Das Lied des Wassers - Hedi Hummel - E-Book

Das Lied des Wassers E-Book

Hedi Hummel

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wasser erinnert sich an alles, mit dem es je in Berührung kam – es weiß vom Schilfgras der Uferböschung, den Steinen auf dem Grund des Flusses, von den Blütenblättern, die es als Regentropfen benetzte. Auch unsere Erinnerungen prägen unser Denken und Fühlen, unser ganzes Leben. Und es rächt sich, wenn man – wie Richard – versucht, vor der eigenen Vergangenheit zu fliehen. Die Suche nach der Sprache des Wassers führt Richard auf die Spur seines verschollenen Freundes und zurück zu sich selbst. Vielleicht auch zurück zu seiner großen Liebe, die ihn nie losgelassen hat …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine frühere Mainzer Literaturgruppe 95 – Hildegard Möller, Karina Brinkmann, Marlis Bertram, Monika Pampuch, Helga Weisse und Gisela Vandekerckhove– die mich beim Entstehen des Buches mit produktiver Kritik und Wohlwollen begleitet hat.Und für Birgit Brendel, mit der einfach alles „munter voran“ geht.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8438-2

Hedi HummelDas Lied des WassersRoman

Sei wie das Wasser, hatte Paul zu ihm gesagt, hab den Mut, du selbst zu sein! Halte nichts fest, gib allen von deiner Fülle. Und sollte dein Flussbett einmal versiegen, so verwandele dich in Regen oder Schnee. Kreuzt einmal ein Hindernis deinen Weg, sei geschmeidig und umfließe es. Doch höre niemals auf, anzufangen! Und folge einzig deiner Lebensmelodie … ob in leisen Tönen, maßvoll oder in brausenden Wogen – so wie das Lied des Wassers: unergründlich, geheimnisvoll und betörend schön.

PROLOG

In kalten, mondhellen Nächten ist im Oberwald bei Herbstein bisweilen ein wundersames Schauspiel zu beobachten: Es lösen sich Steine vom Grund eines kleinen Gebirgsbaches und tanzen auf der Oberfläche des Wassers.

Doch davon wusste Richard nichts, zumindest nicht in diesem Augenblick. Noch lag er in seinem Bett, war aber sofort hellwach, als er seinen Namen durch das halb offene Fenster rufen hörte, gedämpft, aber dennoch drängend. Auf der Straße stand Paul, sein Schulkamerad, und winkte ihm verschwörerisch zu. Er hatte tatsächlich ernst gemacht, freute sich Richard, während er in seine Hosen schlüpfte, sich im Vorbeigehen sein Taschenmesser und zwei Schokoladenriegel in die Jackentasche steckte und behutsam die Treppe seines Elternhauses hinunterschlich. Draußen begrüßten sich die Freunde mit Handschlag, wie sie es kürzlich in einem Film gesehen hatten. Sie liebten ihre heimlichen Streifzüge in aller Früh.

„Komm, lass‘ uns so schnell wie möglich von der Straße verschwinden!“

Das war übertriebene Vorsicht, fand Richard, denn es war nicht zu befürchten, dass seine Eltern sonntagmorgens um sieben schon wach sein würden. Sie betrieben den Gasthof „Zum goldenen Hirsch“, und die letzten Gäste waren gestern spät gegangen. Aber bei Paul war das anders, sein Vater spielte die Orgel in der St. Jakobuskirche und war oft geraume Zeit vor der Messe auf der Empore beschäftigt. Da war man vor Überraschungen niemals sicher.

