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WATT, EBBE UND FLUT, LIEBE, LYRIK UND TOD. EIN NORDSEE-KRIMI. November in Cuxhaven. Rita Sieversen sucht Abstand zu ihrer zerrütteten Beziehung – und findet eine Leiche, direkt am Galgenberg, dort, wo früher die Seeräuber hingerichtet wurden. Sind die Gedichte von Barthold Heinrich Brockes ein Schlüssel zu diesem Mord? Kann man der Wattführerin trauen? Oder der Schwester des Toten? Was weiß der seltsame Kauz, der den Flug der Vögel deutet? Birgt das Schloss Ritzebüttel die Lösung? Oder Duhnen, die Insel Neuwerk vielleicht? Und wie wird sich Rita Sieversen entscheiden, um deren Liebe sich plötzlich drei Menschen bemühen? Der erfolgreiche Nordsee-Krimi nun bei CW Niemeyer!
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Prolog
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Fünfter Tag
Sechster Tag
Siebter Tag
Epilog
Danksagung
Hedi HummelNachsaison in Duhnen
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.deErstmalig erschienen im ALKYON Buchverlag Irmgard Keil 2008© 2018 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8351-4
Hedi Hummel
Nachsaison in
Duhnen
Hedi Hummel wurde 1957 in Rüsselsheim geboren. Sie studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Berlin. Ihre Magister-Arbeit befasste sich mit Robert Musils Mythenverarbeitung: „Der verhinderte Dionysos“. 1986 lebte sie drei Monate in einem Zen-Kloster in Tokyo. Hedi Hummel arbeitet als Redakteurin beim ZDF.Mitarbeit am „Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur“, Meitingen 1989; „Seitensprünge“, Anthologie der Autorengruppe an der FH Wiesbaden, 2000; Roman „Pluto über Berlin. Eine kriminelle Liebesgeschichte“, Alkyon Verlag 2004; Roman „Nachsaison in Duhnen“, Alkyon Verlag 2008.
Für meine Mutter,ohne die Cuxhaven für mich nur ein Ort auf der Landkarte geblieben wäre ...
Beinahe hätte sie sich an ihrem Prosecco verschluckt. War das nicht Robert, der da am Buffet aufgetaucht war? Sie wusste, dass auch er eine Einladung zu Konrad Altenhoffs Ausstellung erhalten hatte, aber er wollte doch gar nicht hingehen. Und schließlich hatte er auch sie dazu überredet, heute auf jegliche Kunstdiskussion zu verzichten und lieber gemütlich zu Hause zu bleiben. Doch als sie dann absagen wollte, hatte Konrad sie auf seine charmante Art vom Gegenteil überzeugt. Und so stand sie hier in der Galerie Wieland, umgeben von Menschen, Skulpturen und kulinarischen Verlockungen. Sie hatte sich bisher sogar recht gut amüsiert, jetzt aber krampfte sich ihr Herz zusammen bei dem Gedanken, dass er sie wieder belogen hatte.
Aber es sollte noch schlimmer kommen, sie traute ihren Augen nicht, denn leichtfüßig steuerte Konrads neue Freundin Franziska auf sie zu ... mit Robert und seiner Frau im Schlepptau.
Wo war nur Konrad, der ihr diese Situation zu ersparen wüsste? Aber es gab kein Entkommen mehr.
Franziska strahlte sie an, nahm sie bei der Hand, gerade als sie sich abwenden wollte: „Hier geblieben, ich muss dir unbedingt jemanden vorstellen“, verschwörerisch fügte sie leise hinzu: „Du wirst es nicht bereuen ...“
„Das ist Rita Sieversen, Dramaturgin am Minerva-Theater und das ...“ – sie drehte sich schwungvoll herum – „ist Robert Hameln, Geschichtsdozent an der FU und seine Frau Helene!“
Wie zumeist hatte sich Robert schnell im Griff, mit leichter Verzögerung fand er auch seine angenehm dunkle Stimme wieder: „Es ist mir ein Vergnügen ...“, lediglich seine Hand war ein wenig feucht geworden und seiner Galanterie haftete etwas Schwerfälliges an, was seine Frau zu einem erstaunten Blick veranlasste. Sie betrachtete Rita prüfend, während sie ihr die Hand reichte.
„Sie sind Dramaturgin, das ist doch bestimmt ein interessanter Beruf?“ Sie lächelte Rita an, die Helene noch nie so nah vor sich gesehen hatte und sie zu ihrem eigenen Schrecken sehr hübsch und gar nicht unsympathisch fand.
„Hattest du nicht vor ein, zwei Jahren öfter mit einer Dramaturgin zu tun?“, wandte sie sich freundlich ihrem Mann zu, „ging es da nicht um Bühnenbilder und Römer-Kostüme zu einem Shakespeare-Drama?“
„Das stimmt tatsächlich, Liebes“, entgegnete Robert, „ich bewundere immer wieder dein gutes Gedächtnis, nur dass es vor drei Jahren war und zudem das Thalia-Theater betraf“, dabei wandte er Rita sein mittlerweile doch recht blass gewordenes Gesicht zu und sah sie inständig bittend an.
Rita war zu keinem Wort fähig. Sie benötigte ihre ganze Kraft, um die Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen und packte es gerade noch, mit den Augen auf ihr leeres Glas hinzuweisen, was sofort Franziska in Bewegung setzte, die sich vom nächsten Tisch eine Sektflasche angelte und Ritas Glas wieder füllte.
„Danke, Franziska“, sie nahm einen kräftigen Schluck, „das tut gut, ich war am Verdursten ... Frau Hameln, Herr Hameln ...“, sie nickte beiden bedauernd zu, „vielleicht können wir ja ein anderes Mal unsere Bekanntschaft vertiefen, es hat mich sehr gefreut, aber ich hatte mir eben ein Taxi bestellt ... einen schönen Abend noch.“
Sie küsste die überraschte Franziska auf die Wange und bahnte sich erhobenen Hauptes den Weg zur Garderobe.
Draußen auf der Straße blieb Rita einen Augenblick stehen, atmete tief durch und war dankbar für den Sprühregen, der leicht ihr Gesicht benetzte. Diese Demütigungen konnte sie nicht mehr ertragen. Zwei Jahre ging das nun schon, aber sie konnte niemandem einen Vorwurf machen, denn von Anfang an hatte sie gewusst, dass Robert verheiratet war. Dennoch hatte sie sich auf ihn eingelassen und das alles wegen ihrer idealen Vorstellung von der Liebe: ohne alle Besitzansprüche, einfach die Gegenwart in all ihrer Intensität leben, niemanden festhalten und weitergehen, wenn es vorbei ist. Sie wusste, dass es noch nicht zu Ende war, aber so konnte sie nicht mehr weiterleben.
Es war kalt, es war Mitte November, und es war gut, hier zu sein. Rita Sieversen ging auf dem Duhner Deich spazieren und sog tief die raue Nordseeluft ein. ‚Warum kann ich erst atmen, wo andere frieren‘, fragte sie sich, schaute über die Weite des Meeres und lächelte, weil sie die Antwort nur zu gut kannte.
