Wie Schwimmen im Meer - Matti Laaksonen - E-Book
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Wie Schwimmen im Meer E-Book

Matti Laaksonen

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Beschreibung

»Wenn ich es genauer betrachtete, war auch mein Leben ein einziges großes Klischee.« Sich zu verlieben scheint das normalste der Welt zu sein, aber nicht für Till. Der Achtzehnjährige blickt eher argwöhnisch auf diese Gefühlswelt und vertieft sich stattdessen in die Schreiberei. Erst als Jannik in sein Leben tritt, begreift Till, dass die Fragen, die er in seinem Roman stellt, auch für ihn selbst eine größere Rolle spielen. Jannik, der noch nie das Meer gesehen hat und eine außergewöhnliche Liebe für Hühner hegt, hilft ihm dabei, Antworten zu finden, doch gleichzeitig ist er auch der Grund, aus dem Tills bisheriges Leben aus den Fugen gerät. Was ist wichtiger – Liebe oder Freundschaft? Was ist überhaupt der Unterschied? Und wieso müssen die beiden erst im Meer schwimmen, um das zu verstehen?

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Matti Laaksonen

WIE SCHWIMMEN IM MEER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Matti Laaksonen | [email protected] | www.mattilaaksonen.dec/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 Dresden

 

1. Auflage 2022, © Matti Laaksonen – Alle Reche vorbehalten

Lektorat: Lorna BillKorrektur: Vanessa Balassa & Kerstin Neubauer-Krause

Covergestaltung und Innendesign unter Verwendung folgender Materialien:Julia Dreams auf creativemarket.comKaleriia auf creativemarket.comMichael Rayback Design auf creativemarket.comGraphix Line Studio auf creativefabrica.com

 

Content Notes:

Personen, die sensibel auf den Konsum von Alkohol und Drogen (in diesem Fall Zigaretten) reagieren, möchte ich bitten, das Buch mit Vorsicht zu lesen.

Inhalt

Prolog

(K)ein Label

Verwandlung

Salzkrautballen & Grillen

Ode an den Neubeginn

Körperklaus

Alles wie immer

Meer, Sonne & Möwenschiss

Regenpause

Meerweh

Einsamer Autor

Zweifel am Sein

(K)ein Label

Geheimnis: enttarnt

Schmetterlingsexplosion

Normal sein

Eine Chance

Es lebe die Freundschaft!

Hühnerfreunde

Worst-Case-Szenario

Steine

Beziehungsvertrag

Walter

@Kuh_Ting_Anonymous

Grau

Meine Form von Liebe

Das Ding mit dem Küssen

Alles nach Plan

Reden oder nicht reden

Wahrheit tut weh

Halt

Die Last des Schweigens

Gewitterwolkengrau

Das Gewicht der Endgültigkeit

Das große Geheimnis

Die klemmende Tür

Plot Twist

Epilog

Nachwort und Danksagung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Onkel Siggi, der mir beibrachte, dass man auch mit Umwegen das Ziel erreichen kann.

 

 

 

Trotzig starre ich in die kalten Fluten, die unter mir gegen den Felsen schlagen. Sie spiegelten mein Inneres perfekt. Die See in mir tobt und ich weiß nicht mehr, was ich überhaupt fühle – oder fühlen kann. All die Hoffnung der letzten Jahre war vergebens, das begreife ich, nun, da ich hier stehe und genau das gefunden habe, wovor ich mich die ganzen Jahre über fürchtete. Ich habe es nicht wahrhaben wollen, die Hoffnung ist davon geweht wie ein Drachen im Sturm. Und die letzten Jahre liegen zerbrochen vor mir. Zerbrochen ist auch der Traum, dass alles ein gutes Ende findet.

 

Ende

 

 

 

»Das Ende ist echt deprimierend. Ich möchte nicht mit der davongewehten Hoffnung zurückbleiben. Eine Liebesgeschichte wäre ein toller Neubeginn von etwas ganz Großem. Das würde auch nach einem Sequel schreien«, schloss Kira und warf das Manuskript, das sie während des Lesens dicht vor ihrer Nase gehalten hatte, aufs Bett.

Ich stöhnte innerlich, es war die wahrscheinlich millionste Anmerkung, die sie zu meinem Roman hatte, und nun diese alles vernichtende Aussage. Autsch. »Aber ich will da keine Liebesgeschichte drin haben. Das funktioniert auch ganz gut ohne, finde ich.« Genug Anspielungen auf eine Liebesbeziehung gab es ja, und die zweite Figur hatte ich nur eingebaut, damit sie zufrieden war. Es brauche auf jeden Fall ein Paar zum Shippen, das hatte sie schon vor Wochen gesagt, als ich ihr das angefangene Manuskript das erste Mal gezeigt hatte. Eigentlich dachte ich, ich hätte es gut umgesetzt. Dabei war ich wohl der denkbar schlechteste Ansprechpartner in Sachen romantischer Liebe und Beziehung. Wie sollte ich auch über etwas schreiben, das ich selbst nicht kannte?

»Na, wenn du meinst.« Kira zuckte mit den Schultern und drehte sich vom Rücken auf den Bauch. »Aber mal was anderes: Hast du Lust, nächstes Wochenende mit zum Strand zu kommen?« Thema gewechselt. So schnell ging das bei ihr.

»Wenn es von Touris nur so wimmelt? Nein, danke.« Außerdem sollte es wieder über dreißig Grad heiß werden, da würde ich in der Sonne innerhalb von nur fünf Minuten schmelzen und anschließend verglühen. Ein elendes Häufchen menschlicher Schlacke wäre alles, was von mir übrig bliebe.

»Wir waren schon lange nicht mehr gemeinsam weg«, meinte Kira und stützte ihren Kopf auf einem Arm ab.

Mit dem Zeigefinger tippte ich auf das Dokument. »Ich möchte weiterschreiben.« Und endlich mit dem Rohmanuskript fertig werden, auch wenn noch eine Menge Arbeit auf mich wartete. Der Mittelteil musste komplett umgeschrieben werden. Oder aber die ganze Geschichte. Kira hatte mir hunderte Tipps und Hinweise gegeben und mir war selbst einiges aufgefallen, was ich abändern wollte. Innerlich seufzte ich wegen des gewaltigen Berges, der auf mich wartete, andererseits konnte ich es gar nicht mehr abwarten, mit der Überarbeitung loszulegen.

