Nach dem Verstand einfach geradeaus - Anna Buchwinkel - E-Book

Nach dem Verstand einfach geradeaus E-Book

Anna Buchwinkel

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Beschreibung

Allen, denen »Wer bin ich eigentlich, wie bin ich bloß hier gelandet und das kann doch noch nicht alles sein« bekannt vorkommt, und die gerne schmunzeln oder auch lachen.  »Doch an diesem Morgen ereignete sich etwas Merkwürdiges: Quentins Verstand sehnte sich plötzlich zum ersten Mal nach etwas anderem – einer roten Socke zum Beispiel.« Das Leben des zweiundvierzigjährigen Quentin Finkenwinkel gleicht seiner Sockenschublade: wohlgeordnet und berechenbar grau in grau. Es gibt nichts, was sein Verstand nicht akribisch plant und dreimal überdenkt – und es gibt so viel zu bedenken. Doch damit ist Schluss, als ebendies seinem Verstand eines Tages unerträglich wird und er durchbrennt – und zwar an einen Traumstrand. Auf einmal kann Quentin nicht mehr nachvollziehen, was bis eben noch selbstverständlich für ihn war und schlagartig verwandelt sich sein sorgsam strukturierter Alltag in ein Chaos. Quentin tut alles, um seinen Verstand zurück und sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen – doch das ist gar nicht so einfach, ohne Verstand. Nach dem Erfolg von »Nach dem Tod gleich links« – der neue Roman von Anna Buchwinkel »Ein absolut fantastisches herzerfrischendes Buch! Jeder ist anders! Jeder ist wertvoll! Auf völlig verrückte Art und Weise wird dem Leser vor Augen geführt, was wirklich zählt und dass mit einem gewissen Maß an Infantilität und "Verstandlosigkeit" das Leben ganz wunderbar ist«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Gut gelaunte und (nicht ganz) sinnfreie Lesestunden bekommt man sicherlich mit diesem Roman, der von mir noch 5 Sterne bekommt.«  ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Teil 1

Eine Art Einführung

Kapitel 1 – in dem das perfekte Mittelmaß aller Dinge durch eine rote Socke ins Wanken gerät und zum ersten Mal ein Traumstrand auftaucht

Kapitel 2 – in dem es in der ersten Verwirrung schon mal anders läuft als gewöhnlich, alles anfängt, den Bach runterzugehen, und noch niemand weiß, ob es mal im Meer landen wird

Kleine Anmerkung zu Quentins Verstand und was er da eigentlich verloren hat

Zurück an den Servicepoint in der Multimedia-Abteilung

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück zu Quentin, der jetzt statt in einer akuten Not in anderen Nöten ist

Kapitel 3 – in dem es zu unterschiedlichen Auffassungen von Kunst kommt und doch noch Geschenke hervorgezaubert werden

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück zu Quentin, der inzwischen zu Hause angekommen ist

Kapitel 4 – in dem ein Schrank überraschende Geheimnisse preisgibt und das eine oder andere zu Bruch geht

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück zu Quentin, der auf dem Weg zu seiner Familie ist

Kapitel 5 – in dem außer Engeln auch diverse Illusionen der Zerstörung anheimfallen

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück in Muttis Keller, wo die Weihnachtsfeier ihren Lauf nimmt

Kapitel 6 – in dem Quentin wieder zu arbeiten beginnt, oder es zumindest sollte, und das erste Mal Anstoß an Socken genommen wird

Aus dem Leben des Verstandes

Kapitel 7 – in dem einzelne Socken aus verschiedenen Gründen Anlass zu Sorge und Verwirrung geben

Kapitel 8 – in dem das potenzielle Unheil seinen Lauf nimmt, während gekündigt und Tee getrunken wird

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück ins Büro, wo Quentin gerade aufwacht

Kapitel 9 – in dem erstmals die Polizei auf den Plan tritt, Quentin einem Rollstuhl in die Quere kommt und die Suche nach dem Strand beginnt

Kapitel 10 – in dem die Lösung für ein Problem gesucht wird, das sich langsam abzuzeichnen beginnt, und professionelle Meinungen dazu eingeholt werden

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück zu Quentin, für den eine etwas andere Odyssee beginnt

Kapitel 11 – in dem ein ungewöhnlicher Vorschlag gemacht wird und durch Kondome das Chaos seinen Lauf nimmt

Kapitel 12 – in dem einiges nicht so läuft, wie es laufen sollte, dafür aber durch den Besitzerwechsel fahrbarer Untersätze etwas ins Rollen kommt

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück zu Quentin, der auf dem Heimweg ist

Kapitel 13 – in dem es bunt zugeht, und zwar so bunt, dass einige Leute meinen, es würde zu bunt getrieben

Kapitel 14 – in dem Quentin langsam der Arsch auf Grundeis geht und außerdem einige Lichter auf- und ausgehen

Zurück zu Quentin, der inzwischen seinen (S-)Auftrag erfüllt hat

Kapitel 15 – in dem Blaubeerwaffeln versprochen und Diagnosen gestellt werden und manches sich anders ergibt, als man meinen sollte

Kapitel 16 – in dem trotz Frühstücksfernsehen nicht gefrühstückt wird und ein Plan zum Fliegen kommt

Zu Quentin, der schon lange nicht mehr so früh aufgestanden ist

Kapitel 17 – in dem alles mehr oder weniger harmonisch zusammenkommt, bevor es auseinandergeht

Aus dem Leben des Verstandes

Zu Quentin und Mutti, ein paar Jahrzehnte später in Muttis Küche

Teil 2

Kapitel 18 – in dem die Letzten nicht unbedingt die Ersten sind, umdisponiert wird und Quentin etwas über Bestätigungen und Fehler lernt

Kapitel 19 – in dem schöne Beine auftauchen, endlich der Strand gefunden wird und die eine oder andere Überraschung noch dazu

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Kuba, wo inzwischen ein neuer Tag angebrochen ist

Kapitel 20 – in dem Zivilcourage nicht belohnt wird und zwei losziehen müssen, um es mit drei auf einen Streich aufzunehmen

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Kuba, wo Quentin gegen Abend Hunger bekommt

Kapitel 21 – in dem es Quentin an die Mähne geht und auch mit geschlossenen Augen ein Ziel gefunden wird

Zurück zum Friseursalon, wo sich die Party dem Ende zuneigt

Kapitel 22 – in dem ein Geist beschworen, ein Beschluss gefasst und eine alte Bekanntschaft wieder aufgewärmt wird

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Kuba und in eine fremde Küche

Kapitel 23 – in dem diverse erwünschte und unerwünschte Personen die Bildfläche betreten, andere sich verwandeln und insgesamt neue Pfade eingeschlagen werden

Kapitel 24 – in dem gestrickt wird, und zwar nicht nur an Socken, sondern auch an Illusionen, während die Wirklichkeit undefiniert vor sich hin existiert

Kapitel 25 – in dem der Weg das Ziel ist und Unproduktivität nicht nur zur Sprache kommt, sondern zu großen Veränderungen führt, oder doch nicht?