Kaum einer ihrer Freunde hatte verstanden, wie sie zu dieser Jahreszeit nach Cuxhaven fahren konnte. Da nimmt man doch eher ein Flugzeug und reist in den Süden. Aber sie wusste, dass dies genau die richtige Entscheidung war und durchaus keine Kurzschlusshandlung, um vor Robert oder ihren Gefühlen zu ihm zu fliehen. Er hatte sie gleich nach dem unglücklichen Zusammentreffen angerufen, sich tausendmal entschuldigt, ihr seine Liebe beteuert. Aber sie hatte nichts empfunden, war wie betäubt und hatte ihm ruhig Antwort gegeben, ihn aber in keiner Weise zu ihr durchdringen lassen, ihm nur mitgeteilt, dass sie Abstand brauche und ihren lange überfälligen Urlaub nehmen werde. Erst hatte er gekämpft, und als das nichts nützte auf Normalität umgeschaltet, so als fahre sie zu einem normalen Erholungsurlaub und alles sei wieder im Lot. Das erinnerte sie doch sehr an ihre Anfangszeit, als er so begeistert war von ihrer toleranten Einstellung und immer wieder ihre „noble Haltung“ lobte, die er gar nicht wirklich hinterfragte, da sie für ihn unendlich bequem war. Zunächst sprach er wie selbstverständlich von seiner offenen Ehe, doch mit der Zeit ertappte sie ihn immer häufiger beim Lügen, und schließlich fand sie heraus, dass seine Frau überhaupt nichts von ihr wusste und von nun an immer mehr Rücksicht genommen werden musste auf dies und das. Da war es dann zu spät, noch leichthin gehen zu können.
Für sie stand fest, dass sie keine Beziehung auseinanderbringen wollte, aber so weitermachen wie bisher konnte sie auch nicht. Sie hatte sich immer von Verbitterung, dem Gegeneinander-Aufrechnen, dem Resignieren fernhalten wollen, aber nun war sie auf dem besten Weg sich zu verändern ... auf eine Art ..., dass sie sich manchmal selbst nicht mehr leiden konnte. Ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie merkte, dass sie schon wieder mit ihrem Berliner Alltag beschäftigt war. Nein, sie war keine fünfhundert Kilometer weit gefahren, um sich in der gleichen Welt zu bewegen, die sie gerade verlassen hatte.
Sie ließ ihren Blick über die zurückschäumende Flut gleiten, der Wind zerzauste ihr Haar und die frische Luft belebte sie so sehr, dass sie beim Ausatmen das Gefühl hatte, als würde alles Negative, alles Zerstörerische, der ganze aufgestaute Müll aus ihr herausgespült.
Sie war schon öfter in Cuxhaven gewesen, und jeder Aufenthalt hatte ihr auf die eine oder andere Weise gut getan. Die Leidenschaft für diesen recht unauffälligen Ort zwischen Elbe und Nordsee hatte sie von ihrer Mutter übernommen, mit der sie auch das erste Mal hierher gefahren war. Damals hatten sie in Sahlenburg gewohnt, begeistert davon, neben Strand und Meer auch noch den Wernerwald und das Finkenmoor in der Nähe zu haben. Dieses Mal hatte sie sich für den Kurort Duhnen entschieden, der wegen seiner schönen Strandlage meist überlaufen war, aber in der Nachsaison nur wenige Kurgäste beherbergte. Hier kannte sie sich noch nicht so gut aus, was für sie einen zusätzlichen Reiz bedeutete. Sie liebte es, sich an einem fremden Ort gemütlich einzurichten und Stück für Stück ihre Umgebung zu erobern. Welche Straßenzüge würde sie bevorzugen, welche Strandpartien am meisten lieben? Welche Restaurants hatten in dieser Zeit noch geöffnet, waren die Bäder geschlossen, lief irgendwo ein Kinofilm, den sie immer verpasst hatte? Wurden vielleicht sogar noch Wattfahrten durchgeführt?
Sie mochte dieses ungezwungene Eintauchen in die Eigenheiten der Landschaft, oder wenn - ausgelöst durch alte Bauten - Bilder vergangener Zeiten vor ihr auftauchten, die sicherlich nicht historisch exakt waren, aber einfach ihrem eigenen Vorstellungsvermögen, ihrem Blick auf die Welt entsprachen.
Gerade diese Unvoreingenommenheit schätzte Robert so an ihr, als Uni-Dozent für Geschichte hatte er die einfache Herangehensweise an die Dinge verloren und begann immer sofort einzuordnen und zu klassifizieren. Schon wieder tauchte sein Gesicht vor ihr auf, und sie ärgerte sich darüber, seinen Einfluss auch hier zu spüren.
Sie schaute übers Meer, auf die sanft abfallenden Dünen, auf die Möwen, die sich von einem Mädchen füttern ließen ... Ihre Kraft und ein wenig Ruhe kehrten zurück und sie wusste wieder, warum sie hierher gekommen war und was sie sich von dieser herrlich ungestümen Landschaft erhoffte. Sie wollte ihre innere Freiheit zurück, ihren Seelenfrieden, und Cuxhaven sollte ihr dabei helfen.
Nachdem sie Strand und See begrüßt hatte, wandte sie sich dem Landesinneren zu. Es sah nach einem schönen Morgen aus und den wollte sie für einen ausgedehnten Spaziergang durch die Felder nach Stickenbüttel oder Sahlenburg nutzen. Denn sobald es hier einmal ein paar Stunden geregnet hatte, waren die schmalen Wege nur mehr schwer begehbar.
Sie liebte diese Landschaft: kleine Waldstücke, eingebettet in Heide und Felder, hin und wieder überwucherte Moorlöcher, blass-rosa Heidekraut und uralte Bäume. Eine weitläufige Pferdekoppel und dann nur noch endlose Felder. Sie wählte einen Sandweg Richtung Sahlenburg. Niemand sonst war unterwegs, niemand außer ein paar Hasen und in der Ferne ein Reh. Wenn sie das in Berlin erzählen würde, dass in Cuxhaven die Rehe herumstehen, kein Mensch würde ihr glauben.
Sie war schon bald eine Stunde durch die Felder gewandert, als sie feststellte, dass sie der eingeschlagene Weg nicht direkt nach Sahlenburg, sondern eher an den Ortsausgang führte. Hier kannte sie sich überhaupt nicht aus und sie betrachtete interessiert eine kleine Anhöhe mit Bäumen. Die wollte sie sich näher ansehen. Der Boden war ziemlich uneben, kleine grasbewachsene Erdwälle musste sie überqueren, dann eine Böschung, die wie ein früherer Graben aussah, von Bäumen und Sträuchern gesäumt. Trotz des sonnigen Wetters war der Boden feucht, das dunkle Laub unter ihren Schuhen fühlte sich glitschig an, doch schließlich hatte sie das kleine Plateau erreicht.