Kira schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen. Manchmal fragte ich mich, ob es richtig gewesen war, ihr zu erzählen, dass ich einen Roman schrieb. Allerdings hatte sie mir schon enorm weitergeholfen, hatte sich den Verlauf angehört, ihre Meinung zu Wendepunkten und Auflösungen gegeben. Ohne sie würde das Manuskript nicht einmal halb so gut werden. Auch wenn ich sie dafür verfluchte, dass sie mir so viel angestrichen hatte. Es kam der Geschichte ja nur zugute. Jedenfalls redete ich mir das immer wieder ein, wenn ich kurz davor war, alles hinzuschmeißen.

»Dann denk aber auch an die Liebesgeschichte!«

Ich beugte mich zu ihr und sah ihr tief in die Augen. »Es wird keine Romance, da bin ich gar nicht der Typ für«, sagte ich bekräftigend, zur Geschichte passte es ja auch gar nicht. Wieso musste es überhaupt immer eine Lovestory geben? Egal, wo ich hinsah, überall ging es nur darum, sich zu verlieben. In Filmen, in Büchern und – nicht zu vergessen – im realen Leben.

»Glaub mir, das würde einschlagen! Der Plot ist mega. Auch wenn die Geschichte ein bisschen zu autobiografisch ist.« Mit einem Blick, der so viel sagte wie ›Ich hab dich erwischt‹, taxierte sie mich.

Verhalten lächelte ich und strich ihr eine dunkelbraune Strähne aus der Stirn. »Es ist aber nicht autobiografisch.« Gut, vielleicht beruhte es ein bisschen auf Tatsachen, die meinem Leben erstaunlich ähnelten, das war es auch schon. Nur ein paar kleine Details, die ich übernommen hatte, das tat doch jeder Schreibende. Bestimmt. »Das wäre außerdem total unprofessionell«, nuschelte ich.

»Das heißt also, der Junge, der seinen vermissten Vater sucht, ist kein bisschen von dir inspiriert?«

Ich schnaubte. »Kein bisschen. Ich suche meinen Erzeuger schließlich nicht.« Das war nicht weniger als die Wahrheit.

Kira rollte wieder mit den Augen. »Das spricht fürs Ende«, murmelte sie. »Und deswegen wäre noch so ein Hauch von Liebe schön anstatt eines Sad Ends.«

»Damit die dann händchenhaltend vor dem Grab stehen und sich mein Protagonist trösten lassen kann? Wie viel Klischee ist das bitte?«

»Du bist der unromantischste Kerl, den ich kenne!«

»Und dafür liebst du mich, gib’s zu.« Auf meine Lippen legte sich ein breites Grinsen und Kira schlug mir eines der Kissen, die auf dem Bett lagen, ins Gesicht. Ich griff danach und hielt sie davon ab, es mir noch einmal über den Kopf zu ziehen.

In dem Moment hörte ich, wie ein Schlüssel im Schloss der Haustür schabte, ein verhaltenes »Mist« und ein Poltern. Die Tür klemmte. Wie immer.

Rasch drehte ich mich zu meinem Schreibtisch, stopfte die losen Blätter des Manuskripts in die Schublade, bedeckte sie mit ein paar Steinen, die ich darin sammelte, und sprang vom Stuhl.

»Du hast es ihr immer noch nicht gesagt?«, mutmaßte Kira und ein nicht ganz so stummer Vorwurf lag in ihrer Stimme.

Natürlich hatte ich meiner Mutter nichts davon erzählt, dass ich ein Buch schrieb. Ihre Reaktion darauf konnte ich mir ausmalen. Sie würde mir den Kopf tätscheln, mich anlächeln und mir nahelegen, etwas Vernünftiges zu tun. Schließlich müsse ich später einmal von irgendetwas leben, hallten ihre Worte schon jetzt durch meinen Kopf. Aber das war es nicht allein, warum ich ihr davon nichts sagte.

Ich lief über den Flur zur Haustür und öffnete sie von innen, da Mama es noch nicht geschafft hatte und immer wieder mit irgendetwas gegen das Holz donnerte.

»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen, Misses?«, fragte ich gestochen und schaute zu Mama, die in einer Hand eine Tüte aus dem Duty-Free-Shop hielt und in der anderen mit dem Schlüssel herumfuchtelte.

»Till, Schatz!«, sagte sie und richtete sich auf, um mich in eine Umarmung zu ziehen. Sie roch nach Schweiß und einer langen Reise, diese typische Mischung aus Flugzeug und – wie ich es nannte – Eau de pilote. Dann sah sie über meine Schulter und löste sich. »Hallo Kira.«

»Hi Sabine. Guten Flug gehabt?«, hakte meine beste Freundin nach und zog sich ihre Nikes an, die zwischen all dem Grau und Weiß des Flures wie verirrte Farbkleckse wirkten.

»Es war anstrengend, aber ja. Barcelona ist immer eine Reise wert.« Mama lächelte und klopfte mir auf die Schulter. Aus ihrem Dutt hatten sich ein paar dunkelblonde Strähnen gelöst und verliehen ihr einen etwas zerstreuten Aussehen.

Ich schnappte mir den Rollkoffer und schob ihn neben die Kommode. Währenddessen trat Mama sich die Pumps von den Füssen, beförderte die Schlüssel in das Metallschälchen und löste den Knoten auf ihrem Kopf, sodass die Haare über ihre Schultern fielen.

»Ich wusste nicht, dass du heute hier bist, Kira.« Mama warf mir einen Blick zu und grinste schief. Seitdem Kira regelmäßig bei uns ein uns aus ging, glaubte sie, dass da mehr lief. Vor allem seit der Trennung von Tatjana vor einigen Wochen. Dem war aber nicht so. Kira war eine gute Freundin und ich wurde nicht müde, das immer wieder zu betonen. Ich liebte sie, ja, jedoch auf einer anderen Ebene.

»Das war auch superspontan, weil ich Spätdienst habe, und mir langweilig war.« Kira schlüpfte in den rechten Schuh und straffte die Schultern. »Ich muss jetzt aber los.«

»Grüß deine Eltern!«, meinte Mama.

»Mach ich. Ihr müsst unbedingt mal wieder vorbeikommen. Papa experimentiert wieder ein bisschen mit Gewürzen und Zutaten.« Kiras Eltern besaßen im Nachbarort ein Restaurant, in dem sie bald ihre Ausbildung beginnen würde. Dort hatten wir uns vor einigen Jahren auch kennengelernt.

»Das klingt großartig!« Mama lächelte und ich konnte mir vorstellen, dass sie geistig schon die Speisekarte durchblätterte, um sich schlussendlich doch für Labskaus zu entscheiden.

