Nach uns die Pinguine - Hannes Stein - E-Book

Nach uns die Pinguine E-Book

Hannes Stein

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Beschreibung

Der bizarrste und ungewöhnlichste Krimi des Jahres. Die Menschheit hat sich selbst nahezu ausgerottet. Nur auf den abgelegenen Falklandinseln geht der Alltag weiter – bis der Gouverneur mit einer Churchill-Büste erschlagen wird ... Hannes Steins skurriler Weltuntergangskrimi ist ein philosophisch-postapokalyptisches Vergnügen. Eines gleich vorweg: Vom Weltuntergang sprechen die Figuren dieses Buches nicht. Nein, die Apokalypse, die auch ein überforderter US-Präsident mit eigenartiger Frisur nicht verhindern konnte, wird von den Bewohnern der Falklands mit dem der Insel eigenen Understatement nur mit »die betrüblichen Ereignisse, über die wir ungern reden« umschrieben. Das gemütliche Leben in der britischen Enklave (denn diese Inseln sind britisch, und wie!) hat sich seither aber ohnehin kaum verändert: Man geht weiterhin in den Pub, schert die Schafe und geniest die gute Meeresluft. Na gut, die Kinderlosigkeit ist schon seltsam. Und die Tatsache, dass man gefährliche Expeditionen aufs argentinische Festland wagen muss, um Vorräte anzulegen, macht den Menschen auch zu schaffen. Außerdem gibt es da noch das vollbesetzte Kreuzfahrtschiff, das vor der Küste liegt und dessen Passagiere nur zu gerne ihre Kabinen verlassen und sich auf der Insel ansiedeln wurden. Als dann plötzlich der allseits beliebte Gouverneur erschlagen wird – in einem Raum, dessen Türen und Fenster von innen verriegelt waren –, geraten die Dinge aus den Fugen. Wer steckt hinter dem heimtückischen Mord? Und was ist das Tatmotiv? Joshua Feldenkrais, Moderator des Inselradios, ermittelt auf eigene Faust – und gerat dabei immer tiefer in einen Strudel aus Verschwörungen, finsteren Machenschaften und Pinguinen …

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Seitenzahl: 233

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Hannes Stein

Nach uns die Pinguine

Ein Weltuntergangskrimi

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Hannes Stein

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoDas erste Kapitel in dem ein Gouverneur von Winston Churchill erschlagen wirdDas zweite Kapitel in dem der Erzähler seine Visitenkarte überreichtDas dritte Kapitel in dem wir der letzten amerikanischen Präsidentin begegnenDas vierte Kapitel in dem ein tragisches Geheimnis ans Licht kommtDas fünfte Kapitel in dem ein Krieg nachträglich in eine Wirtshausschlägerei ausartetDas sechste Kapitel in dem die Polizei einen Verdächtigen festnimmt£ £ £Das siebte Kapitel in dem es allem Anschein nach um einen Fall von Fahnenflucht gehtDas achte Kapitel in dem ein weiterer Leichenfund gemeldet werden mussDas neunte Kapitel das in einem höchst unerwarteten Liebesgeständnis gipfeltDas zehnte Kapitel in dem etwas aus der Tiefe auftauchtDas elfte Kapitel in dem wir einen waschechten Briten kennenlernenDas Zwölfte Kapitel in dem starke Herztöne zu vernehmen sindDanksagung und Richtigstellung
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Für Yonatan – and to Chanah

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Eine Landkarte verdient keinen zweiten Blick, wenn die Insel Utopia nicht auf ihr verzeichnet ist.

Oscar Wilde

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Das erste Kapitel in dem ein Gouverneur von Winston Churchill erschlagen wird

Das Merkwürdige an diesem Mord war immer das Motiv. Denn wenn ich hier hinschreiben würde, dass das Opfer keine Feinde hatte, wäre das eine schwere Untertreibung. Wir alle kannten, wir alle mochten den Erschlagenen – ich wage sogar das Wort: Liebe. Auch hinter seinem Rücken wurde geschwatzt und getuschelt, das stimmt – aber eben nichts Böses, sondern ausschließlich Gutes. Und vielleicht das Charmanteste an Ralph MacNaughtan war, dass er davon keine Ahnung hatte. So wusste er nicht, dass wir ihn heimlich »unseren Ralphie« nannten; viele von uns machten dabei so liebevoll wie spöttisch sein rollendes, schottisches R nach. Natürlich hätte niemand gewagt, ihm diesen Spitznamen ins Gesicht zu sagen. Denn bei aller Jovialität war er doch immer noch der Gouverneur der Falklandinseln, das heißt: der offizielle Vertreter der Krone. Sein Titel in voller Pracht und Länge lautete: Gouverneur der Falklandinseln und Bevollmächtigter für South Georgia und die südlichen Sandwichinseln – und von Amts wegen stand ihm die Anrede »Euer Exzellenz« zu. Aber das hinderte »unseren Ralphie« nicht daran, sich leutselig unter das Volk zu mischen, das er (zumindest pro forma) regierte. Wenn sein pausbäckiges Eulengesicht in einem der Pubs von Stanley auftauchte, wurde es zuverlässig mit lautem »Hallo« und Schulterklopfen begrüßt. In der Victory Bar verdrückte er mit bloßen Fingern fettige Fish-and-Chips frisch aus dem Zeitungspaper, im Rose Pub stürzte er manches Pintglas von jenem berühmten bitterschwarzen Ale herunter, das am besten bei Zimmertemperatur genossen wird. In der Globe Tavern spielte er Darts – er traf noch nach dem dritten Whisky verblüffend genau; ich habe oft und gern gegen ihn verloren.