In der Mitte stand eine riesige, kahle Eiche, die – wie der Mittelpunkt eines Zirkelschlages – eine kreisrunde Fläche überschattete, die mit abgefallenen Blättern übersät war. Daneben erstreckte sich ein kleines Rasenstück, trotz der Jahreszeit beinahe saftig grün, ansonsten überall entlaubte Sträucher und ein paar leere Weinflaschen. Ein seltsames Gefühl beschlich sie – aber immerhin hatte sie von hier aus einen guten Ausblick auf die Umgebung und obwohl sich am Saum des Hügels die Zweige im Wind bewegten, war es hier oben vollkommen ruhig und windstill. Es hatte beinahe etwas Gespenstisches.
Auf der anderen Seite des Berges stieg sie wieder hinunter, da sie von oben Häuser gesehen hatte, die ihr auf einmal ganz anheimelnd vorkamen. Jetzt hatte sie es ziemlich eilig, wollte über den Graben hinwegspringen, blieb dabei an Dornengestrüpp hängen. Zunächst versuchte sie sich behutsam zu befreien, als das nichts half, riss sie heftig an ihrer Windbluse - da sah sie einen hellen roten Farbtupfer durch dichte Zweige herüberleuchten.
Der Stoff gab nach und der Zweig schnellte mit scharfem Geräusch zurück. Aufgeschreckt stoben zwei Raben davon, die sie vorher nicht bemerkt hatte.
Jetzt war Rita wirklich bang ums Herz, aber ihre Neugierde war geweckt und sie ging direkt auf die Stelle zu. Das Gestrüpp erschwerte die Sicht, aber weder davon noch von dem sumpfigen Boden ließ sie sich abhalten. Ein kleiner Tümpel kam zum Vorschein. Dunkelsilbrig ruhte das Wasser zwischen Moor und Sträuchern, spärliche Sonnenstrahlen brachen durch dichtes Gezweig, abgebrochene Äste ragten über die Ränder des Pfuhls hinaus, wie Mikadostäbe, die längst miteinander verwachsen waren, da niemand sich getraut hatte, sie zu berühren.
Das grelle Rot störte den beinah romantischen Anblick, sie konnte nicht genau erkennen, was es war, Abfall vermutlich ... nein, es entpuppte sich als schlichter Wollschal! Wer hatte denn den an einem solch unwegsamen Ort verloren? Ihre innere Stimme warnte sie, riet ihr weiterzugehen, aber sie hatte sich schon gebückt und zog an dem Schal, der irgendwo festzuhängen schien. Sie beugte sich noch weiter hinunter, bog die ineinander verhakten Äste auseinander und sah einen Menschen gekrümmt am Boden liegen, mit dem Gesicht nach unten, nur notdürftig mit Laub bedeckt.
Am ganzen Körper erstarrt, war sie unfähig sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sollte den Fremden – sie glaubte einen Mann erkannt zu haben – untersuchen, nachsehen, ob er noch lebte, ob man ihm noch helfen konnte. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn anzufassen. Sie wusste auch so, dass er tot war. Entsetzt machte sie ein paar Schritte rückwärts und stolperte über einen Grasbüschel.
Jetzt setzte die Panik ein. Was tat man, wenn man eine Leiche fand? Weit und breit war kein Mensch zu sehen, und um nicht erreichbar zu sein, hatte sie ihr Handy in Berlin gelassen. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass der Mörder noch in der Nähe sein könnte. Aber wieso sollte der Tote denn umgebracht worden sein, vielleicht war er einfach nur unglücklich gestürzt, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass dem nicht so war, und woher sollte schließlich das Laub gekommen sein? Ach was, man ist schon ganz verblödet durch diese ständige Fernsehguckerei, dachte sie ärgerlich.
Hektisch durchquerte sie den Graben, sank permanent im weichem Boden ein, dann stand sie endlich auf einer lehmgestampften Straße und von da an rannte sie nur noch – die Straße entlang, vorbei an einem Wohnhaus mit riesigem Garten – und kam schließlich zur Sahlenburger Chaussee. Hier herrschte reger Autoverkehr und Rita hätte es nie für möglich gehalten, dass sie sich über diesen Anblick einmal derart freuen würde. Gegenüber war ein Gasthaus – das aber geschlossen war – und eine Telefonzelle!
Schon auf den letzten Metern kramte sie in ihrem Portemonnaie, holte eine Karte hervor, schob sie in den engen Schlitz und wurde per Display belehrt, dass sie ungültig sei. Das kann doch gar nicht sein, überlegte sie verstört, ich habe doch erst vor dem Urlaub eine neue gekauft. Sie nahm die Karte zurück und musste trotz ihrer Anspannung lächeln, sie hatte ihre Bank-Karte benutzt. Sie war so verwirrt, dass sie völlig vergessen hatte, dass man die ‚110‘ ja unentgeltlich anrufen konnte. Sie drückte die drei Tasten und war kurz darauf mit der zuständigen Polizeidienststelle verbunden.
Es dauerte nur wenige Minuten bis ein Polizeiwagen in Sicht kam. Wie oft hörte man die Sirenen des Krankenwagens, der Feuerwehr, der Polizei, und immer war man erleichtert, wenn sie fremde Schicksale betrafen und man sich wieder dem eigenen Leben zuwenden konnte, ein klein wenig aufgeschreckt aus dem Alltag, der für dieses Mal bewahrt werden konnte, an dessen Zerbrechlichkeit man jedoch erinnert wurde. Heute war die Sirene nur für sie bestimmt und Rita überlegte, was wohl der verführerische Gesang der gleichnamigen mythischen Wesen mit der penetranten Polizeivariante zu tun haben könnte – wahrscheinlich das zerstörerische Potenzial.
Der Wagen hielt neben der Telefonzelle und zwei Polizisten stiegen aus.
„Sind Sie Frau Sieversen?“
„Ja“, Rita war erleichtert, die beiden Männer in der Nähe zu haben; sie fühlte sich tatsächlich sicherer, „gut, dass Sie so schnell kommen konnten.“
„Amelung mein Name“, der Korpulentere von beiden reichte Rita kräftig die Hand, „und das ist mein Kollege Dressler.“
Dieser nickte unverbindlich.
„Sie haben also eine Leiche gefunden?“
„Ja, dort drüben – in einem Graben vor dem Hügel.“
„Haben Sie denn richtig hingeschaut, nicht, dass es vielleicht etwas anderes war ...?“, wollte Dressler wissen.
„Aber ja, Sie können mir schon vertrauen. In der Regel sehe ich keine Gespenster ...“, reagierte sie gereizt. „Am besten zeige ich Ihnen die Stelle!“
„Bitte steigen Sie ein.“ Amelung, der mit galantem Schwung die Autotür öffnete, versuchte das ungehobelte Verhalten seines Kollegen wettzumachen.
„Mit dem Wagen werden wir aber nicht ganz an die Stelle herankommen“, gab Rita zu bedenken.
„Wir fahren bis an den Rand der Felder. Da darf nicht jeder hin“, und er zwinkerte Rita zu, „wir aber schon!“
Nach kurzer Fahrt konnten sie beinahe am Fuße des Hügels parken.
