Tschüss Deutschland - Hannes Stein - E-Book

Tschüss Deutschland E-Book

Hannes Stein

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Beschreibung

Von einem, der auszog, die Fremde kennenzulernen … Was kommt heraus, wenn einer der klügsten und komischsten Essayisten Deutschlands eine Greencard gewinnt? – Ein Glücksfall für den Leser. Denn der Autor braucht auf die alte Heimat keine Rücksicht mehr und auf die neue noch keine zu nehmen… Was passiert, wenn man aus Jux und Tollerei an der Verlosung einer Greencard teilnimmt, nichts mehr davon hört und die Sache irgendwann vergisst – dann aber aus heiterem Himmel einen Anruf bekommt, dass man einen amerikanischen Pass haben könne; freilich nur, wenn man auch wirklich auswandert?Die meisten würden ein wenig verdutzt dreinblicken, sich schütteln, freuen, mit der Anekdote schmücken – und zu Hause bleiben. Wer will schon wegen eines Zufalls seinen Job aufgeben, seine Freunde zurücklassen, die Wohnung auflösen und sein gesamtes Leben umkrempeln?Hannes Stein wollte. Vor drei Jahren ereilte ihn – übrigens mitten im Mittagsschlaf – das große Los. Der ohnehin als unerschrockener Schreiber bekannte Autor mutierte flugs zum furchtlosen Auswanderungsanfänger. Mittlerweile hat er eine Wohnung in Manhattan, und alles ist anders. Wirklich anders: Denn nichts von dem stimmte, was Stein über Amerika gelesen oder gehört hatte. Bzw.: Es stimmt nichts und es stimmt alles zugleich. Mit der unerschütterlichen Vorurteilslosigkeit des Ethnologen arbeitet sich Hannes Stein seither an seine neue Umwelt heran, lernt die Rituale des fremden Alltags (von wegen: modernstes Land der Welt!) kennen, begutachtet Extremformen amerikanischer Politik (den Wahltag Barack Obamas erlebt er ausgerechnet in Sarah Palins Alaska), erkundet als teilnehmender Beobachter Geschichte und Religion (u. a. bei den Mormonenfestspielen). Und macht dabei manch überraschende Entdeckung, auch über das, was er verlassen hat. Denn seine alte Heimat dient ihm immer wieder als Kontrastmittel und sorgt für Überraschungen aller Art.

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2010

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This book belongs to Chanahwho makes it all worthwile

In Amerika herrscht die ungebändigtste Wildheit aller Einrichtungen … und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an.

– Hegel –

 

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Kleine, aber notwendige Vorbemerkung zur Namensgebung

Bitte: Wie heißt das Land, in dem ich jetzt lebe?

Gebildete Europäer scheuen sich oft, einfach »Amerika« zu sagen. Schließlich sei nicht der gesamte amerikanische Kontinent gemeint, sagen sie, sondern nur ein paar Vereinigte Staaten, die sich auf ihm befinden. Jene von intellektuellen Skrupeln geplagten Europäer wissen wohl nicht, welchen Namen die Republik Mexiko offiziell vor sich herträgt: »Estados Unidos Mexicanos« – zu Deutsch also »Vereinigte mexikanische Staaten«.

Die meisten Amerikaner weichen dem Problem der Namensgebung aus, indem sie auf eine Abkürzung zurückgreifen: Ju-Äss. »US declares war on Canada«, könnte etwa eine gewagte Schlagzeile in einer Tageszeitung heißen: USA erklären Kanada den Krieg. (Die Meldung danach wäre wahrscheinlich: »US President Fires SecDef«, amerikanischer Präsident entlässt Verteidigungsminister.) Ich aber finde Abkürzungen grundsätzlich unschön. Ich will nicht in den »US« wohnen, auch nicht in den »USA«, so wie ich früher nicht in der »BRD« zu Hause war, sondern in Deutschland.