Manchmal begleitete ihn bei den Pubrunden seine Frau Gloria, eine verblühte Schönheit mit grauen Locken, die ihren Gatten um Haupteslänge überragte. Und trotz extremer Unsportlichkeit (er war korpulent und hatte krumme Dackelbeine) nahm er am alljährlichen Marathonlauf teil. Dass er dabei wie eine Witzfigur aussah und immer an vorletzter Stelle durchs Ziel schnaufte, kümmerte ihn nicht. Wenn im Frühjahr – also ungefähr im September – die circa fünfhunderttausend Schafe auf unseren Inseln geschoren wurden, war Seine Exzellenz mit puterrotem Kopf und grinsend mittendrin dabei.

Gleichzeitig verstand er, wenn es darauf ankam, mit großer Würde aufzutreten. An jedem zweiten Sonntag im November versammeln wir uns vor dem hohen grauen Steinkreuz am östlichen Ende von Stanley, um der britischen Soldaten zu gedenken, die in den Weltkriegen gefallen sind. Unser Gouverneur trug dann immer eine große rote Plastikblüte im Knopfloch – eine Erinnerung an die Schlachtfelder von Flandern, die nach den Gemetzeln des Ersten Weltkrieges von rotem Klatschmohn bedeckt waren. In seinem schwarzen Anzug (maßgeschneidert in der Savile Row, versteht sich) sah er beinahe elegant aus; und plötzlich verstanden wir, warum seine Frau sich einst in ihn verliebt hatte. Tief erschüttert ergriff er jedes Mal die Riesenpranke von Generalmajor Jonathan Hitchens, dem Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte auf den südatlantischen Inseln. Fröhlicher ging es am 8. Dezember zu, denn da erinnerten wir uns an einen Sieg. (Die britische Flotte hat ihn anno 1914 in den Gewässern des Südatlantiks, quasi vor unseren Haustüren, gegen die kaiserlich-deutsche Kriegsmarine erfochten.) Wir versammelten uns dann am Kriegerdenkmal im Westen von Stanley – einem Dreimaster aus Bronze auf einer grauen Steinsäule. Eine Militärkapelle spielte die Hymne, gefolgt von »Rule Britannia«, und unser Gouverneur ließ es sich nie nehmen, falsch und begeistert mitzusingen. Als Kommandant des königlich-viktorianischen Ordens legte er zum festlichen Anlass die blaue Schärpe mit der Krone im großen Goldkreuz an. Die Zeremonie wurde vom Stechginster eingerahmt, der im Dezember gelb blüht, und das sah alle Jahre wieder zauberhaft aus.

Das wichtigste Datum freilich ist der 14. Juni – der Jahrestag unserer Befreiung von den Argentiniern, die unsere Inseln 1982 überfallen hatten. Die Feier findet mitten im Zentrum von Stanley statt: am »Thatcher Drive«, wo die Siegesgöttin stolz ihren Dreizack in den Himmel reckt. Generalmajor Hitchens beteuert dort stets, welche Ehre es für ihn und seine Leute sei, dass sie »auch unter den veränderten Bedingungen« die Verantwortung für die Sicherheit der Falklandinseln trügen. Und Ralph MacNaughtan erwiderte jedes Mal, wir seien den Soldatinnen und Soldaten Ihrer Majestät zu Dankbarkeit verpflichtet, denn: »Reif sein ist alles!« (König Lear, V. Akt, 2. Szene). Die Freiheit erlege uns den Preis auf, für jede Eventualität gerüstet zu sein. Zum Schluss pustete er sich meistens in die kalten Hände und forderte Soldaten und Zivilisten zum hemmungslosen Fraternisieren auf: »Ab ins Wirtshaus, Freunde!« Selbstverständlich glänzte »unser Ralphie« auch bei christlichen Festen mit großen Auftritten. Zu Weihnachten hielt er eine kurze Rede, in der er uns ermahnte, nie zu vergessen, dass wir zu den wenigen vom Glück Auserwählten gehörten; dann schob er die Diskette mit der Ansprache Ihrer Majestät ein. Am 1. Januar forderte der Gouverneur uns, den schottischen Nationaldichter Robert Burns zitierend, auf, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken – »trotz alledem und alledem«.