„Wenn Sie nichts dagegen haben“, hielt Rita die Polizisten noch einen Augenblick zurück, „würde ich gerne hier auf Sie warten. Ich muss das nicht noch mal sehen.“
„Aber natürlich“, Amelung verstand sie gut. „Sie können sich gern ins Auto setzen, wir sind eh’ gleich wieder da.“
Die Polizisten verschwanden im Wald, sie hörte lediglich knackende Äste und leises Fluchen. Wehmütig betrachtete sie die umliegenden Felder und die Bäume vor sich – dieser Ort war wunderschön, sie bezweifelte aber, ob sie jemals wieder Lust haben würde, hier spazieren zu gehen.
Sie schaute sich den Himmel an, der plötzlich dunkelblau-regnerisch aussah und den Eindruck erweckte, als senke er sich schwer der Erde entgegen und würde heute viel weniger Raum lassen für die schmale Bewegungszone, die gemeinhin den Menschen vorbehalten war. Beinahe hätte sie der Flügel einer Elster gestreift, erschreckt hatte er sie auf jeden Fall. Sie hielt Ausschau nach der zweiten, denn zumeist waren diese Vögel als Paar unterwegs ... dieses Mal offensichtlich nicht.
Rita ging ein paar Schritte auf das Feld zu und sah etwas Glitzerndes am Boden liegen. Es war nur ein Stück Alufolie, aber daneben lag noch etwas ... eine Münze. Sie blies die Sandkrumen fort, befühlte die raue Oberfläche, konnte aber bei dem spärlichen Licht nichts Genaues feststellen. Die Münze musste sehr alt sein und sie beschloss, sie fürs erste zu behalten und sie vielleicht Robert zu zeigen, der ihr sicher etwas über ihre Herkunft sagen konnte. ‚Macht der Gewohnheit‘, dachte sie missmutig, ‚Robert ist nicht länger der wichtigste Mensch für mich!‘ Dennoch ließ sie die Münze schnell in ihre Jackentasche fallen, als Dressler zurückkam. Er nickte ihr beinahe mitfühlend zu, stapfte völlig verdreckt zum Auto und telefonierte.
„Gleich wird hier die Hölle los sein, Frau Sieversen“, er nahm Rita ein wenig zur Seite, „Sie haben Recht - das ist wirklich kein schöner Anblick.“
Seit er die Leiche gesehen hatte, waren seine Vorbehalte gegenüber der Urlauberin wie weggeblasen.
„Können Sie für das Protokoll später zur Polizeiinspektion nach Cuxhaven kommen, so gegen vier Uhr?“
Rita nickte: „Ist mir recht, vermeiden lässt es sich ja wohl nicht. Geben Sie mir die Adresse?“
„Natürlich, ich muss noch Ihre Personalien aufnehmen, und dann kann ich Sie nach Hause fahren.“
Rita, die normalerweise jede Gelegenheit wahrnahm sich an der frischen Luft zu bewegen, war für heute doch die Lust am Spazierengehen vergangen, und sie nahm das Angebot des Polizisten dankbar an.
*
Von nun an war alles anders. Ihr Urlaub, bereits von Anfang an zweckentfremdet, da er von Rita hauptsächlich zur privaten Entscheidungsfindung bestimmt worden war, hatte jetzt eine noch deutlichere Wendung genommen – weg von der Erholung, hin zu den lästigen Erfordernissen einer Ausnahmesituation.
Sie saß im Polizeipräsidium, ihr gegenüber hinter seinem Schreibtisch ordnete Kommissar Frank einige Papiere, während er Fragen stellte. In Erwartung ihrer Antwort lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, stützte sich mit drei Fingern der rechten Hand am Schreibtisch ab und trommelte mit dem Zeigefinger leicht auf die Tischplatte. Dabei spürte er unter sich das Eichenholz und war insgeheim zufrieden, dass er darauf bestanden hatte, die alten Büromöbel zu behalten, als hier überall die klinisch weißen Plastikteile eingeführt wurden.
„Was wollten Sie denn in dieser Gegend?“
„Ach, Herr Frank“, Rita vermied die Anrede ‚Kommissar‘, da sie noch immer bestrebt war, der Situation einen Hauch von Normalität zu verleihen.
„... das hab’ ich Ihnen doch schon erklärt. Ich habe Urlaub und da tut man eben manchmal Dinge, die nicht unbedingt logisch sind. Ich wollte mir einfach diesen Hügel ansehen, der mir von Weitem so gut gefallen hatte.“
„Und weshalb haben Sie sich um den Schal gekümmert?“
Hier musste sie nun doch lächeln, er wollte sie gar zu gerne verstehen, war auch durchaus sympathisch bei dieser Bemühung, aber es fehlte ihm einfach der Sinn für Überflüssiges.
„Weil das Rot nicht in die Landschaft passte.“
„Auch hier auf meinen Schreibtisch gehören einige Dinge überhaupt nicht hin“, wobei er mit dem Kopf auf eine Keksdose wies, die tatsächlich ziemlich verloren zwischen Akten und Briefen stand, „würden Sie die auch gerne wegräumen?“
„Das ist Ihr Schreibtisch, das müssen Sie schon selbst erledigen. Wissen Sie, Herr Frank, mit diesem Schal, der ja zuerst nur ein roter Farbklecks war, das war ... nun sagen wir einmal ... weibliche Neugier.“
Damit schien er etwas anfangen zu können, offensichtlich war er in seinem Leben damit schon öfter konfrontiert worden. Denn ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf sein schmales Gesicht, dem nun etwas Melancholisch-Schwärmerisches anhaftete, das sich aber sogleich wieder zur erprobten Korrektheit zurückverwandelte. Schade, dachte Rita, die ihn auf knapp Vierzig schätzte, eben hatte er noch so etwas Jungenhaftes.
„Darf ich Ihnen jetzt auch einmal eine Frage stellen?“
„Selbstverständlich.“
„Haben Sie den Toten bereits identifiziert?“
„Allerdings. Jan Peters, ein einflussreicher Industrieller aus der Gegend.“
„Wie lange war er schon tot, als ich ihn gefunden habe?“ Rita steckte die Angst noch in den Gliedern bei dem Gedanken, dass der Mord tatsächlich unmittelbar vorher stattgefunden haben könnte.
„Das wissen wir noch nicht genau, die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber schätzungsweise seit den frühen Morgenstunden.“
„Und es war ... Mord?“
„Eindeutig. Er wurde erschlagen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Tat sogar vor Ort stattfand.“
„Haben Sie einen Verdacht ... warum er umgebracht wurde?“
„Bis jetzt noch nicht.“
Er überlegte, ob er noch etwas hinzufügen sollte, entschied sich aber dagegen, dabei betrachtete er seine Besucherin eingehend.
Die halblangen Haare fielen ihr in lockigen Strähnen immer wieder ins Gesicht, was von Frau Sieversen sofort mit einer raschen Handbewegung korrigiert wurde, wobei sie fast entschuldigend ihr Gegenüber anschaute und ihre blau-grauen Augen eine so unbefangene Freude darüber zeigten, den Blick wieder offen anderen Dingen zuwenden zu können, dass man sich fast versucht fühlte ... sie zum Essen einzuladen. Kommissar Frank wunderte sich sehr über sich.