Die zur Hälfte drollige und im Ganzen herabsetzende Bezeichnung »Ami-Land« verbietet sich von selbst. Also bleibe ich in diesem Buch durchgehend bei einer altmodischen Bezeichnung für dieses altmodische Land – ich sage Amerika. Nebenbei: Die Sprache, die hier gesprochen wird, heißt Englisch. Das »Amerikanische« ist außerhalb der deutschen Landesgrenzen völlig unbekannt.

Inhalt

Tagebuch einer Auswanderung

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe 17 / Begegnung mit der Menschheit 19 / Katz & Cohen 20 / E-Mails an Sharon 24 / So sind sie, die Deutschen – und die Österreicher 25 / So sind sie, die Israelis 27 / Das Verhör 29 / Reiselektüre 33 / Angstneurosen und Theologie 35

Erstes Kapitel

Ein altmodisches Land

Wie man einen Scheck ausfüllt 41 / Von der Post und anderen Nationalheiligtümern 43 / Fahrenheit, Dollars und arme Ritter 46 / Die entfesselte Moderne von anno Dingenskirchen 48 / Amerikas Kronjuwelen 52

Zweites Kapitel

Ausgerechnet Alaska!

Viel zu warm hier 59 / Trübsal blasen 60 / Lauter nette Menschen 63 / Feuer frei in South Dakota 65 / Fasane sehen alle aus, als ob sie Fritzchen hießen 67 / Schieße nie auf den Hund 70 / Wer zielt, der trifft nicht 73

Drittes Kapitel

Wie hältst du’s mit der Religion?

In den Schluchten des Balkans 79 / Warum es in Amerika nicht wie in Bosnien zugeht 81 / Warum Bosnien heute in Amerika liegt 86 / Der Sepp und sein Engel 88 / Mormonenfestspiel samt Apokalypse 92

Viertes Kapitel

Die Protokolle der Weisen von Greenwich

Wie der Flugzeugträger erfunden wurde 101 / Warum es Amerika eigentlich gar nicht gibt 103 / Der angelsächsische Geheimplan 105 / Litanei der Kriegsverbrechen auf der »USS Intrepid« 111 / Nachbemerkung: Der sowjetische Traktor 115

Fünftes Kapitel

Das andere Ufer

Die Überfahrt 121 / Westwärts, westwärts! 123 / Die Kalifornier und die Glühbirne 126 / Jäger und Sammler 130 / Eine atemberaubende Entdeckung 132 / Das goldene Tor 136

Sechstes Kapitel

Von Demokraten und anderen Rassisten

Edle Seelen 141 / Der bewaffnete Arm der demokratischen Partei 143 / An Woodrow Wilson hat es nicht gelegen 146 / Der große Truman, der große Lyndon B. Johnson 148 / Warum wurde Lincoln kein Terrorist? 151 / Die amerikanische Wunde 152 / Wovon Abraham Lincoln entzückt gewesen wäre 157

Siebtes Kapitel

Unter Indianern

Die Welt ist des Teufels 161 / Indianer gibt es nicht 165 / Warum die Indianer Richard Nixon lieben 169 / Pfad der Tränen 172 / Das Naturtheater von Oklahoma 177

Epilog

Alles, was Sie über Amerika denken, ist wahr

Aliens schmecken wie Hühnchen 187 / Die spinnen, die Amis 189 / Vorurteile, nichts als Vorurteile 193 / Noch mehr begründete Vorurteile 201 / Die Alte Welt, die Neue Welt 209

Zugabe

Fünf praktische Handreichungen für Auswanderer215

Thanks, guys 220

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Tagebuch einer Auswanderung

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Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe

Eine Reise von hundert Metern, so behauptet eine alte chinesische Weisheit, beginnt mit einem Schritt. Meine Reise begann mit einem Mittagsschlaf. Es war der 1. Mai 2006 (internationaler Mampf- und Kampftag der Arbeiterklasse). Ich lag auf meinem Sofa in Berlin-Prenzlauer Berg, döste vor mich hin und dachte über das Leben an und für sich sowie die philosophische Frage nach, ob ich jetzt aufstehen und ein Stück Pflaumenkuchen naschen sollte, als plötzlich das Telefon klingelte.

