Der Weltreporter - Hannes Stein - E-Book

Der Weltreporter E-Book

Hannes Stein

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Beschreibung

Haarsträubend komisch, auf erschreckende Weise prophetisch und zugleich schneidend realistisch, ein Feuerwerk der Phantasie und sokratischen Weltweisheit: Als hätten Stanislaw Lem, P. G. Wodehouse, Arno Schmidt und Wolf Haas zusammen einen Roman geschrieben. Nein, eigentlich wollte sich Julia Bacharach gerade gar nicht verlieben. Nicht in einer fast leeren Hotelbar in diesen Umständen (draußen ist gerade Lockdown und wegen einer Epidemie kommen nur die wenigen herein, die immun sind) und erst recht nicht in einen Typen wie Bodo von Unruh. Aber sie ist unvoreingenommen und neugierig und er reist für ein Magazin um die ganze Welt und recherchiert Geschichten, die bewusstseinserweiternder wirken als die besten Drogen – z.B. zu einem sagenumwobenen, mit völlig neuartigen Geschmackssensationen aufwartenden Restaurant, in das man nur auf Einladung kommt – und nachdem man vertraglich versichert hat, blind den Anweisungen des Personals zu folgen, egal was passiert. Über eine jahrzehntelang vergessen Stadt in Sibirien, die rein kybernetisch gesteuert wird, und in der ausschließlich die für das Gemeinwohl besten Entscheidungen getroffen werden. Über Nachfahren der Münchner Räterepublik, die ihre anarchistischen Ideale im brasilianischen Dschungel leben und und und. Mit der Zeit bemerkt Julia, dass mit Bodo irgendetwas nicht stimmt. Durch seine grandiosen Geschichten gelingt es ihm aber immer wieder, sie in seinen Bann zu ziehen. Ein Roman über die Kraft des Erzählens, Fakt und Fiktion, über echte Schlaraffenländer und falsche Paradiese, über die Liebe und über den Tod, der uns am Ende alle erwartet.

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Seitenzahl: 395

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Hannes Stein

Der Weltreporter

Ein Roman in zwölf Reisen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Hannes Stein

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoVorbemerkungAuf den ersten Blick …Erste Reise: Die Münchner Räte-MonarchieJulias Smartphone …Zweite Reise: Das Restaurant am Ende der WeltDie Dame war …Dritte Reise: Eine Stadt namens UtopiaZart wie eine Katzenpfote …Vierte Reise: Die Geschichte von CardenioAchmed war sein Name …Fünfte Reise: Die EidgenossenschaftSie gingen unten am Strom spazieren …Sechste Reise: Yael MaerisiraSie standen unten in der Eingangshalle …Siebte Reise: Donald und die DinéDer Club hieß Aphrodite …Achte Reise: Die Suche nach dem Transzendentalen OrgasmusHundert Mal …Neunte Reise: Auf dem Gipfel der VerzweiflungDie schlanke Buche …Zehnte Reise: Deutschland, du Blondes, BleichesJulia war keine Wagnerianerin …AnlageElfte Reise: Atlantis»Sitzen Sie bequem?«Zwölfte Reise: Dein Freund HarveyDanksagung
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Chanah und Yonatan.

Always and forever.

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So ließ ich mich denn dahintreiben auf jenem Strome, bald durch weite, bald durch enge Höhlungen im Gestein.

Sindbad der Seefahrer

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Vorbemerkung

Gern würde ich behaupten, dass ich dieses Buch im Seuchenjahr 2020 geschrieben habe. Dass ich mich in einen virtuellen Weltreporter verwandelte, während die exponentielle Fieberkurve unerbittlich stieg, während in unserem Hinterhof der Magnolienbaum blühte, während die Vögel sangen und die Sirenen der Rettungswagen die Stille zersägten, während die Leichen auf Hart Island (einer Insel in der Nähe der Bronx, wo ich mit meiner Familie lebe) verscharrt wurden, während ich hektisch das Medikament Remdesivir googelte, während kein Mensch wusste, wo das alles enden würde, während New York sich in eine Geisterstadt verwandelte. Ich kann die Szene vor mir sehen: Wie ich in einer höllischen Idylle auf unserer besonnten Terrasse sitze und die Episoden dieses Buches in meinen Laptop hacke, um nicht vollends durchzudrehen. Allerdings hat diese Version einen kleinen Fehler: Sie ist nicht wahr.

Manchmal ist es wert, die Entstehungsgeschichte eines Buches zu erzählen. Bei diesem Roman war es so: Vor sechs oder sieben oder acht Jahren stolperte ich im Internet über eine wahre Geschichte. Eine Liebesgeschichte, eine Lügengeschichte. Es ging um eine junge Frau und einen Journalisten, der sich nicht als Schmetterling, sondern als gefallener Engel entpuppte. Toll, dachte ich und hielt die Idee in meinem kleinen schwarzen Notizbuch fest. Damals hatte ich nicht mehr als einen schattenhaften Eindruck: Ein Mann sitzt bei heruntergelassenen Jalousien in seiner Wohnung und schreibt. Das war alles, das war’s eigentlich schon. Und dabei blieb es fürs Erste auch. Unterdessen schrieb ich andere Bücher, unser Sohn wurde geboren, Barack Obama wurde zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt, der Planet erhitzte sich weiter, und dann entgleiste die Realität ins Irre: Die Briten entschieden sich für den Brexit, ein geistig verwirrter Kapitalistendarsteller zog aus dem Reality TV ins Weiße Haus um. Aus lauter Verzweiflung wollte ich einen historischen Roman schreiben. Er sollte von den deutschen Einwanderern in New York handeln – von Little Germany, einem Viertel im Südosten von Manhattan, das es nicht mehr gibt. Ich wollte von dem Ausflug mit dem Raddampfer General Slocum im Sommer 1904 erzählen: der großen Katastrophe, die auf beiden Seiten des Atlantiks heute vergessen ist. Dieser historische Roman misslang mir gründlich. Nach vier Kapiteln brach ich das Experiment ab. Ich war niedergeschmettert. Mir war sonnenklar, dass mir nie wieder ein Roman gelingen würde. Naturgemäß war das der Moment, in dem mir meine alte Idee von vor sieben oder acht Jahren wieder einfiel. Die Liebes-Lügen-Geschichte. Ich skizzierte ein paar Szenen. Plötzlich (es passierte an einem einzigen Tag) explodierte die Grundidee in meinem Kopf wie ein Feuerwerk. Ich sah das Ganze vor mir, die junge Frau und den alternden Reporter.

Danach musste ich das Buch nur noch aufschreiben. Genauer gesagt war es so: Der Roman schrieb sich von selber, ich brachte ihn nur zu Papier. Es war, als würde ich ein Bild, das längst existierte, vorsichtig aus seinem Rahmen lösen und vor mir ausbreiten. Anschließend ließ ich das Manuskript ein paar Wochen liegen und sah es noch einmal mit kaltem Blick auf Fehler durch. Und das versteht sich: Zu jener Zeit kannte ich weder das Wort »Coronavirus« noch den Namen Covid 19. Als ich den Roman im Januar des Jahres 2020 an meine Agentin Elisabeth Ruge und meinen Verleger Wolfgang Hörner schickte, dachte ich noch, dass jene Seuche in der Provinz Wuhan im fernen China mich nichts anginge.