Gewiss, manchmal gab es Streit. »Das Volk murrte«, wie es in der Bibel heißt (2. Mose 15,24; 4. Mose 17,6; Josua 9,18 usf.). Das bleibt nicht aus in so vielen Jahren der Amtszeit. Höchst umstritten war etwa, dass der Gouverneur die Streitkräfte anwies, Flugzeuge und Helikopter auszuschicken, um in Lateinamerika nach Überlebenden zu suchen – gegen den Willen der Legal Assembly, des frei gewählten Parlaments der Falklandinseln. Seit jenen betrüblichen Ereignissen, über die wir ungern reden, leben darum hundertsechsundfünfzig verschreckte Mexikaner, Argentinier, Uruguayer und sogar ein paar Ureinwohner aus den Regenwäldern Brasiliens unter uns. Aber erstens hatte Ralph MacNaughtan das gute und verbriefte Recht, sich über den Willen der Assembly hinwegzusetzen – unsere Außenpolitik wird nun einmal vom Gouverneur als Stellvertreter Ihrer Majestät und nicht vom Parlament gemacht. Zweitens haben sich die geretteten Lateinamerikaner tadellos in unsere Gesellschaft integriert (die brasilianischen Indianerfrauen etwa waren entzückt, als sie entdeckten, dass es bei uns Waschmaschinen gibt). Drittens mussten auch jene Alteinwohner der Falklandinseln, die besonders laut gemurrt hatten, im Nachhinein zugeben, dass diese Rettungsaktion »unseres Ralphie« im Einklang mit den Prinzipien der christlichen Nächstenliebe stand. Übrigens war es auch auf dem Höhepunkt des Murrens keineswegs so gewesen, dass der Gouverneur sich auf den Straßen von Stanley nicht mehr hätte blicken lassen dürfen. Wir mochten und verehrten ihn trotzdem, den kurzatmigen, kurzbeinigen Stellvertreter Ihrer Majestät mit dem gütigen Eulengesicht. Außerdem sind das alte Geschichten. Niemals wären sie ein Grund gewesen, diesem Mann so viele Jahre später Böses anzutun, der es verstand, Würde und Liebenswürdigkeit perfekt in der Balance zu halten. Warum also hatte ein Scheusal, ein Irrsinniger, ein Verbrecher unserem Gouverneur den Schädel eingeschlagen?

Noch in anderer Hinsicht stellte das Motiv für diesen Mord ein Rätsel dar, das in ein Mysterium gehüllt war, in dessen Innerem sich ein Geheimnis verbarg. Denn es war eine unübersehbare Tatsache, dass Ralph MacNaughtan ohnehin gestorben wäre. Im Prinzip ist das zwar ein Problem, das uns alle betrifft, aber in seinem besonderen Fall war es vor etwa einem halben Jahr akut geworden. Seit Monaten hatten wir unseren Gouverneur nicht mehr in den Pubs von Stanley gesichtet. Sein Körperfett war dahingeschmolzen, er hatte sich in ein dürres, hohlwangiges Männlein verwandelt. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Wenn er in der Öffentlichkeit die Mütze abnahm (was immer seltener vorkam), wurde offenbar, dass seine grauen Locken nicht mehr existierten: über seiner Stirn wölbte sich Kahlheit, ein blank poliertes Nichts. Mitunter spuckte er diskret etwas Unaussprechliches in sein Stofftaschentuch, das er dann sorgsam zusammenfaltete und in seiner Hosentasche verbarg. Beinahe täglich sahen wir seinen schwarzen Jeep, der vor unserem mit allen modernen Einrichtungen ausgestatteten Krankenhaus parkte – und wir alle wussten oder ahnten, was dort drinnen vor sich ging: »Unser Ralphie« holte sich seine Dosis Chemotherapie ab.

Dr. Abdul ur-Rachman, der Chefarzt des King Edward VII Memorial Hospital, war durch das Arztgeheimnis gebunden, also verriet er keiner Menschenseele, was dem Gouverneur fehlte. (Auch nicht mir, obwohl ich sein bester Freund bin.) Doch es war klar wie Sonnenlicht: Ralph MacNaughtan wurde still, aber rasend schnell von einem Krebs gefressen. Und all das Gift, das er sich durch den Körper spülen ließ, konnte den Alien, der in ihm wucherte, nur bremsen, nicht aber töten. Die Realisten unter uns glaubten, dass dem Gouverneur vielleicht noch Wochen blieben. Die Hoffnungsfrohen rechneten eher mit Monaten. Doch ganz gleich, welche Zeitspanne es war – welchen vernünftigen, wenn auch abscheulichen Grund mochte es geben, einen Menschen zu ermorden, der ohnehin bald sterben würde?

