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»Nur noch diese Nacht.« Du, ich, der Wald und die vielen, vielen Sterne als Zeugen. »Ich brauche das.« Kolja muss raus. Einfach fliehen vor dem Alltag und der Verantwortung, die ihm seine Eltern mit der Bäckerei aufbürden wollen und die ihn zunehmend auszehrt. In der Eifel hofft er, endlich Ruhe zu finden. In einem in die Jahre gekommenen Planetarium trifft Kolja auf Ruben, der sich in den dunkelsten Ecken aufhält und immer stiller wird, je näher Kolja ihm kommt. Und damit seine Neugier weckt. Zwischen Sternen und Planeten entsteht ein zartes Band und beide müssen sich schließlich entscheiden, ob sie allein und sicher bleiben oder ein Risiko eingehen wollen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
MATTI LAAKSONEN
NACH DEM STURM DIE STILLE
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Matti Laaksonen | [email protected] | www.mattilaaksonen.de
© 2025 Matti Laaksonen, 1. Auflage Februar 2025
c/o WirFinden.Es Naß und Hellie GbR Kirchgasse 19 65817 Eppstein
Lektorat: Loreen Bauer Korrektur: Kerstin Neubauer-Krause & Nina Schneider
Covergestaltung und Innendesign unter Verwendung folgender Materialien: Wallow Creatives auf creativemarket.com Creative paper auf creativemarket.com Cat In Colour auf creativemarket.com
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Content Notes:
Depressionen, Angst- und Panikattacken inkl. Flashback (ausgeschriebene Szene in Kapitel 22), manipulatives Verhalten, Gewalt im Elternhaus, Wut und Aggression, Depersonalisierungserleben, Schwangerschaft.
Playlist
Bring Me The Horizon – Can You Feel My Heart
Afterglow – Believe In Nothing
Citizien Soldier, Halocene – Wish I Could Cry
Letzte Instanz – Jeden Morgen
Annisokay – Calamity
I Prevail – Doomed
Callejon – Dunkelherz
Dead by April – My Light
Days Of Jupiter – Desolation
We Came As Romans, Caleb Shomo – Black Hole
Catch Your Breath – Ghost Inside The Shell
STARSET – Telescope
Papa Roach – Leave a Light On (Talk Away The Dark)
Rise Against – Satellite
LEAP – Show Me The Way You Love
Für Papa
Kapitel 1
6 Monate zuvor
Ruben
»Jedenfalls …« Mo räusperte sich, druckste herum und kratzte sich sogar die Nasenspitze – alles Dinge, die er nur tat, wenn er nervös war. »Also, wir haben uns verlobt und die Hochzeit soll im November sein. Es steht noch nicht alles fest, wir würden uns allerdings freuen, wenn du auch kommst.« Dafür hatte er nun in Rekordgeschwindigkeit gesprochen, sodass Ruben erst einmal den Sinn hinter seinen Worten suchen musste.
»Ihr seid … verlobt?«, fragte er sicherheitshalber noch mal nach.
»Ja.«
»Wow, das freut mich! Glückwunsch. Echt! Auch an Claire.«
»Danke!«, kam es da aus dem Hintergrund. Etwas raschelte und zwei Sekunden später erschien das strahlende Gesicht der jungen Frau mit dem dunklen Lockenschopf auf dem Bildschirm. Sie hob die linke Hand und deutete auf den Ring an ihrem Finger. »Ganz schöner Klunker, was?«
Ruben lächelte. »Steht dir.«
Claires Grinsen vertiefte sich, sie gab Mo einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder aus dem Blickfeld.
Verträumt sah Mo ihr hinterher, richtete sich dann erneut an Ruben. »Also? Kommst du?« Er klang beinahe wie damals, wenn er ihn zu seinen Geburtstagen eingeladen hatte, völlig überdreht und breit grinsend.
Natürlich hätte Ruben gern Ja gesagt. Mo war sein bester und einziger Freund. Aber sein Kopf und Körper verkrampften sich um das Nein, klammerten sich daran fest, als hinge sein Leben davon ab. »Ich … schau mal, ja?«
Mo nickte. Schließlich kannte er Ruben doch am besten. »Okay.« Ruben konnte es hören. Er konnte hören, dass Mo wusste, dass ihm das Nein in der Kehle steckte. Hoffnung war so ein verräterisches Vieh und das galt für sie beide.
»Ich muss dann auch mal wieder …« Ruben deutete vage hinter sich, weil er ja gar nichts zu tun hatte, dieser seltsamen Situation aber entfliehen wollte.
»Wir schicken dir auf jeden Fall noch eine Einladung, sobald alles steht«, sagte Mo zum Abschied, ehe sie einander zuwinkten und das Fenster auf seinem Computerbildschirm schwarz wurde.
Seufzend ließ sich Ruben auf das Sofa fallen. Wie lange war es her, dass er Mo zuletzt gesehen hatte? Acht Jahre? Er konnte es nicht mehr mit Gewissheit sagen, es musste kurz nach dessen Umzug gewesen sein, in den Ferien, als Mos Eltern noch einmal vorbeigekommen waren, um das Haus endgültig zu übergeben.
Dennoch telefonierten und facetimten sie fast jedes Wochenende, schrieben sich manchmal sogar Briefe und Postkarten zu verschiedenen Anlässen. Und nun heiratete er Claire … Sie waren seit fünf Jahren ein Paar, eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich offiziell das Ja-Wort gaben. Ruben mochte sie, obwohl er sie selbst noch nie getroffen hatte, nur bei den Anrufen, durch den Bildschirm, in Erzählungen und von Fotos her kannte er sie.
Wärme breitete sich in seiner Brust aus. Er freute sich für Mo und Claire. Und würde er auch nur die kleinste Chance auf die Machbarkeit wittern, würde er zu ihrer Hochzeit fahren. Das nahm er sich vor. Ein Ziel, eine Aufgabe. Etwas, woran er sich klammern konnte, obschon das Nein so monströs groß erschien.
Kolja
Das war er also, der Zettel, der alles verändern sollte. Kolja schnaufte. Nichts würde sich ändern, nur wegen dieses Wischs. Und die Verbitterung darüber schnürte ihm die Luft ab. Dabei wusste er gar nicht mal, woher die überhaupt kam. Das war doch alles, worauf er hingearbeitet hatte. Seit Jahren. Beinahe sein gesamtes Leben lang.
»Papa, ich hab’s geschafft, ich hab den Meister.« Hinter diesen Worten steckte so viel mehr. Monatelange Arbeit neben der Bäckerei, doppelte Schufterei, Büffeln und Lernen wie zur Schulzeit. Kaum Freizeit und wenig Urlaub. Gar keinen, wenn er genauer darüber nachdachte.
»Dann kannst du ja wieder Vollzeit arbeiten«, sagte sein Vater lapidar und ließ sich zu einem schwachen Lächeln und einem seltenen Schulterklopfer hinreißen. Mehr gab es nicht, gab es nie.
Kolja nahm all seinen Mut zusammen. »Nee, du weißt doch.« Der Urlaub, den er eingeplant, den er so gesetzt hatte, dass er irgendwo zwischen passte und niemand ein großes Ding daraus machte. Damit es nicht auffiel, dass er fehlte.
»Ja, ja.« Sein Vater wandte sich ab und schlurfte zurück in die Backstube.
Mit zittrigen Fingern umfasste Kolja den Brief fester jetzt. Wenn er nicht aufpasste, dann hätte dieses ach so wichtige Dokument bald Falten und Knicke, vielleicht sogar Risse. Er atmete tief ein und aus. Er konnte nicht einmal wütend sein, war er ja nie, nur enttäuscht war er. Vor allem deswegen, nicht vehementer für sich einstehen zu können. Noch nie.
»Glückwunsch!«, sagte seine Mutter, mehr nicht. Kein Schulterklopfer, keine Umarmung. »Das müssen wir bei Gelegenheit mal feiern.« Die Gelegenheit würde nie kommen.
»Er weiß noch, dass ich mir Urlaub genommen habe, oder?«, fragte Kolja unsicher. Eine Feier war ihm nicht so wichtig wie diese Auszeit.
»Natürlich. Aber weißt du …« Sie seufzte laut und schüttelte den Kopf. »Vorgestern hat doch die Aushilfe aufgehört. Wir brauchen dich hier.«
Keine Frage, also bedurfte es keiner Antwort. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln waren ganz glatt und kaum mehr zu sehen, weil sie sich nicht regte, dafür jedoch angestrengt lächelte.
»Aber …«
»Sobald wir eine zweite Aushilfe haben.«
Hatte er denn eine andere Möglichkeit? »Ja, klar.«
Irgendwann würde er es schaffen, sich seinen lang ersehnten Urlaub zu nehmen. Und wenn nicht im Frühling, dann eben später. Der Herbst wäre genauso gut, vielleicht ein wenig trister, was machte das schon.
»Hey, Mann! Glückwunsch!« Sina klatschte ihm auf den Rücken und holte ihn zurück in die Realität, aus der er sich so gern flüchten wollte.