Kapitel 26 – in dem sich zwar ein Weg auftut, das Ziel aber noch nicht klar ist, in dem aber zumindest klar wird, dass etwas oder vielmehr jemand von Bord gehen muss

Zurück auf das Kreuzfahrtschiff, wo Pläne geschmiedet werden und die Beschaulichkeit ein Ende nimmt

Kapitel 27 – in dem Schönheit vor die Linse genommen wird und ein Guru auftaucht, der wie Elvis aussieht

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Ibiza wo die Begegnung mit einer Autorität der anderen Art ansteht

Kapitel 28 – in dem gewartet und indischer Tee getrunken wird, bis sich das Schicksal in einer unerwarteten Form präsentiert

Kapitel 29 – in dem Algorithmen auftauchen, die Zukunft einer Kuh anvertraut wird und alles vorbeizieht, bis auf den Weg nach Goa

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Indien und zur Palmblattlesung

Zurück zu Quentin auf seinem Weg nach Goa

Kapitel 30 – in dem auf die unterschiedlichsten Arten getanzt wird, mal mehr und mal weniger vorbereitet

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück unter den Banyan Tree

Kapitel 31 – in dem Flora nicht mehr auftaucht, eine solide Mauer für mangelnden Durchblick sorgt und eine Idee entsteht

Kapitel 32 – in dem in verschiedenen Zeiten und Situationen der Absprung gewagt wird

Aus dem Leben des Verstandes

Zurück nach Indien und an einen anderen Abgrund

Kapitel 33 – in dem Quentin ein hartes Erwachen hat, die Toilette mal geputzt werden müsste und der Verstand wieder einen Auftritt hat

Abstecher an den echten Traumstrand

Kapitel 34 – in dem sich zeigt, dass es Tyrannen in jeder Situation geben kann, und in dem trotz Gefängnis eine Befreiung stattfindet, die Quentin jedoch verschläft

Kurzer Abstecher zum Verstand

Kapitel 35 – in dem eine Zwickmühle zur Entscheidung führt und das Oberste zuunterst gekehrt wird

Kapitel 36 – in dem einige Monate später neue alte Wege beschritten werden und eine Amsel sich davon trotz allem nicht beim Frühstücken stören lässt

Zurück an Quentins Küchentisch, wo sich der Kreis schließt

Ein dickes Danke

Teil 1

Eine Art Einführung

Als Quentin Finkenwinkel auf die Welt kam, war sein Verstand so weit, so leer und so unberührt, wie es nur der Verstand eines Neugeborenen sein kann. Wie ein Blatt frisch geschöpftes Papier war er – eines, das noch nie mit den zahlreichen Geschichten, die das Leben so schreibt, in Berührung gekommen ist; eines, das noch das Potenzial in sich trägt, tausendundeine von ihnen festzuhalten. Alles, was diesen neuen Verstand erfüllte, war ehrfürchtiges Staunen und seine einzige Reaktion auf die Welt ein großes »Oh«.

Deswegen hätte zu diesem Zeitpunkt auch niemand vermutet, dass er sich eines Tages mit den Anforderungen ebendieser Welt überfordert fühlen und keinen anderen Weg mehr sehen würde, als sich aus dem Staub zu machen und Quentin mit der Welt alleine zu lassen.

Kapitel 1 – in dem das perfekte Mittelmaß aller Dinge durch eine rote Socke ins Wanken gerät und zum ersten Mal ein Traumstrand auftaucht

Unsere Geschichte beginnt zweiundvierzig Jahre später – nämlich an dem Tag, an dem Quentin seinen Verstand verlor. Oder zumindest den Teil, der ihm die Welt erklärte und ihn so vor den Widrigkeiten des Lebens beschützte. Und verlieren ist im Grunde auch nicht der richtige Ausdruck, denn einen Verstand verliert man ja nicht, wie man einen Schlüssel verliert. Nein, sein Verstand brannte durch – und zwar an einen Traumstrand. Aber ich greife vor.

Es war der Tag vor Heiligabend, ein Samstag. Er begann wie jeder andere Tag in Quentins Leben auch. Quentin wachte auf und schaute auf den Wecker. 6.27 Uhr, wie jeden Morgen – exakt drei Minuten, bevor der Alarm losging. Quentin schaltete ihn aus, streckte sich und schlüpfte sofort in die Pantoffeln, die akkurat ausgerichtet vor dem Bett standen. Zum Schutz der Nieren war es wichtig, die Füße immer schön warm zu halten, darauf hatte auch die letzte Apotheken-Rundschau wieder hingewiesen. Als Nächstes warf er einen Blick in den Spiegel seines Ikea-Schrankes, um zu schauen, ob sein Scheitel noch saß.

»Die Haarspitzen sind schon fast wieder am Rand der Ohrmuschel. Friseurtermin überprüfen«, beschied sein Verstand, während Quentin den Kopf nach links und rechts drehte. Quentin nahm sein Notizbuch vom Nachttisch und sah nach, ob der Friseurtermin wie immer für den letzten Donnerstag des Monats eingetragen war. Er war.

Nachdem Quentin sich geduscht und die Zähne geputzt hatte – exakt fünfundvierzig Sekunden pro Quadrant – ging er im Bademantel zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Als er den Schrank aufmachte, musste der Verstand zu seinem Entsetzen feststellen, dass die Anzüge – ein schwarzer, zwei anthrazitfarbene, zwei graue und zwei in navyblau – völlig durcheinandergeraten waren. Der schwarze hing normalerweise ganz rechts, dann ging es mit anthrazit, grau und navyblau weiter. Doch heute hing ein blauer Anzug zwischen den anthrazitfarbenen und dem schwarzen. Quentin stand irritiert vor dem Schrank und betrachtete voller Unbehagen die Unordnung.

»So geht das aber nicht«, sagte sein Verstand.

Quentin hängte den navyblauen Anzug an den korrekten Platz, richtete die Abstände aus, nahm den Anzug wieder heraus und zog sich an. Dann öffnete er die Schublade mit den Socken.

Als sein Verstand die Batterie fein säuberlich zusammengerollt nebeneinanderliegender – allesamt grauer – Socken sah, fühlte er sich auf einmal erschöpft. Nicht nur erschöpft, sondern geradezu abgrundtief deprimiert. Es kam ihm – wie immer öfter in letzter Zeit – vor, als könne der Tag, und überhaupt das ganze Leben, das noch vor ihm lag, nichts anderes als, na ja, eben grau werden. Doch an diesem Morgen ereignete sich etwas Merkwürdiges: Quentins Verstand sehnte sich plötzlich zum ersten Mal nach etwas anderem – einer roten Socke zum Beispiel.

Quentin wunderte sich, warum auf einmal eine rote Socke vor seinem inneren Auge auftauchte, schüttelte den Kopf, nahm ein Paar grauer Socken heraus und machte die Schublade zu.

Er zog sich fertig an, ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Zwei Tassen, wie jeden Morgen, denn Quentins Verstand war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste war, sich an der statistischen Durchschnittsmenge der Deutschen von 0,4 Liter am Tag zu orientieren. Um die Stärke zu optimieren, nahm Quentin einen Messlöffel pro Tasse, den er fein säuberlich mit dem Messer abstrich, festklopfte und von dem er nochmals die letzten Krümel entfernte.

Als er gerade ansetzte, den zweiten Löffel abzumessen, ereignete sich die zweite Merkwürdigkeit, nein, eigentlich etwas geradezu Unerhörtes: Sein Verstand, eben jener Verstand, der zweiundvierzig Jahre lang bestrebt gewesen war, Quentins Leben so sicher und berechenbar wie möglich zu machen, der für ihn die perfekte Balance im statistischen Mittelmaß aller Dinge erreicht hatte, ebendieser Verstand begehrte insgeheim auf. »Verdammt noch mal. Wenn der Kaffee mal ein bisschen stärker ist, geht die Welt auch nicht unter.«

Quentin hielt inne. Hatte da jemand was gesagt? Er lauschte einen Moment – aber da war nichts. So wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kaffeepulver zu, stellte fest, dass irgendwie zu viel davon in den Filter geraten war, schüttelte irritiert den Kopf und maß noch mal neu ab. Dann goss er Wasser in den Tank – sorgfältig bis zum zweiten Strich – und schaltete die Maschine an. Während der Kaffee durchlief, deckte er den Tisch und nahm dann sein Frühstück, ein Vitalmüsli mit einem kleinen Apfel, zu sich. Dazu las er wie jeden Morgen die Zeitung.

Er kam gerade zum Lokalteil, da klingelte das Handy. Quentin holte es von der Dockingstation, seufzte, als er sah, dass es seine Schwester Bärbel war, und nahm das Gespräch an.

