftlichen Wurzeln in den Sinn.

„Der Kollege ist tatsächlich tot. Wann haben Sie ihn gefunden?“

Frau Hubertus warf mir einen kurzen Blick zu und erwiderte dann, dass ich es sei, der Herr Oster gefunden hätte. Herr Elster richtete sich auf und schien mich zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.

„Sie sind Mitarbeiter beim Kollegen Oster?“

„Ja, war ich.“

„Natürlich“, antwortete er und wandte sich wieder dem leblosen Körper zu.

„Ich habe ihn so gefunden. Zuerst habe ich gar nicht erkannt, dass er tot war.“