»Danke.« Das Lächeln fühlte sich seltsam unnatürlich an, fremd und substanzlos. Und es griff auf ihn über, verteilte sich über die Schultern und von da aus in den restlichen Körper, bis er nur noch ein formloser Schatten war.
»Wann geht’s los?«
Das Lächeln musste nun eine Fratze sein. »Später. Geht gerade nicht wegen der Aushilfe.«
Sina nickte und verschwand eilig in der Backstube, aus der es mal wieder piepte, weil die nächste Brötchenladung fertig war. Genauso eingespannt wie alle anderen. Selbst sie, obwohl sie als Auszubildende noch so viel lernen musste und bereits viel zu viele Überstunden leistete.
Und Kolja zerfaserte. Er hatte keine Konturen mehr, kein Gleichgewicht. Wenn er wenigstens wütend sein könnte, um sich spüren zu können. Wenn er wenigstens irgendetwas fühlen könnte, außer dieser Müdigkeit, dieser Leere. Aber das konnte er nicht. Nicht mehr heute.
Kapitel 2
Gegenwart
Ruben
»Schau mal, Mama, der Jupiter!«, rief ein Kind ungeduldig und zerrte an der Hand seiner Mutter.
Ruben spannte sich an und räusperte sich vernehmlich. Die kleinen Patschehände fanden oftmals viel zu schnell einen Weg unter dem roten Samtband hindurch und auf das Modell des Jupiters mit den vier Galileischen Monden. Dreimal war bereits etwas abgebrochen und nur notdürftig mit Gips und Lack repariert worden. Der Motor lief schon lange nicht mehr. Antriebslos wie alles hier.
»Sofia, nicht.« Die Mutter zog ihr Kind rasch ein Stück weg vom Modell und lächelte Ruben entschuldigend an, bevor sie sich langsam abwandten und eine Stille hinterließen, die ihm inzwischen so vertraut war wie jeder Quadratzentimeter des Planetariums.
Der Großteil seines Jobs hier in den Ausstellungsräumen bestand darin, aufzupassen, dass niemand die Modelle berührte. Leider war das auch der wohl nervigste Teil. Wobei immer weniger Besuchende kamen und Ruben somit auch stetig weniger zu tun hatte.
Leise sank er zurück auf seinen Stuhl, den Blick auf den Jupiter gerichtet, der von einem Strahler in Szene gesetzt wurde. Zumindest in der Theorie. Ein Spot war vor einigen Monaten ausgefallen, weshalb nur noch rund drei Viertel der Planeten-Oberfläche und einer seiner Monde angeleuchtet wurden. Karl Karlsmann, der Vorstand des Sternenvereins, Leiter des Planetariums und Rubens Chef, hatte gescherzt, dass sie den Jupiter mit dem Mond austauschen und das Ausstellungsstück »Dark Side of the Moon« nennen sollten.
Ruben hatte nicht gelacht. Zeigte es doch nur umso deutlicher, dass die Zeit für dieses Gebäude abgelaufen war. Sein Safe Space fiel in sich zusammen, hinterließ ein Schwarzes Loch, das ihn allmählich verschlang.
Ruben ächzte und schüttelte leicht den Kopf. Die schlechten Tage spürte er weit im Voraus. Wenn er an ein Damals dachte, das sich so weit entfernt anfühlte wie der Neptun und vermutlich genauso kalt, drückte es noch einmal mehr in ihm. Dabei lag es doch erst ein paar Jahre zurück, dass dieser Ort voller Menschen gewesen war, voller Leben. Und nun war alles anders. Still.
Bevor Karls sonore Stimme ertönte, hörte Ruben das Knarzen der Treppe, die zu dem kreisrunden Raum führte, in dem das Herzstück des Planetariums verborgen lag: der Sternenprojektor von Zeiss, eine Spende, die sie in den Neunzigern erhalten hatten. Der erste Projektor aus den Fünfzigern hatte schon damals lange ausgedient. »Ich glaube, wir können langsam mal Feierabend machen, es kommt jetzt eh niemand mehr.«
»Aber es ist erst kurz vor vier«, erwiderte Ruben und erhob sich erneut.
Karl zuckte nur mit den Schultern, schaute in den leeren Ausstellungsbereich und zur Eingangstür, als würde das alles aussagen. Es lohnt sich nicht. Es kommt keiner mehr. Gerade als Ruben zu einer weiteren Erwiderung ansetzen wollte, öffnete sich die doppelflügelige Stahltür.
Ein junger Mann, etwa in Rubens Alter, sah sich vorsichtig um, entdeckte sie und lächelte halb, nur mit links. »Darf ich noch reinkommen oder ist geschlossen? Hier sind keine Öffnungszeiten, aber im Internet steht, dass bis siebzehn Uhr offen ist.« Seine schnell gesprochenen Worte hallten unangenehm laut durch das Foyer.
Kaum wahrnehmbar atmete Karl ein. So sehr er sich nach Hause wünschte, so wenig würde er einen Besucher wegschicken. Irgendwo verborgen lag eben doch noch der begeisterte Wissenschaftler, dem Ruben früher so gern bei seinen Vorträgen zugehört hatte. »Selbstverständlich.«
Das Lächeln in dem Gesicht des Fremden vertiefte sich zu einem ganzen und legte feinere Konturen frei, aber auch dunkle Augenringe und Schatten, die Ruben faszinierten, weil sie ein Muster zeichneten, weil er sie von sich selbst kannte. »Prima.« Er klemmte die Hände unter die Riemen seines großen Rucksacks, aus dem es blechern schepperte, und machte einen weiteren Schritt in den Ausstellungsbereich. Zögernd musterte er Ruben und Karl, hob eine Augenbraue. »Also, ähm … wo geht es denn zu der Projektion?«, hakte er nach und blickte sich suchend nach einem Schild oder einer Infotafel um. Beide waren so verblasst gewesen, dass sie sie letztes Jahr abgenommen hatten. Kein Geld mehr für Neues, hatte Karl betont. Die Mitgliederbeiträge reichten nur für das Notwendige und die Kosten für Strom und Angestellte übernahm die Stadt.
»Ja, klar, dann muss ich nur eben nach oben und …«, nuschelte Karl in seinen dichten Schnauzer und schaute die kleine Treppe hinauf.
»Oh, bitte keine Umstände.« Der Fremde hob abwehrend die Hände und kam näher, seine schweren Wanderstiefel quietschten auf dem Steinboden.
Ruben schluckte den Drang, sich abzuwenden, hinunter. Etwas an der Art des Besuchers verunsicherte ihn. Eine alte Ahnung und Achtsamkeit. Vermutlich lag das nur an der plötzlichen Lautstärke, den ungewohnten Geräuschen und Gerüchen, die der Mann mit sich brachte. Dennoch war da etwas, das Ruben anzog: die tiefblauen, wachsamen Augen. Das Vibrieren in der Luft, das die Stille davonfegte.
»Ich mach das, dann kannst du jetzt gehen«, sagte Ruben aus einem Impuls heraus, weil er wusste, wie sehr sich sein Chef auf zuhause gefreut hatte. Dort warteten sicher ein warmer Eintopf und kühles Bier auf ihn.
»Bist du sicher?«
Ruben nickte. Es war nicht das erste Mal, dass er allein hierblieb. Wenngleich das noch nie mit Besuchenden passiert war. »Das schaffe ich.« Was sollte er auch zuhause? Da könnte er lieber jemandem eine Freude bereiten und die Projektion zeigen, wenn der schon extra dafür hergekommen war.
Dankbar nickte Karl, griff in seine Hosentasche und kramte den Schlüsselbund hervor, den er Ruben in die Hand drückte. »Wir sehen uns morgen, Ruben.«
»Bis dann«, erwiderte er und winkte Karl, der gar nicht lange zögerte und bereits die Tür hinter sich schloss.
»Entschuldigung?«
Der Typ baute sich vor Ruben auf. War er eben schon so groß gewesen? Erneut dieses Scheppern und Quietschen und die Stimme, die von den Wänden hallte. Warum hatte Ruben nur gedacht, mit ihm allein bleiben zu können? Er machte einen Schritt nach hinten und stieß gegen den Stuhl in der Ecke, der laut klapperte.
»Ja?«, fragte Ruben und tat alles dafür, dass das Zittern in seiner Stimme nicht durchklang. Keine Schwäche zeigen. Keinen Angriffspunkt liefern. Sich klein machen. Alte Mechanismen, die sich nur schwer ablegen ließen.
Der Mann blinzelte und verzog entschuldigend das Gesicht. Und wieder dieses halbe Lächeln von links. Er machte einen Schritt zurück. »Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du nicht.« Auch wenn alles prickelte und zitterte und auf Verteidigung schaltete. Aber wie erklärte man das?
Die Haltung des Fremden änderte sich, wurde nachlässiger, etwas weicher, so schien es Ruben. Spürte er seine Angst, die Unsicherheit?