Die Krankheit, deren Symptome hier geschildert werden, hat also nichts mit real existierenden Seuchen zu tun. Sie ist keine Menschheitskatastrophe, sondern betrifft nur die Deutschen (ein bisschen auch ihre Nachbarn). Im Übrigen scheint sie weniger ansteckend, dafür aber wesentlich tödlicher zu sein als Covid 19. Und es gibt offenbar keine Therapie für sie, kein Medikament, keinen Impfstoff. Ich bin kein Virologe – aber mir scheint, dass der Keim meiner fiktiven Krankheit in einer Petrischale gezüchtet wurde, die der alte Hexenmeister Edgar Allen Poe in einer seiner berühmtesten Erzählungen angesetzt hat. »Der ›Rote Tod‹ hatte seit Langem das Land verwüstet. Keine Pest war je so tödlich – oder so hässlich. Blut war seine Erscheinungsform und sein Siegel – die Röte und das Grauen des Blutes …« Nein, ich habe gar nichts vorausgesehen. Es war einfach so, dass ich für meine Liebesgeschichte ein apokalyptisches Hintergrundrauschen brauchte. Warum ich mich dabei ausgerechnet für eine Seuche entschied? Vielleicht spukte in meinem Hinterkopf ein Gespräch herum, das ich vor vielen Jahren mit dem Physiker Paul McEuen geführt hatte. Ich besuchte ihn auf dem Campus der Cornell University, der wie ein Irrtum im Norden des Bundesstaates New York zwischen Feldern und Wäldern liegt. McEuen ist ein Mann um die fünfzig mit langen Haaren und Bart, der mit seiner Zahnspange wie ein in die Jahre gekommener Teenager aussieht. Ein sympathischer Sonderling. McEuen hatte gerade einen Thriller veröffentlicht, an den ich mich nur undeutlich erinnere. Aber ich weiß noch genau, was er sagte, als wir unter schönen alten Bäumen durch den Universitätscampus flanierten: »Die Menschheit befindet sich gerade in der Pause zwischen zwei großen Seuchen … Die nächste Pandemie ist überfällig.«

Dies ist also kein Corona-Roman (was immer das sein mag). Es ist ein Roman über echte Schlaraffenländer und falsche Paradiese und über den Tod, der uns am Ende alle erwartet. Wovon sonst lohnt es sich denn zu erzählen?

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Auf den ersten Blick gefiel ihr gar nichts an ihm. Dieser gewaltige Walrossschnäuzer! Die Tränensäcke: zwei ausgequetschte Teebeutel unter den Augen! Das lange Haar, in der Mitte gescheitelt, das ihm müde und blassblond auf die Schultern fiel! Auch auf den zweiten Blick fand sie ihn keineswegs anziehend. Er war viel zu alt für sie, schon jenseits der fünfzig; die Stirn eine einzige Falte; er hätte – rein theoretisch, versteht sich – ihr Vater sein können. Auf den dritten und letzten Blick hatte sie dann aber doch ein Lächeln für ihn übrig. Vielleicht lag es an seinen traurigen braunen Augen. Vielleicht an der Lederjacke (maßgeschneidert, wie sie später erfuhr), die breite Schultern umschloss. Vielleicht an den eleganten Bewegungen seiner schlanken Finger, mit denen er einen Zigarillo entzündete. (Benzinfeuerzeug!) Vielleicht mochte sie aber auch die Frechheit, mit der er Rauchringe in ihre Richtung blies. Er war sehr geschickt – es gelang ihm spielend, dass sich zwei Ringe in der Luft ineinander verhakten.

Sie saßen in einer von jenen Bars, die irgendwann einmal avantgardistisch gewirkt haben mögen, aber heute nur vorsintflutlich sind. Viel Glas, viele Spiegel; Barhocker aus rotem Plastik, blaue Leuchtstoffröhren, Flachbildschirm über dem Tresen. Der Barkeeper war ein junger schlaksiger Schnösel mit schwarzer Fliege und Samtweste, der wenig sprach und hingebungsvoll Gläser polierte. Außer ihnen beiden hatte sich nur eine Handvoll Hotelgäste hierher verirrt; ein Amerikaner im Hintergrund sprach viel zu laut in sein Smartphone. (Er bestritt seine ganze Konversation mithilfe von drei Wörtern: Yeah, Nope und Sure.) Sie hatte sich in einer Stimmung befunden, wo man allein sein will, zum Alleinsein aber dringend Menschen benötigt. Alle Cafés in der Stadt waren geschlossen (es herrschte wieder einmal Ausgangssperre), also war ihr nichts als diese Hotelbar übrig geblieben. Der Securitymann mit seinem Knopf im Ohr und dem Mundschutz über der Nase war sofort beiseitegetreten, als sie ihren orangen Ausweis hochhielt. Sie hatte sich an die Theke gesetzt, ein Glas Sancerre bestellt, ihr Glastablett aus der Umhängetasche geholt und angefangen, mit gesenktem Kopf zu lesen. Und nun störte sie dieser Fremde, dieser Zigarilloraucher mit seinem Riesenschnurrbart. Sie saß an der Seite der Bar, er in der Mitte, eineinhalb Armlängen von ihr entfernt. »Das Buch scheint ja sehr spannend zu sein«, sagte er. »Ein Roman?«

»Kein Roman«, antwortete sie. »Ich hasse Romane.« Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: »Dieses ganze erfundene Zeug!«

»Also, was ist es dann?«, fragte er.

»Plotin«, sagte sie kaltkurz. Normalerweise hätte diese Antwort genügt, um das Gespräch gleich im ersten Atemzug zu ersticken, aber leider war der Fremde philosophisch gebildet, und so wurde sie Hals über Kopf in eine Debatte über Sinn und Unsinn der Vorsilbe neo katapultiert (warum »neomarxistisch« und nicht einfach nur marxistisch; was zum Teufel bedeutet »neoliberal« etc.). Denn natürlich hatten die »neuplatonischen Denker« des dritten nachchristlichen Jahrhunderts – Plotin vorneweg – sich selber keineswegs so genannt. Sie begriffen sich schlicht als Schüler des großen alten Platon: Schluss, aus und fertig – ganz ohne neo! »Bodo«, stellte der Fremde sich vor, nachdem diese Diskussionsrunde abgeschlossen war. »Bitte, ich kann nichts dafür. Den Namen haben meine Eltern mir angetan.«

»Julia«, sagte sie und ergriff – mit Mühe, weil er so weit weg saß – die ihr entgegengereckte Hand.

»Angenehm«, sagte er. »Darauf müssen wir einen trinken. Noch ein Glas von dem Weißwein?« Sie nickte, er bestellte (und versorgte sich bei dieser Gelegenheit mit einem weiteren Bourbon). In der nächsten halben Stunde erfuhr sie, dass er das wichtigste Sexualorgan hatte, über das ein Mann verfügen kann: Ohren. Dieser viel zu alte (nun ja, vielleicht nicht ganz so alte) Kerl hörte ihr wirklich zu – mit allen sieben Sinnen, während sich sein Körper gespannt zu ihr hinüberneigte; nach und nach verlor er in ihren Augen all seine Hässlichkeit. Sie erzählte ihm, dass sie sich das Geld für ihr Philosophiestudium mit Taxifahren verdiene; dass sie keine Familie mehr in der Stadt habe; dass sie ebenso wenig zu den Hotelgästen gehöre wie er. (Kichernd fischten beide ihre orangen Ausweise aus ihren Portemonnaies: »Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins!« Anschließend versuchten sie auszurechnen, wie groß die statistische Chance war, dass zwei solche Leute wie sie einander begegneten. Schließlich waren nur nullkommanullnullsieben Prozent der Bevölkerung immun.) Sie erzählte ihm sogar, dass sie Broccoli verabscheute und dass im Kunstmuseum der Stadt ein Bild von Vermeer hing, das ihr persönliches Privateigentum war. Eine häusliche Szene: Eine stille Frau mit einem Brief, ein frecher Mann mit einer Laute, ein Schachbrettmusterboden, eine Vase mit Blumen auf dem Holztisch, ein aufgeschnittener Brotlaib. Licht brach aus dem Fenster herein wie aus einer anderen Welt. Wenn sie das nicht mindestens einmal alle zwei Wochen im Original sah, ging es ihr körperlich schlecht. Beim dritten Sancerre lud der Fremde sie ein, neben ihm Platz zu nehmen (»Sonst muss ich immer so schreien«). Bald registrierte sie beiläufig im Hinterkopf, dass ihre und seine Gesten längst angefangen hatten, synchron zu verlaufen. Sie griffen gleichzeitig nach ihren Gläsern; wenn sie sich gedankenverloren über die Wange strich, strich auch er über seine Wange. Aber ehe sie den entscheidenden Schritt weiterging, wollte sie ein paar Details über ihn in Erfahrung bringen. Hinterlistig erkundigte sie sich, wo er wohnte. Er nannte den Namen eines der vornehmeren Stadtviertel und verriet ungefragt, dass er seine Wohnung mit niemandem teilte. Nein, keine Familie. Hobbys? Er habe sein Hobby zum Beruf gemacht. Was er denn von Beruf sei? Journalist. Ob der Blog oder das Magazin, für das er schreibe, allgemein bekannt sei? »Holzmann’s Weltspiegel«, sagte Bodo lässig. Julia gab sich große Mühe, nicht beeindruckt zu sein: »Aha, die Zeitschrift mit dem Idioten-Apostroph!«