»Is this Mr. Stein?«

»I think so.«

»Mr. Hans Stein?« Die Stimme am anderen Ende klang dünn, und fern. Ihr Englisch hatte einen leichten, aber doch unverkennbaren hispanischen Einschlag.

»Yes«, sagte ich.

»Mr. Hans Stein, this is US Customs.« Der Zoll? Der amerikanische Zoll? Was will der denn von mir? Habe ich etwa, als ich das letzte Mal in New York war, zu viele Kilo Bücher bei »Barnes & Noble« käuflich erworben und muss jetzt irgendetwas nachzahlen? Ich will sofort meinen Anwalt sprechen.

»Mr. Stein, you have won a green card.«

Eine Greencard? In meinem schlaftrunkenen Hirn dämmerte eine vage Erinnerung: Hatte ich nicht vor ein paar Jahren im Internet die Greencard-Lotterie gegoogelt und mich frech dort eingetragen? Und hatte ich nicht irgendwann, als eine Mail ankam, ob ich das Lotteriespiel fortführen wolle, aus Jux und Dollerei auf »weitermachen« geklickt? Na schön. Jetzt hatte ich offenbar die Bescherung.

»Mr. Stein? Are you still here? This is US Customs.«

Ja, ich bin noch da. Nein, ich bin ganz weg.

»Congratulations, Mr. Stein.«

»Thank you«, murmelte ich. »This is really nice.« Nice, nett, ist womöglich nicht das mot juste, das die Lage in ihrer ganzen Tragweite umfasst und erschließt. Das schoss mir schon durch den Kopf, während ich das große Wort gelassen aussprach. Wo sie die Papiere hinschicken soll, wollte die Stimme von US Customs wissen. Ob diese Adresse da, Ebers…, Eberschwa…, EberschwaSchtrasche…, also, ob die richtig sei. Ja, die Adresse stimmt, aber was für Papiere denn? Es gebe da noch ein paar Formalitäten zu erledigen, meinte der Mann vom amerikanischen Zoll mit dem leichten hispanischen Akzent. Er beglückwünsche mich im Übrigen ausdrücklich noch einmal. »Thank you, sir«, sagte ich.

Aufgelegt.

Begegnung mit der Menschheit

Ich war erst nach dem 11. September 2001, nach dem Massaker von Manhattan, das erste Mal nach Amerika geflogen. Also nachdem Dumpfklugschwätzer in Europa, denen ich nichts zu sagen habe, auf sämtlichen Kanälen gefunkt hatten, dass Amerika an diesem Anschlag doch irgendwie selber schuld sei. Bei dieser Reise hatte ich mich sofort in das Land verliebt: in das Martin-Luther-King-Memorial in Atlanta, wo ich die einzige Quarknase unter lauter Schwarzen war, in die hübsche brünette Kellnerin in Washington, die mir in aller Unschuld den Arm um die Schulter legte und freundlich fragte: »Möchtest du vielleicht noch was bestellen?«, in das kunterbunte Gemisch von Leuten aus aller Herren Länder, die mir am Times Square in Manhattan entgegenkamen, wo ich, wie vom Donner gerührt, stehen blieb und zwei Stunden lang nur schaute, schaute, schaute. Ich dachte: Das ist sie! Das ist die Menschheit, von der man so viel hört. Bisher war sie mir nur eine Abstraktion, ein utopischer Begriff, aber nun bin ich ihr in Wirklichkeit begegnet. Und sie ist viel besser als ihr Ruf!

Später ließ ich mich von der Menge zum Bryant Park spülen und bewunderte die Schlittschuhläuferinnen mit ihren wehenden Wollschals, wie sie auf dem künstlichen Eis zwischen den Wolkenkratzern ihre Achten drehten – und da wurde mir klar: In diesem Land will ich leben. In den Vereinigten Staaten von Amerika.