»Du musst nicht nur für mich die Projektion hochfahren, das lohnt doch nicht.«
Oh. »Das ist kein Problem.« War es wirklich nicht, und Ruben wollte ihm klarmachen, dass das Planetarium aus diesem Grund überhaupt existierte. Und vielleicht konnte er einen weiteren Menschen von dessen Faszination überzeugen, so wie es damals bei ihm war.
»Wirklich, keine Umstände.« Der Mann trat einen weiteren Schritt zurück und stand nun auf der helleren Seite des Jupitermodells, seine Haare wurden angestrahlt, er warf einen langen Schatten. »Ich schätze, Führungen gibt es auch erst morgen wieder?« Seine Bewegung war ganz langsam, als er auf den Zettel zeigte, den er in der anderen Hand hielt, sein Blick flog an Ruben vorbei.
»Oh.« Das Prickeln wurde zu einem dumpfen Klopfen. »Also, die gibt es eigentlich gar nicht mehr.«
»In dem Flyer steht aber …« Der Mann holte tief Luft. Nun war das Lächeln verschwunden, ebenso der Lärm, die Vibration. »Egal. Ich bring hier gerade vermutlich alles durcheinander, so kurz vor Schließung … Ich geh lieber, damit du auch Feierabend machen kannst.«
»Das … das musst du nicht. Ich bin ja eh hier.« Und gehen würde er erst in einer Stunde.
Ein leises Lachen. »Aber du wohnst hier ja nicht.«
Nein, das tat Ruben nicht. Hilflos zuckte er mit den Schultern. Er wollte ebenso wenig wie Karl einen Besucher verlieren, nur weil er so schrecklich unsicher war und nicht wusste, was er tun sollte.
»Also dann.« Der Mann wandte sich zum Gehen.
»Warte!« Was?
»Hm?«
»Morgen.« Himmel, diese Information reichte doch nicht. Nur zähflüssig setzten sich die Worte in Rubens Kehle zusammen. »Ich kann dir morgen alles zeigen.« Er kannte ja alles, was es hier zu sehen gab, hatte alle Führungen mitbekommen, bis sie irgendwann eingestellt worden waren. Zu wenig Geld, zu wenig Besuchende, zu wenig Interesse. Außerdem gab es das Observatorium eine Stunde von hier entfernt … Aber Ruben wollte nicht, dass er einfach so ging. Weil er nicht wollte, dass jemand enttäuscht war von diesem Planetarium. Seinem Rückzugsort, der ihm so wichtig war. Eine reine Verletzlichkeit. Oder eine offene Wunde, die sich sonst niemals schließen würde. Er müsste sich nur sammeln, bevor er das schaffen konnte.
»Schön, dann komm ich morgen noch mal.« Wieder dieses Lächeln, das das gesamte Gesicht und die Augen des Fremden veränderte, für einen Sekundenbruchteil wenigstens. Er hob die Hand, winkte kurz und zog die schwere Eisentür auf.
»Bis morgen«, flüsterte Ruben, obwohl der Mann schon längst gegangen war.
Morgen würde alles anders aussehen. Morgen wäre alles besser.
Kolja
Kolja lächelte, dabei wusste er gar nicht wieso. Eigentlich hatte ihn dieses reichlich lädierte Planetarium ziemlich enttäuscht. Im Internet hatte das alles viel besser gewirkt; er hätte wohl auf die Rezensionen der vergangenen Monate hören sollen. Lohnt sich nicht. Abgeranzte Bruchbude. Der alte Mann hat uns böse angesehen, als wir um fünfzehn Uhr gekommen sind, habe mich sehr unwohl gefühlt. Da sitzt so ein Creep in der Ecke und guckt die ganze Zeit. Aber wer tat das schon? Die meisten Leute, die schlechte Rezensionen im Internet verfassten, fanden doch an allem etwas auszusetzen und hatten völlig absurde Vorstellungen, die ohnehin niemals getroffen werden konnten – oder nur einen schlechten Tag. Das kannte er ja bereits.
Kolja verschaffte sich deswegen gern selbst einen Überblick. Das Planetarium lag überdies in einem beschaulichen Eifelstädtchen, nicht weit von Köln. Die Vorstellung von Wald, Fachwerkhäusern mit Schieferdächern und Stauseen hatte ihn gelockt.
Es hatte sich bestens als Startpunkt geeignet.
Er seufzte laut, sodass feine Atemwölkchen vor seinem Mund entstanden. Ein Startpunkt. Wofür denn? Diese Reise, die er seit Ewigkeiten plante und mindestens genauso lange vor sich herschob? Die er immer wieder hatte verschieben müssen, weil ständig etwas dazwischengekommen war? Und nur, weil er ein paar Tage freihatte, glaubte er, dass er sie nun endlich begann? Ausgerechnet hier, keine hundert Kilometer von zuhause entfernt in Schlaidt, wo es nicht einmal eine Bäckerei gab und nur eine Hauptstraße.
Er machte sich etwas vor.
Steinchen knirschten unter seinen Sohlen, als er den schmalen Pfad durch den Wald nahm. Es war inzwischen dunkel geworden, das dichte Blätterdach verschluckte selbst das schwache Dämmerlicht. Kolja rieb sich fröstelnd über die Arme. Sein Herzschlag beschleunigte sich, weil ihm sein Kopf allerhand Horrorszenarien vorspielte. Umstürzende Bäume, ein ausgehungertes Wolfsrudel, Axtmörder. Dabei war ein Szenario unwahrscheinlicher als das andere. Wobei … Er befand sich mitten im Nationalpark Eifel, die Wälder überließ man sich selbst, also konnte jederzeit ein Baum umkippen. Wölfe siedelten sich hier seit einigen Jahren wieder an. Und wer wusste schon, was die Einsamkeit mit den Menschen machte, die hier lebten.
Diese Stille hatte ihm bereits beim Aussteigen zu schaffen gemacht, nun wurde sie beinahe unerträglich. Obwohl es nie wirklich ruhig war, wenn er genauer hinhörte. Irgendwo raschelte es beständig.
»Verdammt.« Kolja lief schneller. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, für sein Vorhaben in die Eifel zu fahren. Keine Lichtverschmutzung, denn die wurde hier vermieden. Das Planetarium, um ein bisschen mehr über die Sterne zu erfahren, die er fotografieren wollte. Und sollten ihn nachts Wolken an diesem Plan hindern, gab es im Wald sicher auch genug Tiere, die er stattdessen vor die Linse bekäme. Der perfekte Ausgangspunkt.
Trotzdem rannte er nun über den düsteren Trampelpfad, stolperte fast über eine Wurzel und keuchte, weil sein Atem so rasselte. Mehr und mehr Spukgeschichten fluteten seinen Geist und die Abgeschiedenheit und die verfluchte Ruhe hier machten es nicht besser.
Endlich am Auto angekommen, riss er die Tür auf, warf seinen Rucksack auf den Beifahrersitz und kletterte durch den Kofferraum in sein, aus Holzleisten gebautes, provisorisches Bett.
Kolja rieb sich über das Gesicht und versuchte, sich zu beruhigen. Ein und aus. Der warme Atem legte sich als Beschlag auf die Fenster. Es war wirklich nicht die beste Option gewesen, diesen kleinen Ausflug ausgerechnet Anfang Oktober zu starten. Für sein Vorhaben aber schien es perfekt. Es wurde früh dunkel und die Nächte waren mit ein bisschen Glück klar und nicht zu kalt. Das hatte verlockend geklungen nach den Strapazen und dem Aufschieben.
Doch so war das mit Plänen: Erst wenn man sie wirklich umsetzte, entdeckte man die Lücken.
In der Theorie hatte sich das nämlich auch viel besser angehört, allein im Auto zu schlafen wie ein moderner Vagabund. Eigentlich war es aber nur ziemlich kalt, klamm und erschreckend einsam.
Plötzlich ergaben die Online-Rezensionen zum Planetarium einen Sinn. Vielleicht hatte es nie an dem Gebäude an sich gelegen, sondern an dem Drumherum, der Abgeschiedenheit, der Dunkelheit. Die Stille sorgte für den zusätzlichen Gruseleffekt.
Kolja schüttelte den Kopf über sich selbst und griff nach seinem Rucksack, in dem sich seine Kameraausrüstung befand – und das Smartphone, das er den Tag über geflissentlich ignoriert hatte, weil er sonst keine Ruhe gehabt und stündlich nachgefragt hätte, ob in der Bäckerei alles lief.
Der Akku war längst leer.
Seufzend schloss er es an seiner Powerbank an, wartete, bis es hochgefahren war, und erlebte einen neuerlichen Schock.
Dreizehn unbeantwortete Anrufe, fünfzehn Nachrichten. Alle von seiner Mutter.
Sein Puls schoss sofort wieder in die Höhe, weil sie die Angewohnheit hatte, nie dazuzuschreiben, worum es ging, sondern lieber vage blieb. Und so klangen die fünfzehn »Kolja!«, »Nimm ab!«, »Wo bist du?« gleich wie Hiobsbotschaften.