»Hast du die Geschenke?«, raunzte sie ihn sogleich an. Quentins Verstand hatte sich inzwischen wieder im Griff. Er wollte ihn gerade ermahnen, ruhig und höflich zu bleiben und nicht zu erwidern, dass er die Geschenke schon vor einem halben Jahr hatte besorgen wollen, sie ihm die Liste aber erst vor zwei Tagen gegeben hatte, da ertönte am anderen Ende der Leitung ein schrilles: »Nina, hör sofort auf, mit dem Stuhl zu wackeln!« Gefolgt von einem nur unwesentlich gemäßigteren: »Und Quentin, denk dran: Für Magnus die neue Playstation, nicht das Auslaufmodell.«

Quentin brachte das Handy in einen gebührenden Abstand zu seinem Ohr. »Eigentlich bin ich nicht so sicher, ob das wirklich das richtige Geschenk für –«

»Quentin, jetzt fang nicht damit an. Du verdienst gut und hast sonst keine Familie – schämst du dich nicht, da so knickerig zu sein?«

Der Verstand hätte Quentin am liebsten entgegnen lassen, dass er es zwar in der Tat unangemessen fand, einem Fünfzehnjährigen ein so kostspieliges Geschenk zu machen, dass er aber in erster Linie dessen pädagogischen Wert bezweifelte. Doch dann zügelte er sich, weil es angesichts der ebenso unerfreulichen wie fruchtlosen Diskussion, die darauf unzweifelhaft gefolgt wäre, besser war zu schweigen. Außerdem redete Bärbel ohnehin schon weiter. »Und denk dran, dass diese Putten-Sammleredition für Mutti im Sonderangebot ist. Nina, jetzt reicht’s aber!«

Ohne ein Wort des Abschieds legte sie auf. Quentin atmete tief durch. Hätte er doch nur die Weihnachtsfeier morgen schon hinter sich. Aber genau wie in den letzten zweiundvierzig Jahren würde er den Heiligen Abend im Kreise der Familie im Haus seiner Mutter verbringen müssen – es war schließlich Weihnachten. Er seufzte.

Nachdem Quentin den Tisch abgeräumt, abgespült und das Bett gelüftet hatte, blieb ihm noch eine knappe Stunde Zeit, bis das Einkaufszentrum öffnete. Als er sich an den Tisch setzte, um eine Runde Online-Mühle zu spielen, sah er, wie auf dem Busch vor dem Fenster eine Amsel landete. Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit ihren schwarzen Augen an. Quentins Verstand folgerte, dass sie Futter wollte – und er registrierte, dass die Schneedecke nicht ganz geschlossen war, weshalb es eigentlich nicht korrekt war, sie zu füttern. Doch für Vögel hatten sie eine Schwäche, Quentin und sein Verstand. Die Vorstellung, der Amsel mit dem Futter etwas auf ihren Flug in die Welt hinaus mitzugeben, weckte eine übermächtige Sehnsucht genau danach. Ohne dass der Verstand eingriff, holte Quentin noch mal das Müsli heraus, öffnete das Fenster einen Spalt und streute ein paar Rosinen und Haferflocken auf die Fensterbank. Zumindest war das für Weichfutterfresser geeignet, sagte sich der Verstand, auch wenn ein letzter Rest schlechten Gewissens blieb.

Nachdem Quentin das Fenster wieder geschlossen hatte, hüpfte die Amsel aufs Fensterbrett und bediente sich. Er sah zu und lächelte, bis sie wieder davonflog, geradewegs in den grauen Winterhimmel. Dann rief der Verstand ihn und sich zur Ordnung, und sie konzentrierten sich auf das Mühlespiel.

Um Viertel vor neun zog Quentin seinen Mantel an, überprüfte vor dem Garderobenspiegel noch einmal seinen Scheitel und verließ sein Reihenhäuschen. Er kontrollierte, dass er auch abgeschlossen hatte, und machte sich auf den Weg.

Als er den Parkplatz des Einkaufszentrums erreichte, war dort bereits ordentlich Betrieb. Quentin musste zwei Runden drehen, bevor er in einer der vorderen Parkreihen endlich einen freien Platz erspähte. Er setzte ordnungsgemäß den Blinker und schickte sich an, in die Lücke einzubiegen, da tauchte von links ein dicker, schwarzer BMW auf, schnitt ihn und scherte direkt vor ihm in den Platz ein. Quentin konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Aus dem Wagen stieg ein junger Mann mit Pferdeschwanz und grinste ihn frech an. Unwillkürlich sog Quentin die Luft ein und krallte die Finger um das Lenkrad.

»Ruhe be-«, setzte sein Verstand an, doch dann erstarrte er. Quentin saß mit angehaltener Luft da und saß und saß und regte sich nicht. Und sein Verstand, der regte sich auch nicht. Nicht den kleinsten Gedanken brachte er mehr heraus, der Quentin gesagt hätte, wie er die Situation einordnen und damit umgehen sollte. Erst als Quentin die Luft knapp wurde, fand er endlich seine Stimme wieder. »Nicht aufregen. Hoher Blutdruck ist laut Statistik die zweithäufigste Todesursache. Das ist der Kerl doch gar nicht wert.«

Quentin atmete aus. Mit leicht zitternden Händen machte er sich auf die Suche nach einem neuen Parkplatz und fand bald darauf tatsächlich einen – allerdings weit entfernt vom Eingang.

Als er das Einkaufszentrum schließlich betrat, war es heiß, stickig, laut und voll. Ganz oben auf Quentins Liste stand ein rosa Plüschkrokodil mit grünen Punkten für seine kleine Nichte. Nachdem er es besorgt hatte, hakte er den Punkt in seinem Notizbuch ab, notierte den Preis und nummerierte den Kassenbon, den er fein säuberlich hinten im Büchlein ablegte. Nachdem er das Notizbuch wieder in seiner Jackentasche verstaut hatte, schob er sich mit einer Flut anderer Weihnachtseinkäufer in die Multimedia-Abteilung, wo er nach einigem Suchen die neue Playstation fand, die er für seinen Neffen besorgen sollte. Er klemmte sich den Karton unter den Arm und stand dann dreiundzwanzig Minuten in der Schlange vor dem Servicepoint, um einen Verkäufer zu einer altersgerechten Spieleauswahl zu befragen. Seine Schwester hatte ihm zwar aufgetragen, einen Gutschein zu kaufen, doch sein Verstand sah es als seine Pflicht an sicherzugehen, dass sein Neffe ein pädagogisch wertvolles Spiel bekam. Am besten mit Zertifikat.

Inzwischen braute sich von all dem Lärm, der Hektik und den unablässig leiernden Weihnachtsliedern ein grässlicher Kopfschmerz hinter seinen Schläfen zusammen.

Während Quentin da so in der Schlange stand, hatte sein Verstand mehr als genug Zeit, schon mal das Gespräch vorzubereiten. Quentin würde als Erstes höflich Guten Tag sagen und direkt das Thema Playstation-Spiele ansprechen. Dabei würde er anbringen, dass man ja so einiges über die negativen Auswirkungen von übermäßigem Videospielen sowohl auf die Psyche als auch auf das vegetative Nervensystem las. Dann würde er auf eine Untersuchung verweisen, die kürzlich zum Thema Schlafstörungen bei Jugendlichen gemacht worden war und in der sich herausgestellt hatte, dass Videospiele ein signifikanter Faktor bei der Entstehung selbiger waren. Es würden drei oder vier Statistiken folgen, sein Steckenpferd, und schließlich würde er zu der Frage überleiten, was man unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Aspekte und in Einklang mit den Jugendschutzbestimmungen einem Fünfzehnjährigen bedenkenlos empfehlen konnte.

Allein der Gedanke an das Gespräch machte Quentins Verstand ganz krank. Er fühlte sich paralysiert, eingezwängt in all das, was es zu bedenken gab. Aber er konnte nicht einfach schlappmachen. Es war seine Aufgabe, Konsequenzen zu überdenken, mögliche Gefahrenquellen auszuloten, aufzupassen, dass nichts passierte. Reaktionen vorherzusehen, einzuordnen und wenn nötig Deeskalationsmaßnahmen einzuleiten. Darauf zu achten, dass Quentin sich keinen unnötigen Konfrontationen aussetzte, nicht unangenehm auffiel, niemandem unabsichtlich zu nahe trat, nicht versehentlich irgendwelche Gesetze, Verordnungen oder Konventionen verletzte, sich gesund und nach den neusten medizinischen Erkenntnissen ernährte, ausreichend Schlaf bekam, und, und, und … Verdammt, die ganze Welt hatte er zu analysieren, zu erklären und in Schach zu halten.

Der Verstand stöhnte. Wann hatte er zuletzt das Leben einfach genießen können? Es war zu viel, einfach zu viel. Er sehnte sich nach Stille, einem Augenblick, in dem er nichts zu tun und nichts zu bedenken hatte, in dem er die Verantwortung für all das von sich werfen konnte … Er wünschte sich weg, einfach nur weit weg von Quentin und dem Servicepoint.