Verrückt. Wie sollte das gehen? War ich nicht ein klein bisschen zu alt für pubertäre Träumereien? Eines müden Abends vor meinem Computer hatte ich dann trotzdem im Internet herumgesucht und mich für die Greencard-Lotterie angemeldet – hierbei ließ ich mich von einem weisen alten bayerischen Sinnspruch leiten: »Du hast keine Chance, aber nutze sie.« Im Zustande kompletter Geistesabwesenheit hatte ich sogar »Ja« gesagt, als ich eine Nachricht mit der höflichen Anfrage in meinem elektronischen Briefkasten fand, ob ich auch im neuen Jahr um eine Greencard spielen wolle.

Jetzt hatte mir der Himmel ein Geschenk gemacht. Jedenfalls schien es so. Wie konnte das sein? Ausgerechnet mir? Ich glaubte damals und glaube immer noch nicht an Wunder.

Katz & Cohen

Eine Woche nach dem Anruf von US Customs zog ich einen prall gefüllten braunen Umschlag aus meinem Briefkasten. Nachdem ich ihn aufgeschlitzt hatte, fand ich in seinem Inneren ein großes Blatt mit einer Nummer und einem schwarz-weiß gestrichelten Barcode (meine »Case Number«). Ferner verschiedene Fragebögen, die dermaßen kompliziert aussahen, dass mich schon beim Überfliegen der leichte Schwindel der Hilflosigkeit erfasste. Drittens fiel mir das Papierbündel einer Rechtsanwaltsfirma entgegen, Katz & Cohen in New York, die mir ihre Dienste anbot, um mich sicher durch den Ozean der Bürokratie zu lotsen, an jedem Strudel und vielköpfigen Ungeheuer vorbei, das mir unterwegs begegnen könnte. Kostenpunkt: 2600 Dollar, zahlbar mit Kreditkarte.

Kann das sein, fragte ich eine amerikanische Freundin. Ist es möglich, dass das State Department – das Außenministerium in Washington – einer Anwaltsfirma erlaubt, zusammen mit hochoffiziellen Fragebögen ihre höchst privatwirtschaftlichen Dienste anzubieten? Ausgeschlossen, sagte die Freundin. So etwas würden die amerikanischen Gesetze nie und nimmer erlauben. Habe ich überhaupt eine Greencard gewonnen? Wahrscheinlich ist das alles Schwindel: 2600 Dollar! Haha! Ein paar Tage später bekam ich im Büro einen Anruf von Katz & Cohen. Wieder beglückwünschte mich ein Herr am anderen Ende der Leitung – diesmal ohne hispanischen Einschlag –, dass ich eine Greencard gewonnen habe; und er fügte hinzu, es sei wirklich sehr ratsam, die Dienste seiner Firma in Anspruch zu nehmen.

Ich googelte dann ein bisschen. Es schien in New York wirklich eine Firma namens Katz & Cohen zu geben, die sich auf Fragen der Einwanderung spezialisiert hatte.

Als ich mir die Fragebögen noch einmal anschaute, wurde mir schon wieder schwindelig. Nein, mir war keine Greencard in den Schoß gefallen. Stattdessen hatte ich ein Labyrinth gewonnen, durch das ich mir den Weg nach draußen, in die Freiheit kämpfen musste. »Nennen Sie alle Länder, in denen Sie seit Ihrem 16. Lebensjahr länger als ein halbes Jahr gelebt haben«, stand in den Fragebögen. Und: »Ein polizeiliches Führungszeugnis wird von jedem Land verlangt, in dem Sie sich länger als ein halbes Jahr aufgehalten haben.« Und: »Listen Sie jede Schule und Universität auf, die Sie in Ihrem Leben besucht haben.«

Von innen betrachtet, mag Amerika das Land der Freiheit sein. Nähert man sich ihm von außen, bekommt man es indessen mit der amerikanischen Bürokratie zu tun. Und die ist offenkundig von Beamten des Osmanischen Reichs ersonnen worden, die einen Schulungskurs in der DDR gemacht haben.