Zustimmend nickte Richard: „Gut, wer zuerst an der Telefonzelle ist!“

Und beide rannten los. Außer Atem erreichten sie zur gleichen Zeit ihr Ziel. Hier zweigte von der Straße zum Nachbarort Blankenau der Seitenweg zum Oberwald ab. Doch sie blieben auf dem Weg zum nächsten Ort, und für Momente mussten sie staunend innehalten, denn das sanft abfallende Tal war von feinen Nebelschleiern bedeckt, und vereinzelte Bäume und Büsche hoben sich wie einsame Reiter von der milchig-bleichen Hügelkette ab. Man hatte den Eindruck, als schäle sich jeden Augenblick eine Armee Berittener aus dem weißen Dunst hervor und sprenge über das Grün der Wiesen, das schon der Sonne entgegenleuchtete. Während Paul noch ergriffen schwieg, stürmte Richard plötzlich über das feuchte Gras, hob unterwegs einen abgebrochenen Zweig auf, schwenkte ihn wie ein Schwertkämpfer hin und her und schrie wilde Laute in den neuen Tag. Das hatte etwas Gewaltsames, aber auch Kraftvolles, und Paul war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Aber die Vögel schienen Richard zu applaudieren, denn sie stimmten ihren zweiten Morgengesang an, der so fröhlich und zuversichtlich klang, dass Paul nicht anders konnte, als dem Freund hinterherzurennen. Erst beim Steinkreuz machten sie Halt, aber da hatte Richard bereits die Lust am Ritterspiel verloren, warf den Stock weg und sah den Freund fragend an: „In den Wald?“ Und als Paul nickte, gingen sie nun doch in Richtung Oberwald.

Sie waren schon ein ganzes Stück bergauf gegangen. Immer schmaler wurden die Wege, immer dichter der Kiefernwald. Richard hob einen Tannenzweig vom Boden auf, rieb einige Nadeln zwischen den Fingern, er mochte diesen scharfen Geruch. Weihrauch des Waldes, dachte er plötzlich, hatte er das irgendwo gelesen oder war es Paul, der das gesagt hatte? Es würde zu der altklugen Art des Kantorssohns passen.

„Still“, raunte Paul, „hörst du das?“

Richard hörte nichts als das Rauschen der Baumwipfel.

„Komm“, Paul zog den Freund hinter sich her, sie wichen vom Weg ab und drangen tiefer in den Wald ein, in Gegenden, in denen sie noch nie gewesen waren. Da hörte auch Richard das leise Plätschern. „Ein Bach!“ Er spürte eine unbändige Freude, die er sich gar nicht erklären konnte.

Dann standen sie davor. Er war gar nicht so breit, dennoch floss er machtvoll dem Tal zu, die Ränder gesäumt mit Gräsern, Basaltgestein, weitverzweigten Bäumen. Ein schwebendes Blau, dazwischen weiße Schaumkronen, vereinzelt schimmernde Spiegel, wenn Sonnenlicht durch die Zweige brach. Ein Tosen und Strömen, ein Wirbeln und Strudeln und Gurgeln.

Richard wagte kaum, sich zu bewegen, er lächelte zu Paul hinüber, doch der war nicht mehr an seiner Seite. Erschrocken drehte er sich um. Da lag sein Freund auf einem kleinen Stück ebenen Waldbodens.

Sofort war er neben ihm: „Ist dir schlecht?“

Paul schüttelte den Kopf, streckte beide Arme aus und grub die Finger in den Boden: „Die Erde bebt.“

Richard wunderte sich, zweifelte an Pauls Verstand, aber vielleicht war es ja ein neues Spiel, und er legte sich auch auf den Boden. Zuerst fand er es kühl, dann breitete auch er langsam die Arme aus und fühlte sich wohler. Nur das Beben spürte er nicht.

„Paul?“

„Nicht reden, hörst du es?“

Jetzt war ihm doch unheimlich, so als wären sie in das geheime Reich einer fremden Macht eingedrungen, aber er hatte bisher noch jede Mutprobe bestanden. Also lauschte er … das Plätschern des Baches, Fliegengesumme beinahe penetrant, fernes Knistern, Vogelgezwitscher immer lauter und heller, ein Knacken, als trete jemand auf Äste. Er schreckte hoch, riss die Augen weit auf, war noch jemand hier? Er sah niemanden, konnte jedoch das Gefühl nicht abschütteln, als würden sie beobachtet.

„Das Gras, Richard.“

Richard starrte entgeistert auf das Grasbüschel zwischen ihnen. Es wiegte sich im Winde wie zu einer sanften Melodie. Je länger er hinschaute, desto seltsamer wurde ihm zumute, und er legte sich zurück, schloss die Augen. Die Fliegen surrten, der Bach rauschte, auch die niedrig hängenden Zweige; die Vögel waren auf einmal still. Da vernahm er gedämpft ein „ssst“ „dettdett“ – „ssst“ „ssst“ „dettdett“, er wollte die Augen öffnen, aber gleichzeitig auch nicht, so versank er in dem nie zuvor gehörten Ton und wusste, es war die Sprache des Grases. Und plötzlich begann alles um ihn herum zu leben, zu tönen. Die Bäume knarrten, die Ameisen prasselten durcheinander, selbst in den Steinen pochte vernehmlich ein basaltenes Herz, und über allem dröhnte die Sonne.