„Sieversen,“ betonte er nachdenklich, „den Namen gibt es hier in der Gegend häufiger. Hat das etwas zu bedeuten?“
„Nein, ich lebe in Berlin. Aber meine Großeltern sind in der Nähe von Kiel geboren.“
„Das erklärt manches ...“ Jetzt fiel ihm wirklich nichts mehr ein, womit er Frau Sieversen noch ein Weilchen hier behalten konnte.
„Nun gut,“ er stand auf und reichte ihr die Hand, „Sie bleiben noch in Cuxhaven, falls wir weitere Fragen haben ...?“
Sein Händedruck hatte etwas Verlässliches, was auch seine Augen ausstrahlten. Braun wie das Haar, das an den Schläfen schon leicht ergraut war.
„Aber sicher. Die Adresse haben Sie ja“, auch Rita erhob sich zögernd.
Für heute hatte Kommissar Frank innerlich mit seiner Besucherin abgeschlossen, deshalb war er nicht offen für eine erneute Wendung: „Leider habe ich keine Zeit mehr, Frau Peters wartet draußen.“
„Frau Peters?“ Sie zuckte zusammen bei der Vorstellung, dass eine Frau von einer auf die andere Sekunde ihren Mann verloren hatte.
„Sie ist die Schwester des Toten“, setzte er hinzu, als habe er ihren Gedanken erraten.
Als Rita auf den Flur hinaustrat, erhob sich eine hoch gewachsene, blonde Frau von der Bank und ging wortlos an ihr vorbei. Sie strahlte eine solche Kälte aus, dass Rita froh war, als Frau Peters die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Haben Sie Feuer?“
Auf der Bank saß noch eine andere Frau, die sich nun gänzlich zu ihr umdrehte und mit leicht spöttischem Unterton ihre Frage wiederholte.
Wie konnte man nur mit ernster Miene lächeln; Rita war fasziniert von der widersprüchlichen Botschaft, die die Gesichtszüge der Fremden signalisierten.
„Da muss ich nachschauen“, sie kramte in der vorderen Tasche ihres Rucksacks und förderte ein zebragestreiftes Feuerzeug zu Tage.
„Bitte“, sie beugte sich ein wenig zu der Frau hinunter – die es nicht nötig gefunden hatte, aufzustehen - aber nur so weit, dass auch diese ihr entgegenkommen musste. Das wäre ja gelacht, sie will schließlich etwas von mir.
Mit leisem Zischen glimmte die Zigarette auf. Rita sah in zwei freundliche, dunkle Augen, die ernst ihren Blick erwiderten.
Ihre Finger zitterten ja, das kurze Aufbegehren gegenüber der offensichtlichen Unhöflichkeit war vergessen, die zurückgehaltene Traurigkeit rührte sie. Sie suchte nach Worten, doch ihr Gegenüber bedankte sich knapp und drehte sich abrupt zur anderen Seite um. Verunsichert murmelte Rita „Alles Gute“ und verließ so schnell wie möglich das Gebäude.
*
Frau Peters vermittelte Frank das Gefühl, als sei das Leben viel zu kurz, um sich irgendwo niederzulassen, wenn man dort nicht auch bleiben wollte. Nervös und in aufrechter Haltung durchschritt sie mehrmals sein Büro und er hatte es aufgegeben, ihr einen Platz anzubieten.
„Sie sagten, Ihr Bruder habe Drohbriefe erhalten. Wann war das?“
„Nicht erst seit gestern“, ihre Stimme klang ungeduldig und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie dieses Frage-und-Antwort-Spiel als Zeitvergeudung empfand, „soweit ich das mitbekommen habe, ging das schon jahrelang so. Nicht immer hat er mir die Briefe gezeigt, aber sie betrafen letztlich ja uns beide – wenn es um die Firmenleitung ging. Die Vorwürfe bezogen sich auf die Produktionsverfahren bei ‚Globus‘, der Verwendung bestimmter Bausubstanzen bei der Werft - das waren die Umweltschützer. Dann wurde er vor zwei Jahren vom Ehemann seiner damaligen Geliebten mit Briefen bombardiert, das hörte auf, als die Liaison beendet war.“
Völlig emotionslos fuhr sie mit ihrem Bericht fort: „Vor etwa drei Monaten steigerte sich das Ganze, da lag plötzlich eine tote Möwe vor unserer Tür. Der Schnabel und das Gefieder waren ölverschmiert – es sah grässlich aus. Das hat Jan wirklich erschreckt – er meinte, das sei eine ernst zu nehmende Warnung.“
„Gab es einen Begleitbrief oder erklärte sich hinterher jemand dafür verantwortlich?“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Aber Jan hat sich daraufhin zum ersten Mal mit den Umweltschutzorganisationen getroffen.“
„Wie waren die Briefe unterschrieben, haben sich bestimmte Namen wiederholt?“
„Offizielle Beschwerden kamen vom Nationalpark-Zentrum, der MARPOL, von der NABU, dem Bauernverband, die etwas abenteuerlicheren vom ‚Rat der Auguren‘, ‚Rinaldo Rinaldini‘, dem ‚Grünen Wasserberg‘ ...“
„Sind das richtige Gruppierungen?“
„Was heißt denn für Sie ‚richtig‘? Wenn sie eine Satzung haben?“, meinte sie schnippisch, lenkte dann aber ein, „ich denke, das sind Phantasienamen, weil man die eigenen nicht nennen will.“
„Haben Sie die Briefe noch?“
„Ich glaube kaum, dass Jan so etwas aufgehoben hat. Sollte ich noch einen finden, können Sie ihn gerne haben.“
„Jan Peters scheint in dieser Gegend der bestgehasste Mann gewesen zu sein und gleichzeitig der beliebteste“, rekapitulierte Frank, der die Liste von Peters Verdiensten um Stadt, Land und Kultur eingehend studiert hatte. Auch waren ihm seine Telefonate mit dem Bürgermeister und einem Bremerhavener Stadtverordneten noch allzu deutlich im Ohr, die ihm dringend ans Herz legten, diskret vorzugehen und Peters posthum allerhöchstens die weiße Weste, aber keinesfalls bis auf die nackte Haut auszuziehen.
„Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder?“, schwenkte er um.
„Wir haben uns toleriert, waren mit Sicherheit nicht immer einer Meinung, aber gravierende Probleme gab es nicht, hätten wir sonst zusammen gewohnt?“
Kommissar Frank hatte im Laufe mannigfacher Dienstjahre eine eigene Theorie entwickelt, die er allerdings für sich behielt, da er sie gar nicht hätte erklären können: Es hatte sich gezeigt, dass ein Großteil der Leute beim Verhör – ganz gleich, ob sie aufgeregt, aalglatt, bescheiden oder arrogant waren – immer kurz zur Decke schauten, bevor sie logen. Es gab dafür keine logische Erklärung, wenn man nicht soweit gehen wollte, einen alles beobachtenden Gott dort oben anzusiedeln, den es galt mit einem Blick milde zu stimmen.
Auf jeden Fall hatte Frau Peters zur Decke gesehen, bevor sie von der Geschwisterliebe sprach.