Quentin, der von all dem nichts bewusst mitbekam, fühlte indessen, wie der Kopfschmerz sich immer tiefer bohrte. Ein leichter Schwindel befiel ihn, alles verschwamm, und er musste immer wieder die Augen zukneifen, weil die Welt um ihn herum irgendwie aus dem Gleichgewicht geriet – oder war es die in ihm drin? Sein Blick blieb am Bild eines Traumstrandes hängen, der riesengroß und in Ultra High Definition auf einem Curved TV zu sehen war, und saugte sich daran fest – fast so, als hätte er die Sehnsucht seines Verstandes gespürt.

Auf einmal rückte alles andere in weite Ferne: die Menschenschlange, der Servicepoint, die Multimedia-Abteilung, die Einkaufsliste, Weihnachten, die ganze Welt. Der Verstand frohlockte. Seichte Wellen rollten auf den menschenleeren Sand. Das Meer strahlte türkisblau, und das Grün der Palmen hatte etwas angenehm Beruhigendes. Eine Palme mit einer lustigen Welle im Stamm schien ihm mit ihren buschigen Wedeln zuzuwinken. Der Verstand spürte förmlich die Hitze des Sandes, die Wärme der Sonne und eine sanfte Brise, die vom Meer herüberzog. Er hörte das Rauschen der brechenden Wellen, und ihr natürlicher Rhythmus löste nach und nach seine Anspannung. Jeder Impuls, irgendetwas zu bedenken, verlor sich bereits im Ansatz, und der Verstand wurde von einer ungeahnten Leichtigkeit erfasst. Die vorüberziehende Brise lockte ihn, sich ihr anzuschließen, wisperte von Freiheit und dem Paradies, trug das Versprechen mit sich, ganz darin aufzugehen. Für einen Moment noch zögerte der Verstand. Doch dann lief der Text »Machen Sie Urlaub vom Selbst« unten durchs Bild – und da ließ er endgültig los …

Kapitel 2 – in dem es in der ersten Verwirrung schon mal anders läuft als gewöhnlich, alles anfängt, den Bach runterzugehen, und noch niemand weiß, ob es mal im Meer landen wird

Kleine Anmerkung zu Quentins Verstand und was er da eigentlich verloren hat

An dieser Stelle sollte vielleicht geklärt werden, was Quentin da eigentlich verloren hat, denn wenn er nicht mehr denken könnte, wäre die Geschichte ja schon hier an ihrem Ende.

Halten wir es kurz und definieren den Verstand für diese Geschichte als eine Instanz im Gehirn, die uns auf Basis der Auswertung unserer Lebenserfahrungen die Welt erklärt und in gewissen Grenzen vorgibt, wie wir auf sie reagieren. All das ist in unserem Hirn in neuronalen Netzwerken gespeichert, vergleichbar einem Straßennetz, bei dem Straßen gebaut werden, die – je öfter sie benutzt werden – immer breiter und bequemer werden. Und genau diese neuronalen Netzwerke nun sind es, die sich bei Quentin in diesem Moment abgeschaltet haben. Stellen Sie sich vor, von jetzt auf gleich wäre nicht nur Ihr Navigationsgerät kaputt, sondern es wären auch alle Straßen, Wege und Autobahnen verschwunden. Das wäre ein schönes Chaos. So in etwa sieht es in Quentins Kopf gerade aus. Alle Lektionen, die er aus vergangenen Erfahrungen gelernt hat, seine darauf basierenden Bewertungen, Überzeugungen, Wünsche, Lebenspläne, sein Selbstbild von seinen Fähigkeiten, seinen Stärken und Schwächen, all das ist auf einmal nicht mehr verfügbar. Mit anderen Worten: Wer oder was er war und sein wollte, ist weg. Ebenso, was für ihn bis jetzt »normal« war – und wie bei den meisten war es auch bei Quentin ganz simpel das, was allgemeingültigen gesellschaftlichen Normen entspricht. Einfach ausgedrückt: Quentin kann zwar nach wie vor logisch denken, seine Norm-alität ist ihm jedoch gerade abhandengekommen – ist ver-rückt worden.

Zurück an den Servicepoint in der Multimedia-Abteilung

Quentin spürte einen Ruck wie von einem Fahrstuhl, der gerade in einem neuen Stockwerk anhält. Als sich die vermeintlichen Aufzugtüren öffneten, befand er sich auf einmal nicht mehr am Strand, sondern wieder im Einkaufszentrum am Servicepoint der Multimedia-Abteilung. Und während es eben am Strand noch menschenleer gewesen war, drängelten nun Leute an ihm vorbei. Die Luft war stickig, und statt Wellenrauschen hörte er wie aus weiter Ferne eine Ansage. Er blickte verständnislos auf den Karton mit der Playstation in seinen Armen, bis ein Schnipsen ihn dazu veranlasste aufzuschauen.

»Haaallo, Sie da! Sie sind dran.« Der Verkäufer am Servicepoint fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum und winkte ihn an den Tresen. Quentin sah ihn hilflos an. Hinter ihm ertönte ein Murren, und jemand schimpfte: »Unglaublich. Andere Leute haben Besseres zu tun, als hier wegen Ihnen zu warten.«

»Was ist denn jetzt?«, meldete sich der Verkäufer wieder.

Quentin hatte Mühe, aus dem Meer in seinem Kopf einen Gedanken zu fischen. Doch als der Mann mit einer gewissen Gereiztheit noch einmal fragte, stammelte er: »Playstation-Spiele.«

»Und wel-che?« Der Verkäufer sah ihn genervt an. Als Quentin wieder nicht reagierte, klatschte er ihm ein Spiel vom Aktionsstapel auf den Karton und schob ihn zur Seite.

Quentin stand verloren mitten im Gang in einem Schwarm von Leuten, die zielstrebig an ihm vorbeiströmten, schaute von den Schachteln auf das rosa Stoffkrokodil unter seinem Arm und dann wieder hoch auf den Bildschirm mit dem Traumstrand. Doch das süße Gefühl der Leichtigkeit, das er gerade so deutlich gespürt hatte, war fort, hatte sich zusammen mit der wohltuenden Brise verflüchtigt.

Jemand rempelte ihn an. Quentin hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Irgendetwas kam ihm anders vor, doch er wusste nicht, was. Als er versuchte, darüber nachzudenken, hörte er in seinem Kopf ganz leise das Rauschen von Wellen. Er drehte sich einmal um sich selbst, doch das half auch nicht weiter. Dann bemerkte er einen Druck auf der Blase, der sich immer dringlicher in sein Bewusstsein schob. Also setzte er sich mit dem Karton, der Spieleschachtel und dem Plüschkrokodil in Bewegung und folgte einem Gang in den hinteren Bereich, wo er eine Toilette vermutete. Nachdem er einmal links abgebogen war, entdeckte er eine schwere Eisentür, die gerade zuging, und schlüpfte mitsamt seinen Geschenken im letzten Moment hindurch.

Er landete in einem Treppenhaus und machte sich auf den Weg nach unten. Ein halbes Stockwerk tiefer stieß er tatsächlich auf eine Toilette. Eine Personaltoilette. Es roch durchdringend nach dem Vorbenutzer, doch jemand hatte bereits das Fenster aufgerissen. Quentin stellte seine Sachen auf die Fensterbank, eilte zum Urinal und verschaffte seiner Blase Erleichterung. Als er sich gerade die Hände wusch, öffnete sich die Tür, und ein Mitarbeiter kam herein – und mit ihm ein Windstoß. Auf einmal tat es einen Schlag, und das Fenster fiel zu. Leider standen auf dem Fensterbrett immer noch Quentins zukünftige Einkäufe, oder vielmehr hatten sie dort gestanden. Denn von denen war nun nichts mehr zu sehen.

Aus dem Leben des Verstandes

Schon früh lernte Quentins Verstand die erste wichtige Lektion darüber, wie das Leben funktionierte. Und zwar durch das Mobile, das über Quentins Kinderbettchen angebracht war. Wenn Quentins Mutter ihrem Sprössling das Fläschchen gegeben, ihn frisch gewickelt und ins Bettchen gelegt hatte, schaltete sie es an. Quentin liebte es, genau wie sein Verstand, zuzusehen, wie die kleinen Elefanten am Mobile sich langsam und sachte schaukelnd im Kreis drehten. Er gluckste entzückt und streckte die dicken Händchen danach aus. Eine Erfahrung purer Freude.