»Es ist kein Idioten-Apostroph«, sagte Bodo ruhig. »Die Abtrennung des Genetiv-S vom Substantiv war im Deutschen schon im achtzehnten Jahrhundert üblich. Ich kann dir Schilder aus der Kaiserzeit zeigen, auf denen steht: Eckhard’s Kolonialwaren. Müller’s Lebensmittel.« (Er malte den Apostroph mit dem Zeigefinger der rechten Hand in die Luft.) »Es handelt sich nicht um einen Anglizismus, wie manche Leute in ihrer Unbildung glauben – es ist gutes altmodisches Deutsch.«

Julia nahm die Belehrung gefasst hin. »Und was schreibst du so?«, fragte sie.

»Reisereportagen. Vielleicht bist du schon mal über einen meiner Texte gestolpert. Mit Nachnamen heiße ich von Unruh.«

Fehlanzeige. Julia kannte Holzmann’s Weltspiegel zwar vom Kiosk und von gelegentlichen Arztbesuchen – in jedem Wartezimmer lag das Magazin mit dem berühmten Schriftzug aus –, aber wie die meisten Leute ihrer Generation bezog sie ihre Nachrichten aus dem Äther, von den Wolken, ließ sie sich von Vögeln zwitschern. Um die Wahrheit zu sagen: Sie hatte nicht das nötige Kleingeld für ein aufwändig gestaltetes Hochglanzmagazin. Zwölf Euro pro Ausgabe! Der Wahnsinn! Aber nun – sie rieb in übertrieben geschauspielerter Vorfreude die Handflächen aneinander –, nun habe sie endlich einen wehrlosen Mitarbeiter von Holzmann’s Weltspiegel in ihrer Gewalt und könne ihn ausfragen, was an den Gerüchten über diese Zeitschrift dran sei. Bitte sehr: Ob denn stimme, dass die Fotoreportagen in Holzmann’s Weltspiegel manchmal eine halbe Million kosteten? (Ja. Manchmal auch mehr. Und bekanntlich gebe es keine einzige Ausgabe ohne Fotoreportage.) Ob die Abgeordneten des Bundestages Holzmann’s Weltspiegel denn wirklich schon am Dienstagabend – also zwölf Stunden vor dem Erscheinungstermin – durchblätterten? (Aber klar. Sie müssten doch nachprüfen, ob Holzmann’s Weltspiegel ihnen in dieser Woche auf die Schliche gekommen sei.) Ob der Gründer des Magazins tatsächlich in der Wut oft mit Schreibmaschinen nach Untergebenen geworfen habe? (Er komme ungefähr zwei Generationen zu spät und habe deshalb alles verpasst, sagte Bodo grinsend, aber ältere Mitarbeiter hätten ihm gestanden, dass sie sich manchmal ducken mussten.) Ob man bei Holzmann’s Weltspiegel offen über die Nazivergangenheit des Magazingründers reden dürfe? Schließlich sei Georg Holzmann Mitglied einer Propagandakompanie der SS gewesen – zum Linksliberalen habe er sich erst in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gewandelt. Im Krieg habe er Griechenland unter seine Militärstiefel genommen. Am Anfang habe Holzmann’s Weltspiegel Hitlers Soldaten noch als wasserdichte Helden gefeiert, Nazis seien in hohen Positionen beschäftigt worden. (Alte Hüte. Offene Türen. Natürlich sei all dies längst Thema, beziehungsweise: längst kein Thema mehr.) Ob jeder Journalist, der bei Holzmann’s Weltspiegel arbeite, von der Firma allen Ernstes einen funkelnagelneuen Porsche gestellt bekomme? Und das Benzingeld jeden Monat bar auf die Hand? (Kein Kommentar.)

»Die wichtigste Frage hast du mir aber gar nicht gestellt«, sagte Bodo.

»Nämlich?«

»Ob das, was wir in Holzmann’s Weltspiegel schreiben, auch wahr ist.«

»Und? Ist es wahr?«

»Jedes Wort«, sagte Bodo. »Wir unterhalten eine ganze Abteilung, die nichts anderes zu tun hat, als jede Behauptung auf ihren Tatsachengehalt zu überprüfen und alle Zitate nachzuschlagen. Jedes Foto wird von denen unter die Lupe gelegt, jedes Tondokument abgehört. Wir müssen nämlich alle Interviews aufzeichnen, die wir führen. Im Durchschnitt wird eine Reportage von mir drei Mal durch die Mangel gedreht, ehe sie erscheinen darf.« Auf dem Flachbildschirm über der Theke war mittlerweile die Seuchenkarte eingeblendet worden, sie warf einen rötlichen Widerschein auf Bodos Gesicht. In Magdeburg gab es zehn neue Fälle. Dresden stand jetzt schon seit Wochen unter Quarantäne – das Stadtgebiet erschien als großer roter Kreis. Von den Nachbarländern war Polen mittlerweile weitgehend seuchenfrei. Die Niederlande dagegen hatte es schwer erwischt. »Macht deine Arbeit dir eigentlich Spaß?«, fragte Julia.

»Diebischen«, sagte Bodo und schickte einen weiteren Rauchring zur Decke. »Heidnischen. Völlig unerlaubten, um ehrlich zu sein.« Plötzlich spürte Julia unter ihren Hinterbacken eine bestürzende Abwesenheit – ein Abgrund tat sich auf, und um ein Haar wäre sie von ihrem Barhocker gefallen: Bodo fing sie im letzten Moment mit seinem starken Arm auf. War sie schon so betrunken? (Aber es waren doch nur vier Gläser Wein gewesen.) Oder handelte es sich um einen Anfall von akuter Ungeschicklichkeit? Als Gentleman ließ Bodo seine Hand einen Moment zu lang an ihrer Hüfte, sie nahm es lächelnd hin. Es dauerte nicht lange, bis ihre Fingerspitzen einander unter der Theke im Dunklen begegneten. Dann kam das alte Spiel von Hinschauen und Wegschauen und Wieder-Hinschauen, das unsere Gattung gespielt hat, seit Adam und Eva im Garten Eden eines schönen Tages entdeckten, dass sie nackt waren. Ihr fiel auf, dass er gut roch: nach Leder, einem altmodischen Aftershave und Schweiß. Mittlerweile störte sie nicht einmal mehr sein Schnurrbart. Und weil es sich bei Julia um einen ungemein praktisch veranlagten Menschen handelte, flüsterte sie ihm kurz nach halb zehn ins Ohr: »Ich glaube, wir sollten heute Abend beide nicht mehr Auto fahren.« Der Barkeeperschnösel hinter der Theke, der genau wusste, was sich da vor seinen Augen anbahnte, schickte einen vernichtenden Blick zu ihr hinüber.