Das größte Rätsel war also das Motiv: Es gab keines. So oft ich die Sache auch im Kopf hin und her wälzte, am Ende rollte sie wieder in den Abgrund der Sinnlosigkeit zurück.

Aber auch die Umstände des Mordes müssen mysteriös genannt werden. Die Bluttat ereignete sich im Government House, das ein bisschen zurückgesetzt von der Straße in der Nähe der Küste liegt. Jeder von uns ist dort schon vorbeispaziert – an dem weitläufigen Rasenteppich, der sich um diese Jahreszeit satt und grün ausbreitet, von exotischen Blumen mit gelben, roten und violetten Blüten gesprenkelt. Das Government House ist die offizielle Residenz des Gouverneurs der Falklandinseln und wurde 1845 erbaut. Früher einmal – da gab es viele solcher Residenzen im britischen Empire. Sie waren über den Erdball verstreut. Ich sage nur: Kapstadt, Pretoria, Nairobi, Ottawa, Quebec, Manitoba, Anguilla, Bahamas, Barbados, Grenada, Rangún, Delhi, Karatschi, Dhaka und Kalkutta.

Unser Government House hier in Stanley ist ein verschachtelter Bau aus grauem Naturstein mit schrägem Schindeldach und mehreren Wintergärten. Das Gebäude erinnert sehr an altmodische presbyterianische Pfarrhäuser, wie sie einst auf den Shetland- oder Orkneyinseln standen. »Unser Ralphie« und seine schöne Gattin liebten es, bei stürmischem Wetter im Wintergarten unter dem Glasdach zu sitzen und dort, von Weinreben umrankt, dampfenden Assamtee zu trinken und Ingwerplätzchen zu essen. Der berühmteste Gast in unserem Government House war jedoch ohne Zweifel Sir Ernest Shackleton. Er machte hier Station, ehe er anno 1914 zu seiner heroischen Reise aufbrach – es war jene Expedition, bei der die Endurance sank und Shackleton und seine Männer beinahe fünfhundert Tage im ewigen Eis verbrachten. Hinterher behauptete der Abenteurer, in seiner ganzen Zeit in der Antarktis sei ihm nie so kalt gewesen wie auf den Falklandinseln. Das Wetter kann er damit nicht gemeint haben, denn im Dezember ist es in unseren Breiten so warm und verregnet wie in London im Hochsommer. Offenbar hat unser damaliger Gouverneur dem armen Sir Ernest, aus welchem Grund auch immer, einen frostigen Empfang bereitet.

Das Government House besteht aus zwei Gebäudeflügeln – einem kleineren, der die Privaträume des Gouverneurs und seiner Familie beherbergt, und einem größeren, offiziellen Teil. Ein Vorzimmer, zwei kleine Büros, ein Salon von stattlichem Ausmaß, in dem Gäste empfangen und Reden geschwungen werden. Der Salon hat nur drei Türen. Die eine führt zu einem engen Korridor und den Büros. Die zweite führt zu den Privatgemächern des Gouverneurs. Drittens gibt es noch eine weite, zweiteilige Glastür – sie führt in den Wintergarten mit seinen Weinreben.

Die Innendekoration des Salons ist seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Wesentlichen unverändert geblieben: hellblaue Blümchentapete, offener Kamin mit heller Marmorumfassung, allerhand Nippes. Flaschenschiffe auf Holzregalen. An der einen Wand hängt ein handsigniertes, in Gold gerahmtes Porträt Ihrer Majestät (es zeigt sie lächelnd mit Hut, in einem blauen Kleid, mit frisch ergrautem Haar); an der anderen Wand stellt ein Ölgemälde die erwähnte Seeschlacht aus dem Jahr 1914 dar (ein graues britisches Schlachtschiff feuert aus allen Rohren auf die SMS Gneisenau, die gerade im Versinken begriffen ist). Der Boden ist mit dicken Perserteppichen ausgelegt. In der Mitte des Salons stehen Sessel und Ottomanen, ein niedriger, langer Teetisch und eine unbequeme, viel zu weiche Couchgarnitur von gigantischen Dimensionen. Böse Zungen behaupten, die letzte Delegation, die auf ihr Platz genommen habe, sei so tief in den Kissen versunken, dass sie noch immer nicht wieder zum Vorschein gekommen sei.