„Wer hatte denn das Sagen bei ‚Globus‘, war das genau geregelt?“
„Natürlich gibt es Verträge“, entledigte sie sich des Unangenehmen, als wäre es naturgegeben und bereits Jahrhunderte lang mit Gleichmut akzeptiert, „Jan hielt die Mehrheit, ich dreißig Prozent.“
„Und wie sieht das jetzt aus?“
„Ich habe die alleinige Entscheidungsgewalt“, der Vorgeschmack der Macht wollte sich schon genüsslich ihren Gesichtszügen mitteilen, wurde aber von Frau Peters rechtzeitig abgeblockt, worauf sie sich dann doch hinsetzen musste.
„Aha“, auch Frank verbarg seinen Triumph, „haben Sie vor, grundlegende Änderungen in der Geschäftsführung vorzunehmen?“
„Ich bitte Sie, das weiß ich doch jetzt noch nicht.“
„Frau Peters, leider muss ich Sie das fragen, wo waren Sie heute früh?“
„Das habe ich doch schon Ihrem Kollegen gesagt.“
„Dann macht es Ihnen bestimmt nichts aus, es noch einmal zu wiederholen.“
„Ich habe so bis 7.00 Uhr geschlafen und war dann joggen.“
„Gibt es Zeugen dafür?“
„Meinen Bruder“, selbst Frau Peters fand ihren Scherz deplatziert, räusperte sich verlegen, „ich meine natürlich – ich habe den Kaffee aufgesetzt, als er unter der Dusche war, dann bin ich los.“
„Sie haben Ihren Bruder also gar nicht mehr gesehen an diesem Morgen?“
„Gesehen nicht – das stimmt.“
„Es hätte also auch jemand anderes sein können, dem Jan zum Beispiel erlaubt hatte, in seiner Wohnung zu übernachten?“
„Ich bitte Sie, Herr Kommissar, man kennt doch die Geräusche, die jemand macht, mit dem man zusammenlebt. Jan war unter der Dusche!“
„Und wann sind Sie zurückgekommen?“
„Etwa eine Stunde später.“
„Sind Sie so lange gelaufen?“
„Nein, ich habe mir noch Brötchen geholt.“
„Und wo?“
„In der Backstube am Großen Specken, wo freitags der Wochenmarkt ist.“
„Meinen Sie, man kann sich dort an Sie erinnern?“
„Was weiß denn ich – eine kleine Rothaarige hat mich bedient.“
„Und als Sie zurückgekommen sind ...“
„ ...war Jan schon fort, sein Jaguar auch. Ein Teil des Kaffees war getrunken, die Maschine noch angeschaltet.“
*
Nachdem Kommissar Frank wieder alleine war, gönnte er sich eine „Davidoff“, was er sich nur zugestand, wenn er einen Abstand setzen wollte zwischen sich und dem Vorangegangenen. Er inhalierte zweimal tief und entspannte sich allmählich, dabei kehrten seine Gedanken zu dem angenehmsten Teil des Tages zurück und das war eindeutig der Besuch von Frau Sieversen.
Sie war nun wirklich eine Frau, die ihm gefiel. Elegant und trotzdem natürlich, einnehmend widerspenstig, aber letztlich verbindlich. Und diese Augen, irgendetwas war mit ihren Augen. Als sie ihn angesehen hatte, war ihm, als mache sie sich über ihn lustig, aber auf eine so angenehme Weise, dass er sich seltsam befreit fühlte und beinahe selbst Lust verspürte über sich zu lachen.
Als er sich bei diesen Gedanken ertappte, musste er sich ernsthaft ermahnen mit gleicher Intensität an den Fall Peters zu denken. Die Tatsache, dass Cuxhaven Schauplatz eines brutalen Mordes geworden war, empfand er als Besudelung dieses schönen Landstrichs. Noch dazu eine Leiche in der Nähe des Galgenberges, das hatte schon etwas Makabres. Frau Sieversen schien die Bezeichnung der kleinen Anhöhe nicht zu kennen, und er hatte darauf verzichtet, sie über den Namen des Fundortes aufzuklären.
Es klopfte an die Tür und Neidhardt, sein Kollege aus dem dritten Stock, betrat grüßend das Zimmer.
„Du Hartmut, ich hab’ da draußen so einen komischen Vogel, der kam um zu melden, dass er gestern Nacht seltsame Dinge gesehen hat.“
„Und warum bringst du ihn zu mir?“
„Hör’ ihn dir doch einfach mal an, er wohnt nicht weit vom Galgenberg.“
Hellhörig geworden zog Frank die Augenbrauen hoch, bis sich drei tiefe Falten auf seiner Stirn bildeten, was nur passierte, wenn er etwas Interessantes witterte.
Neidhardt holte den Mann herein, der sich als Bauer Fenner vorstellte und einen ganz passablen Eindruck machte.
„Moin, Herr Kommissar“, zunächst blieb er einen Augenblick unschlüssig im Raum stehen, auf Franks einladende Handbewegung hin setzte er sich, konnte aber die Beine nicht stillhalten.
„Um was handelt es sich denn, Herr Fenner?“, half Frank ihm auf die Sprünge.
„Gut“, er räusperte sich mehrmals und man merkte, dass er nicht gewohnt war viel zu sprechen, geschweige denn zu Fremden, „mein Hof liegt hinter dem Butendieksweg, nicht weit vom Galgenberg. Mitternacht war gerade vorbei, als ich Geräusche in der Scheune hörte. Das Vieh war unruhig und die Hühner gackerten wie verrückt. Ich bin auf den Hof hinaus gegangen, denn auch die Pferde waren ganz aufgeschreckt. Die Tür des Stalls stand offen, aber ich hatte nicht den Mut nachzuschauen. Plötzlich herrschte Totenstille, da bin ich sofort wieder ins Haus, hab’ erst mal zwei Schnäpse getrunken und mich dann ins Bett gelegt. Schlafen konnte ich aber die ganze Nacht nicht. Am Morgen bin ich in den Pferdestall geschlichen. Die Tiere standen völlig ruhig an ihrem Platz, nur der Boden war von Vogelkrallen zerwühlt. Den Pferden schien es aber gut zu gehen, im Gegensatz zu den Hühnern, da lag ein Junghuhn tot gebissen im Stall.“
Ganz entkräftet nach einer so langen Rede hielt er inne und schaute den Kommissar mit ganz großen Kinderaugen an.
„Leben Sie alleine auf dem Hof?“
Er nickte. „Seit drei Jahren bin ich alleine.“
„Sollen wir uns die Sache einmal anschauen?“
„Nein, es ist ja alles wie immer. Ich wollte es Ihnen nur gesagt haben, weil ...“ Er zögerte.
„Ja?“ neugierig wartete Frank auf die Erklärung.
„Na ja, weil doch der Mond am Abnehmen war und die Tide fiel und es heißt, dass dann nie etwas alleine stirbt, dass der Tod hinterher noch zweimal die Runde macht ...“
Kommissar Frank starrte seinen Besucher an. Er hielt nichts, rein gar nichts von Aberglauben und Mondzauber, aber ein unheimliches Gefühl ließ sich nicht ganz abschütteln.