»Richtig«, sagte Bodo. »Es gibt hier tolle Hotelzimmer. Der Blick auf die Mülltonnen im Hinterhof soll zauberhaft sein.« Er zog einen Kristallaschenbecher heran, der längst ein Massengrab war, und fügte den gekrümmte Zigarettenstummelleichen seinen abgebrannten Zigarillo hinzu. Dann legte er einen großen Geldschein auf den Tresen, und sie gingen. Weil Julia sich genierte, blieb sie an der Hotelrezeption ein paar Schritte hinter ihm stehen. Aber Bodo regelte die Angelegenheit ganz trocken und geschäftsmäßig: Er fischte eine Kreditkarte heraus, die so schwarz war wie die Sünde, und kehrte drei Minuten später mit dem Zimmerschlüssel zurück. Schweigend fuhren sie mit dem Lift nach oben. Sie umarmten sich nicht. Ihr zitterten die Knie. Eigentlich war es nicht ihre Art, sich auf diese Weise abschleppen zu lassen – schon gar nicht von einem älteren Mann, von dem sie im Grunde nichts wusste. Ein Korridor. Ein weißer Schlitz, ein grünes Licht. Die Hotelzimmertür dröhnte hinter ihnen ins Schloss. Julia war überrascht: Vor ihnen lag eine Suite mit kostbaren Teppichen und einem fußballfeldgroßen Lotterbett. Das Fenster führte selbstverständlich nicht zu irgendeinem Hinterhof hinaus – es gab den Blick auf den künstlichen See in der Mitte der Stadt frei. Bodo nahm sie behutsam in den Arm. Er konnte gut küssen. Er konnte auch sonst allerhand.

Hinterher bewunderte sie seinen Körper: Für einen Mann seines Alters sah er erstaunlich gut aus. Die Fettfalten an seinem Bauch ließen sich noch zählen; die Arme waren muskulös. »Wie braun du bist«, sagte sie.

»Ich war gerade drei Monate lang in Brasilien«, sagte Bodo. »Amazonas.«

»Urlaub?«

»Arbeit. Ich habe eine ziemlich verrückte Geschichte recherchiert.« Sie fragte ihn nicht, was für eine Geschichte das gewesen war; es genügte ihr, seine Schulter als Kopfkissen zu benützen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Am nächsten Morgen nahmen sie den Zimmerservice in Anspruch. Julia bestellte in einem Anfall von Übermut ein komplettes englisches Frühstück: drei Spiegeleier, Speck, gebackene Bohnen in Tomatensauce, geräucherten Hering, Toast, Butter, Orangenmarmelade. Bodo nahm mit einem Kamillentee und frischem Birchermüsli vorlieb. Nach dem Essen verabschiedete er sich beinahe brüsk von ihr: Er müsse jetzt furchtbar eilig noch in der Redaktion vorbeischauen. Auf dem Weg zur Hotelzimmertür fiel ihm, als er sein Portemonnaie einschob, ein Kärtchen heraus. Rote Pappe, weiße Schrift. Julia wollte ihm das Kärtchen hinterhertragen, aber er war schon verschwunden, auch auf dem Hotelkorridor sah sie ihn nicht mehr. Ratlos drehte sie die kleine Karte in der Hand herum. Es handelte sich um ein Abonnement für eine Wellnessoase, Solarium inklusive. Julia dachte sich gar nichts dabei – nichts Gutes und nichts Böses. Dabei war sie keineswegs auf den Kopf gefallen; sie gehörte nur nicht zu den Leuten, die, wenn sie durch einen Wald gehen, hinter jedem Baum einen Räuber vermuten.

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Erste Reise: Die Münchner Räte-Monarchie

(Text: Bodo von Unruh, Fotos: Jacques Lacoste)

München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide. Wenn es nur nicht so gottverflucht heiß gewesen wäre! Bunte tropische Schmetterlinge gaukelten durch die urbane Idylle. Moskitos schwirrten. Ein Papagei ließ sich auf einem Dachfirst nieder, legte den Kopf schief und musterte die Szenerie: Companheiros!, krächzte er. Und nach einer kleinen Pause: Companheiras! Doch im nächsten Moment schlug er schon mit den Flügeln und flatterte entsetzt davon, denn die Blaskapelle, die unter ihm Aufstellung genommen hatte, fing an zu spielen. Männer in Krachledernen, Frauen im Dirndlkleid; Trompeten, Posaunen und eine Tuba. Alle Musikanten hatten sich ein rotes Halstuch umgebunden. Als Erstes spielten sie die Bayernhymne; der Dirigent – ein munterer Mann mit dunklem Lockenhaar, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird – sang lauthals mit, während er den Dirigentenstab auf und nieder tanzen ließ. Am lautesten schmetterte er die dritte Strophe: »Gott mit ihm, dem Bayernkönig / Segen über sein Geschlecht! / Denn mit seinem Volk in Frieden / Wahrt er dessen heilig Recht! / Gott mit ihm, dem Landesvater / Gott mit uns in jedem Gau / Gott mit dir, du Land der Bayern / Deutsche Heimat weiß und blau!« Und dann – quasi ohne Luftholen, jedenfalls ohne ihre Instrumente abzusetzen – spielte die Trachtenkapelle aus vollem Rohr ihre nächste Melodie: die Internationale.

Im Hintergrund waren die wichtigsten Wahrzeichen der Stadt deutlich zu erkennen: die zwei Zwiebeltürme der Frauenkirche, der Springbrunnen am Stachus, das Rathaus mit seinem Glockenspiel. Nur dort, wo sich eigentlich die Feldherrnhalle hätte erheben sollen – 1844 zu Ehren der bayerischen Armee errichtet, 1923 der Schauplatz eines blutig gescheiterten Putschversuches, nach 1933 der Ort, wo jeder Passant den rechten Arm zum Hitlergruß hochreißen musste –, noch einmal von vorn: An der Stelle der Feldherrnhalle erhoben sich (wie ein Irrtum, wie eine Fata Morgana, wie eine Retusche im Nachhinein) in ihrer ganzen Walt-Disney-haften Märchenpracht die weißen Türme von Neuschwanstein.

Diese Geschichte beginnt in einem Biergarten – an einem jener Oktobertage, wie sie in dieser goldenen Perfektion nur der Freistaat Bayern hervorbringt: eine milde Sonne, lauwarme Melancholie in der Luft. Wespen kreisten faul um den Zwetschgendatschi, über dem Kaffee türmte sich ein Berg Schlagsahne. Es schien völlig ausgeschlossen, dass dieser Monat jemals enden, dass sich der Winter erstickend über die Schöpfung herabbeugen könnte. Ein Bettler torkelte durch die Bankreihen auf uns zu; er streckte nicht nur eine, sondern beide Hände vor sich aus – als wollte er uns die ganze Schuld an seinem Elend zuschieben. Ein langer Filzmantel schlotterte um ihn herum, sein Haar bestand aus Strähnen, sein grauer Bart war eine schmutzige Matte. Plötzlich strauchelte er; dann sackte er zwischen den Holztischen zusammen. Nach der üblichen Schrecksekunde machten verschiedene Leute sich auf, dem Gestürzten zu helfen – zufällig war ich als Erster bei ihm. Er lag auf dem Hinterkopf, seine Augen blickten glasig in den Herbsthimmel hinein. »Ich hätte es nicht tun dürfen«, sagte er. »Nicht tun dürfen.« Ich fragte ihn nicht, was er meinte, sondern tippte die Notrufnummer in mein Smartphone; der weiße Ambulanzwagen mit dem roten Kreuz brauchte nur drei Minuten. »Es wäre eine gute Idee, wenn ich mit ihm ins Krankenhaus fahren würde«, sagte ich. Nein, ich sei kein Angehöriger, aber ich hätte den Mann gefunden und fühlte mich für ihn verantwortlich. Auf der Fahrt saß ich hinten neben der Krankenbahre. Zwei dünne Plastikschläuche steckten in seinen haarigen Nasenlöchern und versorgten ihn mit reinem Sauerstoff. Ungefähr auf halber Strecke schlug er die Augen auf. »Ich hätte es nicht tun dürfen!«, verkündete er.

»Was denn nicht tun dürfen?«, fragte ich.

»Das Mädchen … sie war erst zwölf. Ich hätte es nicht tun dürfen! Es gehört sich nicht!« Er umklammerte mein Handgelenk. Sein Griff war erstaunlich stark.

»Vergebung, Vergebung. Ich will zurück nach München«, greinte er.