»Super, kommt einfach mal rum, euer Stammplatz ist immer frei.« Kira zwinkerte und umarmte mich, dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange. »Meld dich.«

»Werd ich.« Ich winkte und schloss die Tür hinter ihr; ich lehnte mich dagegen und beobachtete Mama, die die Kostümjacke aufknöpfte und an die Garderobe hängte. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und ihre Wangen wirkten eingefallen.

»Hast du Hunger?«, erkundigte ich mich. Wahrscheinlich hatte sie in all dem Stress wieder nur wenig gegessen. Zumal das Flugzeugessen wohl kaum als nahrhaft bezeichnet werden konnte.

»Wie ein Bär! Ich will mich nur kurz umziehen und ein bisschen frisch machen, ja?«

Ich nickte und schaute zu, wie sie mit Koffer und Tasche in ihrem Zimmerchen am Ende des Flurs verschwand.

Mit dem Fuß stieß ich mich von der Tür ab und lief in die Wohnküche, ein kleiner Raum, in dem das riesige Sofa, das wir günstig von einem netten Rentnerpärchen bei eBay Kleinanzeigen abgestaubt hatten, nur schwerlich hineinpasste. Auf dem grauen Stoffbezug wirkten die dunklen Jeansflecken, die sich über die Jahre gebildet hatten, und der Riss, der mit einem Flicken repariert worden war, wie Beweisstücke eines langen Lebens. Das alles änderte aber nichts daran, dass ich mich beim Fernsehen gern in die superbequeme Ecke lümmelte.

Ich wartete, bis Mama ins Wohnzimmer kam und sich auf das Sofa fallen ließ, dann ging ich in die Küche und erwärmte den Rest des Mittagsessens in der Mikrowelle.

»Hab ich Kira und dich gestört?«, fragte sie.

»Nein, sie wollte gerade ohnehin gehen.«

Sie nickte und widmete sich dem TV-Programm. Eine Sendung, in der Frauen das perfekte Hochzeitskleid suchten. Mama liebte diese Art von Unterhaltung. Nicht zu anspruchsvoll, aber auch nicht zu trashig. Etwas, um runterzukommen, ohne viel nachdenken zu müssen.

Die Mikrowelle piepte. Ich nahm den Teller heraus und stellte ihn laut fluchend auf dem Tresen ab, um meine Finger in der Luft herumzuwedeln. Scheiße, war der heiß!

»Wie sagt man so schön: Wer nicht heiß packen kann, kann auch nicht heiß lieben«, kommentierte Mama belustigt.

»Ja, haha. Den hast du von Kira, oder?« Meine Freundin sprudelte manchmal vor blöden Sprüchen über und leider merkte Mama sich diese Art in einem Teil des Gehirns, der nie etwas vergaß. Wahrscheinlich sammelte sie Kiras Weisheiten zwischen der Erinnerung, wie ich als Kind in eine riesige Agave gelaufen war, und der, wie ich einen Gummistiefel im Watt verloren hatte. Ich hasste seitdem Watt. Und Agaven. Und immer wieder daran erinnert zu werden.

Mit einem Handtuch als Schutz vor der Hitze stellte ich den Teller vor Mama auf den Couchtisch. Sie nickte mir dankbar zu und schlang die ersten Bissen hinunter, fächerte sich allerdings mit beiden Händen Luft in den Mund und musste mit einem kräftigen Schluck Wasser nachspülen.

»Pusten nicht vergessen«, mahnte ich, so wie sie es mir früher immer erklärt hatte, wenn ich als Kind mal wieder zu gierig gewesen war. Eine abgewandelte Version ihres Spruchs von eben verkniff ich mir lieber.

»Ja, ja«, moserte sie und blies den nächsten Bissen übertrieben lange. »Wie war deine Woche?«, fragte sie kauend, löste den Blick aber kaum vom Bildschirm.

»Viele Hausaufgaben. Viel Lernen. Und die ersten Klausuren wurden schon angekündigt«, zählte ich auf und ließ wie üblich das meiste weg.

»Kommst du mit?«

»Denke schon.« Nein, dachte ich nicht, das nannte sich wohl kleine Notlüge. Mama musste nicht wissen, dass ich mal wieder Stress mit meinem Mathelehrer hatte, weil ich null hinterherkam. Und das schon in der ersten Woche nach den Sommerferien.

Sie nickte zufrieden und aß das restliche Essen, während sie immer wieder Kommentare zu den Kleidern der Frauen im Fernsehen abgab.

»Wie war’s denn in Barcelona?«, erkundigte ich mich. Mama arbeitete als Flugbegleiterin und war deswegen häufig unterwegs. In der Schulzeit sahen wir uns selten mal, weil ich unter der Woche am Internat wohnte und sie meistens erst samstags nach Hause kam oder am Wochenende Dienst hatte.

»Viel gesehen habe ich diesmal nicht, keine Zeit. Aber wir haben einen neuen Kollegen. Der ist total lieb. Und stockschwul«, sagte sie lachend.

Ich sah sie mit erhobener Augenbraue an, weil sie eine solche Vermutung anstellte.

»Nein, wirklich. Das hat er direkt als Erstes gesagt: ›Hallo, mein Name ist Leon und ich bin schwul.‹«

Also doch keine Vermutung. »Und dann wird er ausgerechnet Flugbegleiter?« Für mich wäre das ja nichts, aber was wusste ich schon. Im Grunde war es ja egal, was er machte, wenn er Spaß daran hatte.

Mama schmunzelte und zuckte mit den Schultern. »Er ist sehr nett und fleißig«, sagte sie und widmete sich dem Kommentieren der Sendung. »Das Kleid steht dir überhaupt nicht, Liebes.«

»Ach, du bist nur neidisch, weil du nie geheiratet hast«, flötete ich.

Für diesen Spruch bekam ich ein Kissen ins Gesicht. Schon das zweite heute. Und dann lachten wir beide. Mama war nie verheiratet gewesen und hatte zahllose Bettgeschichten. Ich war froh, dass ich davon nur in Erzählungen etwas mitbekam, denn es geschah oft während der Aufenthalte zwischen ihren Flügen. Mit Piloten oder anderen Flugbegleitern. Also, das nächste Klischee. Wenn ich es genauer betrachtete, war auch mein Leben ein einziges großes Klischee. Und ich hasste, dass es so war. In einem Buch würde es sicher vom Lektor angekreidet werden, weil es zu viel des Guten wäre und sicher irgendwelche Tropes bediente, die keiner mehr lesen wollte.