Dieser viktorianische Salon war der Tatort. Der Mord muss irgendwann zwischen neun und zehn Uhr abends geschehen sein. Anwesend waren in jener Stunde laut Polizeibericht die folgenden Personen:

Angela Jones-Llewellyn, die Sekretärin des Gouverneurs, eine Mittfünfzigerin mit blondem Pagenkopf, gewaltigem Busen und Doppelkinn, die für ihre gewagten, selbstgestrickten Pullover und ihr ansteckendes Gelächter bekannt ist;

Jack Percy, einer der Postboten unserer Inseln – ein hochaufgeschossener, junger Bursche mit braunem Wuschelhaar, der sich seit der Trennung von seiner Freundin einen Bart stehen lässt;

Gloria, die Gattin des Gouverneurs – sie trug am fraglichen Abend eine Küchenschürze, denn eigentlich war sie damit beschäftigt, ein spätes Abendessen für sich und ihren Gemahl zuzubereiten (altes Gemüse plus Schinken mit Kartoffelbrei, das in Großbritannien als Bubble and Squeak bezeichnet wird);

und schließlich Bill O’Brien, der Hauptgeschäftsführer der Legal Assembly, also quasi unser Premierminister (vom Inselparlament gewählt, vom Gouverneur bestätigt). Er ist ein Mittvierziger mit karottenrotem Haar und unzähligen Sommersprossen, die nicht nur sein gutmütiges, melancholisches Pfannkuchengesicht, sondern auch seine Hände sprenkeln. Bill O’Brien unterhält ein eigenes Büro im Government House, seit klar wurde, dass London uns in nächster Zukunft wohl keinen neuen Vertreter Ihrer Majestät schicken wird. Ralph MacNaughtan schlug darum vor, dass Bill nach seinem Ableben vorläufig zum »amtierenden Gouverneur« avancieren wird, und wir haben diesen Vorschlag vor Kurzem per Referendum angenommen.

All diese Leute drängten sich – mit Ausnahme des Letztgenannten – im Büro von Angela Jones-Llewellyn zusammen. Der Grund für dieses Zusammentreffen war das Datum. Wir schrieben den 20. Dezember, und der Gouverneur ließ es sich nicht nehmen, jedem Bürger der Falklandinseln (und den Bewohnern des Flüchtlingsschiffes, von dem noch ausführlich die Rede sein wird) frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr zu wünschen. Er unterschrieb tatsächlich jede Weihnachtskarte eigenhändig. Mit dieser Herkulesarbeit war Seine Exzellenz gerade eben fertig geworden. Darum rief Angela bei Jack zu Hause an und bat ihn, drei Postsäcke mitzunehmen, die sie extra für ihn gefüllt hatte. Jack wollte sich eigentlich gerade vor dem Fernseher auf dem Sofa ausstrecken, um »Eastenders« zu sehen, aber er hatte seufzend noch einmal seine Schuhe angezogen und war mit seinem Auto herübergefahren. Er war im Begriff, sich den ersten der Postsäcke auf die Schulter zu laden, als Angela ihn mit einem ironischen Unterton in der Stimme fragte: »Ist es wahr, dass du an einem neuen Projekt arbeitest?« (Jack war am Vorabend mit der schönen Clarissa gesichtet worden.) »Entwickelt sich das Projekt zu deiner Zufriedenheit? Können wir dir dabei vielleicht irgendwie hilfreich unter die Arme greifen?«

Jack wehrte sich gegen die boshaften Zumutungen, indem er eine Auswahl jener schmutzigen Limericks zum Besten gab, die ihm die schöne Clarissa nach dem dritten Ale auf Papierservietten notiert hatte. Niemand wird überrascht sein, dass dabei die Königin von Bulgarien und der Prinz von Peru eine Rolle spielten.[1] Ferner erwähnte Jack den Klempner aus Leigh, der mit seiner Freundin am Meer dringend ein Rohr verlegen musste.[2] Es war aber auch von dem Reporter der Washington Post und einem ziemlich unzüchtigen Gespenst die Rede.[3]

Vom Gelächter angelockt, hatte Gloria ihre Küche verlassen und sich zu den beiden ins Büro gesellt. Angela Jones-Llewellyn sagte später aus (und wurde dabei ein wenig bleich um die Nasenspitze herum), sie habe ungefähr zehn Minuten nach neun ein Krachen gehört – »so etwas wie einen dumpfen Schlag« –, sich aber in dem Augenblick nichts weiter dabei gedacht. Bill O’Brien war unterdessen in seinem Büro damit beschäftigt, ein Memorandum von furchtbarer Langeweile und deprimierender Ausführlichkeit zu diktieren, das von der Aufforstung der westlichen Falklandinseln unter Berücksichtigung des Säuregehalts der dortigen Böden handelte. Die Tür zu seinem Büro war angelehnt, und wer draußen vorbeiging, erhaschte eine ungefähre Ahnung, das dort drinnen alles auf merkwürdige Weise schräg war. Papierstapel, die sich tückisch zur Seite neigten – Büchertürme, die an die berühmteste Sehenswürdigkeit der Stadt Pisa erinnerten – Hochhäuser aus Akten, die heroisch dem Gravitationsgesetz trotzten. Und mitten in all dem Schrägen und Chaotischen eine klobige elektronische Rarität: ein Weltempfänger aus Südafrika, Baujahr 1975, Modell »Barley Wadlow XCR-30«. Das Büro von Angela Jones-Llewellyn war das passende Gegenstück dazu – von groß A bis klein Z hervorragend organisiert. »Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen«, pflegte sie zu sagen; »stimmt, ich bin stinkfaul!« – dabei entblößte sie lachend ihre schlecht gewarteten Zähne. Auf ihrem Busen träumte unterdessen ein blaues Schaf vor sich hin, oder ein silberner Kaiserpinguin meditierte inmitten von kreischendem Lila, oder der rote Drache von Cadwaladr spie Feuer auf grünem Grund.