»Aber Sie sind doch in München!«

»Ja, aber im falschen!«, schrie er. Er versuchte, sich aufzurichten, aber die Plastikschläuche behinderten ihn, und so sank er gleich wieder zurück. Mittlerweile waren wir vor der Notaufnahme des Krankenhauses angelangt. Verschiedene Pfleger führten mit großer Professionalität die notwendigen Handgriffe aus: Sie hoben, sie klinkten ein und aus, sie schoben und wuchteten und überführten den alten Bettler aus der Welt der Gesunden auf den fremden Planeten, wo die Kranken zu Hause sind. Nach zwei Minuten verschwand er mit seinem Gefolge zwischen zwei Schwingtüren. Ich wartete. Gewiss, die Sache ging mich nichts an, aber ich spürte, dass der alte Bettler mir etwas zu erzählen hatte. Insgesamt verplemperte ich fünf Stunden meiner Lebenszeit in dem kahlen Vorraum, sah stummen Nachrichtensprechern auf einem Bildschirm zu, blätterte in Gesundheitsmagazinen. Der Minutenzeiger auf der Wanduhr marschierte im Stechschritt um das Ziffernblatt und schleppte mit elender Langsamkeit und preußischer Präzision seinen kleinen Bruder hinter sich her. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich fragte eine Krankenschwester, was denn mit dem Mann passiert sei, den ich hierherbegleitet habe. Nein, ich sei kein Angehöriger, aber ich sei jetzt schon sehr lange hier, und vielleicht könnte sie so freundlich sein … Die Krankenschwester holte eine Ärztin, eine winzige graue Frau mit Hornbrille im weißen Kittel. »Der Herr, den Sie herbegleitet haben, ist vor drei Stunden verstorben«, sagte die Ärztin. »Wir konnten leider nichts mehr für ihn tun.«

Die Nachricht erschütterte mich mehr, als ich erwartet hatte – mehr, als mir eigentlich zustand. »Was war denn die Todesursache?«, fragte ich.

»Kann ich Ihnen nicht sagen. Schweigepflicht.« Sie wandte sich schon wieder zum Gehen, da überkam mich eine Eingebung. »Was passiert denn jetzt mit seinen Sachen?«, fragte ich.

»Die werden verbrannt.«

Ob sie mir wohl erlauben würde, die Hinterlassenschaft des Bettlers zu durchsuchen? »Ich bin Reporter«, sagte ich und zückte meinen Journalistenausweis. Die Ärztin maß mich mit den Augen von oben nach unten ab. »Kommen Sie«, sagte sie nach einer Pause. Ich folgte ihr durch die Schwingtüren, durch mehrere verwinkelte Korridore; endlich deutete sie auf einen schwarzen Müllsack, der in einer Ecke auf einem Tisch lag. Ich solle nur hinterher alles wieder in den Müllsack packen, sagte sie. Im Übrigen wünsche sie mir viel Spaß mit den Schätzen des Verstorbenen. Sie blieb nicht bei mir; offenbar genügte es, dass mir eine Kamera von der Decke aus zusah. In dem Müllsack steckten die Schuhe des Mannes, ein löchriger Pullover, eine Hose von undefinierbarer Farbe. Unterwäsche, die unbeschreiblich stank; und der Filzmantel, den er getragen hatte. Mit spitzen Fingern drang ich in die Taschen ein. Voilà: ein gebrauchtes Stofftaschentuch, eine zerknäulte Zigarettenschachtel, eine kleine Wodkaflasche (halb leer). Doch dann förderte ich tatsächlich einen Schatz ans Neonlicht, einen zerfledderten Boardingpass. Direktflug von Manaus nach Berlin/Tegel, Sitz 24 B, ausgestellt vor fünfzehn Jahren. Außerdem eine uralte verblasste Landkarte – sie war portugiesisch beschriftet und zeigte in großem Detailreichtum die Amazonasregion. Kein amtlicher Ausweis, kein Pass; natürlich nicht. Aber was ich in der anderen Manteltasche fand, überzeugte mich dann endgültig, dass ich hier etwas Wichtigem – einem Geheimnis – auf der Spur war. Denn ich entdeckte ein Plastikkärtchen: Josef Mitterer stand darauf, darunter ein Geburtsdatum. Auf der Rückseite war das bayerische Königswappen abgebildet – der tanzende Leu, der frech seine Zunge herausstreckt; der Reichsapfel auf purpurnem Grund; die goldene Königskrone; die blauen und weißen Rauten. Doch eingefasst war dieses Wappen von einem tiefen, einem brennenden Rot. Daneben ein kleiner Lederbeutel. Als ich ihn aufschnürte, erspähte ich im Dunkel eine Banknote und mehrere Kupfermünzen – aber es war keine Währung, die ich kannte. Der Geldschein zeigte einen dunkelhaarigen jungen Mann mit bedeutsamem Prophetenbart; laut Unterschrift handelte es sich um einen gewissen Silvio Gesell. Zehn Millionen Gulden! Der Name sagte mir etwas, aber so tief ich auch in meinem Gedächtnis stocherte, ich förderte nichts Brauchbares zutage. Auf der Rückseite des Geldscheins war ein Stadtplan von München aus dem Jahr 1919 abgebildet. Die Kupfermünzen in dem Ledersäckchen waren jeweils vier Kreuzer wert. Der schön verschnörkelte Wahlspruch über der Ziffer lautete: Liberalitas Bavariae. Auf der Vorderseite das Profil eines Lockenkopfes – Ludwig VII. war der werte Name. Täuschte ich mich oder zeigte der Monarch afrikanische Gesichtszüge?

Ich legte die Wäsche des Bettlers in den Müllsack zurück, aber all seine anderen Habseligkeiten steckte ich in meinen Rucksack. Niemand hielt mich auf, als ich das Krankenhaus verließ.

Bildlegende: Die Amazonaskarte, der Boardingpass, das rote Plastikkärtchen mit dem bayerischen Königswappen, der Zehn-Gulden-Schein mit dem Konterfei des anarchistischen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell.

Drei Wochen später waren mein Fotograf und ich bereit, das Handtuch zu werfen. Wie häufig kann man an der Ponta Negra schwimmen gehen (weg da, Krokodile und Piranhas!); wie oft kann man das Teatro Amazonas besuchen und in hypertropher Pracht Wagner-Opern hören; wie lange kann man von einem Schiff aus zuschauen, wie das schwarze Wasser des Rio Negro und das gelbbraune Wasser des Rio Solimoes zusammenfließen, um den breiten Amazonasstrom zu bilden? Naturgemäß hatte kein Mensch in Manaus je etwas von irgendwelchen Exil-Münchnern gehört. Auf unsere Nachfragen wurden wir immer wieder an den Pálacio del Negro verwiesen – eine herrliche Villa, die sich einst der deutsche Kautschukbaron Karl Waldemar Scholz hatte erbauen lassen. Aber das half uns auch nicht weiter. Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass Silvio Gesell ein libertärer Sozialist und Ökonom gewesen war. Seine größte Erfindung: das Freigeld, eine anarchistische Währung, die mit der Zeit verwelkt wie das Laub an den Bäumen – so sollten die Leute radikal entmutigt werden, Geld auf ihren Konten zu horten. Die Sonderstellung des Geldes gegenüber der Ware sollte verschwinden, eine freie Wirtschaft entstehen, an der alle Menschen teilhaben konnten. Spinnerei? Silvio Gesell meinte, für sein Freigeld brauche man im Grunde nur zwei Dinge: eine Druckerpresse – und einen Ofen, um das wertlose Geld am Ende zu verbrennen. Kein Geringerer als John Maynard Keynes sagte voraus, dass von den ökonomischen Theorien des Silvio Gesell am Ende mehr übrig bleiben werde als vom Marxismus.