Eins davon drehte sich um die Geschichte meiner Entstehung. Mein Erzeuger war irgendein Partyaufriss gewesen. Ein One-Night-Stand, der nichts mehr von Mama hatte wissen wollen. Ich kannte ihn nicht. Und das wollte ich auch gar nicht. Er hatte immerhin eine gerade mal Sechzehnjährige schwanger sitzengelassen. Zum Glück hatten ihre Eltern – meine Großeltern – Mama immer unterstützt. So hatte sie mit achtzehn eine Ausbildung anfangen können, und ich praktisch meine gesamte Kindheit bei ihnen in Hannover verbracht. Bis ich mit zehn an ein Internat nach Esens gekommen war, auf das ich noch heute ging.

Das waren die größten Unterschiede zu meinem Buch: Dort war der Vater nicht einfach gegangen, und ich hatte nicht einmal den Hauch von Lust, nach meinem zu suchen.

Wir wohnten direkt an der Küste. Der Weg zu Mamas Arbeit führte sie zwar einmal quer durch Niedersachsen, aber wir liebten es beide hier, weil wir früher häufig Urlaub hier gemacht hatten. Deswegen hatte es auch keine andere Option gegeben. Den längeren Weg nach Hamburg nahm sie in Kauf. Und ich wohnte unter der Woche ohnehin am Internat, das war absolut in Ordnung für uns beide, wenn wir dafür das Meer vor der Nase hatten.

Mama berichtete mir von den letzten Flügen und dem netten Piloten, den sie jetzt schon mehrfach hatte begleiten dürfen. Ich wusste nicht wieso, aber sie erzählte mir ständig von ihren ganzen Liebschaften, und dieser Typ schien es ihr diesmal besonders angetan zu haben.

»Und ich sage dir, im Bett –«

»Mama! Darüber will ich wirklich nichts hören.« Manchmal übertrieb sie es, leider.

Sie lachte und drückte sich an mich. »Zu schade, dass du morgen Abend wieder ins Internat zurückmusst. Wir haben uns jetzt wie lange nicht mehr gesehen?«

Kurz grübelte ich. Die letzten zwei Ferienwochen hatte ich bei Oma und Opa verbracht. »Drei Wochen?«

Mama seufzte und strubbelte mir über den Kopf, dann löste sie sich von mir. »Manchmal fühle ich mich wie eine schlechte Mutter, weil ich so selten hier bin.«

»Das bist du nicht. Und ich hab dich lieb«, sagte ich nachdrücklich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Das hatte ich wirklich, obwohl wir manchmal unsere Schwierigkeiten miteinander hatten.

»Du wirst einfach viel zu schnell erwachsen. Bald hast du dein Abitur und gehst dann mit Kira nach Berlin, um zu studieren.«

»Das werde ich nicht und das weißt du auch.«

Mama hatte sich immer gewünscht, dass ich etwas aus meinem Leben machte. Jura vielleicht. Oder eine Ingenieurwissenschaft. Irgendwas, womit ich einen guten Job bekommen und viel Geld verdienen würde, damit es mir einmal besser ging. Dabei war mir das gar nicht wichtig.

Aber deswegen erzählte ich ihr auch nicht von meinem Traum, Schriftsteller zu werden. Ich hatte Angst, sie mit diesem Wunsch zu enttäuschen, wo sie doch alles dafür getan hatte – und immer noch tat –, dass ich an diesem Internat bleiben konnte. Das war jedoch nicht das, was ich wollte. Das Schreiben begleitete mich, seitdem ich es konnte. Seit ich sechzehn war, schrieb ich sogar eine kleine Kolumne in einem Online-Magazin für Jugendliche und junge Erwachsene. Anonym. Selbst das hatte ich ihr nie erzählt. Die Themen, die ich dort behandelte, waren ohnehin nichts für sie. Und ich wollte nicht, dass sie etwas davon erfuhr. Ich wollte nicht, dass irgendwer davon erfuhr. Deswegen hatte ich es nicht einmal Kira erzählt. Es war mein kleines Geheimnis und das genoss ich manchmal ein bisschen zu sehr. Aber so konnte ich Themen behandeln, über die ich wahrscheinlich niemals mit jemandem gesprochen hätte. Die Anonymität half mir dabei, meine Gedanken in Worte zu fassen, denn damit hatte ich Probleme.

 

 

 

»Ich werde mich langsam mal schlafen legen«, sagte Mama, nachdem ihre Sendung vorbei war.

Ich nickte, abgelenkt durch den Newsfeed von Instagram. Zwei Autorinnen hatten einen Vertrag bei einem großen Verlag bekommen. »Schlaf gut«, murmelte ich abwesend. Ich freute mich für die beiden, denn ich folgte ihnen schon ziemlich lange und wusste, dass sie hart dafür gearbeitet hatten. Dennoch spürte ich diesen kleinen Stich, wie jedes Mal, wenn ich solche Verträge sah. Dorthin wollte ich es auch schaffen, und dafür musste ich noch eine Menge lernen und schreiben.

»Mach du auch nicht mehr so lang, ja?« Sie streichelte mir über den Kopf.

Darauf wartend, dass sie aus dem Badezimmer kam, mir noch einmal eine gute Nacht wünschte und in ihrem Schlafzimmer verschwand, trank ich den letzten Schluck aus der Bierflasche. Dann erhob ich mich ebenfalls, streckte mich und ging in mein Zimmer.

Wenn ich es schaffen wollte, musste ich mich reinhängen!

Ein bisschen Zeit hatte ich noch, bevor ich ins Bett gehen sollte, um morgen nicht allzu müde zu sein. Deswegen startete ich meinen Laptop. Er brauchte ewig, um hochzufahren, und der Lüfter knisterte und rauschte bedrohlich. Ich hatte jedes Mal Angst, dass er durchschmorte. Aber er hielt sich wacker und ich hoffte, das würde er noch lange tun. Ein neuer Rechner war momentan nicht drin.

Während der Laptop sich darauf vorbereitete zu funktionieren, putzte ich mir schon mal die Zähne. Als ich zurückkam, öffnete ich das Dokument mit dem Arbeitstitel A long way.

Noch war ich nicht einmal annähernd fertig. Kira hatte mir eine lange Liste an Dingen mitgegeben, die ich mir einmal anschauen sollte. Und es konnte ja nicht schaden, das ganze Rohmanuskript noch mal zu lesen. Zum dreihundertachtundneunzigsten Mal. Außerdem brauchte ich einen Titel, der nicht klang wie eine dieser pastellfarbigen New Adult Romanzen.