„Sie wissen, dass man eine Leiche gefunden hat am Galgenberg?“
Lange gab Bauer Fenner keine Antwort.
„Ich wohne ja in der Nähe, ich hab’ den ganzen Rummel mitgekriegt, außerdem spricht sich so was schnell herum ... Deshalb sag’ ich’s Ihnen ja!“
„Herr Fenner, ich würde doch gerne jemand zu Ihnen raus schicken.“
„Wenn es unbedingt sein muss.“
*
So behaglich ihre Ferienwohnung auch eingerichtet war, Gemütlichkeit wollte nicht mehr aufkommen. Rita schaltete den Fernsehapparat ein, merkte aber nach wenigen Minuten, dass sie gar nicht hinschaute. Sie versuchte es mit einem Buch, doch auch das lenkte sie nicht ab. So hatte sie sich ihren Urlaub nicht vorgestellt. Immer wieder musste sie an die Leiche unterm Zweiggestrüpp denken, und bereits mehrmals hatte sie der Versuchung widerstanden, Robert anzurufen und sich von ihm trösten zu lassen.
Da fiel ihr die Münze wieder ein, und sie holte sie aus der Manteltasche. Unter dem hellen Licht der Wohnzimmerlampe betrachtete sie sie aufmerksam: Einzelne Buchstaben waren zu erkennen, auch eine Art Wappen, aber keine Jahreszahl. Jetzt hielt sie es doch nicht mehr aus – die Münze gab den Ausschlag, das war nun wirklich ein triftiger Grund, beschwichtigte sie ihren Stolz. Sie wählte Roberts Handy-Nummer; die offizielle Privatnummer rief sie nie an. Nur die Mail-Box war eingeschaltet, es fiel ihr nicht leicht, die wenigen Worte „Ruf’ mich bitte an, egal wann ...“ in den Hörer zu sprechen.
Ihre Unruhe war so stark, dass sie es nicht mehr in der Wohnung aushielt. Erst 19.00 Uhr, aber draußen war tiefschwarze Nacht. Trotzdem wollte sie nicht hier bleiben. Auch vor die Tür zu gehen, kostete sie Überwindung und sie nahm sich vor, am Dorfbrunnen wieder kehrtzumachen. Von hier aus sah ein doppelstöckiges Restaurant anheimelnd zu ihr herüber – „Veermaster“ – das kannte sie noch nicht.
Das Lokal war gut besucht und die Nähe von Menschen, die sie zur Zeit eher mied, tat ihr heute wohl. Sie setzte sich im Obergeschoss auf einen Fensterplatz, aß eine Fischsuppe und trank ein Glas Wein, was sie ein wenig beruhigte. Ein unverbindliches Geplauder mit der Serviererin, ein Lächeln von einem Herrn am Nachbartisch, alles das sog sie gierig in sich hinein, als würde es helfen, eine offene Wunde zu schließen. Sie hatte gerade bezahlt, als drei junge Leute die Treppe heraufkamen und in der gegenüberliegenden Ecke Platz nahmen. Sofort hatte sie sie erkannt – die Frau, der sie im Polizeirevier Feuer gegeben hatte und die nun zwischen den beiden Männern saß. Die junge Frau hatte sich offensichtlich von ihrer Niedergeschlagenheit erholt, denn sie redete aufgeregt auf die anderen ein. Alle drei sahen wie Studenten aus, aber sie diskutierten mit Sicherheit kein Seminar-Thema und wirkten ziemlich angespannt und gereizt. Sie nahmen ihre Umwelt überhaupt nicht wahr, was Rita Gelegenheit gab, mittlerweile recht ungeniert zu ihnen hinüber zu starren. Zu ihrem Bedauern konnte sie nur hin und wieder einzelne Worte verstehen, die keinen zusammenhängenden Sinn ergaben.
Nun antwortete der blonde Junge rechts außen, ein Bärtiger, der auf den ersten Blick gutmütig aussah und der Bedächtige der Gruppe zu sein schien. Beschwichtigend hielt er den Freunden einen kleinen Vortrag, dessen Langatmigkeit seine Zuhörer eher noch wütender machte.
„Nein, Rudi ...“, hörte sie Linksaußen sagen, also hieß der Bärtige Rudi. Sein Gegenüber war ein schlaksiger Lockenkopf mit großer Hornbrille im rundlichen Gesicht. Obwohl sicherlich schon Mitte Zwanzig, erinnerte er an einen pubertierenden Jüngling und alles an ihm verriet eine ungesunde Schärfe und Heftigkeit.
Die Frau in ihrer Mitte konnte sich offenbar für keinen von beiden erwärmen, sie blickte skeptisch von einem zum anderen, mischte sich aber nicht mehr ein, schien sich eher in sich zurückzuziehen. Erst jetzt hatte Rita Sieversen Gelegenheit, sich die Frau in Ruhe anzusehen. Von weitem betrachtet hätte man sie für einen Jungen halten können, sogar für einen recht hübschen. Das kurze, brünette Haar fiel in unregelmäßigen Fransen ins Gesicht, verbarg aber nicht die dunkel aufflackernden Augen und noch weniger ihre für diesen Moment im Zaum gehaltene Lebendigkeit. Die vollen Lippen entschädigten für die strenge, fast steife Haltung des Kopfes, den sie manchmal – scheinbar ohne es zu merken – mehrmals kurz zur rechten Seite drehte, wie um einen Schmerz in der Schulter oder im Nacken zu mildern. Sie hatte ein ansprechendes, offenes Gesicht, ungeschminkt, mit starken, aber in kühne Form gebrachten Augenbrauen. Wenn sie lachte – was allerdings selten vorkam – dann verengten sich ihre Augen beinahe zu schmalen Schlitzen, die einen asiatischen Einschlag vermuten ließen, der etwas ansteckend Heiteres hatte.
Rita hätte zu gerne gewusst, worüber sie stritten. Es hatte garantiert mit dem Mord zu tun. Noch mehr interessierte sie, was die Frau mit der ganzen Sache zu tun hatte, denn eine Vorladung ins Präsidium sprach für einen relativ engen Kontakt mit dem Ermordeten.
Die nette Bedienung brachte den Dreien eine neue Runde Dunkelbier. Sie schien auf vertrautem Fuß mit der Beobachteten zu stehen. Rita schaute auf die Uhr, und beschloss, nichts mehr zu bestellen und es nun – im normalisierten Zustand – noch einmal mit ihrer Wohnung zu versuchen. Tiefere Einblicke als die bereits gewonnenen waren für den heutigen Abend sowieso nicht mehr zu erwarten. Sie beeilte sich die Treppe zu erreichen, da sie nicht noch im letzten Augenblick erkannt werden wollte.