Dass ein Mord geschehen war, entdeckten die Versammelten erst ein paar Limericks später. Der Sekretärin fiel auf, dass auf einem Dutzend Weihnachtskarten die Unterschrift des Gouverneurs fehlte. Gloria ging in ihrer Küchenschürze hinüber in den Wohnbereich des Government House, um ihren Gatten zu suchen, damit er die Karten schnell noch unterschrieb. Aber er war nicht dort. Er war auch sonst nirgendwo aufzutreiben. Konnte er hinausgegangen sein? Das sah ihm nicht ähnlich – nicht zu dieser späten Stunde. Es blieb noch der Salon; aber die Tür war verschlossen, und der Schlüssel steckte von innen fest im Schloss. Das war dann der Moment, in dem der Postbote so etwas wie ein gurgelndes Stöhnen hörte. Sein Herz gefror. Er rannte den Korridor hinunter – zu der Seitentür, die ebenfalls zum Salon führte. Die beiden Frauen folgten wie im Schlepptau. Aber auch diese Tür war verschlossen. Und nun tat Jack Percy, was man aus jedem Fernsehkrimi kennt: Er warf sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen das Holz, das ihm im Wege stand. In Fernsehkrimis pflegt die Tür dann ohne nennenswerten Widerstand aufzufliegen. Aber in der harten Wirklichkeit ging das Experiment anders aus – Jack holte sich einen bösen blauen Fleck an der Schulter, und die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Angela machte sich dann auf, um nach einem Hebel zu suchen. Ein Brecheisen wäre natürlich das Beste gewesen, aber wo nimmt man in einem Government House ein Brecheisen her? Am Schluss kehrte sie mit einem Fleischklopfer zurück, den sie in einer Küchenschublade aufgestöbert hatte. Jack gelang es, mithilfe dieses eisernen Monsters ein zackiges Loch in die Täfelung der Tür zu hämmern; durch das Loch griff er beherzt nach innen und drehte den Schlüssel im Schloss herum. So betrat er den Salon. Die beiden Frauen blieben draußen zurück.

Das Schreckliche war, dass der Gouverneur noch lebte, als Jack Percy hereinkam. Mit blicklosem Blick sah er den Postbeamten an; dann schien er auf die Couchgarnitur vor sich zu schauen; endlich sackte er in sich zusammen. Er saß auf einem der viel zu weichen Sessel. Dort, wo sein Hinterkopf hätte sein sollen, war nichts als Blut und weißer Brei; sein glasig starrendes rechtes Auge befand sich nicht mehr an seinem ihm von der Natur zugedachten Platz. Hinter dem Gouverneur auf dem Teppich lag eine Bronzebüste von Winston Churchill; eigentlich hätte sie auf dem Marmorsims des Kamins stehen müssen. Um sie herum breitete sich ein roter Fleck aus, und aus dem grässlich-offenen Hinterkopf des erschlagenen Gouverneurs sickerte eine dunkle Flüssigkeit.

Der junge Postbeamte Ihrer Majestät war nicht nur geistesgegenwärtig, er war auch mutig. Darum fing er sofort an, den gesamten Salon und den angrenzenden Wintergarten zu durchsuchen. Dabei stellte er fest: Alle Türen des Salons waren von innen verschlossen – und alle Schlüssel steckten in ihren Schlössern. Auch die zwei Fenster des Salons: solide verriegelt. Verbarg sich der Mörder vielleicht im Wintergarten? Jack schaute in jedem Winkel, hinter jeder Weinrebe nach. Nichts zu finden. Anschließend trat er vor den Salon und zog dabei die Tür, die er aufgebrochen hatte, diskret hinter sich zu. Und nun bewies er nicht nur Mut und Geistesgegenwart, sondern auch Taktgefühl: Er schaute Angela, der Sekretärin, direkt in die blaugrauen Augen und schüttelte den Kopf, ohne ein Wort zu sagen. Gloria, die alles und nichts verstand, glitt sofort in eine gnädige Ohnmacht. Das Schlimmste ahnte sie zum Glück noch nicht – sie glaubte, ihr Mann sei seiner Krankheit erlegen. Was wirklich passiert war, erfuhr sie erst viele, viele Stunden später: als Letzte in Stanley und auf den Falklandinseln. Jack und Angela schleppten und zogen sie gemeinsam in das Büro der Sekretärin, wo sie die Ohnmächtige sanft auf den Boden betteten. Erst danach rief Angela die Polizei an. »Besonders makaber war, dass Bill in seinem Büro nebenan nichts mitbekommen hatte«, erzählte sie mir später. »Wir hörten ihn durch seine halb offene Bürotür immer noch von Bäumen reden.«