Nach und nach öffnete sich das Dokument. Selbst damit brachte ich meinen Rechner zum Überhitzen. Je größer die Datei wurde, desto länger brauchte er dafür. Ich rieb mir mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. Es musste wirklich dringend ein neuer Laptop her.

 

Hallo, mein Name ist Arne und ich bin achtzehn Jahre alt. Seit ich fünfzehn bin, bin ich auf der Suche nach Paps. Nur schwache Erinnerungen kommen mir in den Sinn, wenn ich an ihn denke. Die einzigen Dinge, die mir immer wieder einfallen, sind seine gütigen braunen Augen und seine strubbeligen Koteletten, die ihn immer ein bisschen wie einen Seelöwen haben aussehen lassen. Und er hat so gut wie immer eine Pfeife im Mundwinkel klemmen gehabt. Die eigentlich nie entzündet war, sie war viel mehr eine Art Accessoire, als wäre sie mit ihm verschmolzen. Ich kenne ihn gar nicht ohne. Und sein Lachen, das schallend durch Mark und Bein ging.

Seine letzten Worte an mich höre ich noch, als wäre es erst gestern gewesen, als er verschwand: »Bis in drei Wochen, kleiner Seebär.« So rau wie das Meer selbst war seine Stimme.

Paps ist Seemann und an jenem Tag ist sein Frachter spurlos auf See verschwunden. Wahrscheinlich von einer Monsterwelle erwischt und gesunken. Jedenfalls lauten so die Erklärung und die Todesursache. Nach Ablauf von sechs Monaten ist Paps nach dem Gesetz der Seeverschollenheit für tot erklärt worden. Es gab eine kleine Trauerfeier, doch ich habe nie daran geglaubt, dass er wirklich tot ist. Ich glaube an Wunder. Und ich bin der festen Überzeugung, dass Paps irgendwo dort draußen ist, und ich werde ihn finden! Ich weiß nur noch nicht wie.

cvzluözfpzöviöizviiiiiiiiiiiiiiiiiii […]

 

Ich war über dem Laptop eingeschlafen, hatte auf die Tastatur gesabbert und eine halbe Seite sinnloser Buchstabenreihen mit meiner Nase getippt, bevor der Akku schlapp gemacht hatte. Kopfschüttelnd betrachtete ich mein Werk, nachdem ich erst den Laptop an den Strom angeschlossen und über die Tastatur gewischt hatte. Echt eklig. Glücklicherweise war der Text nicht verloren gegangen. Dann entfernte ich das sinnlose Geschreibsel und besah mir die letzten paar Zeilen noch einmal. Der Anfang las sich wirklich gut, den hatte ich allerdings auch schon hunderte Male gelöscht und wieder neu geschrieben, überarbeitet und abgeändert.

Ich streckte mich; von dieser unbequemen Schlafposition hatte ich Rückenschmerzen bekommen. Es war manchmal eben doch kein Vorteil, wenn man in allen erdenklichen Stellungen einschlafen konnte. Sitzend wie stehend.

»Till?« Mama steckte ihren Kopf durch die Tür, die dunkelblonden Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden, und sah mich fragend an. Hatte sie mich schon mehrfach gerufen?

»Morgen Mama«, sagte ich gähnend und klappte den Bildschirm zu.

Sie runzelte die Stirn. »Morgen? Es ist mitten in der Nacht. Was machst du am Laptop?«

Ich blinzelte und warf einen raschen Blick auf die Uhr. 4:32. Mist. »Ich bin ein Achtzehnjähriger, was glaubst du denn? Ich habe einen Porno geguckt.« Das war so ein nicht enden wollender Witz zwischen uns, auch wenn er total abgedroschen und irgendwie klischeehaft war.

»Okay, dann … mach nicht mehr so lange.« Mama lachte rau und schloss die Tür wieder.

Als ob ich mit dieser Klapperkiste eines Laptops überhaupt Videos gucken könnte, von der schlechten Internetleitung mal ganz abgesehen.

Ich fuhr den Laptop herunter und gähnte einmal herzhaft. Wenn ich in der Früh kein totales Wrack sein wollte, dann brauchte ich definitiv noch eine Runde Schlaf. In meinem Bett. Und genau dort zog es mich nun hin.

 

»Frühstück ist fertig!«

Müde blinzelte ich. Mir dröhnte der Schädel und mein Rücken schmerzte noch immer schrecklich. Vier Stunden Schlaf hatten nicht ausgereicht, um fitter zu werden. Und das gekrümmte Hocken am Laptop tat das Übrige, dass ich mich fühlte wie Gregor Samsa – direkt nach dessen Verwandlung.

Mir den Bauch kratzend schlurfte ich in die Küche und setzte mich auf einen der Barhocker, die vor dem erhöhten Tresen standen, der sie vom Wohnzimmer abtrennte. Mein Magen knurrte in freudiger Erwartung, als ich den Geruch von Rührei, Toastbrot und Kaffee wahrnahm.

Mama schob mir einen Teller zu. »Soll ich dich nachher fahren, dann haben wir noch ein wenig mehr Zeit gemeinsam.«

»Klar«, nuschelte ich, weil ich den Mund voll hatte. Ich hatte mich mal wieder nicht beherrschen können und direkt angefangen. Mama machte die besten Rühreier, die es gab! Es war eine kleine Sonntagstradition, wenn wir denn beide hier waren. Das war in den letzten Wochen definitiv zu selten vorgekommen.

Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Wirklich, Till. Wer hat dir denn deine Manieren beigebracht?«.

Ich sah sie mit dem typischen ›ganz bestimmt nicht du‹-Blick an und sie streckte mir die Zunge heraus.

Unser Verhältnis hatte mehr etwas von einer guten Freundschaft als von einer klassischen Mutter-Sohn-Beziehung, und ich liebte es. Ich verriet ihr zwar nicht immer alles aus meinem Leben, das musste ja aber auch gar nicht sein. Mama hatte sicher ebenso ihre Geheimnisse, obwohl, vielleicht auch eher nicht, so wie sie immer wieder von ihren Flügen und Bettgeschichten berichtete.

Nach dem gemeinsamen Frühstück und dem Abwasch setzten wir uns mit einem Kaffee aufs Sofa und ließen die letzten Stunden, bevor uns der Alltag einholte, entspannt ausklingen. Mama wäre in den Herbstferien wieder mehr unterwegs. Das war nichts Neues, denn in den Ferien gab es immer besonders viele Flüge. Normalerweise hatte sie nur vier bis fünf im Monat, diesmal aber deutlich mehr, sogar zwei Langstreckenflüge. Das hieß sturmfrei. Yes!