Eines Tages aber öffnete Quentins Mutter das Fenster zum Lüften und ließ gleichzeitig die Zimmertür auf. Plötzlich fuhr frech ein Windstoß ins Kinderzimmer und die kleinen Elefanten machten einen Satz. Sie fingen heftig an zu schaukeln, hüpften in wilder Unordnung durcheinander und verhedderten sich schließlich so sehr, dass sich ein wirres Knäuel bildete, das bedrohlich über Quentins Kopf baumelte. Quentin erschrak – und fing bitterlich an zu weinen.

In diesem Moment spürte der Verstand zum ersten Mal etwas, das ihn erschütterte. Nämlich, dass es Dinge gibt, die alles aus dem Gleichgewicht bringen und aus heiterem Himmel Chaos verursachen können.

Zurück zu Quentin, der jetzt statt in einer akuten Not in anderen Nöten ist

Quentin machte das Fenster der Personaltoilette auf, beugte sich hinaus und sah seine Geschenke ein Stockwerk tiefer auf dem Hof im Schnee liegen. Er drängelte sich an dem verdutzten Mitarbeiter vorbei, lief zurück ins Treppenhaus und verließ das Gebäude durch eine weitere dicke Eisentür. Draußen stand ein anderer Mitarbeiter und rauchte. Quentin grüßte freundlich und lief um die Ecke, wo er als Erstes das Plüschkrokodil aufhob und den Schnee abklopfte. Dann klaubte er den Karton mit der Playstation auf und inspizierte ihn. Die eine Ecke war deutlich eingedrückt. Das sah gar nicht gut aus, befand er. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch gar nicht bezahlt hatte. Er hob auch noch das Spiel auf, ging um das Gebäude herum und vorne wieder hinein. Vor der Hauptinformation am Eingang der Multimedia-Abteilung drängten sich die Leute. Quentin lief an ihnen vorbei und wollte gerade in den Markt und zur Kasse gehen, da rief jemand: »Hey, Sie da! Mit den Sachen können Sie aber nicht rein.«

Quentin blieb stehen und sah nach, ob er gemeint war. Das war offenbar der Fall, denn hinter der Theke der Information stand eine Dame, die sich einen Telefonhörer auf die Brust hielt und heftig in seine Richtung winkte. Er trat näher.

»Die Sachen müssen da vorne in die Schließfächer.«

»Ich …«

Sie bedeutete ihm zu warten und beendete ihr Telefonat. Schließlich sah sie auf. Quentin stellte den ramponierten Karton auf den Tresen. »Ich befürchte, die Playstation ist kaputt.«

Die Dame deutete auf die Schlange vor ihrer Kollegin. »Da müssen Sie sich schon anstellen. Aber Reklamationen sowieso erst nach den Feiertagen.« Sie wandte sich ab, weil schon wieder das Telefon klingelte.

»Sie ist leider …«

Die Dame hielt mit der Hand am Telefon inne, hob eine Augenbraue und warf ihm einen Sie-sind-ja-immer-noch-da-Blick zu. »Hören Sie, für so was haben wir heute wirklich keine Zeit. Sie sehen doch, was hier los ist!«

»Aber ich will doch gar nicht …«, stammelte Quentin, während das Telefon weiter klingelte.

»Nächste Woche!« Nun sah die Dame richtig streng aus. Was hatte sie denn nur?

Er versuchte es erneut. »Also: Es war ein Missgeschick. Na ja, das Fenster war offen und da ist sie rausgefallen.«

»Dann ist das sowieso kein Garantiefall.«

»Aber –«

»Hören Sie, das ist nicht unser Problem. Und jetzt gehen Sie bitte, sonst bin ich gezwungen, den Sicherheitsdienst zu rufen.«

»Ich will doch nur …«

Das Gesicht der Dame lief rot an, und Quentin verstummte.

»Nehmen Sie endlich Ihre verdammte Playstation und machen Sie sich vom Acker!« Dann hob sie den Hörer ab und wandte ihm den Rücken zu.

Also tat Quentin wie geheißen: Er nahm sein Plüschkrokodil, die Playstation und das Spiel, drehte sich um und ging zurück zu seinem Auto.

Inzwischen rieselte feiner Schnee vom Himmel. Den ganzen Weg über hatte Quentin das unbestimmte Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Nur wollte sich kein Gedanke greifen lassen, der ihm geholfen hätte, die Situation einzuordnen. Stattdessen war da immer wieder dieses Meeresrauschen, sobald er nachzudenken begann. Als er seinen Wagen erreichte und den Schlüssel aus der Tasche zog, fiel sein Notizbuch in den Schnee, geöffnet auf der Seite mit der Geschenkeliste, die er mit einem Gummiband markiert hatte. War es das, was ihm fehlte? Die übrigen Geschenke? Er verstaute die Sachen im Kofferraum, fischte das Büchlein aus dem Matsch und wischte mit dem Ärmel darüber. Dann setzte er sich in den Wagen und schaute nach, was Bärbel ihm noch zu besorgen aufgetragen hatte.

Eine Vase für Tante Magda? Das erschien ihm völlig absurd. Schon letztes Jahr hatte er ihr eine Vase geschenkt. Und, wenn er sich recht entsann, im Jahr davor auch. Warum sollte er ihr überhaupt etwas schenken, für das sie gar keine Verwendung hatte? Blumen bekam sie sowieso nie. Bei ihrem Atem war das, was sie wirklich brauchte, ein Mundwasser.

Und was um Himmels willen sollte Mutti mit noch mehr Porzellanengeln? Vor seinem inneren Auge tauchte ihr Wohnzimmer mit der dunklen Eichenwohnwand auf, in der sich Putten und Engel in allen Formen und Größen ein Stelldichein gaben – und ihr düsterer Gesichtsausdruck, wenn sie diese Porzellanarmee abstauben musste. Zum Strahlen sollte man sie bringen! Und er hatte auch schon eine Idee, wie das gehen könnte. Mutti hatte doch so einen Jugendfreund gehabt, wie hieß der doch gleich? Genau, Johannes Breuer. Flugs zog er sein Handy aus der Tasche, rief die Auskunft an und ließ sich die Nummern von allen Johannes Breuers in der Gegend geben. Es waren sieben. Beim dritten nahm jemand ab.

»Breuer«, meldete sich eine dunkle Stimme, die Quentin auf Anhieb sympathisch fand.

»Hallo, hier ist Quentin Finkenwinkel. Kennen Sie eine Hildegard … Ach ja, damals hieß sie wahrscheinlich noch Trost.«

»Die wilde Hilde!«

»Genau, dann sind Sie ja der Richtige. Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine kurze Pause. »Wer waren Sie doch gleich?«

»Ich bin ihr Sohn. Hören Sie: Meine Mutter ist ein großer Fan von diesem Bernhard Bardensiehl, und da ist demnächst irgendwo ein Revival-Konzert. Hätten Sie Lust, mit ihr hinzugehen?«

»Ähm, im Prinzip … Wie kommen Sie denn da auf mich?«

»Sie hat immer so glücklich gewirkt, wenn sie von Ihnen erzählt hat. Und weil ich noch kein Weihnachtsgeschenk habe, dachte ich …«

Die dunkle Stimme brach in ein dröhnendes Lachen aus. »Sie sind mir ja einer.«

Quentin war nicht ganz klar, was er für einer sein sollte, aber das spielte auch keine Rolle – schließlich ging es um Mutti. »Heißt das Ja?«

»Das kommt jetzt schon ein bisschen plötzlich. Aber die Hilde … Also: Ja.«

»Wunderbar! Könnten Sie vielleicht auch die Karten besorgen?«

Wieder lachte es am anderen Ende. »Geht schon in Ordnung, warum nicht.«

»Prima. Vielen Dank auch. Sie meldet sich dann bei Ihnen.«

»Ich bin gespannt.«

»Dann noch frohe Weihnachten.«

»Ihnen auch.«

Quentin legte auf. Mutti war versorgt. Aber was war mit den anderen? Alles, was auf der Liste stand und noch lesbar war, kam ihm eigenartig vor. Daher klappte er das Büchlein zu und warf es auf den Beifahrersitz. Jetzt war ihm kalt, und er wollte nach Hause fahren. Also tat er genau das.