Gesell war der Finanzminister der Münchner Räterepublik: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte eine Handvoll von meschuggenen Intellektuellen versucht, ausgerechnet in Bayern einen freiheitlichen Sozialismus zu verwirklichen. Seine Amtszeit dauerte genau eine Woche. Dann wurde die Räterepublik von preußischen und württembergischen Truppen, von Freikorps- und Reichswehrkämpfern blutig niedergewalzt. Viele Soldaten trugen das Hakenkreuz am Helm, das Symbol der völkischen Thule-Gesellschaft. Gesell entging den rechten Rachemassakern, er musste nur kurz ins Gefängnis und verstarb 1930 ganz bürgerlich an einer Lungenentzündung. Und anders als die Hirngespinste des Dr. Karl Heinrich Marx ist die Wirtschaftstheorie von Silvio Gesell nirgendwo jemals ausprobiert worden.

Das Glück ereilte uns – so unverschämt wie unverdient – in der Casa Maximiliano. Das ist ein altmodisches, ein bisschen düsteres Café gleich neben dem Largo Sao Sebastiao; eigentlich wollten wir dort unseren Rückflug buchen. Mir fiel eine uralte dunkelhäutige Frau auf, die unter einem vergilbten Bild damit beschäftigt war, ihren Cappuccino zu schlürfen. Das Foto über ihr zeigte jemanden, den ich kannte. Ich brauchte keine Bildunterschrift, um den Dargestellten zu erkennen: das gewellte dunkle Haar – der nach außen gekämmte Schnauzbart – der Spitzbart am Kinn – die stramm sitzende Uniform – die verträumten Augen in die Ferne gerichtet … natürlich, das war Ludwig II., der bayerische König. Die Greisin bemerkte meinen Blick. Und nun folgte etwas, das ich nie vergessen werde – sie erzählte mir lächelnd eine Geschichte und benutzte dabei kein einziges Wort. Mit Gesten deutete sie an: Der da (der Mann auf dem Bild) habe genau da gesessen, wo sie jetzt saß (nämlich so: mit durchgedrücktem Kreuz und würdevoll), und seinen Kaffee geschlürft (wie sie jetzt ihren Cappuccino). Wieder und wieder erzählte sie ihre wortlose Version. Was für ein Unsinn, dachte ich. Bekanntlich war Ludwig II. nie in Brasilien gewesen. Die uralte Frau aber beharrte auf ihren Gesten. Schließlich hatte ich genug, ging zu ihr hinüber und sprach sie an. Sie deutete auf ihren Mund und machte: »Ah, ah.« Die Dame war also stumm! Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich holte alle Schätze hervor, die dem Bettler in München gehört hatten. Die Landkarte des Amazonas rief keine Reaktion hervor, aber als ich ihr die Münzen in die Hand gab, wurde sie unruhig. Beim Anblick der Plastikkarte mit dem königlich-bayerischen Wappen in der roten Fahne fingen ihre Hände an zu zittern. Dann griff sie wieder nach der Landkarte, die sie schon achtlos beiseitegelegt hatte. Ungeduldig schnippte sie mit Daumen und Zeigefinger. Es war mein Fotograf, der erriet, was die alte Dame wollte: Er legte einen Filzstift in ihre Zitterhand. Sie blätterte die brüchige Landkarte auf, suchte, fand und machte endlich an einer Stelle mitten im Urwald ein großes schwarzes X. Ich stand auf und verneigte mich vor ihr. Sie lächelte, wies auf das über ihr hängende Bild und schloss die Augen.

Wir buchten keinen Rückflug. Stattdessen mieteten wir uns einen Reiseführer: Luiz.

Sechs Tage später war mir klar, dass die stumme Greisin uns betrogen hatte. Dort, wo sie ihr X auf die Landkarte gemalt hatte, befand sich gar nichts – nichts außer Schlingpflanzen, Lianen, Palmen, Riesenfarnen sowie possierlichen, weniger possierlichen und ganz unpossierlichen Tieren (goldene Löwenäffchen; Ameisenbären; Anacondas). Zuvor waren wir mit einem Kahn den stillen breiten Amazonas hinuntergetuckert und hatten Luiz dabei bewundert, wie er mit einem Speer unser zappelndes Abendessen aus dem Fluss holte. Später waren wir ihm durch grüne Lichtungen und über dickes Wurzelwerk gefolgt; hin und wieder hieß er uns mit erhobenem rechtem Oberarm stillstehen, um uns auf Naturschönheiten hinzuweisen. Tropische Regenschauer hatten uns durchnässt. Weißknievogelspinnen waren vor unseren Schritten davongehuscht. Wir waren gerade dabei, Rast zu machen und einen Schluck Wasser aus unseren Feldflaschen zu trinken, als ich zwischen den grünen Blättern ein Gesicht sah. Das Gesicht lag im Schatten, aber ich erkannte trotzdem deutlich, dass die Wangenknochen und die Stirn mit bunten Farben bestrichen waren. Noch ein verschattetes Gesicht und noch eines. Sekunden später brachen Gestalten aus dem Blätterwerk hervor, die ziemlich nackt waren und große Köcher in den Händen hielten; wir waren umzingelt. Ein älterer Mann, der einen großen runden Bauch vor sich herschob, trat auf uns zu. Offenbar waren wir nicht die ersten Europäer, die er gesehen hatte, denn er sprach uns auf Portugiesisch an. Luiz antworte ihm, dann übersetzte er. »Er sagt, für heute sind wir seine Gäste, aber dann müssen wir verschwinden. Dies ist ihr Gebiet, sie mögen keine Brasilianer. Er sagt, die Brasilianer kommen mit Kettensägen und haben überhaupt sehr schlechte Manieren.«

»Aber wir sind gar keine Brasilianer«, antwortete ich. »Sag ihm, dass wir nach den Leuten suchen, die das hier gemacht haben.« Ich zeigte dem Mann mit dem dicken Bauch das Plastikkärtchen mit dem Königswappen. Er war völlig unbeeindruckt und kippte einen weiteren Wortschwall über Luiz aus. »Er sagt, ihn interessiert überhaupt nicht, was für eine Art von Brasilianern wir sind. Er mag alle Arten von Brasilianern gleich wenig.« Die beinahe nackten Menschen mit den Köchern setzten sich in Bewegung; wir hatten keine andere Wahl, als in ihrer Mitte mitzutraben. Eine Stunde später fanden wir uns auf einer Lichtung wieder, auf der geflochtene Hütten im Kreis standen. Wir mussten auf Baumstämmen in der Mitte Platz nehmen, dann wurden Feuer entzündet, und ein Festmahl begann. Kochbananen und Maniokwurzeln wurden aufgetragen; der nächste Gang bestand aus dampfendem Fleisch in gewaltigen grünen Blättern. Anschließend packten die Eingeborenen ihre Trommeln aus und führten mit schaukelnden Hüften einen rituellen Tanz auf. Ich dachte über die Merkwürdigkeit gewisser Kulturkonstanten nach: Alle Menschen, ganz gleich, wo sie zu Hause sind, bestatten ihre Toten. Alle Kulturen bringen Musik hervor. Und dieser Fruchtbarkeitstanz in den Regenwäldern des Amazonas erinnerte mich an das Schuhplatteln, das im bayerisch-österreichischen Voralpenland beheimatet ist. Während des Tanzes kredenzten die Stammesangehörigen uns exotische Getränke aus Kokosnussschalen. Es prickelte, es war frisch, es schmeckte herb und süß zugleich – eigentlich wie bayerisches Weißbier. Welche Frucht mochte hier wohl vergoren worden sein? Luiz döste neben mir weg, schreckte wieder hoch und fing schließlich an, mit offenem Mund zu schnarchen. Abrupt hörte das Trommeln und Tanzen auf. Der Mann mit dem dicken Bauch trat zu uns heran.