Mit schwitzigen und zittrigen Fingern wählte er die Nummer seiner Mutter, die erst nach drei unendlich lang scheinenden Freizeichen abnahm. »Mama, was ist denn los?«, fragte er gehetzt und mit brüchiger Stimme. Die Horrorgeschichten lauerten nicht nur hier auf dem abgelegenen Wanderparkplatz, sondern genauso zuhause zwischen Rührmaschinen, Arbeitsflächen und Teigbatzen.
»Kolja! Ja, du, ich weiß, du hast Urlaub, aber …« Sie atmete tief ein. »Britta hat die Grippe und dein Vater hat sich vorhin den Daumen an der Maschine gequetscht, der Ofen macht auch schon wieder Probleme, die Teiglinge müssen angesetzt werden, das Brot …«
»Mama«, unterbrach Kolja sie und unterdrückte das Lachen, das sich vor lauter Erleichterung in seiner Kehle sammelte, »ganz ruhig. Ich komme zurück.«
Irgendwie froh, dass er nicht hierbleiben musste, aber ebenso genervt, weil es ja ständig etwas gab, das ihn abhielt. Und immer diese Scheißangst, was nun wieder war.
»Toll.« Seine Mutter klang ehrlich erleichtert. »Schaffst du es bis drei?«
»Natürlich.«
»Gut. Bis später.«
»Bis später, Mama.«
Wie er es mit seinen vierundzwanzig Jahren noch immer nicht geschafft hatte, Nein zu sagen, wusste Kolja nicht. Auch nicht, wie er auf simple Aussagen mit einer solchen Wucht reagierte. Das war es ja, was ihn bisher aufgehalten hatte, diese Reise zu unternehmen. Überhaupt irgendetwas anderes zu tun, als nach der Schule in die Bäckerei seiner Eltern einzusteigen, die Ausbildung zu absolvieren und danach die Meisterschule zu besuchen … Vermutlich würde er die Bäckerei übernehmen, weil er nicht anders konnte, obwohl er so gern anders wollte.
Er rieb sich über die Stirn. Der junge Mann – Ruben hatte ihn der Ältere mit dem Schnauzbart genannt – fiel ihm ein. Dieser feingliedrige Mensch mit den vielen Tattoos, die Kolja bereits im ersten Moment so fasziniert hatten. Der Blick aus diesen hellbraunen Augen, so trüb und leblos und gleichzeitig so ängstlich und gehetzt. Aber auch das Piercing in seiner Nase, das so schön geschimmert hatte. Ruben hatte sich besonders leise verhalten, beinahe vorsichtig, als könnte er jeden Augenblick einfach auseinanderfallen, er passte so gut in diese stille und pittoreske Umgebung. Kolja hatte es gesehen und sich deshalb zurückgezogen. Nichts konnte er besser, als in den kleinsten Regungen zu lesen, weil er es ja sein Leben lang gelernt hatte.
Er hatte ihm das Versprechen gegeben, morgen vorbeizukommen.
Kurz erwog Kolja, noch einmal in das Planetarium zu gehen und ihm Bescheid zu sagen. Doch vermutlich war es jetzt wirklich geschlossen. Also konnte er nur hoffen, dass es nicht auffiel, wenn er wegblieb. Wer erinnerte sich überhaupt an ihn, so wenig Eindruck, wie er hinterließ?
Morgen hatte Ruben ihn sicher vergessen. Und damit auch das Versprechen.
Kapitel 3
Ruben
Die schlechten Tage zeichneten sich dadurch aus, dass Ruben für jede Tätigkeit unsagbar viel Energie aufwenden musste. Für das Aufstehen. Duschen. Frühstücken. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Aber es musste ja gehen. Irgendwie.
Das Einzige, was ihn einigermaßen zusammenhielt, waren seine Routine und sein Pflichtgefühl. Er tat also all die Dinge, nur um pünktlich um 9:35 Uhr loszugehen und um 9:50 Uhr die Tür zum Planetarium aufzuschließen, die Alarmanlage aus-, dafür die Lichter einzuschalten und den Projektor hochzufahren. Irgendwo knallte eine weitere Glühbirne und Ruben zog instinktiv den Kopf zwischen die Schulterblätter, bevor er den Schaden begutachtete. Nun wurde auch die Sonne nur noch halb beleuchtet und sie konnten eine partielle Sonnenfinsternis darstellen.
Ruben seufzte, legte Jacke und Schal ab und lief zu der nunmehr schattigen Seite des Modells. Nur ein weiterer Punkt auf einer viel zu langen Liste, die er zu führen pflegte, obwohl sie niemals abgearbeitet werden würde.
»Guten Morgen«, sagte Karl, als Ruben die Glühbirne aus der Fassung schraubte, um sie zu entsorgen.
»Morgen. Die ist kaputt.« Als wäre eine Erklärung notwendig.
»Oh. Tja.« Ohne ein weiteres Wort steuerte Karl das kleine Büro an, das hinter dem ehemaligen Kassenhäuschen lag. Inzwischen hing nur noch ein Kästchen an der Wand, an dem die Besuchenden gebeten wurden, eine kleine Spende dazulassen. Kein Eintritt mehr, weil die Buchhaltung zu aufwendig geworden war für die paar Euro im Monat.
Ruben ächzte und warf die kaputte Glühbirne in einen dafür vorgesehenen Behälter. Er war fast voll. Vielleicht konnte er ihn zur Deponie bringen, er müsste sich nur überwinden.
»Im Radio haben sie gesagt, dass heute Nachmittag ein Orkantief über uns wegfegt. Wir sollten also besser früher schließen, um vor dem Sturm zu Hause zu sein.«
Ruben registrierte die Worte, der Sinn erschloss sich ihm jedoch erst eine Weile später, als er sich bereits an seinen Platz gesetzt hatte. »Aber …«, wollte er protestieren, die Kraft reichte jedoch nicht. Karl hatte sicher recht. Besuchende kämen bei einer Sturmwarnung ohnehin nicht. Niemand lief über den Trampelpfad vom Wanderparkplatz, der zum Planetarium führte, wenn es nicht unbedingt sein musste. Und den anderen Weg, der weiter durch den Wald führte und nur schlecht ausgeschildert war, nahm sowieso niemand mehr. Nur Ruben ab und zu.
Stattdessen nickte er nur und hoffte, dass der Mann von gestern früh genug kommen würde, um sein Versprechen einzulösen. Ruben hatte sich extra ein paar Notizen aus seinen Astronomie-Zeitschriften gemacht, um die Infos auf den Tafeln mit neuen Entdeckungen und Forschungsergebnissen zu ergänzen.
Er wollte es kaum wahrhaben, doch nach einigen Augenblicken wurde ihm klar, dass er sich auf den Besuch freute. Sein Herz hüpfte vor Aufregung und sein Magen kribbelte, dumpf nur, weil auch dafür die Energie fehlte, aber doch spürbar. Er schob es darauf, dass es seit Ewigkeiten keine offiziellen Führungen mehr gegeben hatte. Und er vermisste dieses aufgeregte Summen in der Luft, die vielen Stimmen und Fragen interessierter Menschen. Auch wenn er selbst nie eine Führung gegeben hatte, hatte er es stets genossen, Karl und den anderen dabei zuzuhören und ihr Wissen aufzusaugen wie ein trockener Schwamm. Es würde somit seine allererste selbstgehaltene Führung sein. Er konnte mit Wissen glänzen, mit Geschichten. Und dafür bräuchte er all seine spärlichen mentalen Kapazitäten.
Das nervöse Flattern, das sich am Vormittag in seinem gesamten Körper ausgeweitet hatte, wich mit jeder Stunde. Spätestens gegen Mittag bröckelte die Hoffnung, dass der Mann noch einmal kommen würde.
Er hatte ihn angelogen.
Hatte ihn die Nervosität noch aufrecht gehalten, sorgte dieses Nicht-Erscheinen nun für einen Dämpfer, der ihn niederzudrücken schien.
Und das war das Schlimmste.
Nur die Wut kämpfte in ihm, schwelte wie ein massereicher Stern kurz vor dem Kollaps. Mit allem, was ihm an einem Tag wie heute noch blieb, versuchte Ruben, den Druck wegzuatmen.
Er saß auf seinem Stuhl mit dem besten Blick zur Tür. Direkt neben der dunklen Seite der Sonne. Draußen tobte der angekündigte Sturm, wirbelte die bunten und braunen Blätter umher und ließ Äste knacken. Bedrohlich und beruhigend gleichermaßen.
»Wir sollten wirklich gehen, der Wetterdienst hat eine Warnung ab vierzehn Uhr ausgesprochen.« Karl schaute auf seine Armbanduhr und dann wieder nach draußen. Er knetete den rechten Daumen mit den Fingern der anderen Hand.
»Ich warte noch«, sagte Ruben entschlossen. Wie sollte er es nach Hause schaffen, wenn er sich so fühlte, als würde er vergehen?
Karl schnalzte mit der Zunge. »Nein, das kann gefährlich werden. Weißt du doch.«
Natürlich wusste Ruben das. Vor einigen Jahren hatte ein Sturm viele der Bäume im Wald samt Wurzeln aus dem Boden gerissen. Dabei war unter anderem ein Tourist ums Leben gekommen. Eine Riesengeschichte für ihren kleinen Ort.