Die Polizeistation von Stanley ist, wenn man großzügig schätzt, drei Autominuten vom Government House entfernt. Aber es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis der weiße Land Rover mit dem blinkenden Blaulicht und der Aufschrift »Police« vor der Residenz des Gouverneurs parkte. Der Rettungswagen des King Edward VII Memorial Hospital war mehrere Minuten früher eingetroffen. Abdul ur-Rachman, der im nachlässig zugeknöpften weißen Kittel mit seiner Arzttasche heraneilte, konnte freilich nur bestätigen, was alle Umstehenden längst wussten. Tatsache Nummer eins: Der Stellvertreter Ihrer Majestät war tot. Tatsache Nummero zwei: Die Todesursache war ein stumpfer Gegenstand, mit dem ihm von hinten der Schädel eingeschlagen worden war. Drittens: Bei jenem stumpfen Gegenstand handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um jene bronzene Churchill-Büste. Nachdem er Untersuchung und Arzttasche geschlossen hatte, sorgte der pakistanische Doktor dafür, dass der Tatort gesichert, also abgesperrt wurde. Unterdessen erwachte Gloria aus ihrer Ohnmacht und verfiel in einen heftigen Weinkrampf. Angela bettete sie auf dem Boden in ihren Schoß, und sie bekam vom Arzt eine Beruhigungsspritze verpasst. Eine Sekunde danach öffnete sich die Tür von Bill O’Briens Büro, der Hauptgeschäftsführer der Legal Assembly steckte seinen Karottenkopf in den Flur hinaus und wollte wissen, was zum Teufel denn der Lärm zu bedeuten habe, er verstehe ja sein eigenes Wort nicht mehr. Als er erfuhr, dass er von Stund an der nächste Gouverneur der Falklandinseln sei, zeichneten sich auf seiner Miene nacheinander Verblüffung, Erschütterung und grimmige Entschlossenheit ab.

Nachdem endlich auch die Polizei den Weg zum Tatort gefunden hatte, standen zwei Fahrzeuge mit hektisch blinkenden Lichtern vor dem Government House. Jeff Hartman und Harry Burns – unsere Gesetzeshüter – hatten sich die Zeit genommen, erst einmal in ihre gebügelten Uniformen zu schlüpfen und ihre schwarzen runden, hohen Helme aufzusetzen. Kein Mensch weiß, welches böse Geschick die beiden dazu verurteilt hat, zusammen Dienst zu tun, denn sie können einander auf den Tod nicht ausstehen. Schon physiognomisch sind Hartman und Burns Gegensätze – der eine ein Riesenkloß von einem Mann, der sich einen gigantischen Walrossschnäuzer stehen lässt, der andere klein, schmächtig und penibel rasiert. Dann haben die beiden auch noch grundverschiedene Temperamente: der Große, Dicke ist von gemütlicher Brummigkeit und eher langsam im Kopf, der Kleine, Dünne ein nervöses, zappeliges Männchen. Dennoch sollte die beiden keiner schelten, als sich im Nachhinein erwies, dass drei Viertel der genommenen Finger- und Fußabdrücke von ihnen selbst stammten. Schließlich lag der letzte Mord auf den Falklandinseln schon mehrere Jahrzehnte zurück. (Gemeint ist der Fall von Alan Addis, einem Soldaten der Royal Marines, der im August 1980 spurlos vom Erdboden verschwand, nachdem er in einer Dorfhalle fern von der Hauptstadt Stanley ein paar Freunde getroffen hatte. Seine Leiche tauchte nie wieder aus dem Eiswasser auf, sein Mörder wurde nie gefasst.) Seit diesem längst in den Nebeln der Vergangenheit entschwundenen Tötungsdelikt beschränkt sich die Aufgabe der Polizei von Stanley darauf, Betrunkene zur Ausnüchterung in der dafür vorgesehenen Zelle abzulegen; ungefähr alle halbe Jahre bricht eine Wirtshausschlägerei aus. Das war es schon. Wir leben hier eben im Paradies.