Das Rauschen des Wassers gewann die Oberhand, es hatte etwas Drängendes, beinahe Betörendes, fast war ihm, als höre er einen fernen Gesang, als riefe man seinen Namen – oder war es der Widerhall von Pauls Rufen heute in der Früh? Er ging zu dem Bach hinüber, kniete sich auf einen Stein und griff ins Wasser. Es umspielte seine Hand, zärtlicher, als ihn je die Mutter gestreichelt hatte. Solche Milde. Da fiel sein Messer aus der Jackentasche in den Bach. Tropfen spritzten in die Höhe, und auf der ruhigen Oberfläche bildete sich ein Strudel, kreisende, sanfte Wellenberge, die das kristallklare Wasser in weiche Falten legten. Wie ein sinkendes Frachtschiff sah Richard sein Taschenmesser dem Grund entgegentreiben. Je länger er schaute, umso mehr fühlte er sich von einem Sog ergriffen und in die Tiefe gezogen. Es kam ihm vor, als drehe sich der Strudel schneller und schneller wie eine pulsierende Wassersäule, die, aus mehreren Wassersträngen geflochten, wirbelnd um sich selbst rotierte. Das Wasser spritzte nach allen Seiten, und Richard glaubte, keine Tropfen mehr, eher Wolken zu sehen. Er hob den Blick, um nachzuprüfen, ob sich der Himmel im Wasser spiegle, aber die Sonne stach ihm in die Augen, und er hatte Mühe, etwas zu erkennen. Dann schaute er wieder in den Bach, doch der floss behände dahin, als habe er niemals anderes getan. Und Richard sah hinüber zu Paul, der lag im Gras und schlief und er … lag zu seinem Erstaunen neben ihm. Ob er wohl auch eingeschlafen war und alles nur geträumt hatte?

Aber das Messer war verschwunden!

KAPITEL 1

25 Jahre später.

Wiesbaden, 2019.

Richard schnürte den Gürtel des flauschigen Bademantels enger und strich genießerisch über den linken Ärmel. Die Frotteefasern schmiegten sich in seine Hand und verschafften ihm ein unerwartetes Wohlgefühl. Er betrachtete sich im Flurspiegel: Schwarz hatte ihm schon immer gestanden. Er lächelte zufrieden. Die dunklen, locker gewellten Haare zeigten noch keine silbernen Strähnen, und seine Augen versprühten etwas vergnügt Jungenhaftes, zumindest wenn er gute Laune hatte. Auf den ersten Blick wurde er oft für dreißig gehalten, obwohl er dem vierten Jahrzehnt schon bedenklich nahe kam. Heute erschreckte ihn diese Aussicht nicht.

„Gezogene Schlingen ziehen Sie bitte nicht heraus, sondern schneiden Sie ab.“ Aha, so einfach war das. Eine Gebrauchsanweisung nach seinem Geschmack. Natürlich war so ein Bademantel mit rot aufgesticktem Bullen und Bär albern, überlegte er, aber es war das Werbegeschenk für das Abonnement einer Börsenzeitung, flauschig und tailliert, und warum sollte er sich nicht daran freuen? Und er freute sich … auch über anderes … ganz anderes.

Richard durchquerte sein Zimmer – wollte eigentlich ins Bad –, konnte sich aber einen flüchtigen Blick auf die drei Bildschirme nicht verkneifen, auf denen sich verschiedene Börsenkurse und Charts ständig aktualisierten und Spruchbänder am unteren Rand des Monitors vorbeidefilierten. Er ließ sich für einen Moment auf seinen geliebten HAG-Stuhl fallen, tippte mit flinken Fingern etwas in die Tastatur und verschob eine Aktie in seine Schwarze Liste der hochvolatilen Zeitbomben. Er sah, wie der Kurs einer Aktie nach oben schoss, genau wie er es prognostiziert hatte.