»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete er und versuchte sich an seinem charmantesten Lächeln. Es fühlte sich falsch an, verkrampft, kostete weitere Energie.
»Mensch Ruben.« Karl schüttelte den Kopf und legte ihm eine Hand auf die Schulter, unter der sich Ruben verkrampfte. »Pass auf, ja?«
»Klar.«
Mit einem letzten durchdringenden Blick wandte sich Karl ab. Er zog seinen Parka an und die Kapuze tief ins Gesicht. Als er die Tür öffnete, musste er sie festhalten, damit sie ihm nicht aus der Hand gerissen wurde. Er lehnte sich mit ganzer Kraft dagegen, um sie zu schließen, Blätter wehten herein, und dann war es still. So herrlich still.
Irgendwo flimmerte eine der Neonröhren, das Nächste, das er bald auf die Liste setzen würde.
Ruben rutschte in seinem Stuhl zurück und starrte auf das Sonnenmodell. Die Farbe platzte an einer Stelle ab und zeigte die darunterliegende Schicht. Gelb-grünlich und strukturiert wie Raufaser. Es hatte etwas Tröstliches, dass auch diese Sonne nicht mehr so hell erstrahlte, blättrig und löchrig und unter all den Lackschichten kotzgrün war. Denn so fühlte er sich heute.
Um sechzehn Uhr hatte er die Hoffnung, dass der Mann doch noch auftauchen würde, verloren. Stattdessen nahm er seine Jeansjacke vom Haken und zog den Schal aus dem Ärmel. Der Wind pfiff durch die Ritzen der Tür und der Fenster, die größeren Äste einer Buche waren schon gegen die Fassade gekracht und der Aufprall echote noch immer in Ruben. Die Bäume standen viel zu dicht an dem Gebäude, aber gefällt werden sollten sie auch nicht.
Ein Prickeln setzte sich in seinen Fingerspitzen fest, als er die Tür zudrückte und abschloss. Er war ein Spielball des Windes, der an ihm riss, an seiner Jacke und den Haaren, an seinem Schal zerrte und ihm die Luft abschnürte.
Wie Mikadostäbchen waren die Bäume vor einigen Jahren umgestürzt. Einfach so. Mit einer Wucht, die Autos begraben und Erde zerfurcht hatte. Sein Bauch kribbelte aufgeregt, weil es um ihn herum knarrte und knackte.
Ruben blieb stehen, mitten auf dem Weg, inmitten des Waldes, der so bedrohlich klang wie ein wildes, hungriges Tier. Sein Körper war in Alarmbereitschaft vor Adrenalin. Es fühlte sich unglaublich befreiend an. Dieses diffuse Gefühl der Gefahr, der latenten Angst. Da war noch etwas in ihm, was fühlen konnte, abseits von Wut. Und das weckte Hoffnung.
Kolja
Regen prasselte gegen die Fensterscheibe des Ladens. Mehlstaub hing ihm in den Haaren und Kolja musste dem Drang widerstehen, sich nach draußen zu stellen und sich zu waschen.
Seit drei Uhr morgens stand er hier und es würde noch dauern, bis er Feierabend machen konnte. Seine Muskeln brannten, sein Kopf schmerzte und eine Müdigkeit lag auf ihm, die er kaum mehr abwehren konnte. Sie reichte tief, bis in die Wurzeln seines Seins.
»So, das ist das letzte Blech.« Seine Mutter brachte Brötchen nach vorn und schüttete sie in die Auslage. Fast ausverkauft. Nur noch ein paar Nussschnecken, eine Brezel und ein Roggenbrot. Die Reste würden morgen günstiger verkauft oder gleich von der Tafel abgeholt werden. Überproduktion gab es nicht, dagegen sträubte sich sein Vater trotz Kritik der Kundschaft.
»Ich hab uns ein Weißbrot zur Seite gelegt, dein Vater hat Gulasch gemacht. Du weißt ja, dass er nicht stillsitzen kann, auch mit Verletzung nicht«, sagte seine Mutter halb lachend, halb tadelnd. »Du kannst schon hoch, den Rest krieg ich allein hin.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte.
»Nein, ist schon okay. Geh du ruhig, ich mach das.« Nur noch eine Dreiviertelstunde bis zum Feierabend. Das schaffte er. Sina war vor drei Stunden gegangen.
Seine Mutter drückte ihm die Schulter, dann ging sie über die Backstube in den Hof und hoch ins Haus. Das ganze Gebäude gehörte der Familie. Praktisch, um wenig Zeit zu verlieren. Und ständig erreichbar zu sein. Immer da und niemals fern.
Die Glocke über der Tür bimmelte und eine Frau betrat den Laden. Sie schüttelte draußen den Regenschirm aus und stellte ihn in den kleinen Eimer neben den Eingang. »Hallo.« Sie kam zur Theke, beschaute sich die Reste, tippte sich gegen die Oberlippe. »Ich hätte gern drei Brötchen und die letzte Brezel.« Sie deutete auf die Produkte.
Kolja nickte freundlich, verpackte alles in Tüten, gab es in die Kasse ein.
Ein weiteres Bimmeln und Kolja war allein.
Den Brotteig hatte er für morgen früh angesetzt, auch die Rohlinge vorbereitet. In vierzig Minuten müsste er nur noch abschließen. Und schlafen, endlich schlafen.
Mit dem Feger ging er durch die Backstube, danach durch den Verkaufsraum. Mehlstaub und hereingeflogene Blätter und Krümel, ein Mosaik, das er im Müll entsorgte.
Es kam niemand mehr.
Wie hätte sein Tag wohl ausgesehen, wenn er in der Eifel geblieben, wenn er heute ins Planetarium gegangen, wenn er auf Ruben getroffen wäre?
Er wusste es nicht. Und sein Verstand wehrte sich gegen die Bilder und Vorstellungen, weil es zu frustrierend war.
Sein gesamter Körper war ein Schmerzbrei, weswegen er viel zu heiß duschte, nachdem er seinem Vater wortlos das Baguette auf die Kücheninsel gelegt hatte. Im Topf blubberte sein berühmtes Gulasch. Er konnte es einfach nicht lassen, auch mit einem gequetschten Daumen nicht. Kolja hatte ihn am Morgen aus der Backstube scheuchen müssen, damit er sich schonte. Das hatte nur mit einer anderen Aufgabe funktioniert.
»Es geht bald wieder«, sagte sein Vater und reckte den geschienten Daumen in die Höhe, als sie alle zusammen am Esstisch saßen. Schweigsam, ohne viele Worte. So richtig ruhig war es ja nie, weil entweder das Radio plärrte oder die Nachrichten im Fernseher liefen.
»Gut.« Kolja trank Wasser, aß und schluckte und schlurfte nach einem halben Teller zurück in seine winzige Einliegerwohnung im Dachgeschoss. Wenigstens hier hatte er seine Ruhe. Und wenigstens hier konnte er ein bisschen abschalten.
Er legte sich auf das Bett, eine Feder drückte ihm ins Kreuz, nahm das Handy und scrollte durch die Nachrichten.
»Sturm in der Eifel«
»Orkantief sorgt für Schäden in Millionenhöhe!«
»Mehrere Autos durch umgestürzte Bäume zerstört!«
»Einige Städte von der Versorgung abgetrennt!«
Vielleicht war es besser gewesen, dass er seine Reise abgebrochen hatte. Abbrechen musste. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie Schicksal. Vielleicht hieß es nicht nur Pflichtgefühl.
Und dann klingelte es hohl in seinem Kopf.
Ob es Ruben gut ging?
Der Gedanke an den jungen Mann mit den dunklen Haaren und hellen Augen und den vielen Tattoos überraschte ihn. Er brach über ihn herein und Kolja versuchte zu googeln, ob es Nachrichten aus dem Örtchen gab. Die Bundesstraße war momentan wegen eines Hangrutsches und eines umgekippten Baums gesperrt, Einsatzkräfte waren dabei, alles wieder zugänglich zu machen.
Ein feines Kribbeln glitt durch seine Fingerspitzen. Beinahe wäre auch er abgeschnitten gewesen. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte nicht fahren können, hätte seine Eltern allein lassen müssen. Womöglich wäre er sogar unter einem Baum begraben worden, wäre er geblieben. Wer wusste schon, wie der Parkplatz aussah, ob auch dort Äste heruntergekracht waren oder gar ganze Bäume. Was interessierte die Presse ein Parkplatz, auf dem niemand sonst gestanden hätte.
Seine Beine kribbelten jetzt, fühlten sich unendlich groß an – oder sein Körper viel zu klein.
Eine Beklemmung schnürte ihm die Kehle zu. Es war wirklich besser, dass er gefahren war.
Er scrollte weiter durch Berichterstattungen, konnte es kaum fassen, was ein bisschen Wind anrichten konnte. Der letzte Sturm war so lange her, Kolja erinnerte sich kaum mehr daran. Wäre er geblieben, wäre er dann noch da?