Kapitel 3 – in dem es zu unterschiedlichen Auffassungen von Kunst kommt und doch noch Geschenke hervorgezaubert werden

Aus dem Leben des Verstandes

Während Quentin heranwuchs lernte der Verstand nach und nach immer mehr über die Welt. Aus dem Baby wurde ein Kleinkind, das umherkrabbelte und die Welt für sich eroberte. Hingebungsvoll warf Quentin Schuhe durch die Gegend, riss an Blumen, kaute auf seiner roten Kuschelsocke herum, betastete mit seinen dicken Händchen Sofafüße und Heizkörper, patschte auf heruntergefallene Birnen und zog an seinen kleinen Zehen. Und jedes Mal, wenn er etwas anpackte, berührte, betatschte oder in den Mund steckte, bekam die Welt eine weitere Kontur, wurde im wahrsten Sinne des Wortes »begreifbar«.

Der Verstand war begeistert bei der Sache. Er fand heraus, dass alles, was Quentin anfasste, eine Begrenzung war. Eine Begrenzung, auf deren einer Seite etwas war – und auf deren anderer Seite ebenfalls etwas war, etwas »anderes« nämlich.

All diese »Etwase« hatten Eigenschaften und eine Funktion, und der Verstand bekam gar nicht genug davon, sie zu erforschen und auszuprobieren, wie sie zusammenwirkten. So machte beispielsweise ein Apfel ein herrlich kollerndes Geräusch, wenn man ihn auf den Boden warf, und die Zigarrenstumpen, die Vati heimlich zwischen den Nadeln unter der Tanne im Vorgarten entsorgte, schmeckten scheußlich bitter.

Quentins Verstand schloss daraus, dass diese Eigenschaften die Dinge zu dem machten, was sie waren. So begann er, alles, was ihm unterkam, zu definieren. Und bald darauf fing er an, es in die sprichwörtlichen Schubladen zu stecken und damit zu bewerten. Die Schubladen hießen am Anfang noch »mhhh« und »bäh«, wurden mit der Zeit jedoch immer differenzierter.

Und so machte der Verstand sich nach und nach die Welt um ihn herum zu eigen – allerdings ging dabei mit jeder Begrenzung, die er definierte, jedem bisschen Wissen, das er anhäufte, und jeder Bewertung, die er vornahm, ein Stückchen Magie verloren.

Zurück zu Quentin, der inzwischen zu Hause angekommen ist

Zu Hause angekommen, trug Quentin seine Einkäufe ins Haus, allen voran die Playstation. Ob sie wohl noch funktionierte? Kurzerhand öffnete er den Karton, und schon Minuten später saß er im Wohnzimmer auf dem Teppich und stöpselte Kabel in seinen Fernseher.

Dann wollte er es sich auf dem Sofa bequem machen. Doch das war mit einem schweren, durchsichtigen Plastiküberzug bedeckt, und der war in keinster Weise gemütlich. Schnurstracks riss er ihn herunter und ging nach draußen, um ihn in der Mülltonne zu entsorgen. Es schneite inzwischen in dicken Flocken. Eine davon landete auf seiner Hand. Ein Kunstwerk aus vielen kleinen Kristallen, die filigran eine Einheit bildeten. Quentin erinnerte sich, gelesen zu haben, dass keine zwei Schneeflocken jemals dieselbe Struktur hatten. Er ließ den Plastiküberzug auf die Rosenrabatte im Vorgarten fallen und setzte sich auf die Stufe vor der Haustür. Mit ausgestreckten Armen fing er sich eine neue Flocke, und noch eine und noch eine, und betrachtete sie genauer. Unzählige hauchfeine Eisstrukturen bildeten Sterne, deren feine Spitzen sich zu den grazilen Flocken zusammensetzten. Und tatsächlich, jede war anders. Immer mehr Flocken ließen sich auf seinem Ärmel nieder und setzten sich hauchzart aufeinander. Auch fortpusten ließen sie sich ganz wunderbar. Dann wirbelten sie durcheinander, um schließlich wieder in Ruhe ihren steten Weg zur Erde fortzusetzen.

Quentin hob das Gesicht, streckte die Zunge heraus und fing eine dicke Flocke auf. Sie schmeckte angenehm frisch und hinterließ ein leichtes Prickeln an seinem Gaumen. Inzwischen hatte sich auch auf dem Plastikschonbezug über der Rosenrabatte eine feine Schneedecke gebildet. Quentin legte den Kopf schief und schaute genauer hin. Die beiden Enden ragten stolz wie zwei Türme in die Höhe. Aus seinem Bezug war ein Eispalast geworden! Aber ein Schloss brauchte noch Kuppeln auf den Türmen, und eine Mauer mit Tor durfte auch nicht fehlen. Also kniete er sich neben den Palast ins Beet und begann, aus Schnee eine Umrandung zu formen. Und an die Zufahrt baute er ein Torhaus mit Zinnen.

»Du liebe Güte! Was ist denn hier passiert?«, erklang eine Stimme hinter ihm. Quentin drehte sich um. Herr Gruber von gegenüber und seine Frau kamen in Hausschuhen über die Straße gelaufen und bauten sich vor seinem Zaun auf. »So eine Schweinerei! Das waren doch bestimmt wieder diese Halbstarken aus dem Amselweg.«

Quentin sah Herrn Gruber verständnislos an. »Wieso? Was ist denn passiert?«

»Na dieser ganze Müll hier in Ihrem Vorgarten.«

Frau Gruber schüttelte den Kopf. »Abscheulich ist das – und so was zu Weihnachten. Wo doch unser Anton mit seiner Familie kommt. Sie wissen ja, der ist Ingenieur. Sollen wir Ihnen helfen? So kann das ja nicht bleiben.«

»Warum denn nicht?«, fragte Quentin.

»Und mitten auf die schönen Rosen. Wo Sie die doch immer so sorgfältig gepflegt haben«, sagte Frau Gruber und schaute ganz betrübt.

Quentin betrachtete sein Werk und verstand noch immer nicht, was sie meinten. »Aber wieso? Das sieht doch wunderschön aus.« Der Turm, an dem er gerade baute, war ihm wirklich gut gelungen, fand er. »Und sogar das Tor hält.«

»Das Tor? Sie … Sie haben das doch nicht etwa selbst …?« Frau Gruber sah ihn mit großen Augen an. »Sie haben doch immer so viel Wert auf einen gepflegten Vorgarten gelegt. Jedem welken Blättchen sind Sie hinterhergejagt.«

»Aber schauen Sie doch, wie das glitzert. Jetzt, wo der frische Schnee drauffällt.« Er strahlte die beiden an. »Wussten Sie, dass jede Schneeflocke absolut einzigartig ist?«

Die Grubers wechselten Blicke, die Quentin nicht einordnen konnte. Dann wandte sich Frau Gruber wieder ihm zu. »Um Himmels willen, Herr Finkenwinkel, ist Ihnen nicht gut? Sollen wir einen Arzt rufen?«

Quentin wusste nicht, was er antworten sollte, aber einen Arzt brauchte er definitiv nicht, denn es ging ihm ja ausgezeichnet. Also schüttelte er den Kopf.

Herr Gruber schaute ihn ratlos an, während seine Frau sich vor Kälte die verschränkten Arme rieb. Schließlich meinte er: »Nun denn, Herr Finkenwinkel, wir wünschen jedenfalls ein frohes Fest.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und ich gehe davon aus, dass das hier bis morgen beseitigt wird.«

Damit drehten die beiden sich um und überquerten tuschelnd und kopfschüttelnd die Straße. Quentin sah ihnen hinterher. Kurz vor ihrem festlich erleuchteten Haus schauten sie sich noch mal um, blickten aber sofort weg, als sie bemerkten, dass er ihnen nachsah.

Quentin saß im Schnee und fragte sich, was das eben gewesen war. Doch statt eines vernünftigen Gedankens hörte er wieder leises Meeresrauschen. Verdutzt schüttelte er den Kopf. Als das auch nichts änderte, legte er letzte Hand an die Kuppel des größeren Turmes, bewunderte sein Werk noch einmal und ging, zwar mit eiskalten Händen, aber zufrieden, zurück ins Haus. Dort schaltete er die Playstation an, legte das Spiel ein und machte es sich auf dem Sofa bequem.