Zu gerne hätte sie mehr über die Unbekannte erfahren. Direkt hinter ihr ging die Kellnerin die Stufen hinunter, das war die Gelegenheit. Rita fragte sie nach einer Visitenkarte mit den Öffnungszeiten des „Veermasters“. Und während die Serviererin in ihrer Brieftasche kramte, fragte Rita so beiläufig wie möglich: „Sie haben sich doch oben gerade mit dieser jungen Frau an dem Dreiertisch unterhalten. Sie kommt mir so bekannt vor, irgendwie erinnert sie mich an jemanden aus Bremerhaven?“
Weiter musste sie gar nicht ausholen, völlig arglos wurde sie aufgeklärt: „Das ist die Erika Eggenroth, ob die auch in Bremerhaven zu tun hat, weiß ich nicht, zuzutrauen wär’s ihr. Aber vielleicht kennen Sie sie auch von hier – sie führt Kurgäste durchs Watt, nicht in Duhnen, drüben in Sahlenburg.“
„In Sahlenburg“, griff Rita mit gemischten Empfindungen Bekanntes auf, denn sofort musste sie wieder an die Leiche denken, „das kann gut sein. Letztes Jahr habe ich dort gewohnt.“
„Sehen Sie, das hat sich ja nun mal schnell geklärt“, meinte zufrieden die freundliche Frau.
„Haben Sie herzlichen Dank und einen schönen Abend noch!“
Und schon war Rita durch die Glastür verschwunden. Die Kellnerin schüttelte verwundert den Kopf, ‚diese Kurgäste ...‘, steckte die Visitenkarte zurück in die Brieftasche und wandte sich dem nächsten Tisch zu.
*
Als Rita die Wohnungstür aufschloss, hörte sie das Telefon klingeln. Sie beeilte sich, streifte nur mehr im Flug die sandigen Schuhe an der Matte ab. Trotzdem kam sie zu spät, als sie den Hörer abnahm, ertönte schon das Freizeichen.
Sie ging in den Hausflur zurück und schloss zweimal die Tür ab, auch ihre eigene Wohnungstür wurde mit Sorgfalt verschlossen. Nachdem sie ihre Ausgehkleider mit einem bequemen Pulli, Trainingshose und gefütterten Hausschuhen ausgetauscht hatte, rief sie nun ihrerseits wieder bei Robert an.
„Hameln“
„Robert – hast du gerade angerufen?“
„Selbstverständlich – ich versuche es schon seit einer Stunde! Was ist denn passiert? Deine Stimme klang so aufgeregt.“
„Ich habe eine Leiche gefunden.“
„Wie bitte!?“
„Ja, du hörst richtig. In einem Graben unterhalb eines kleinen Hügels.“
„War es ein Unfall?“
„Nein, Mord!“
„Das ist ja entsetzlich. Und du hast sie entdeckt?“
Rita schilderte ihm ausführlich, wie sich alles zugetragen hatte und Robert war ganz besorgt, fragte nach diesem, wollte jenes genauer wissen. Seine Anteilnahme, seine Angst um sie taten ihr gut, und erst jetzt fühlte sie sich wirklich geborgen, zumindest für den Augenblick.
Mit Robert konnte man Momente höchster Intensität oder auch einfach des Wohlbehagens erleben – aber nichts war bei ihm von Dauer, konnte es unter den gegebenen Umständen auch nicht sein. Nach einer rauschhaften Liebesnacht begann er nach der Uhr zu schielen; wenn sie einfach nur seine körperliche Nähe gebraucht hätte, wurde sie mit Geschenken oder Gedichten abgespeist, es sei denn, seine Frau war verreist oder irgendwelche Dienstreisen ließen sich miteinander koordinieren. Sie war nach Cuxhaven gefahren, um Abstand zu gewinnen! Doch musste sie unbedingt heute damit beginnen, wo er genau die richtigen Worte fand und ihr tatsächlich half, die Situation zu meistern ... Sie war nahe daran ihn zu fragen, ob er nicht für ein, zwei Tage zu ihr kommen könne, doch sie tat es nicht. Zum einen wollte sie sich ja von ihm lösen, zum anderen hatte sie Angst, mit einer Ausrede konfrontiert zu werden oder einem vagen Versprechen. Dazu war sie sich zu schade ... diese Enttäuschung wollte sie sich ersparen.
„Außerdem“, fiel ihr der vorgeschobene Grund für den Anruf wieder ein, „habe ich auf dem Feld vor dem Heidestück eine Münze gefunden.“
„Eine Münze“, seine Stimme hatte sofort einen anderen Tonfall angenommen. Typisch Robert, dachte Rita, kaum geht es um Historisches, ist er nur noch Uni-Dozent.
„Wie sieht sie denn aus?“
„Rund“, neckte sie ihn.
„Jetzt sag’ schon“, ging er nicht auf ihr Spiel ein.
„Silbern glänzend, sehr dünn, mit Buchstaben, ohne Zahlen, eine Art Wappen auf der einen, ein unkenntliches Motiv auf der anderen Seite. War das exakt genug?“
„Sehr interessant.“
„Vielleicht ist sie beim Pflügen des Ackers nach oben geraten“, schlug Rita vor.
„Sehr unwahrscheinlich“, Robert schien nicht nur räumlich Meilen entfernt zu sein, „in dieser Jahreszeit ist das wohl kaum üblich ... Was hast du eigentlich mit der Münze vor?“
„Ich bin mir noch nicht sicher. Wenn sie tatsächlich aus einem früheren Jahrhundert stammt, wäre sie wohl eine schöne Bereicherung für das hiesige Museum ...“
„Könntest du damit nicht noch ein bisschen warten? Ich würde gerne in einige Nachschlagwerke schauen ... Machst du mir diese Freude?“ Jetzt klang seine Stimme wieder ganz nach ‚jungem Liebhaber‘, aber einem, der sich sicher war, erhört zu werden.
Erschöpft wachte Rita auf, sie spürte das vertraute Ziehen an der linken Schläfe, den stechenden Schmerz über dem Auge, den hämmernden Druck hinter dem Ohr, die hochempfindliche Reizung des Trigeminusnervs. Auch das noch, bestimmt zwei Monate war sie von einem Migräneanfall verschont geblieben. Dafür kam er jetzt umso heftiger. Jede Bewegung tat ihr weh, sich nach ihren Schuhen zu bücken, kam einer Heldentat gleich. Missmutig ging sie ins Bad, noch war sie in der Phase der Rebellion, die sie trotz mannigfacher Erfahrung bisher nie hatte überspringen können.
Sie fühlte sich schlecht behandelt, empfand es als Ungerechtigkeit, nach all den Aufregungen und wochenlanger stressiger Arbeit nun im Urlaub diese Schmerzen aushalten zu müssen. Wenn der Anfall einmal richtig ausgebrochen war, tobte er sich in der Regel drei Tage und Nächte lang aus. Sie schluckte eine Migräne-Tablette und stieg unter die Dusche.
Nach einer Tasse Kaffee und einem Croissant ging Rita zur Kurverwaltung, die nur wenige Straßen entfernt lag. Hier erkundigte sie sich nach Wattführungen, musste standhaft das Unverständnis der älteren Dame hinter dem Schalter aushalten, die ihr lediglich die Termine der Duhner Führungen aufschrieb. Eindringlich erklärte Rita so höflich wie möglich, dass sie nur an einer Führung von Sahlenburg aus teilzunehmen gedenke.