»Nach Amerika würde ich ja auch gern mal. Oder nach Asien«, sagte ich verträumt. Ich war noch nie weite Strecken geflogen.

Obwohl Mama nicht schlecht verdiente, reichte ihr Gehalt kaum für einen gemeinsamen Urlaub aus. Schuld daran trug hauptsächlich ich. Denn nachdem ich mein Stipendium in der elften Klasse verloren hatte, musste Mama vollständig für die Kosten des Internats aufkommen. Es ärgerte mich, da mir nur ein verkackter Punkt gefehlt hatte. Natürlich in Mathe. Aber da waren die Richtlinien konsequent. Keine Gnade für niemanden.

Bisher hatte ich es leider nicht wieder geschafft, die erforderliche Leistung zu erbringen. Zum Glück war mir Mama deswegen nicht böse. Mich ärgerte es aber ungemein! Außerdem hatte Mama nicht gewollt, dass ich aufgrund dessen die Schule wechselte oder einen BAföG-Antrag stellte. Das würde in einem Lebenslauf komisch aussehen, hatte sie gemeint, und ich müsse mich dann wieder an ein neues Umfeld anpassen und mit dem Amt solle ich mich nicht auch noch rumschlagen müssen. So ein Blödsinn.

»Wenn du dein Abitur hast«, versprach sie mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich nickte und wusste, dass das nicht passieren würde. Sie kündigte gern Dinge an, die dann meist doch anders kamen. Aber das war nicht schlimm. Irgendwann würde ich schon selbst genug verdienen. Oder meine Bücher würden übersetzt und ich könnte eine kleine Tour durch die Staaten machen. Das wäre doch was. Und Träumen war ja wohl erlaubt.

 

Am frühen Nachmittag brachte sie mich dann zum Internat. Wir verabschiedeten uns ausgiebig voneinander und ich machte mich auf den Weg ins Zimmer.

Die Schule bestand aus mehreren einzelnen Gebäuden, typisch für Ostfriesland waren die meisten davon rot verklinkert – oder einfache Container. Über einen gepflasterten Weg kam ich ins Gebäude, in dem sich der Schlaftrakt der Jungs und die Gemeinschaftsduschen befanden.

Eine Geruchscollage aus Reinigungsmitteln, Staub und verlorenen Träumen empfing mich, als ich die Flügeltür öffnete. Draußen schien noch die Sonne, trotzdem flirrten die Neonröhren über mir und elektronisches Surren erfüllte den Flur. Ich lief an vielen Türen vorbei, an Vitrinen mit irgendwelchen Pokalen und Ausstellungsstücken, Kunstprojekten und den Fotos der Klassen im Laufe der Zeit. Kurz blieb ich stehen und musterte den Knirps in der zweiten Reihe ganz außen. Meine Frisur hatte sich in all den Jahren nicht ein einziges Mal geändert. Ich trug sie noch genauso wie in der Fünften: Die dunkelblonden Wellen fielen über meine Stirn und ich musste sie ständig wegpusten, damit sie mir nicht die Sicht nahmen, und im Sommer lagen mir die Haare im Nacken und waren eigentlich viel zu warm. Immerhin hatte ich inzwischen den grauen Pullover mit Ernie durch einen mit einer Möwe ersetzt.

Ich schüttelte den Kopf und lief weiter, bis ich mein Zimmer erreichte. Mein Mitbewohner war schon da, allerdings konnte ich von ihm nur die Füße sehen, die wie üblich in zwei verschiedenen Socken steckten und vom Bett baumelten, weil er ausgestreckt nicht hineinpasste.

»Hallo Hagen«, sagte ich und beförderte meinen Rucksack auf die Matratze.

»Jo, Digga. Wie wars Wochenende?«, fragte er, rührte sich aber nicht. Wahrscheinlich spielte er mal wieder irgendein Rennspiel auf seiner Switch.

»Ja, okay. Ganz entspannt.« Ich stellte meinen Laptop auf dem Schreibtisch ab und sortierte die frischen Klamotten in den Schrank.

»Und, warste feiern?«, erkundigte er sich scherzhaft und fluchte laut, weil er verloren hatte. Er warf die Switch seufzend auf die Matratze und richtete sich auf. Dann sah er mich das erste Mal an. Seine dunkelbraunen Augen fixierten mich regelrecht. Das lief jetzt schon seit der Trennung von Tatjana so. Er behandelte mich wie ein rohes Ei, wollte aber gleichzeitig, dass ich wieder rauskam. Dabei waren es seine steten Kuppelversuche gewesen, die mich überhaupt erst dazu bewogen hatten, mich mit ihr zu treffen. Und na ja, ich hatte sie ja wirklich ganz nett gefunden. Ich war eben nur nie in sie verliebt gewesen.

»Ja, haha«, gab ich zurück. Dass ich mal feiern ging, war so wahrscheinlich wie die Begegnung von Effie Briest und Don Karlos.

Hagen war das, was viele einen Player nannten. Er machte die Sportqualifikation, trainierte regelmäßig und schleppte – nach eigenen Angaben – jedes Wochenende eine Frau ab. Kein Wunder, dass er sämtliche Clubs in Ostfriesland zu kennen schien, wahrscheinlich auch alle Frauen in unserem Alter. »Ja, ja, schon klar. Ich war in diesem geilen, neuen Schuppen. Alter, der Hammer da!«, schwärmte er mir vor.

Ich verdrehte die Augen. Sein Sprachstil wirkte oft nicht besonders eloquent, doch im Unterricht legte er diesen komplett ab. Er war einer der Besten unserer Stufe, aber wehe, es befand sich mal kein Lehrer in der Nähe, da kam der Macho an die Oberfläche.

»Ich hab mir eine klargemacht. Ich sage dir, die war im Bett echt ’ne Granate!« Er wollte einen High Five, den bekam er aber nicht von mir.

Unwillkürlich musste ich mir vorstellen, wie mein Erzeuger wohl über meine Mutter gesprochen hatte und verzog mürrisch und angewidert das Gesicht. »Hauptsache, du hast ’nen Gummi benutzt«, gab ich meinen Kommentar dazu.

»Klar, Mann. Kein Bock auf Blagen.«

Wieder verdrehte ich die Augen. Manchmal war Hagen echt widerlich. Aber dafür offen und ehrlich, was ich sehr an ihm schätzte. Die gemeinsame Zeit als Mitbewohner hatte uns außerdem zusammengeschweißt.

»Und bei dir? Haste dich wieder mit der anderen Kleinen getroffen? Wie hieß sie? Cora?«

»Kira«, berichtigte ich.