Eine Gitarre wurde angeschlagen, eine Frauenstimme sang eine klagende Weise, und arabische Klänge erfüllten den Raum. Auf dem Bildschirm wanderte ein Mann durch eine Wüste.

»Alle Menschen träumen«, erklang eine Männerstimme, »aber nicht auf die gleiche Weise. Die, die während der Nacht in der staubigen Tiefe ihres Verstandes träumen, wachen am Tage auf, um zu entdecken, dass alles nur Wahn war. Aber die Tagträumer sind gefährliche Menschen, denn sie können ihren Traum mit offenen Augen möglich machen. Das ist das, was ich tat.«

Wieder erklang Musik. Quentin starrte fasziniert auf den Bildschirm. Und dann ging es los.

Die halbe Nacht saß er vor der Playstation und spielte, bis ihm schließlich auf dem Sofa die Augen zufielen. Den nächsten Tag verbrachte er ebenfalls mit Spielen, und außer für den gelegentlichen Griff zur Kaffeetasse oder in eine Tüte Chips nahm er die Finger nicht vom Controller. Am Abend bekam er dann aber doch Hunger und zwar in einem Maß, das sich nicht länger ignorieren ließ.

Er ging in die Küche, doch die eine Tüte Chips, die er ohnehin nur für Gäste gekauft hatte, die er sowieso nie einlud, war bereits geleert, und sonst hatte er nichts eingekauft. Sein Blick fiel auf das Wochenblatt, und dort auf die Anzeige des Pizza-Blitz. Er griff nach seinem Handy. Doch bei dem tat sich leider gar nichts, denn Quentin hatte vergessen, es aufzuladen. Er stellte es also auf die Dockingstation.

Als er es schließlich anschaltete, zeigte das Display sechs verpasste Anrufe und zwei Nachrichten an.

»Wo steckst du? Das Essen wird kalt!!!«, lautete die erste. Die zweite bestand nur noch aus Ausrufezeichen. Beide waren von seiner Schwester. Da fiel ihm ein, dass ja Heiligabend war und seine Schwester folglich im Haus der Mutter gekocht haben musste. Ihr traditionelles Weihnachtsessen – zähe Gans mit zerkochtem Rotkraut und Klößen – war zwar kein kulinarisches Highlight, aber immer noch besser als zu hungern. Und das Essen war bereits fertig – wohingegen er keine Ahnung hatte, wann der Pizza-Blitz ihm etwas liefern würde. Außerdem konnte er dann auch gleich seine Geschenke abgeben.

Quentin hielt inne. Nun, eigentlich hatte er ja gar nicht für alle Geschenke, gestand er sich ein, und das war irgendwie schade. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Flugs lief er durchs Haus und sah sich nach etwas Passendem um. Im Bad entdeckte er Ohrenstöpsel – die waren doch perfekt für Bärbels Mann Klaus, der sicher froh war, wenn er die schrille Stimme seiner Frau mal ausblenden konnte. Und für Tante Magda packte er seine Ersatzflasche Mundwasser ein. Er wickelte alles in das Wochenblatt in der Küche und klebte es mit Tesafilm zu. Für Mutti schrieb er groß »Gutschein für zwei Bernhard-Bardensiehl-Revival-Konzertkarten« auf einen Zettel, notierte auf der Rückseite Johannes Breuers Nummer und steckte ihn in einen Umschlag.

Im Keller fand er schließlich das perfekte Geschenk für Bärbel: eine Puddingmaschine, noch originalverpackt. Er schleppte sie ins Wohnzimmer, doch dummerweise hatte er kein Papier zum Einwickeln, das groß genug gewesen wäre. Sein Blick fiel auf die Gardine – beige mit Blumenmuster. Landhausstil, hatte Mutti gesagt, als sie damit angekommen war und sie vor sein Fenster gehängt hatte. Perfekt. Er zog einmal kräftig. Damit bekam er die Gardine zwar nicht von der Stange, dafür aber die Stange von der Wand. Und nun war es ein Leichtes, sie herunterzuziehen. Er wickelte den Karton darin ein und band oben alles mit der Kordel zusammen. Der Rest der Gardine hing wie ein Büschel zu langer Haare am Paket herunter. Zum Thema Haare fiel Quentin auf einmal noch etwas ein und er flitzte ins Bad, um ein zweites Geschenk für Bärbel zu holen, das er in eine Seite vom Wochenblatt einwickelte und außen am Paket festmachte.

Inzwischen hatte er wirklich Hunger. Schnell packte er die Geschenke – natürlich bis auf die Playstation – in eine große Pappkiste, zog seinen Mantel über, und setzte sich ins Auto. Als er die Scheinwerfer anmachte, ließ der Lichtstrahl seinen Eispalast funkeln. Schade nur, dass er den nicht mitnehmen und jemandem schenken konnte.

Kapitel 4 – in dem ein Schrank überraschende Geheimnisse preisgibt und das eine oder andere zu Bruch geht

Aus dem Leben des Verstandes

Nach und nach lernte Quentins Verstand immer mehr Wörter – und damit auch immer mehr Konzepte. Eines davon war besonders faszinierend.

Als Tante Magda eines Tages bei Mutti zu Besuch war, hob sie irgendwann den kleinen Quentin hoch und setzte ihn sich auf den Schoß.

»Da, schau mal, Quentin, das bist du«, sagte sie und zeigte auf ein Foto, das neben vielen anderen auf dem Tisch lag, »und das bin ich.«

»Ich« und »Du« hatte der Verstand schon des Öfteren gehört, doch bislang hatte er noch keine Gelegenheit bekommen, den Begriffen etwas zuzuordnen – und sie anzufassen. Quentin reckte sich in Richtung Tisch, streckte sein Händchen aus und griff nach dem Foto. »Ich« und »Du« waren also auf diesem Stück Papier. »Ich« und »Du« waren also etwas, das man anfassen konnte. Und wenn man sie anfassen konnte, dann hatten sie auch Eigenschaften – und vielleicht auch eine Funktion. Vielleicht konnte man sie sogar in Schubladen einordnen! Der Verstand war von den Socken.

Quentin wedelte mit dem Foto hin und her, dann steckte er es in den Mund und gluckste. Mutti und Tante Magda lachten mit.

Bald nach der Entdeckung von »Ich« und »Du« passierte dann etwas, das Quentins Verstand eine Menge Möglichkeiten bot, sich im wahrsten Sinne des Wortes damit auseinanderzusetzen. Quentin bekam nämlich ein Schwesterchen: Bärbel.

Bärbel war ein ganz klares »Du«, das sich schon sehr früh lautstark bemerkbar machte. Am Anfang flitzte Quentin jedes Mal, wenn ihr sirenenartiges Geheul losging, vor Schreck hinter das Sofa. Der Verstand begriff schnell, dass die Lautstärke mit der Zeit korrelierte, die Mutti brauchte, um Bärbel Aufmerksamkeit zu schenken. Als der Verstand das auch mal ausprobieren wollte und Quentin daraufhin probeweise losheulte, zog Mutti allerdings die Augenbrauen hoch und sagte: »Dafür bist du zu groß, Quentin. Du bist ja schon fast so groß, dass du Mutti helfen kannst, auf Bärbel aufzupassen.«

Der Verstand war sofort Feuer und Flamme, und so versiegten Quentins Tränen. Mutti erklärte ihm genau, wie er sich um sein Schwesterchen kümmern konnte – und davon abgesehen hatte der Verstand noch eine ganze Menge zusätzlicher Ideen. Von da an wedelte Quentin unermüdlich mit Papierfliegern vor ihrer Nase herum, schaukelte die Wiege und kitzelte an ihren Füßchen, bis sie juchzte. Mutti lobte ihn, strich ihm durch die Haare sagte: »Du bist ein guter Junge, Quentin.« Und wenn Bärbel besonders ruhig gewesen war, gab sie ihm eine extra Portion Pudding – mit Schlagsahne obendrauf!

Der Verstand, der auch gerne Pudding mochte, war selig und kam zu dem Schluss, dass es durchaus etwas Erstrebenswertes war, ein guter Junge zu sein. Und so hatte er eine weitere Lektion gelernt: Wenn er tat, was andere wollten, bekam auch er, was er wollte. So waren alle glücklich.