2600 Dollar! Kein Pappenstiel. Ich rief meinen Bruder an. Der hatte Amerika lange vor mir entdeckt: Als ich noch anglophil bis über beide Ohren war, fuhr der schon mit dem Greyhound kreuz und quer über den amerikanischen Kontinent, und als ich noch mein Glück im Nahen Osten suchte, heiratete er ein nettes Mädchen aus Minnesota – meine Schwägerin, mit der er dann lange in Brüssel lebte. Am Ende kam es, wie es wohl kommen musste: Die beiden wanderten mit Kind und Kegel, also mit der besten Nichte und dem besten Neffen der Welt, nach Minnesota aus. Dort wohnte mein Bruder jetzt schon seit drei Jahren, und er hatte die begehrte Plastikkarte längst. »Ach, der Papierkram ist nicht so wild«, meinte er. »Ich hab’ das alles ganz allein geschafft.« Na schön, aber bei mir – dachte ich – ist das alles ein entscheidendes Stück komplizierter. Ich bin als Kind adoptiert worden, ich lebe als österreichischer Staatsbürger in Deutschland, und zu den Ländern, wo ich mich länger als sechs Monate aufgehalten habe, gehört unter anderem Israel.

100 000 Leute gewinnen die Greencard-Lotterie, las ich in der Informationsbroschüre von Katz & Cohen. Aber am Ende werden nur ungefähr 50 000 Greencards ausgestellt. Die Hälfte der Gewinner fliegt im Laufe des verwickelten bürokratischen Prozesses raus. Warum? Viele Gewinner können keine höhere Schulbildung nachweisen – oder ihnen fehlen die Mittel, jene insgesamt etwa 1000 Dollar zu berappen, die für Visagebühren und ärztliche Untersuchungen anfallen. Oder sie machen Fehler beim Ausfüllen dieser schlimmen Fragebögen. Außerdem, las ich, muss man ein Gespräch mit dem amerikanischen Konsul durchstehen, ehe man die Greencard in die Hand gedrückt bekommt. Dieses Gespräch könne »intimidating« sein, einschüchternd.

Mich befällt Herzrasen und Knieschlottern, wenn ich eine Behörde nur von außen sehe, von einem Konsulat ganz zu schweigen. Ich kapitulierte. 2600 Dollar sollte mir der Spaß wert sein. Bitte helfen Sie mir, meine Damen und Herren von Katz & Cohen!

E-Mails an Sharon

Danach stand ich unter Zeitdruck. Ein Sturmwind fetzte die Blätter vom Kalender: Bis spätestens Ende 2006 musste ich einen bürokratischen Papierberg zusammengetragen haben. Der Grund: Wenn meine Greencard nicht im (fiskalischen) Jahr 2007 gültig wurde, dann – tja, dann würde sie auf Nimmerwiedersehen verfallen. In welcher Umzugskiste hatte ich noch mal meine Geburtsurkunde verstaut? Dunkel erinnerte ich mich, dass ich sie damals gebraucht hatte, als mein alter Pass abgelaufen war. Und mein Maturazeugnis? (Als Österreicher habe ich naturgemäß kein Abitur, sondern Matura.) Na gut, meine Magisterurkunde von der Universität Hamburg würde es zur Not auch tun. Und jetzt kam das Problem. Ein echtes, wahres Problem mit Zottelfell und Zähnen, das vor mir stand und hungrig knurrte.

Alle Welt, inklusive meiner Wenigkeit, glaubt, dass ich mit Vornamen »Hannes« heiße – so steht es auch auf diesem Buchdeckel. Und es stimmt ja auch … aber nur halb. Offiziell heiße ich nämlich – bitte nicht weitersagen – »Hans Alexander«, ohne Bindestrich. So steht es in der Geburtsurkunde, so steht es im Pass. Die Magisterurkunde aber ist auf »Hannes« ausgestellt. Just auf solche Details schlagen in Amerika sämtliche bürokratischen Kettenhunde laut kläffend an.