Es fing in den Händen an. Nur ein dumpfes, kaum wahrnehmbares Pochen. Und dazu der klirrende Schmerz gleich hinter der Schläfe. Er zerfiel ins Nichts.
Kolja schüttelte den Gedanken ab, der sich in seinen Kopf schleichen wollte, und öffnete stattdessen die Dating-App. Er brauchte Ablenkung und vielleicht einen weiteren Körper, um sich nicht mehr so körperlos zu fühlen. Scheiß auf die Müdigkeit. Scheiß auf die Angst. Ablenkung konnte so einfach sein.
Links. Links. Rechts. Links. Er hasste diese Oberflächlichkeit, aber manchmal ging es ihm auch nur darum. Bedeutungslose Ficks, um endlich wieder zu spüren, zu fühlen, zu sein. Neben all der Verantwortung, die er so gern abstreifen würde wie ein Kostüm, weil es ihm nicht passte. Weil es zu eng saß und ihn erdrückte.
Aber was wäre dann mit der Bäckerei, wenn er es tatsächlich ablegte? Mit seinen Eltern? Mit all der Zeit, die er bereits investiert hatte? Sein Leben und diesen einen und einzigen Weg, den er schon so lange lief, ohne Abzweigungen oder Umwege. Neben all der Angst, die ihn daran hinderte, dieses Pflicht-Kostüm abzustreifen und alles hinter sich zu lassen. Weil es ihn eben doch zusammenhielt.
Zwischen den Schulterblättern pulsierte ein Schmerz, der sich bis in seinen Nacken zog.
Rechts. Links. Rechts. Rechts.
»Na?« Eine Chatnachricht.
Ablenkung und ein formloser Körper. Das war alles, was er gerade ertragen konnte, um die Wirbel und Knoten im Kopf endlich abzustellen.
Kapitel 4
Ruben
»Ich habe dir etwas zu essen vor die Tür gestellt – Bolognese. Ich hoffe, es schmeckt dir«, sagte seine Mutter am Telefon.
Vor einer halben Stunde hatte Ruben das Trippeln vor seiner Wohnungstür gehört, das Rascheln von Tüten und das klopfende Geräusch beim Abstellen der Dosen. Das alles war ihm nicht entgangen. Keine Minute hatte er gewartet, bis er sie hereingeholt hatte. Gerade lang genug, um sicher zu sein, dass seine Mutter bereits weg war. Die Dosen hatten dort gestanden, sorgfältig aufeinandergestapelt und mit Post-its versehen. Wie immer.
»Danke«, brachte er heraus. Es war ja nicht nur das Essen, das sie ihm gebracht hatte. Es war die Rücksicht, das Vorsichtige. Immer wieder.
»Gab es bei dir Schäden vom Sturm?«, hakte sie nach. »Von außen hab ich nichts gesehen, aber am Gebäude nebenan hat es ein paar der Schieferschindeln vom Dach geweht.«
»Hier ist alles okay, glaube ich.« Bis auf das Klappern einer Schindel direkt über seinem Schlafzimmerfenster. Der Wind hatte an den Jalousien gerissen und gerüttelt, und Ruben hatte dem Impuls widerstehen müssen, nach draußen zu gehen und sich mitreißen zu lassen. Er war stolz, dass er es geschafft hatte, trotz der Phase, in der er sich befand. Trotz des Tobens in seinem Kopf.
»Das ist gut. Bei mir hat es nur ein paar Rosen umgeknickt. Nichts Wildes.« Ruben wusste jedoch, dass seine Mutter mit den Tränen gekämpft haben musste. Die Rosen bedeuteten ihr viel, eigentlich der gesamte Garten. Im Sommer brachte sie ihm oft ein paar Schnittblumen mit. »Weil bunte Blüten die Stimmung heben«, pflegte sie zu sagen. Und der Garten war ihr ganzer Stolz.
»Monika hat gestern ihren Schlüssel verlegt. Da war Alarm in der ganzen Siedlung, damit sie noch vor dem Sturm reinkommt, sie hatte die Fenster offen gelassen.« Sie schmunzelte und Ruben hörte ihr so gern zu, wenn sie von all den kleinen Dingen erzählte. Doch heute wollte sein Körper, vor allem sein Kopf, nicht so recht mitmachen. Die Unordnung war gewachsen und wuchs unaufhörlich weiter.
»Ich würde dir gern weiter zuhören, aber ich muss gleich los. Hab einen Termin bei Dr. Grünheim.«
Eine Weile herrschte Stille. »Okay.« Sie sprach es sanft aus, dennoch bemerkte Ruben die Unsicherheit darin, weil sie sich noch immer eine Mitschuld gab. Er hasste das so sehr, aber er konnte nichts daran ändern. Nicht für seine Mutter, nur für sich selbst. »Dann … Wir sprechen bald wieder, ja?«
»Ja.«
Nun kehrte endgültig Stille ein, ein Zustand, in den sich Ruben seit gestern geflüchtet hatte. Durch die Ritzen der Jalousie drangen kleine Sonnenstrahlen in seine Wohnung, Lichtflecken irrlichterten an der Wand wie durch ein Blätterdach im Wald. Trotzdem hatte er das kleine Licht auf seinem Nachttisch an.
Es kostete ihn auch heute noch Kraft, aufzustehen, sich zu duschen und anzuziehen. Die Termine bei seiner Therapeutin wollte er jedoch nicht verschieben oder ganz absagen, denn dafür waren sie ja da, für diese Momente, für diese Unordnung. Er hatte zu gute Fortschritte gemacht, um jetzt einfach aufzuhören. Dieser ständige Kampf gegen sich selbst, gegen die Dämonen musste geschlagen werden, obschon er sich heute zu müde und ausgebrannt fühlte. Außerdem hatte sie ihm geschrieben, dass die Sitzung trotz der Sturmschäden im Ort stattfinden könne, wenn er wollte.
Die Dosen standen im Kühlschrank, direkt neben der halbleeren Packung Milch und einem verschimmelten Joghurt, den er dringend wegschmeißen musste. Morgen. Vielleicht.
Sein Weg zu Dr. Grünheim führte über die Hauptstraße, die sich heute gespenstisch still vor ihm erstreckte. Blätter und Äste lagen verstreut herum, als hätte jemand einen Baum gehäckselt und alles liegen gelassen. Im Schaufenster des kleinen Tante-Emma-Ladens hing ein Schild, dass heute geschlossen bleiben würde. Vermutlich musste Herr Redelmaier in seinem Garten aufräumen oder den Nachbarn helfen. Waren konnten heute ohnehin nicht angeliefert werden, da die Bundesstraße noch nicht wieder freigegeben war.
Ruben hatte ein schlechtes Gewissen, dass er selbst nicht viel tun konnte, während die Schlaidter Dorfgemeinschaft bei solchen Großereignissen zusammenhielt.
Davon erzählte er auch seiner Therapeutin, als es um die guten und die schlechten Dinge der Woche ging, und von dem fremden Mann und seinem gebrochenen Versprechen. Dass es ihn irgendwie aus der Bahn geworfen hatte und er wütend deswegen war. Immer diese Scheißwut, die ihn in letzter Zeit öfter quälte. Wut gegen sich selbst, Wut auf die äußeren Umstände, Wut, dass keine Besserung in Sicht war.
Dr. Grünheim gab ihm ein paar Aufgaben mit, die er alle schon kannte, selbst ein Stimmungstagebuch führte er, sah jeden Morgen in den Spiegel und sagte sich Nettigkeiten und spürte stets tief in sich hinein und hatte doch oft genug das Gefühl, dass das alles kaum etwas brachte, dass er in diesem Stadium stagnierte und festsaß.
»Sie machen Fortschritte, das dauert«, war alles, was die Therapeutin seinen Bedenken entgegenzusetzen hatte. Für Ruben ging das alles nicht schnell genug, obwohl er ja wusste, dass sie recht hatte. Dass er Zeit brauchte und Geduld mit sich.
Morgen war der nächste Tag und nächste Woche sah es wieder anders aus. Sein Mantra der letzten Jahre.
Er nahm den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, nicht den längeren durch den Wald, um das Gesagte zu verarbeiten, zu reflektieren wie normalerweise. Denn obwohl er die Stille sonst liebte, trug sie heute noch etwas anderes mit sich. Die Stille nach dem Sturm, die ihn bedrückte, wie sie es immer getan hatte. Und diesmal sogar wortwörtlich.
Am Nachmittag schaffte er es endlich, die Bolognese in der Mikrowelle aufzuwärmen. Gerade, als er sich hingesetzt hatte, klingelte jedoch sein Telefon.
Karl.
»Hallo Ruben. Karl Karlsmann hier«, meldete der sich prompt und vergaß wie jedes Mal, dass Ruben den Namen auf dem Display sehen konnte, und auch, dass er keinen anderen Karl kannte.
»Ja, was gibt es?« Denn sein Chef rief nur an, wenn es etwas gab. Meistens nichts Gutes.