Ich fasse zusammen: Der Gouverneur der Falklandinseln – ein Mann ohne Feinde, der leider bald sterben würde – war mitten in seiner Residenz erschlagen worden, und zwar in einem verschlossenen und verriegelten Salon. Alle Bewohner der Falklandinseln schienen ein Alibi zu haben – auch ich. Zur Tatzeit war ich damit beschäftigt, ein paar Meilen vom Government House entfernt eine Radiosendung zu moderieren. Vor mir hatte mein Kollege Rick die wichtigste Tagesnachricht verkündet – ich rede von den Cricketergebnissen. Anschließend hatte ich alte Beatles-Vinylplatten auf den Teller aufgelegt und Anrufe von Zuhörern entgegengenommen. Mitten in When I’m 64 hatte die alte Mrs Trent durch die Leitung gekrächzt. Ihr Kater Felix sei doch nicht von den verdammten Ausländern gekidnappt worden, meldete sie, sondern friedlich bei der Mäusejagd entschlafen. Ich wollte gerade Yellow Submarine starten, als plötzlich die Stimme von Angela Jones-Llewellyn meine Kopfhörer ausfüllte. Sie erzählte, dass »unser Ralphie« tot war – tot und erschlagen. Sie erzählte es atemlos, glaubte sich selbst kaum und begann am Ende zu schluchzen. (Von wegen: steife britische Unterlippe!) Und weil meine Sendung eine fantastische Einschaltquote hat, wussten es gleich danach alle übrig gebliebenen Untertanen Ihrer Majestät – dank FIRS, dem Falkland Islands Radio Service, wurden sie live zu Ohrenzeugen. »Bei uns« – so lautet unser Werbespruch – »haben Sie es zuerst gehört.«

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Das zweite Kapitel in dem der Erzähler seine Visitenkarte überreicht

Mein Name ist Joshua Feldenkrais. Ich bin Jude, ich bin schwul, und ich bin Mormone. Vielleicht sollte ich meine Vorstellung mit dem letzten Punkt anfangen: Mit neunzehn Jahren wurde ich in die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aufgenommen. Meine Taufe fand in dem Mormonentempel gegenüber dem Lincoln Center in Manhattan statt – wer jemals dort war, hat den großen weißen Steinquader gewiss gesehen. Auf einer Ecke des Gebäudes steht allein und erhaben der goldene Engel Moroni hoch über dem Broadway: Lautlos stößt er in seine lange, gerade Trompete, damit alle Menschen aufwachen und begreifen, dass der Tag des Jüngsten Gerichts nicht mehr fern ist.

Dass ich mich taufen ließ, hat folgenden Grund. Ich war gerade von zu Hause ausgezogen und hatte angefangen, an der Columbia University zu studieren. Ich wollte allein sein, und leider wurde mir dieser Wunsch von den Himmelsmächten gewährt: Alles, was ich in New York anfasste, gefror zu solider Einsamkeit. Eines Abends (ich war gerade damit beschäftigt, am Computer Fallout5 zu spielen) klopfte es an meiner Tür: Missionare. Sie hießen Mohammed und Anne, er trug die klassische Mormonenmissionarsuniform (dunkler Anzug, weißes Hemd), sie einen züchtigen Rock. Er war schwarz und dunkelhaarig, sie war hellhäutig und blond. Beide waren jung – so jung wie ich damals –, beide waren hübsch. In Mohammed habe ich mich im Lauf der Gespräche ein wenig verliebt, natürlich wusste er nichts davon. Sie waren freundlich. Sie sprachen ohne Herablassung mit mir. Mohammed stammte aus Nigeria, war als Muslim geboren worden und hatte die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage erst in Amerika entdeckt. Anne war als brave Anglikanerin (Episkopalkirche) aufgewachsen; ihre Familie hatte sie – wie sie mit mokantem Grinsen berichtete – schon als Mädchen ausdrücklich vor den Mormonen gewarnt. Für sie nur ein Grund mehr, einen Gottesdienst der Mormonen zu besuchen. Dort hatten Mohammed und Anne einander kennen- und lieben gelernt. Die beiden Missionare erzählten mir, dass Gott mein Freund sei und alle Menschen Brüder und Schwestern. Sie segneten mich, sie segneten meine unaufgeräumte Studentenbude, sie segneten die Coca-Cola-Flasche, aus der wir miteinander tranken. Zum Abschied sprachen sie ein Gebet, das mit »unser lieber Vater im Himmel« anfing, und ließen mir das Buch Mormon da. Ich kann nicht sagen, dass ich die Lektüre inspirierend gefunden hätte. Aber am nächsten Sonntag ging ich trotzdem in den großen weißen Steinquader am Broadway. Vielleicht war der einzige Grund, dass ich Mohammed wiedersehen wollte.