Immer wenn ich verzweifelt war, schrieb ich damals eine Nudnik-E-Mail an Sharon von Katz & Cohen. (Ein »Nudnik« ist auf Jiddisch ein Langweiler, eine Nervensäge.) Sharon hielt mir dann von der anderen Seite des Atlantiks her elektronisch die Hand. Dafür hatte ich immerhin 2600 Dollar Anwaltsgebühren abgedrückt. »Liebe Sharon«, tippte ich in den Computer, »auf meiner Geburtsurkunde steht ›Hans Alexander‹, auf meiner Magisterurkunde jedoch ›Hannes‹. Hilfe! Was soll ich tun?« Am Nachmittag landete die Antwort in meinem elektronischen Briefkasten in Berlin. »Dear Hannes, don’t worry. Du schreibst in Dein Formular einfach beide Vornamen. Yours, Sharon.« Einen Blumenstrauß, dachte ich. Ich muss dieser Frau – alt, jung, hässlich, hübsch, egal – einen Blumenstrauß schicken!

So sind sie, die Deutschen – und die Österreicher

Wenden wir uns nun dem Thema »polizeiliche Führungszeugnisse« zu. Vorsorglich sei angemerkt, dass nationale Vorurteile mir – wie jedem aufgeklärten Menschen – ein Gräuel sind. Vor allem dann, wenn sie punktgenau stimmen.

Das polizeiliche Führungszeugnis der Bundesrepublik Deutschland beantragte ich bei der Meldebehörde im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Gebühr bezahlt – Formular losgeschickt – zwei Wochen später hielt ich ein schmuckloses Ding in den Händen: Es gibt über mich also keine polizeilichen Eintragungen. Wie schön, dachte ich, dass die zuständigen Behörden von meinen drei bewaffneten Raubüberfällen nichts gemerkt haben, und bin ich nicht neulich mit dem Fahrrad bei Rot über die Ampel gefahren? Aber ganz im Ernst: So sind sie halt, die Deutschen. Pünktlich, zuverlässig, effizient, aber (seien wir ehrlich) auch ein klein wenig humorlos.

Das polizeiliche Führungszeugnis der Republik Österreich kostete deutlich mehr als sein deutsches Pendant. Quasi zum Ausgleich waren alle Angestellten des österreichischen Konsulats in Berlin ungeheuer charmant und sprachen den Dialekt meiner Kindheit. Doch das gewünschte Dokument fand sich auch nach drei Wochen noch nicht in meinem Briefkasten ein. Dafür war plötzlich mein Pass verschwunden. Krise! Ich rief beim Konsulat an. Ich brauchte einen Notpass. Ich schickte eine Nudnik-E-Mail an Sharon: »Liebe Sharon«, schrieb ich, »mein Pass ist weg. Ich habe aber schon meine Passnummer in sämtliche schlimmen Formulare geschrieben. Jetzt müssen wir sie wegwerfen und noch mal von vorn anfangen. Am Boden zerstört – Dein Hannes.« Sharon antwortete nicht.

Im österreichischen Konsulat waren alle weiterhin unverändert charmant. Ich nahm ein Taxi und fuhr hin, mir meinen Notpass abzuholen. Ich fand mich in einer Schlange mit lauter Iranern wieder, die aus Allah weiß welchen Gründen dringend in Wien leben wollten. Eine halbe Stunde später, als ich endlich an der Reihe war, erklärte mir die charmante Dame hinter dem Schalter: Ich bräuchte unbedingt mehr Passfotos. Ich hatte keine Passfotos. Das polizeiliche Führungszeugnis war in dem Trubel mittlerweile völlig vergessen.