»K.-o.-Tropfen«, sagte er sachlich. »Keine Angst, wir sorgen dafür, dass euer Reiseführer sicher nach Manaus zurückfindet. Er wird davon ausgehen, dass ihr im Urwald verschollen seid.« Der Mann sprach ein akzentfreies Deutsch mit einer kaum wahrnehmbaren süddeutschen Färbung. »Und ihr kommt jetzt mit. Wir haben schon seit Tagen auf euch gewartet.« Er ging uns mit weit ausgreifenden, sicheren Schritten voran. Immer tiefer führte er uns ins Grüne und Ungewisse hinein. Dann brachen wir aus dem Dickicht auf eine Lichtung heraus. Kühe mampften auf einer Weide; Weizen wogte; und vor uns lag München. Abrupt wandte sich der dicke Mann um und verschwand wieder im Regenwald. Wir spazierten zwischen Kuhweide und Weizenfeld auf die Stadt zu. Am Stadtrand wartete ein bayerischer dunkler Lockenkopf auf uns, ein jung gebliebener Mittvierziger mit einem munteren Lausbubengesicht. »Grüß Gott«, sagte er. »Willkommen in der Münchner Rätemonarchie.«

Bildlegende: Theophil Wohlgemuth, königlicher Bibliothekar, vor seinen Bücherschätzen mit einer Erstausgabe von Peter Kropotkins Die Eroberung des Brotes. Vorige Seiten: Das Gustav-Landauer-Monument vor dem Münchner Rathaus. Klein: Die rote Flagge mit dem bayerischen Königswappen über den Wasserfontänen am Stachus. / Tagung des Zentralrats der Münchner Rätemonarchie unter einem riesigen Ölgemälde von Ludwig II. / Die Hofbibliothek neben der Frauenkirche; im Vordergrund: die B. Traven-Statue. / »Genosse Majestät« Ludwig VII. bei der Audienz mit dem Reporter.

Er hieß Wohlgemuth, Theophil Wohlgemuth, und arbeitete in der Hofbibliothek. Nebenbei dirigierte er das königlich-revolutionäre Blasorchester. Nachdem die letzten Takte der Internationale verklungen waren und die Musikanten – freundlich grüßend – ihre Instrumente verstaut hatten, bot er uns eine Stadtführung an. Es war beinahe alles da, nur deutlich verkleinert, ungefähr im Maßstab eins zu vier. Außerdem musste die Anordnung der Wahrzeichen eigenwillig genannt werden: In diesem München im Regenwald stand das Sendlinger Tor am Marienplatz, und das Hofbräuhaus grenzte an den Justizpalast. Dort wurde übrigens keineswegs Recht gesprochen, wie unser Stadtführer uns erzählte; stattdessen wohnten dort Familien. Die Münchner Rätemonarchie habe mehr als zwanzigtausend Untertanen beziehungsweise Bürger, es handle sich um ein blühendes Gemeinwesen, über Geburtenmangel sei nicht zu klagen, ganz im Gegenteil. Schließlich kamen wir an unserem Bestimmungsort an, der Hofbibliothek. Nachdem der königliche Bibliothekar uns die Bestände gezeigt hatte – ein ganzer Lesesaal mit den Klassikern der anarchistischen Literatur; die »jakobitische Sammlung« mit Lebenszeugnissen von James Stewart und seinem Sohn Bonnie Prince Charlie –, ließen wir uns in seinem höchst nüchternen Büro nieder. »Wahrscheinlich haben Sie Fragen«, sagte er. »Bitte, was wollen Sie von mir wissen?«

Ich legte das rote Plastikkärtchen mit dem Königswappen zwischen uns auf den Tisch. Welches Geheimnis sich dahinter verberge? Theophil Wohlgemuth seufzte tief. »Ach, der Mitterer Sepp«, sagte er. »Ein tragischer Fall. Wir hatten keine andere Wahl, als den Kerl hinauszuschmeißen. Schauen Sie, wir haben bei uns keine Gefängnisse. Erstens gibt es so gut wie keine Verbrechen, zweitens betrachten wir solche Anstalten als unwürdig. Deswegen kennen wir eigentlich keine andere Strafe als die Verbannung. Den Mitterer Sepp mussten wir damals – ich war ja noch ein junger Mann – besonders weit verbannen: nach Berlin. Eine schwere Strafe! Jemanden nach Preußen abzuschieben! Aber er hatte ein junges Mädchen vergewaltigt. So etwas darf natürlich nicht geduldet werden. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?«

Nachdem ich es Theophil Wohlgemuth erzählt hatte, seufzte er ein zweites Mal. »Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin. Wer einmal bei uns Wurzeln geschlagen hat, kann in der kalten Welt dort draußen nicht mehr heimisch werden. Ich hoffe nur, dass er dort, wo er jetzt ist, seinen Frieden findet.«

»Erklären Sie mir doch bitte, wo wir hier sind«, sagte ich. »Eine Rätemonarchie? Was soll das sein?«

»Eigentlich sehr einfach«, sagte Wohlgemuth. »Aus historischen Gründen lebten hier in Brasilien Anhänger von Ludwig II. Später stießen Überlebende der Münchner Rätemonarchie hinzu. Unter uns, das war kein Zufall: Manche der Freikorpsleute waren heimliche Anhänger des Königs und haben, als die Räterepublik niedergeschlagen wurde, mit Platzpatronen geschossen. Später haben sie den Anhängern der Räterepublik die Bruderhand gereicht und ihnen zur Flucht verholfen. Spätestens hier in Brasilien haben beide verstanden, dass das Gemeinsame das weltanschaulich Trennende bei Weitem überwiegt, und sich zusammengeschlossen.«

»Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«, wandte ich ein. »Die Ideale einer Räterepublik und einer Monarchie sind einander diametral entgegengesetzt.«

»Das müssen Sie dialektisch sehen«, sagte Theophil Wohlgemuth. »Oder genauer, Sie müssen Ihre Perspektive weiten und das Ganze aus einer welthistorischen Perspektive betrachten. Schauen Sie, im Grunde liegen in der Geschichte seit alters und jeher zwei fundamentale Prinzipen im Streit: das Bajuwarische und das Preußische. Das Bajuwarische ist katholisch, ausufernd, barock, unlogisch, sinnesfreudig, inklusiv und von Herzen liberal. Das Preußische ist protestantisch, streng, gotisch, kahl, autoritär, ausschließend und so logisch, dass es einen graust. Bajuwarisch waren die schottischen, irischen und walisischen Rebellen, die sich im achtzehnten Jahrhundert gegen die Engländer erhoben. Deswegen sehen Sie in unserer Bibliothek auch so viele Zeugnisse über das Leben des alten und des jungen Thronprätendenten aus dem Hause Stewart. Bajuwarisch war ferner Nestor Machno, der ukrainische Anarchist, der mit seinen Männern gegen die verdammten Bolschewiken gekämpft hat. Preußisch waren die Nazis.«

Hätte ich dem guten Bibliothekar entgegenhalten sollen, dass in der Weimarer Republik gerade der Freistaat Preußen ein demokratisches Bollwerk bildete, das sich den Nazis entgegenstellte, und deswegen 1932 zerschlagen wurde? Dass es nicht wenige tapfere Preußen gab, die Hitler Widerstand leisteten? Während seine heiß geliebten Bayern nach 1933 hingebungsvoll danach trachteten, das Leben für die unter ihnen lebenden Juden zur Hölle zu machen? Ich ließ es lieber bleiben. Stattdessen stellte ich eine praktische Frage: »Es muss doch eine schöne Stange Geld gekostet haben, München hier mitten in den Regenwäldern des Amazonas wiederaufzubauen. Sie werden mir doch nicht einreden wollen, Sie hätten all das mit Ihren inflationären Silvio-Gesell-Gulden finanziert!«

»Natürlich nicht.« Wohlgemuth erhob sich, ging zu einem Bücherregal hinter ihm an der Wand, suchte ein zerfleddertes Taschenbuch heraus und legte es mir lächelnd in die Hand: Das Totenschiff von B. Traven.

»Ich verstehe nicht«, sagte ich.