»Ja, genau! Die ist echt heiß«, sagte er und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.

Die beiden hatten sich einmal getroffen, als er mich im letzten Sommer besucht hatte. Seitdem schwärmte er für meine beste Freundin. Ich musste zugeben, dass sie, objektiv betrachtet, wirklich attraktiv war. Mit ihren eins siebenundachtzig war sie ganze zehn Zentimeter größer als ich und dank ihrer Vorliebe für Plateauschuhe, wirkte ich neben ihr mehr wie ein abgebrochener Gartenzwerg. Das hatte schon für eine Menge blöder Sprüche gesorgt. Ihre aufgedrehte und quirlige Art ließ sie sofort zum Mittelpunkt in Gruppen werden, sie fand schnell neue Freunde und könnte mich wahrscheinlich genauso schnell ersetzen, weil ich nun mal ein ziemlich durchschnittlicher und langweiliger Typ war. Das tat sie aber nicht. Und dafür mochte ich sie wirklich.

»Du sollst nicht so über sie reden. Und du weißt, dass wir nur gute Freunde sind.« Obwohl ich manchmal vielleicht auch das leise Gefühl hatte, dass wir sehr viel mehr als das waren. Trotzdem konnte ich es nicht ausstehen, wenn Hagen so über sie oder andere sprach, und das wusste er ganz genau.

»Verstehen kann ich das aber nicht, Bro. Ich hätte die Kleine schon längst –«

»Hagen«, knurrte ich. Es reichte.

Er hob beschwichtigend die Arme und grinste mich an. Er neckte mich immer damit und wusste, dass ich mich darüber ärgerte. Und weil er das wusste, ärgerte ich mich noch mehr. Ein Teufelskreis. Wütend verkrampfte ich meine Finger.

»Sorry, Bro, war nicht so gemeint«, sagte er und lächelte schwach. »Aber was anderes: Hast du gehört, dass wir morgen einen Neuen in die Stufe bekommen?« Auch er konnte Themen wechseln wie ein Chamäleon die Farbe auf einem Rave.

»Eine Woche zu spät und kurz vorm Abi?«, wunderte ich mich.

»Japp.«

Ich hob eine Augenbraue. »Nein, das wusste ich nicht. Wo hast du das aufgeschnappt?«

»Hab eben den Köpping darüber reden hören, mit Emma.«

Herr Köpping war unser Direktor und Oberstufenkoordinator und Emma die Stufensprecherin. Wahrscheinlich wollte er dem Internatsfrischling einen guten Einstand bescheren.

Ich nickte, aber es interessierte mich eigentlich nicht, ob jemand Neues kam oder nicht. Er würde sicher sofort Anschluss finden und gar nichts mehr mit mir zu tun haben.

Mein Kumpel schnappte sich die Spielekonsole und startete eine neue Runde. Ich nutzte die Zeit, um doch noch ein wenig an meinem Manuskript zu feilen. Dieses feine Kitzeln in den Fingerspitzen, das ich immer dann bekam, wenn ich eine Idee aufschreiben wollte, würde mich heute sonst nicht mehr schlafen lassen.

»Alter, du musst dir unbedingt mal einen neuen Laptop gönnen. Das Ding klingt wie ein Helikopter, und zwar einer von der Bundeswehr«, kommentierte Hagen die Geräuschkulisse, war aber nach wie vor in sein Spiel vertieft.

»Das sagst du jedes Mal.«

»Weil es stimmt. Wieso kaufst du dir nicht einfach einen neuen?«

»Du weißt, dass ich keine Kohle habe.« Weil sein Einfach ein anderes Einfach war als meins.

»Du sparst doch schon, seit ich dich kenne. Du müsstest doch inzwischen ein Vermögen zusammen haben.«

Ich schnaufte. Tatsächlich hatte ich ein ordentliches Sümmchen gespart und mir einen Laptop ausgesucht. Aber dann war das Auto meiner Mutter kaputtgegangen. Da wir so weit außerhalb wohnten, war sie darauf angewiesen, denn den ÖPNV konnte man bei uns vergessen. Ich hatte ihr das Geld deshalb geliehen und wieder bei null angefangen. Und viel verdiente ich auch nicht. Das meiste Geld kam aus den Honoraren meiner kleinen Kolumne und dem Gehalt von Kiras Eltern, wenn ich in den Ferien im Restaurant aushalf.

Mein Laptop ratterte noch. Ich wartete geduldig, bis die kleine Sanduhr verschwand, und öffnete das Dokument. Und wieder wartete ich, trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte und stützte den Kopf in die andere Hand. Das frustrierte Seufzen sparte ich mir jedoch.

Endlich war es so weit und ich konnte die Szene aufschreiben, die mir seit heute Mittag im Kopf herumschwirrte. Mama hatte eine Reportage über Kreuzfahrtschiffe gesehen und mir damit geholfen, ein kleines Logikloch zu bemerken. Ich hatte nicht bedacht, dass moderne Schiffe auf einem Radar auftauchten und man den Standpunkt somit jederzeit ziemlich genau bestimmen konnte. Das konnte ich jedoch nutzen und für den Mystery-Anteil ausbauen. Eine Person, die extra dafür gesorgt hatte, dass die Blackbox nicht funktionierte.

Ich tippte und tippte hektisch, weil ich die Szene praktisch vor Augen sehen konnte und nichts davon vergessen wollte.

»Was schreibst du da?«, riss mich Hagen aus der Konzentration. Sie hatte kaum zwei Minuten angedauert.

»Eine Hausaufgabe«, gab ich genervt von mir. Ich konnte es absolut nicht leiden, gestört zu werden, weil ich danach nur schwer wieder in den Rhythmus der Geschichte und des Geschriebenen fand.

»Oh, scheiße! Habe ich etwas vergessen?«, rief er und sprang vom Bett und wäre beinahe über seine Tasche gestolpert.

Da war er wieder. Der Musterschüler.

»Nein, keine Sorge.«

Hagen rappelte sich auf und legte den Kopf schief. »Zeig mal«, bat er und kam zu mir gelaufen, aber ich knallte ihm den Deckel des Laptops vor dem Gesicht zu.

»Okay, ich habe gelogen. Ist keine Aufgabe.«

Mein Mitbewohner sah mich aus großen Augen an, ich schwieg mich aus. Er zuckte daraufhin mit den Schultern. Eine weitere positive Eigenschaft an ihm: Er verstand, wenn ich nicht über etwas reden wollte. Oder er vermutete, dass es eh schrecklich langweilig war und hakte deswegen nicht weiter nach. So genau wusste ich das nicht.