So sind sie, die Israelis

Am Abend schlug ich resigniert das Buch auf, in dem ich damals gerade las; als Lesezeichen zwischen den Seiten 242 und 243 steckte – mein Pass. Wie war der nur dort reingekommen? Ich hatte ihn jedenfalls nicht dort hingesteckt und anschließend vergessen, so viel war ja wohl klar. So doof konnte ich gar nicht sein. »Liebe Sharon«, tippte ich nächtens in den Computer, »alles wird gut, ich habe den Pass wieder. Jauchzend, frohlockend – Dein Nudnik aus Berlin.«

Am nächsten Morgen fiel mir mein Führungszeugnis wieder ein und ich rief im Konsulat an. Der Wiener am anderen Ende – sehr charmant – ließ sich von mir mein Geburtsdatum und den Geburtsort vorsagen (15. Februar, München). Nach zehn Minuten rief er mich zurück: Es sei ihm ungeheuer peinlich … eine Verwechslung … eine Namensgleichheit … er wisse gar nicht, wie das passieren konnte … also: Das Führungszeugnis liege schon seit Wochen bei ihm im Büro herum. Morgen aber hätte ich es ganz bestimmt in meinem Briefkasten. Ob das so recht sei?

Als ich es dann in der Hand hielt, erwies es sich als würdiges Dokument mit lauter Schleifchen und amtlichem Siegel, das geradewegs aus der k.-und-k.-Epoche durch melancholische Jahrzehnte zu uns herübergeweht zu sein schien. So sind sie, die Österreicher: schlampig und nett und bis in die Haarspitzen von einer großen Zeit erfüllt, die hinter ihnen liegt.

Kommen wir zu den Israelis.

Ganz einfach, sagten mir die Frauen im israelischen Konsulat. »Äin baja«, kein Problem. Wir schicken dir Fragebögen, du überweist sieben Euro, bringst uns die ausgefüllten Bögen und eine Kopie der Überweisung vorbei. Danach dauert die Prozedur leider, leider noch acht Wochen. Ich füllte aus. Ich überwies. Ich stand in einer kriminellen Frühe auf und brachte vorbei. Danach passierte naturgemäß gar nichts. Kein Führungszeugnis, nirgends.

Ich führte ein Beratungsgespräch mit meinem Freund Eldad. Eldad bekam durch kluge Recherche heraus: Führungszeugnisse schickt die israelische Polizei grundsätzlich nur an israelische Konsulate. Das israelische Konsulat aber meldete: Es habe von der israelischen Polizei keine Post bekommen. Übrigens würde es mir mein Führungszeugnis auch nie und nimmer in die Hand drücken. Es sei nur bereit, dieses hochwichtige Dokument an ein anderes Konsulat, das amerikanische etwa, weiterzuleiten.

Ich tippte eine verzweifelte Nudnik-E-Mail an Sharon und erklärte ihr mein Problem. »Katz & Cohen hat eine Niederlassung in Herzlija«, schrieb Sharon mir zurück. »Vielleicht solltest Du Dich mal mit denen in Verbindung setzen.« Fünf Minuten später telefonierte ich mit dem Chef dort: Der kippte vor Begeisterung beinahe aus den Latschen, als ihn da jemand aus Berlin anrief und astreines Hebräisch sprach. Er versprach, sich vor Ort um die Angelegenheit zu kümmern. Und weil mein Freund Eldad zufällig den israelischen Konsul kannte … und weil der pfiffige Anwalt von Katz & Cohen sich in Israel der Sache annahm … und weil ich mich noch ein zweites Mal in die Schlange im israelischen Konsulat einreihte und sieben Euro bezahlte … darum ging am Ende alles glatt. Jedenfalls hoffte ich das. Sawlanut, chewre! Ha-kol jihije be’seder! Wir verstehen uns.

So sind sie, die Israelis.