„Yeah“, rief er aus, lachte zufrieden, stieß sich mit der Handkante vom Schreibtisch ab und rollte mit seinem Stuhl hinüber zur Musikwand. Hier griff er sich die Fernbedienung des Players, gab eine bestimmte Ziffernfolge ein, und in ohrenbetäubender Lautstärke ertönte der Achtzigerjahre-Hit „High Energy“. Er war gerade mal vier Jahre alt gewesen, als dieser Song überall im Radio gespielt wurde. Die Musik dieser Zeit war einfach der Wahnsinn, sie hatte genau den Drive, den er brauchte! Er atmete tief ein, schloss für einen Moment die Augen, stieß den Stuhl zur Seite und wirbelte durch das spärlich, aber funktional möblierte Appartement.

Er drehte sich in wilden Kreisen, schwenkte die Arme im Rhythmus der Musik, stampfte ein paarmal heftig auf, blieb dann abrupt stehen und überprüfte, wie schnell er sein Gleichgewicht wiederfand. Dann wählte er die Gipsy Kings und danach den „Sommer“ aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, zappte zum Ende des Stücks, bei dem sich alle Instrumente zu einem hämmernden Stakkato vereinten, warf sich tanzend in das Meer der Töne, glaubte, den Sommer fast zu riechen – da vibrierte sein Handy in der Tasche seines Bademantels.

„Richard Andernach.“

Man hörte seiner Stimme an, dass er gewohnt war, auf Entgegenkommen zu stoßen.

„Sag mal, Richard“, tönte ihm sein Kompagnon Ruppert entgegen, „wie lange willst du uns noch warten lassen! Es ist schon zwanzig Uhr vorbei! Ich bin mit Suri im ‚Havana‘. Kommst du noch?“

„Ist es schon so spät? Ich hab mich extra für euch schön gemacht! Gib mir zwanzig Minuten …“

*

„Tja, du weißt ja gar nicht, wen du hier sitzen hast, Suri“, erklärte Ruppert gönnerhaft seiner Freundin, als sie zu dritt auf der Empore des Wiesbadener „Havana“ an einem der Holztische saßen, „den neuen Medienprinzen persönlich!“

Wohlwollend tätschelte er Richards Schulter, „er hat es geschafft! Na ja, das Aussehen hat er ja sowieso“, sein Blick glitt anerkennend über Richards Statur und Kleidung, alles war comme il faut – schwarzes Jackett, teures Hemd, die beiden oberen Knöpfe offen, gut geschnittene Jeans – dennoch erweckte es den Eindruck des Lässigen.

Wegen seines ansprechenden Äußeren, des dunklen Haars und der braunen, immer zum Lachen bereiten Augen galt er als attraktiv, wenn man auch seinem Körper ansah, dass er kein Sportler war. Doch selbst das war nicht von Nachteil, denn man hatte den Eindruck, als verstehe er, gut zu leben, und man brauchte in seiner Gegenwart nicht ständig daran zu denken, dass man auf der Stelle ins Fitnessstudio gehöre. Zudem war Richard alt genug, um Vertrauen zu erwecken, und die Leute mochten ihn.

Suri, die Richard nun wirklich lange genug kannte, wartete auf die Pointe und trommelte auf ihrer Zigarettenschachtel herum, die natürlich wieder einmal die ultimativ letzte sein sollte. Dabei strich sie mit der anderen Hand die halblangen braunen Haare hinters Ohr und schaute spöttisch in die Runde.

Vor Ruppert stand noch ein Rio Plata, und Suri hielt es mal wieder mit Janis Joplin und trank Comfort Sour, Richard bestellte einen Mai Tai und Tapas.

„Jaja, schon gut“, nahm Ruppert den Faden wieder auf, „gönn mir die paar Minuten, wo unser Freund doch jetzt die Zuschauer zutexten darf. Jede Woche eine halbe Stunde, man hat ihm die Leitung von ,Börse am Samstag‘ angeboten, und unser Tausendsassa hat zugeschlagen.“

Da staunte auch Suri, und sie befürchtete, dass gleich wieder diese schrecklichen Gespräche über Aktien und Zertifikate, Hebel-und-wer-weiß-was-für-Geschäfte anfangen würden. Wenn ihr nicht schnell genug ein spannendes Thema einfiel, konnte man den Abend vergessen. Zu spät.

„Ich weiß gar nicht, wie ich die Sache anpacken werde“, reagierte Richard auf Rupperts offensichtliches Interesse, „der Titel muss weg, er darf nicht so bieder klingen.“

„Aber die Leute müssen schon noch erkennen, dass es dabei um Geld geht, das sich nach Möglichkeit durch deine Tipps verzehnfacht“, diese Aussicht stimmte ihn heiter, das musste begossen werden. Ruppert bestellte eine neue Runde Cocktails, obwohl Richard an seinem gerade mal genippt hatte.