»Im Planetarium ist derzeit der Strom weg. Deswegen bleibt es erst mal geschlossen, bis die Leitung repariert ist. Eine Woche dauert das etwa, sagte man mir.«
Kein Strom. Geschlossen. Eine Woche. Die Wörter kamen nur hallend in Rubens Gehirn an, setzten sich dort als Echo fest und verblieben lange, bevor er sie endlich greifen konnte und verstand. »Okay«, sagte er mechanisch. Er hatte ja keine andere Wahl.
»Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.«
Und damit war das Gespräch beendet. Im gleichen Moment piepte die Mikrowelle und riss Ruben aus der intensiven Betrachtung seines Telefons.
Er nahm den viel zu heißen Teller aus der Mikrowelle. Er hätte ihn beinahe fallen lassen, etwas in ihm aber wollte, dass er ihn in den Händen behielt. Fest umschlossen, für den Schmerzreiz.
Ruben entschied sich für eine dritte Option, auch wenn diese ihn sehr viel Selbstbeherrschung abverlangte, sich nicht weiter wehzutun. Eilig stellte er den Teller auf die Arbeitsfläche. Er dampfte und der Geruch nach Bolognese erfüllte den kleinen Raum, der sich nun schützend um ihn legte. Wie eine feste Umarmung.
Er wartete einige Augenblicke, betrachtete die gerötete Haut seines Handballens, dann nahm er sich schließlich das Geschirrtuch vom Haken und trug den Teller damit ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte und aß.
Er aß einfach. Vielleicht machte er ja doch Fortschritte.
Dass der Sturm Schäden angerichtet hatte, hatte er natürlich bemerkt. Die Feuerwehr war permanent im Einsatz gewesen, bis in den Morgen hinein hatten immer wieder Sirenen geheult. Das blaue Licht hatte sich durch die Jalousie gedrängt, sein Schlafzimmer erleuchtet und ihn in Panik versetzt. Heute Morgen hatte er von dem umgestürzten Baum auf der Bundesstraße gelesen, dem einzigen Weg nach Schlaidt. Es hatte noch mehr Schäden gegeben, aber immerhin war niemand lebensgefährlich verletzt worden.
Dass es allerdings auch die Stromleitung vorm Planetarium erwischt hatte, hatte er nirgends gelesen, womöglich wusste nicht einmal mehr die Lokalpresse, dass es überhaupt noch existierte.
Die Bolognese wärmte ihn von innen. Dann bleib ich eben ein paar Tage hier, redete er sich ein. Was soll’s. Ich schaff das schon.
Seine Therapeutin wäre stolz auf ihn, dass er so ruhig blieb, obwohl alles in ihm zum Zerreißen gespannt war und ein fieses Pochen von seinem Kopf in den kompletten Körper hallte. Seine Ohren rauschten im Druck, der sich festsetzte. Wut, erkannte Ruben. Immer wieder Wut.
Kolja
Er hätte letzte Nacht nicht mehr rausgehen sollen. Hätte diesem Drängen nicht nachgeben und ins Bett gehen sollen. Dann würde er jetzt nicht völlig übermüdet in der Backstube stehen und Brotlaibe in den Ofen schieben, die Zeit einstellen und sich danach mechanisch den Croissants zuwenden.
Mischen, Kneten, Falten, Rollen.
Die Bewegungen glitten ihm routiniert vom Körper. Wie ein Uhrwerk funktionierte er, obwohl sich sein Rhythmus dagegen sträubte. Nichts saß richtig und doch perfekt.
»Du siehst aus, als hättest du nicht geschlafen«, sagte Sina, die gerade die Backstube betrat. Das traf den Nagel auf den Kopf.
Er brummte eine Antwort und dachte an die vergangenen Stunden, in denen er sich wenigstens gefühlt, seine Konturen nicht mehr so geflackert hatten.
»Was kann ich tun?«, fragte sie und streckte sich.
»Die Roggenbrötchen.«
Sie nickte und machte sich ans Werk.
Obwohl sein Vater nicht arbeiten und sich schonen sollte, drängte auch er sich in diesen viel zu kleinen, viel zu warmen Raum, beobachtete sie mit Argusaugen und knurrte, wenn ihm etwas nicht passte.
»Mehr Gefühl«, »Aus dem Handgelenk«, »Mensch, das hast du doch mal gelernt.« Stakkatoartig kam die Kritik und traf mit jedem Mal ein bisschen härter.
Dennoch schafften sie es unter den Verbalattacken, die Kolja beinahe körperlich spürte, die Auslagen zu bestücken, bis die ersten Menschen für frische Waren den Laden betraten. Arbeitnehmende, auf dem Weg zum Büro. Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur Schule. Auszubildende und so weiter. Tagein, tagaus.
Ein ätzender Kreislauf, dem Kolja so gern entkommen wäre. Bald, sagte er sich. Wenn Papa wieder kann und Britta ebenfalls, wenn wir eine zweite Aushilfe gefunden haben. Wenn der Sturm vorüber ist.
Abends im Bett wollte er endlich zur Ruhe kommen. Der Geruch nach frischem Brot klebte an ihm wie Honig. Als hätte er sich selbst geknetet und in den Ofen geschoben. Trotz Dusche. Trotz Schrubben, bis die Haut ganz rot war. Und so fühlte er sich auch.
Er überdachte seinen Plan. Vielleicht hätte er weiter wegfahren sollen. Auf die Schwäbische Alb, dort gab es ebenfalls einen Sternpark, wenig Lichtverschmutzung und wilde Tiere sicherlich auch. Oder hoch nach Skandinavien. Wieso hatte er ausgerechnet in der Eifel starten wollen?
Weißt du doch.
Und wie er das wusste. Es waren diese »Aber wenn etwas ist?« und »Wie lange?« und »Wieso willst du das tun?« und »Warum jetzt?«, die ihn jedes Mal davon abgehalten hatten. Nach seinem Abschluss, nach seiner Ausbildung, nachdem er diesen verfluchten Meisterbrief in den Händen gehalten hatte. Aber jetzt, jetzt wollte er endlich durchstarten. Weil es ein »Nach diesem und jenem« nicht mehr geben würde. Nur noch ein Bevor und kein Danach. Und diese Endgültigkeit machte ihm furchtbare Angst, mehr noch als das Ungewisse, das er ja niemals wirklich erlebt hatte. Mehr noch als die andere Angst, die tief in ihm gor und auf ihren Auftritt wartete wie ein Untier. Alles war ihm immer klar gewesen, alles vorherbestimmt. Alles eine gerade Linie, die so viel Sicherheit gab. Aber eben auch nicht mehr. Keine Abzweigung, keinen Umweg.
Die Eifel war sein Kompromiss gewesen. »Ist ja nicht weit«, »Ich kann helfen«, »Ich bin nicht aus der Welt«. Vielleicht hatte er damit falschgelegen. Und nun lag er hier.
Ein weiterer Plan manifestierte sich, schon seit er die Meldungen über die Sturmschäden in der Eifel gelesen hatte. Er musste wissen, wie es Ruben ging, ob bei ihm alles in Ordnung war. Auch wenn er ihn nicht einmal kannte, hatte er in seinem ersten Anflug von Abenteuer die Hauptrolle eingenommen. Er war der erste Mensch gewesen, den Kolja in seiner neu erlangten Freiheit getroffen hatte. Ein Zufall und Glück. Und wenn er an Ruben dachte, dann dachte er ebenso an das Piercing in der Nase, das so schön gefunkelt hatte, die Haare, die sich so weich anfühlen mussten, und in ihm wurde alles ganz leicht. Konturen kamen zurück und wurden schärfer.
Ein seltsamer Effekt, den er so noch nie verspürt hatte, wenn er an eine andere Person dachte. Nicht einmal beim Sex.
»Ruben«, flüsterte Kolja in die Stille seines Zimmers, die so unnatürlich und allumfassend war. Denn normalerweise war es immer laut. Ständig piepste etwas, jemand fluchte, die Tür klingelte, der Fernseher lief. Doch jetzt und hier konnte Kolja endlich aufatmen. »Ich komme auf jeden Fall noch einmal vorbei.« Er musste sein Versprechen einlösen. Ein Versprechen, das er unbedarft gegeben hatte, zugegeben.
Das erste Mal, seit er wieder in Köln war, lächelte Kolja ganz ehrlich. Er war gut darin, Zusagen zu geben und sie zu halten. Dass er ausgerechnet diese eine nicht hatte halten können, fühlte sich auf gewisse Weise befreiend an, aber auch erdrückend.
Sofort war die Freude über diesen kleinen Sieg vergessen und Koljas Herz implodierte beinahe. Er müsste sich entschuldigen, weil er nicht mehr Bescheid gesagt hatte.
Ein Schauer durchlief ihn und brachte Kolja dazu, doch noch einmal aufzustehen und sein Handy zu nehmen. Er öffnete die Liste, in der er all die Dinge eintrug, die er erledigen wollte, bevor … Und seufzte. Bevor es nicht mehr ging. Bevor die Verantwortung zu groß wurde und er nicht mehr einfach so gehen könnte. Aber einfach war es ja nie gewesen und das würde sich auch in Zukunft nicht ändern.