Das Verhör

Alles läuft über Frankfurt am Main. Jeder, der in Deutschland eine Greencard gewonnen hat, muss sich auf den Weg nach Frankfurt machen. Keine Ahnung, warum das so ist, schließlich gibt es auch in Berlin ein schönes amerikanisches Konsulat. Jedenfalls hatte ich mir am Morgen des 14. Februar in meinem Frankfurter Hotelzimmer den Wecker auf vier Uhr früh gestellt. Meine Mutter, eine erfahrene Visumsantragstellerin, hatte mich am Telefon gewarnt: Wer zu spät kommt, den bestraft der amerikanische Konsul. Aber als mich das Taxi um fünf Uhr vor dem Konsulat absetzte – es war natürlich noch stockfinster –, stand niemand dort. Keine Menschenseele, nur ein Herr Wachtmeister, der vor dem Gebäude mit einem Schäferhund seinen Dienst versah. »Die machen erst um acht auf«, sagte der Wachtmeister. Vorher zu warten ergebe keinen Sinn. Und: »Sie dürfen keinerlei elektronische Geräte mitbringen, gar nichts. Okay?«

Also zurück zum Frankfurter Hauptbahnhof, erst mal frühstücken. Um sieben Uhr war ich schon wieder draußen vor dem amerikanischen Konsulat. Es nieselte, und in der Zwischenzeit hatte sich eine kleine Menschentraube angesammelt. Um halb acht pflanzte sich ein amerikanischer Beamter vor uns auf und erklärte die Regeln: Es dürfen immer nur vier Leute durch die Sicherheitsschleuse. Wir müssen uns schon draußen eine Nummer ziehen. Wir werden drinnen nach der Nummer aufgerufen. Keine elektronischen Geräte – aber das hatten wir schon.

Ich fasste die Kunstledermappe fester, in der all meine Dokumente verstaut waren. Drinnen im Konsulat ging es dann zu wie in jedem Flughafen in Amerika: Schuhe aus. Gürtel weg. Tascheninhalt und Daunenjacke in eine Plastikwanne legen. In Socken durch das Plastikpiepsportal gehen und hoffen, dass nichts piept. Schuhe wieder an, Gürtel durch die Schlaufen stecken, Münzen in die Tasche: eine langweilige, eine erniedrigende Prozedur. Hinterher latschte ich ein paar Meter durchs Freie und endlich in eine riesige Halle, an deren Wänden sich viele Schalter befanden.

Zuerst wurde ich ungefähr 700 Dollar für Gebühren los. Kreditkarte raus, Quittung in Empfang nehmen. Hinsetzen und warten. Ich zitterte vor Müdigkeit und Nervosität und grübelte sinnlos: Habe ich irgendetwas Wichtiges vergessen? Wenn ja, kann ich gleich den nächsten Zug nach Hause nehmen. Ein Dokument, das ich hier nicht zeigen, vorweisen, materiell präsentieren kann, zählt, als habe es nie existiert. Meine Nummer wurde aufgerufen. Meine Nummer! Ich stürzte zum Schalter, blätterte mit fliegenden Händen meine Siebensachen auf den Metallteller, den man unter der schusssicheren Scheibe durchschieben konnte: »Es fehlt noch ein Führungszeugnis von den Israelis«, erklärte ich mit brüchiger Stimme, »aber das kommt dieser Tage nach.« Ja, ja, kein Problem, erklärte der Mann hinter dem Panzerglas, ein Franke, der gemütlich seine Rs durch die Gegend rollte: »In der Ruhe liegt die Kraft.« Das Einzige, was jetzt noch gefragt sei: eine Briefmarke. Das amerikanische Konsulat werde nämlich meinen Pass einbehalten und ein Visum hineinkleben und ihn mir anschließend per Einschreiben zuschicken. Dort hinten sei der Briefmarkenautomat.

Das war der Augenblick, in dem meine Auswanderung nach Amerika dann um ein Haar gescheitert wäre. Der Briefmarkenautomat schluckte nur Münzen. Ich aber hatte nicht genug Münzen dabei. Wie