„Ich zahle aber“, griff Richard gebieterisch ein, „das ist heute wirklich meine Sache!“

„Du zahlst immer“, meldete sich Suri wieder zu Wort, denn noch befanden sie sich auf einem Terrain, von dem aus man dem Gespräch eventuell eine andere Wendung geben konnte. Doch der Satz schien Richard zu verstimmen. Für einen Augenblick war er kein großer Junge mehr, sein Lächeln wirkte verkrampft, die passende Entgegnung fiel ihm nicht ein, aber sofort glätteten sich die Züge wieder, denn sein zukünftiger DAX-Bau nahm vor seinem geistigen Auge Gestalt an.

„Ich werde mich hauptsächlich auf die Nebenwerte stürzen, auch auf Pennystocks, und natürlich nehme ich auch mal einen DAX-Wert ins Depot …“

„Hm“, brummte Ruppert, „die meisten Leute setzen mehr auf Sicherheit und, wenn sie überhaupt noch was zum Anlegen haben, wollen sie sich nicht laufend drum kümmern. Ich würde mich vornehmlich auf den DAX-Bereich konzentrieren …“

Richard lächelte gönnerhaft: „Genau das werde ich nicht tun! Das ist doch langweilig. Man muss Träume in die Welt pflanzen, Fantasien sprießen lassen, dann werden auch die Gewinne sprudeln. Es geht doch nicht um den reellen Wert einer Aktie, das weißt du selbst am besten. Außerdem sind solche Zeiten wie geschaffen zum Spekulieren; wenn die Leute wirklich was auf der Bank haben, dann müssen sie Negativzinsen zahlen. Und wenn sie was erben, dann frisst die Steuer einen Großteil weg. Entweder man packt sein Erspartes tatsächlich wieder unter die Matratze, kauft sich Goldbarren oder aber …“, und er sah seine Freunde triumphierend an, „man pokert an der Börse!“

„Hast du dir mal die letzten Umfragen durchgelesen?“, konterte Ruppert, „immer noch lehnen viele Menschen das Spekulieren als ‚unmoralisch‘ ab. Gewinne zu machen, wenn Leute entlassen, Firmenteile abgestoßen, Führungskräfte ausgetauscht werden, da wollen viele einfach nicht ran. Und wen das nicht stört, der hat einfach Angst, was Falsches zu tun, laufend Entscheidungen treffen zu müssen und vielleicht mit einem Schlag alles zu verlieren. Sie haben die Pleite der Lehman Brothers noch zu gut im Gedächtnis. Oder guck dir nur mal das Auf und Ab bei Wirecard an. “

„,Kaufen Sie Aktien, nehmen Sie Schlaftabletten!‘, rät das nicht euer Kostolany?“, warf Suri ein. Schließlich wollte sie auch etwas zur Unterhaltung beitragen. Doch die beiden Männer beachteten sie gar nicht.

„Natürlich, weil niemand die Zusammenhänge versteht“, Richard zog nachsichtig die Stirn in Falten, „die werde ich den Leuten schon erklären, kurz und bündig, versteht sich, aber klar genug, damit alle glauben, mitreden zu können.“

Er sah Suri und Ruppert eindringlich an: „Diese Sendung ist die Chance, das Vertrauen der Zuschauer zu gewinnen, indem ich ihnen nicht nur sage: Das müsst ihr kaufen, und hier lasst ihr besser die Finger davon, sondern auch, warum das so ist, welcher Entwicklung wir vorgreifen oder wie wir sie vielleicht sogar mitgestalten können.“

„Du bist ein Träumer, Richard! Die Zeiten des Neuen Marktes sind vorbei! Keiner wird derzeit mehr über Nacht Millionär!“

„Ihr kennt doch die alte Börsenweisheit: Wer viel Geld hat, kann spekulieren, wer wenig hat, soll auf keinen Fall spekulieren, wer aber kaum etwas hat, der muss spekulieren!“

Ruppert schaute gelangweilt zur Decke und zuckte mit den Achseln.