Wie Blei sank er auf die Matratze zurück und tippte mit zittrigen Fingern in diese endlos lange Liste voller Unmöglichkeiten: »Ruben finden und mich entschuldigen.«
Kapitel 5
Ruben
Die Wut kam wie der Sturm, wirbelte alles auf und hinterließ Chaos in ihm. Sie war groß und rau und stand für alles, wovor Ruben sich fürchtete, seit er denken konnte.
Gaben ihm die Tage und die Routine im Planetarium Halt, so war er nun völlig losgelöst davon, trudelte wie ein Satellit außerhalb jeglicher Anziehungskraft. Und damit brach die Wut über ihn herein, fachte ein brennendes Inferno an.
Ruben atmete, ging eine Runde spazieren, um sich abzukühlen und wenigstens einen Teil seines Rhythmus aufrechtzuerhalten, doch dieser Schatten wollte nicht von ihm weichen, egal, was er auch versuchte. Und so kam er zwar ausgekühlt in der Wohnung an, aber innerlich loderte er noch immer.
Die Wut annehmen, sie ergründen, das hatte er in der Therapie gelernt. Doch es bewahrte ihn dennoch nicht davor, was sie mit ihm anstellte. Da waren Bilder, Geräusche, Erinnerungen, ein Phantomschmerz aus jahrelanger Erduldung und Zurückhaltung.
Wie sollte man etwas heilen, vor dem man selbst am meisten Angst hatte?
Ruben schlug gegen die Wand. Er spürte den Schmerz, schenkte ihm jedoch keine Beachtung, bis die Haut aufplatzte. Mit einem Aufschrei boxte er noch einmal gegen den rauen Putz, bis er schluchzend zusammenbrach.
Weswegen war er wütend?
Gefühle zulassen, in sich hineinhorchen.
Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand und starrte ins Leere. Sein Tag lief nicht so, wie er es sollte. Natürlich hatte er Pläne entwickelt, andere Routinen, aber dieser Fall war noch nie eingetreten. Das Planetarium hatte nie geschlossen außer an Feiertagen und zwischen Weihnachten und Neujahr. Aber diese Tage kannte er, er konnte sich darauf vorbereiten, Aufgaben suchen. Sie kamen nie überraschend.
»Scheiße!«, rief er und wiegte sich vor und zurück, presste die Handballen auf die Augen, um irgendetwas zu tun.
In diesen Momenten dachte er an seinen Vater, an die Vergangenheit, aber er drängte es zurück in seinen Verstand, verschloss es sorgfältig in einer imaginären Kiste, die dort stand wie ein Mahnmal seiner Unzulänglichkeiten.
Nach der Wut kam die Stille. Ein Loch, in das er jedes Mal stürzte. Freier Fall zum Erdmittelpunkt. Ruben hatte sich inzwischen auf sein Bett gehievt und starrte die Decke an. Lichtpunkte tanzten durch die halb geöffnete Jalousie.
Eine nicht gelesene Nachricht von Mo, ein verpasster Anruf. Ein Stück Routine, das Ruben trotz allem nicht hatte aufrecht halten können.
Das Herz drückte gegen seine Brust, seine Atmung war flach. Es würde vergehen.
Die Tage verschmolzen zu einem tristen Grau, weil Ruben die Jalousie nicht öffnete. Stattdessen wartete er auf Neuigkeiten von Karl, doch die blieben aus. Wie lange dauerte es, bis eine verdammte Stromleitung repariert war? Wut und Angst und Antriebslosigkeit wechselten sich ab. Inzwischen hatte Ruben aufgegeben, sich dagegen zu wehren und ließ es einfach nur über sich ergehen, hoffte auf die Taubheit, die sich danach stets ausbreitete.
Seine Hand pochte. Die aufgeplatzten Stellen heilten ganz langsam, doch der Schorf riss bei jeder unbedachten Handbewegung wieder auf. Seine Stimmbänder waren ganz rau, weil er so oft ins Kissen geschrien hatte.
Anrufe und Nachrichten, alle nicht von Karl, hatte er ignoriert. Die hohe Zahl in der roten Sprechblase auf dem Display bereitete ihm Sorge, aber es waren seine Mutter und Mo, die wussten es ja.
Immerhin hatte er in der Zeit eine Art Ersatzroutine entwickelt. Aufstehen, Zähne putzen, etwas essen, ins Bett gehen und an die Decke starren. Dazwischen schreien und ins Kissen boxen, den Newsfeed herunterscrollen, bis der Akku schwächelte. Nichts davon half, aber es lenkte ab von der Orientierungslosigkeit, vom Trudeln im Orbit, und einer weiteren Angst, die sich in ihm ausbreitete: Wie würde es werden, wenn das Planetarium tatsächlich einmal dichtmachte? Würde das dann sein Alltag sein?
Es war Donnerstagnachmittag, keine Woche seit der Hiobsbotschaft vergangen, und seine Therapie war heute ausgefallen, als Karl sich meldete.
»Die Arbeiten sind seit gestern abgeschlossen. Wir können morgen wieder öffnen.« Gute Nachrichten in aller Kürze verpackt.
Ruben hätte sich gern gefreut, wäre jubelnd aufgesprungen, aber dafür reichte seine Kraft nicht aus. Fast eine Woche ohne Verpflichtung zehrte an ihm. »Gut, bis morgen«, war alles, was er herausbrachte.
Freitage waren besonders ruhig. Ihnen fehlten die surrende Hektik eines Donnerstags und das gehetzte Vibrieren eines Montags. Es waren nur kleine Schwankungen, die Ruben auf dem Weg durch den Ort zum Planetarium wahrnahm. Heute besonders deutlich.
Freitags schlichen die Autos beinahe träge neben ihm her. Freitags hupte niemand. Freitags war alles müde, als machte sich der Schlafmangel der Woche bemerkbar.
In der Luft hing der Regenschauer der vergangenen Nacht. Weißer Dunst schwebte knapp über der Erde, bedeckte Gras und Pflanzen mit Tau. Die Luft roch kühl, nach Herbst, ein wenig modrig. Früher hatte ihm diese Jahreszeit Angst gemacht, weil es früher dunkler wurde, weil alles bedrohlich und kalt wirkte. Und Geister waren im Schatten größer. Es war besser geworden mit der Zeit im Planetarium.
Ein sanftes Prickeln erfasste ihn, als er es zwischen den Baumkronen entdeckte. Auf einem künstlich angelegten Hügel thronte es über dem Dorf. Vermutlich ein alter Abraumhaufen des ehemaligen Kieswerks. So genau hatte man es damals nicht genommen.
Im Herbst hatten sie oft Schulausflüge hierher gemacht. Sie hatten das Planetarium besucht und waren anschließend mit einem der Forschenden auf die angrenzende Lichtung gegangen, hatten dort ein Teleskop aufgebaut und den Himmel beobachtet bis spät in den Abend hinein. Es war damit zur schönsten Zeit geworden: ohne Ärger, ohne Angst, ohne die Wut.
Heute liebte Ruben den Herbsthimmel. Mit Mo hatte er ihn oft betrachtet. Vom Garten aus, wenn es drinnen zu eng geworden war und die Luft zu dünn, zu wenig.
Dort im Garten, auf dem Dach der kleinen Gartenhütte, hatte Mo ihm auch vor Jahren eröffnet, dass sie wegziehen würden.
Ruben seufzte schwer. Im Herbst dachte er viel häufiger daran.
Seine Routine musste sich nach der Zwangspause erst wieder einpendeln, er hatte länger gebraucht, um aufzustehen. Hatte länger vor dem Spiegel gestanden, sich motivieren müssen und die dunklen Augenringe mit Concealer überdeckt. Auch das Frühstück hatte länger gedauert. Doch das war nun gleich, denn die Routine, den Rhythmus, würde er sich schon wieder zurückerobern. Nun überwog die Freude darüber, endlich wieder eine Aufgabe zu haben, eine Verantwortung, nicht mehr nur für sich selbst.
Vor dem Planetarium standen noch ein paar provisorische Bauzäune, ein kleiner Bagger und Müll. Die frisch aufgewühlte Erde zeugte davon, dass hier in den letzten Tagen andere gearbeitet hatten, ihrer Routine nachgegangen waren. Ein Beleg für die Zeit, in der Ruben sich einmal mehr hatte bewusst machen müssen, dass er nicht gesund war.
Im Planetarium angekommen, schaltete er das Licht ein. Es flackerte kurz, das war’s. Ruben fuhr den Projektor hoch, startete die Computer und griff sich den Staubwedel. Freitags putzte er am liebsten.
Das war seine Aufgabe und die erledigte er gewissenhaft.
Um siebzehn Uhr schloss er die Tür ab. Niemand hatte das Planetarium besucht, niemand war gekommen. Selbst Karl war nach nur drei Stunden nach Hause gegangen, nachdem er alles noch einmal auf Sturmschäden überprüft hatte.