»Ein wunderbares Buch«, sagte er. »Und ein wunderbarer Autor. B. Traven alias Ret Marut alias Traven Torsvan alias Hal Croves alias Hermann Otto Albert Maximilian Feige. Ihm haben wir das alles hier zu verdanken.«

»Wie bitte?«

»Schauen Sie«, sagte Theophil Wohlgemuth, »B. Traven war ein Erfolgsautor. Dreißig Millionen Auflage weltweit! Dabei kommt schon was zusammen. Dann das Honorar für Der Schatz der Sierra Madre mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle. Ein großartiger Film! Traven alias Feige war wie viele Anarchisten in finanziellen Dingen nicht ganz ungeschickt. Er hat an der Börse spekuliert und aus Millionen Milliarden gemacht. Irgendetwas musste er mit seinem Vermögen anfangen – er war persönlich völlig bedürfnislos. Natürlich wusste er von uns. Er war ja selber mit knapper Not entflohen, als die Münchner Räterepublik massakriert wurde. Also hat er von Mexiko aus eingefädelt, dass München in Brasilien wiederaufgebaut wird. Aber was heißt hier wieder! Ein so schönes München wie das unsere hat es nie zuvor in der Welt gegeben! Mein seliger Herr Großvater hat noch auf B. Travens Knien gesessen. Übrigens ist jetzt Essenszeit. Begleiten Sie mich ins Hofbräuhaus?«

Weder mein Fotograf noch ich verspürten nach dem Festmahl, das die Eingeborenen uns serviert hatten, besonderen Hunger, aber Wohlgemuth verzehrte vor uns mit Behagen eine Schweinshaxe mit Kraut und kippte eine Maß Bier. Während er aß, erzählte er, dass der Beruf des Hofbibliothekars erblich sei, er werde jeweils an das älteste Kind weitergegeben; seine Tochter bereite sich soeben auf diesen verantwortungsvollen Beruf vor. Zu den Aufgaben des Hofbibliothekars gehöre es, die gesamte Geschichte Bayerns zu memorieren – »sowohl die Geschichte des Bayern dort draußen, die uns weniger interessiert, als auch die unseres inneren Bayern hier in Brasilien«. Dann erklärte er uns das politische Modell der Münchner Rätemonarchie: Jeder Straßenzug wähle seine eigenen Volksvertreter. Die wählten dann die nächste Ebene, also die Räte der einzelnen Stadtviertel. Die Räte der Stadtviertel ihrerseits wählten den Zentralrat, der im Münchner Rathaus tage. Die Amtszeit sei auf zwei Jahre befristet, außerdem könnten die Räte durch ein einfaches Misstrauensvotum der Mehrheit jederzeit abgewählt werden.

»Aber ist dieses System nicht furchtbar instabil?«, fragte ich.

»Überhaupt nicht«, sagte Wohlgemuth. »Für die notwendige Stabilität sorgt das monarchische Prinzip. Schauen Sie, jeder Zentralrat wird vom König vereidigt – er muss schwören, dass er nur das Glück der Allgemeinheit im Sinn hat. Und der König verfügt über das Vetorecht. Er kann jeden Gesetzesentwurf, der ihm nicht passt, in die entsprechenden Beratungsgremien zurückschicken. Sie müssen sich die Sache wie ein Orchester ohne Dirigenten vorstellen, das seinen königlichen Ehrengast keinesfalls enttäuschen will, also jedes Interesse hat, harmonisch zusammenzuspielen.« Ferner behauptete Wohlgemuth, die Münchner Räterepublik sei wirtschaftlich weitgehend autark und unterhalte zu den Eingeborenenstämmen in der Umgebung gutnachbarliche Beziehungen (»wie Sie je selber gesehen haben«). Außerdem gebe es ein königlich-bayerisch-anarchistisches Agentennetz, das bis nach Europa reiche. »Wir wussten über Sie Bescheid, seit diese stumme alte Plaudertasche in der Casa Maximiliano – sozusagen – ihren Mund nicht halten konnte.« Wohlgemuth schob seinen Teller von sich, dann zog er eine altmodische Taschenuhr aus der Weste. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er. »Ich habe für Sie eine Audienz organisiert.«

Zehn Minuten später überquerten wir den Odeonsplatz und näherten uns mit der angemessenen Ehrfurcht dem maßstabsgerecht verkleinerten Schloss Neuschwanstein. Livrierte Diener öffneten uns die Türen. Es war tatsächlich alles originalgetreu kopiert worden: die Deckengemälde, die goldenen Lüster, die Marmorsäulen, die Tapeten. Vor dem Thronsaal machte Wohlgemuth Halt. »Sie dürfen ihm nie den Rücken zuwenden«, flüsterte er. »Die Anrede lautet: Genosse Majestät.« Er blieb zurück, und einen Augenblick später befanden wir uns in der Gegenwart von König Ludwig VII.

Er war tatsächlich schwarz. Und weder davor noch danach bin ich je wieder solchem Charisma begegnet: Mit der Macht seiner Person füllte er mühelos den gesamten Thronsaal aus, der auch in der maßstabsgerechten Verkleinerung noch riesengroß war. Er trug eine blaue Uniform, und eine gewisse Familienähnlichkeit war nicht zu verkennen – die weit auseinanderstehenden Augen, der verträumte Blick. Sogar den Bart trug er wie jener. Er stand ganz allein in der Mitte des Raumes, hinter ihm führten die breiten Stufen der Marmortreppe zum Herrschersessel empor. Er kam auf uns zu, reichte mir die Hand und sagte einfach: »Grüß Gott.« Ehe ich wusste, was ich da tat, senkte ich das rechte Knie zum Boden und neigte demütig den Kopf. »Es ist schon gut«, sagte er lächelnd und bedeutete mir mit einer winkenden Handbewegung, ich solle mich erheben. Dann lud er uns ein, auf einem Sofa unter einem der Fenster des Thronsaales Platz zu nehmen. Er setzte sich auf einen bequemen Sessel uns gegenüber. Auf dem Tisch zwischen uns stand ein Humidor. »Wollen Sie auch eine Gabriela?«, fragte Ludwig VII. »Die beste Zigarre, die Brasilien zu bieten hat.« Ich nahm das Angebot dankbar an. »Vielleicht beginnen wir unser Gespräch damit«, sagte der bayerische König, nachdem er mir und sich selber mit einem Streichholz Feuer gegeben hatte, »dass Sie mir erzählen, was Sie über meinen berühmten Ahnen wissen. Oder zu wissen glauben.«

Ich kramte aus meinem Gedächtnis hervor, was jeder Dummkopf auf Wikipedia über Ludwig II. nachlesen kann. Also: Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts mit achtzehn Jahren den Thron bestiegen. Wagnerianer. Hochgradig verrückt, mit hoher Wahrscheinlichkeit schwul. 1886 entmündigt, sein Onkel Luitpold übernahm an seiner Stelle die Regierungsgeschäfte. Am 13. Juni unter nie ganz geklärten Umständen im Starnberger See ertrunken. – Der bayerische König nahm einen genießerischen Zug aus seiner Zigarre. Seine dunklen Gesichtszüge waren undurchdringlich. »Hm«, sagte er nach einer Weile. »Es ist doch interessant, wie lange sich diese Lüge – diese preußische Propagandaversion – gehalten hat. Es war natürlich nicht so. Es war völlig anders. Das Ganze war eine Verschwörung. Genauer gesagt handelte es sich um zwei Verschwörungen: eine böse große Kabale – und eine ihr entgegengesetzte kleinere. Und die kleinere Verschwörung hat am Ende gesiegt. Deswegen sitze ich heute hier vor Ihnen.«

Ich sagte kein Wort. Es wäre mir ungehörig erschienen, Fragen zu stellen.

»Um die Geschichte zu verstehen, müssen wir auf das Jahr 1866 zurückgehen«, sagte König Ludwig VII. »Die Schlacht von Königgrätz. Damals nahm das Unheil seinen Lauf. Damals siegten die Preußen gegen die Österreicher, und in der Folge bekam Otto von Bismarck sein Deutsches Reich. Nicht nur die Österreicher haben 1866 in Königgrätz gegen die Preußen verloren. Auch die Bayern. Die Geschichtsschreiber haben über die Gründe für die Melancholie meines Ahnen nachgedacht. Sie faseln von seiner unterdrückten Homosexualität etc. Was für ein Schmarren! Ludwig II