Zurück zu Quentin, der auf dem Weg zu seiner Familie ist

Als Quentin auf dem Weg zum Haus seiner Mutter an einer Tankstelle vorbeikam, hielt er kurzerhand an, weil ihm ja noch ein Geschenk für Magnus fehlte. Er lief hinein und fragte die ältere Dame an der Kasse: »Was gefällt einem Fünfzehnjährigen?«

»Fuffzeh?«, fragte sie und wies dann mit ihrem Finger zu einem Regal an der hinteren Wand. »Des do.«

Quentin verließ sich auf ihren guten Geschmack, zahlte und stand eine Viertelstunde später mit seiner großen Kiste voller Geschenke vor Muttis Haus und klingelte. Während er darauf wartete, dass ihm jemand aufmachte, betrachtete er den weihnachtlichen Kranz an der Tür und überlegte, mit welcher der Videospielwaffen sich die rosa und blau metallic glänzenden Kugeln wohl am besten abschießen lassen würden.

Schließlich öffnete seine Schwester Bärbel. Ihrer Figur war deutlich anzusehen, dass sie immer noch gerne Pudding aß, und er freute sich, dass er die Puddingmaschine für sie hatte.

»Wer ist es denn?«, tönte die Stimme von Quentins Mutter aus dem Hintergrund.

Bärbel drehte sich um und rief laut: »Ich würde ja sagen Quentin, aber der wäre vor zwei Stunden gekommen. Und er hätte etwas Ordentliches an.« Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte ihm mit grimmiger Miene entgegen. »Was fällt dir eigentlich ein? Wenn die Kinder nicht auf ihre Geschenke warten würden, könntest du gleich wieder gehen.« Damit stapfte sie zurück ins Haus und verschwand im Wohnzimmer.

Quentin trat sich im Flur die Schuhe von den Füßen, warf den Mantel hinterher und folgte ihr. Im Wohnzimmer dudelte dieselbe Weihnachts-CD wie jedes Jahr, und der Baum in der Ecke sah seinen Vorgängern zum Verwechseln ähnlich. Leider war der Esstisch schon abgeräumt und bis auf Schwager Klaus hatte sich die Familie bereits zur Sofagarnitur begeben. Im Kamin flackerte ein Gasfeuer, das gemeinsam mit den elektrischen Kerzen am Baum und einem Leuchter auf dem Tisch versuchte, die erdrückende Schwere der Eichenschrankwand aufzulockern. Ebenfalls zur Auflockerung schob sich Tante Magda gerade eine Edle-Tropfen-Praline in den Mund.

»Quentin«, rief seine Mutter, »wo bleibst du denn so lange? Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Geht’s dir gut?«

»Ich hab Hunger.«

Bärbel sah ihn mit verschränkten Armen an. »Essen gab es um sieben.«

In diesem Moment kam Quentins fünfzehnjähriger Neffe Magnus herein und schaute sofort in Quentins Kiste. »Welches ist denn mein Geschenk?«

Quentin holte eine Tüte aus seinem Karton. Magnus nahm sie entgegen und zog ihren Inhalt heraus. Er riss die Augen auf, und sein Gesicht färbte sich so puterrot, dass seine Pickel sich kaum noch davon abhoben. »Der neue Playboy-Kalender? Echt jetzt?«

Bärbel riss ihrem Sprössling den Kalender aus der Hand. »Das kann ja wohl nicht wahr sein. Playstation, du Idiot! Nicht Playboy! Mein Gott, Quentin!«

Quentin zuckte unwillkürlich zusammen. »Aber sowas gefällt einem doch als Junge in dem Alter.« Hilfesuchend schaute er zu Klaus. Der grinste und erntete dafür einen strafenden Blick von seiner Frau.

»Dieses … Ding … bekommt unser Junge jedenfalls nicht!« Bärbel ließ den Kalender mit angeekeltem Gesichtsausdruck wieder in Quentins Kiste fallen. »Und jetzt gib ihm schon sein Spiel.«

»Aber damit kann er doch auch spielen.«

»Quentin!« Bärbels Stimme überschlug sich. Magnus schnappte sich den Kalender aus dem Karton, doch Bärbel erwischte das andere Ende und zog. »Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Mama! Wenn ich schon nicht die Playstation bekomme …«

Bärbel gewann das Kräftemessen, rupfte triumphierend die Kalenderblätter heraus und zerriss sie. Dann wandte sie sich an Quentin. »Und du schaffst nächste Woche die Playstation ran.«

»Ach Kinder, jetzt streitet euch doch nicht«, mischte sich Mutti ein. »Es ist schließlich Weihnachten, und Quentin hat das sicher nicht mit Absicht gemacht.«

Bärbel schnaubte.

»Jetzt trinken wir auf den Schreck erst mal ein Likörchen«, fuhr Mutti fort, »und dann feiern wir schön. Quentin, wo hast du denn den Likör?«

»Oh, ich hab gar keinen«, erwiderte Quentin, der eigentlich jedes Jahr dafür zuständig war, den obligatorischen Marillenlikör mitzubringen. »Aber wir könnten doch Vatis Weinkeller plündern.«

Seine Mutter riss die Augen auf und sog hörbar die Luft ein. »Vatis Weinkeller? Aber das war doch immer sein Heiligtum!«

Der Weinkeller war eigentlich gar kein Weinkeller, sondern ein großer Kellerschrank, und Vati war seit dreizehn Jahren tot.

»Gute Idee«, meinte Klaus und handelte sich damit wieder einen strengen Blick von Bärbel ein.

Mutti zögerte, doch dann schien sie sich durchzuringen. »Ja, wenn ihr wirklich meint.«

Quentin sprang auf und Magnus flitzte bereits in den Flur. Auch Mutti, Klaus und Bärbel erhoben sich, und so zog kurz darauf eine kleine Prozession in den Keller und versammelte sich vor dem massiven Mahagonischrank.

»Hat jemand den Schlüssel?«, fragte Klaus.

Mutti schüttelte den Kopf. »Nein, den Schrank durfte außer ihm niemand anrühren. Einen Schlüssel dazu habe ich nie gesehen.«

Quentin schaute sich um. »Dann brauchen wir ein Brecheisen.«

Mutti sah ihn schockiert an. In diesem Moment drängelte sich Klaus von hinten durch, besagtes Werkzeug bereits in der Hand.

»Das haben wir gleich«, verkündete er, schob die Metallstange in den Spalt zwischen den Schranktüren und hebelte einmal kräftig. Erst erklang ein Ächzen, dann noch eines, und schließlich barst das Holz.

»Na also, geht doch.« Klaus wischte sich über die Stirn. Er öffnete langsam die linke Schranktür, und es wurden Weinflaschen sichtbar, die in kleinen Weinregalen lagen und vor sich hin staubten. Doch als die Tür ganz aufgegangen war, kam noch etwas anderes zum Vorschein: Auf der Innenseite prangte ein riesiges Pin-up-Poster. Es zeigte eine rassige Schönheit, die – nur mit High Heels bekleidet – lasziv an einem schwarzen Oldtimer lehnte. Mutti schlug die Hände vor den Mund.

»Halleluja«, sagten Quentin und Klaus gleichzeitig.

Bärbel hielt Magnus die Augen zu. »Schon wieder so ein Schweinkram!«

»Mensch, Mama. Ich bin alt genug«, beschwerte sich Magnus und schüttelte ihre Hand ab.

»Warum hat Vati das schöne Bild denn nicht oben aufgehängt?«, fragte Quentin. »Hier sieht es doch gar keiner.« Klaus fing an zu lachen, während Bärbel empört nach Luft schnappte.

In diesem Moment schwang mit einem Quietschen auch die rechte Tür auf. Die untere Hälfte der rechten Schrankseite war ebenfalls mit Wein gefüllt und in der oberen, ja, in der thronte der Rum. Außerdem waren da noch ein großes Buch, eine Holzschatulle und eine kleine, edel aussehende Holzkiste. Diese hatte ein Fenster, durch das viele dicke, massive, braune Rollen zu sehen waren. Vorne war mittig eine Art Uhr angebracht.

»Eine Bombe!«, kreischte Bärbel und schob Klaus vor sich.