»Ehrlich, Till. Du bist manchmal wirklich merkwürdig.«

»Auch das sagst du nicht zum ersten Mal.« Ich schüttelte den Kopf und öffnete den Deckel, als er sich umgedreht hatte. Ich achtete darauf, dass Hagen mir nicht auf den Bildschirm gucken konnte und beobachtete ihn argwöhnisch. Aber er hatte sich seinem Spiel gewidmet und kletterte auf sein Bett zurück.

Ich wandte mich hingegen wieder dem Manuskript zu. Nachdem ich das Logikloch gestopft hatte, musste ich mich einer anderen Sache im ersten Akt widmen. An dieser Stelle musste der Wendepunkt einkrachen. Der eine Moment, in dem sich der Protagonist entscheidet, diesen Weg zu gehen, egal, was die Konsequenzen wären. Der Punkt ohne Wiederkehr. Wenn es an dieser Stelle schon dahinplätscherte, dann hätten die Lesenden gar keine Lust mehr, umzublättern. Hier musste ich Vollgas geben. Jedenfalls hatte ich das mal so in einem Schreibratgeber gelesen.

Wieder einmal übermannten mich die Zweifel, so wie sie es an diesem Punkt bei meinem Protagonisten taten. Reichte ein »Ach, fuck, ich mach das jetzt!« aus, um die Geschichte voranzutreiben? Bräuchte ich vielleicht doch ein bestimmtes auslösendes Ereignis? Einen Streit. Einen weiteren Hinweis. Eine Nachricht aus dem Jenseits. Irgendetwas benötigte ich da auf jeden Fall noch.

Die anfängliche Euphorie nach der Idee löste sich in Rauch auf. Ich schloss das Dokument und machte meinen Laptop wieder aus. Darüber musste ich mir in Ruhe Gedanken machen.

Frustriert rieb ich mir über das Gesicht. Ich war ein furchtbar schlechter Autor. Vielleicht sollte ich mal schauen, ob es in unserer Bücherei einen neuen Schreibratgeber gab. Die vorhandenen hatte ich bereits alle durch. Geholfen hatten sie mir allerdings nur wenig. Ich glaubte kaum, dass die Hinweise aus den Achtzigern noch heute so anzuwenden waren. Auf der anderen Seite: Was änderte sich denn am geschriebenen Wort?

»Ich geh eine Runde joggen. Kommst du mit?«, fragte Hagen, der sich in diesem Augenblick wieder erhob und streckte.

Ich blickte nach draußen. Eigentlich war ich für Sport nicht zu begeistern, aber ich ging gern laufen. Es löste oft Knoten im Kopf und gab mir neue Energie zum Schreiben oder für die Hausaufgaben.

»Ach, ich weiß nicht.« Wirklich Lust, mich noch einmal umzuziehen und nach draußen zu gehen, hatte ich jedoch nicht. Die Frustration über mein Geschreibsel hatte mich mal wieder demotiviert. Vielleicht sollte ich das Ganze lassen und doch nach Berlin gehen, sobald ich dieses Schuljahr endlich hinter mir hatte. Ich könnte immer noch nebenbei die Kolumne weiterschreiben – in einem dieser Hipster-Cafés, wo Fairtrade Bio-Kaffee mit aufgeschlagener Sojamilch kredenzt, in einer selbstgemachten Keramiktasse serviert wurde und zehn Euro kostete. Genau so sah das Künstlerleben in Berlin auf sämtlichen Instagram-Profilen aus. Ob es das wirklich war?

»Wie wär’s mit einem Wettrennen?« Grinsend sah mich Hagen an. Er wusste zu gut, dass ich für solchen Schabernack immer zu haben war, obwohl ihm genauso klar sein musste wie mir, dass ich gegen ihn nicht mal gewinnen könnte, wenn er mit verbundenen Augen laufen würde. Allerdings wollte ich es irgendwann doch einmal schaffen. Das große Ziel des letzten Schuljahres.

»Um was?«, hakte ich nach, die wirren Gedanken waren wie weggewischt.

Das triumphierende Funkeln in Hagens Augen ignorierte ich, das hieß meistens nichts Gutes. »Um den Hofdienst.«

»Alles klar.« Das war weniger schlimm als befürchtet. Ich zeigte ihm den Daumen nach oben.

Der Weg zum Sportplatz führte einmal über das gesamte Schulgelände, den Schulhof, vorbei an den Klettergerüsten, dem gepflasterten Innenhof und schlussendlich gelangten wir zu der roten Tartanbahn, die das Fußballfeld umrahmte.

Bevor wir starteten, dehnten wir die Muskeln und hüpften herum. Der Sommertag hatte die Bahn aufgewärmt und diese strahlte nun die Wärme ab.

»Du bist ja jetzt schon verschwitzt«, zog Hagen mich auf.

»Pff.« Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Stirn.

»Bereit, Kleiner?« Mit seinen eins einundneunzig war Hagen der Größte unserer Klasse. Er nannte jeden Kleiner, der ihm nur bis zum Kinn reichte. Also alle, bis auf die Lehrer.

»Klar«, brummte ich.

»Eine komplette Runde?«

»Jepp.«

Hagen nickte und wir stellten uns an die Startposition.

»3 … 2 … 1 … GO!«

 

Natürlich kam ich nicht als Erster ins Ziel. Mein Freund war durch seine Sportquali einfach trainierter als ich.

Schnaufend kam ich neben ihm zum Stehen und musste erst einmal wieder zu Luft kommen. Mein Herz hämmerte in der Brust und meine Seite stach höllisch.

Hagen grinste mich dagegen an und hätte sicher noch eine weitere Runde laufen können. Zwar stand ihm nun auch Schweiß auf der Stirn, aber sein Atem ging fast beunruhigend normal. »Geil, ich habe in zwei Wochen Hofdienst, kannst dich also schon mal drauf einstellen.«

»Ja, ja«, maulte ich. Das war klar gewesen. Wieso hatte ich mich überhaupt darauf eingelassen?

 

 

 

Als Herr Köpping mit einem Jungen im Schlepptau den Klassenraum betrat, wurde es schlagartig still. Selbst Max – der normalerweise immer irgendwas zum Besten gab – hielt seine Klappe.

»Guten Morgen«, sagte der Schuldirektor und blickte auffordernd durchs Zimmer.

»Guten Morgen, Herr Köpping«, hallte der lächerliche Singsang durch die Reihen.

---ENDE DER LESEPROBE---