Suri ärgerte sich; wenn sie Kostolany zitierte, interessierte das keinen Menschen. Richard aber durfte das einfach tun. Dennoch war sie ganz erfreut, dass es diesmal nicht nur um komplizierte Fakten ging, sondern um ein echtes Für und Wider, wozu sie schließlich auch eine Meinung hatte: „Wisst ihr, gestern wollte ich Schmorbraten machen …“

„Also wirklich, Schatz, das gehört ja nun nicht hierher!“, fiel ihr Ruppert ins Wort.

Sie blitzte ihren Freund beleidigt an, Richard aber schätzte Suris unkonventionelle Einfälle: „Lass sie doch mal ausreden, großer Bruder!“ Er spielte damit auf seine jahrelange freundschaftliche Zusammenarbeit mit Ruppert an, die sie trotz vieler Meinungsverschiedenheiten immer wieder zusammengeschweißt hatte.

„Ich brauchte Muskatnüsse, und was denkt ihr, was ich dafür bezahlt habe … 2,90 Euro für zwei Stück! Vor zwei Jahren kosteten drei Stück noch 1,80 Euro – im selben Geschäft!“

„In welchem Laden warst du denn da, auf der Wilhelmstraße?“, stöhnte Ruppert, „also, Maus, wirklich!“

„Daran, dass fast alles ständig teurer wird, hat man sich ja längst gewöhnt. Aber denk daran, es waren nur noch zwei Nüsse! Das ist geradezu inflationär!“

Ruppert sah Suri groß an, während Richard sich freute, von so unerwarteter Seite Zustimmung zu erhalten.

„Ich weiß genau, was du meinst, Suri, und du hast verdammt recht! Bald wird unser Gespartes gar nichts mehr wert sein, und außergewöhnliche Zeiten verlangen eben nach außergewöhnlichen Methoden, nach meiner zum Beispiel.“ Begeistert strahlte er sie an: „Darf ich das verwenden?“

„Geschenkt“, mit großzügiger Geste warf sie ihm eine Kusshand zu.

„Ihr spinnt ja beide“, ereiferte sich Ruppert und wandte sich seiner Freundin zu, „ich dachte immer, du hättest mehr drauf als platte Küchenphilosophie!“

Irritiert ob des scharfen Tonfalls griff Suri zur Zigarettenschachtel, überlegte es sich aber wieder anders und schenkte ihrem Allerliebsten einen majestätischen Augenaufschlag: „Nur gut, dass ich das weiß. Ab heute wird nicht mehr gekocht, du darfst mich dann immer in die ,Ente‘ einladen. Oder – welch ketzerischer Gedanke kommt mir da – vielleicht mal selbst den Kochlöffel in die Hand nehmen!“

Richard lachte still in sich hinein. Wenn man den beiden zuschaute, bekam man so richtig Lust aufs „Beziehungsleben“. Zum Glück hatte er immer die Finger davon gelassen. Suri zwinkerte ihm verschwörerisch zu, und ganz kurz flackerte wieder dieser verträumte Ausdruck in ihrem Blick auf, der ihm jedes Mal Angst machte. Schon kurz nachdem er sie kennengelernt hatte, war das losgegangen, und er hatte den Eindruck, wenn er nur ein klein wenig darauf einginge, wäre in Nullkommanichts seine Freundschaft mit Ruppert kaputt. Aber er machte sich nichts aus den Freundinnen anderer Männer und erst recht nichts aus einer gefühlvollen Suri, die ihm viel mehr imponierte, wenn sie herzerfrischend zynisch die Tatsachen des Lebens sezierte. Er zog die Augenbrauen nach oben, tat, als ob er nichts bemerkt hätte.

Doch Suri überraschte ihn immer wieder: „Ich arbeite derzeit an einer ganz abgefahrenen Videospiel-Idee, bei der ich endlich mal mein Designer-Studium gebrauchen kann, vielleicht kann ich dich dann noch öfter unterstützen.“

Er vergaß immer wieder, dass Suri eine exzellente Grafikerin war und eben nicht, wie Ruppert und er, die Inhalte ihrer Arbeit laufend herumposaunte.

„Nur zu, daran bin ich immer interessiert!“, er zwinkerte ihr zu. Richard schaute auf seine Uhr und dann entschuldigend in die Runde: „Oh, Leute, ich glaube, ich muss echt los. Ich darf gar nicht dran denken, was mich morgen erwartet.“ Im Aufstehen winkte er die Bedienung heran: „Alles zusammen, bitte!“

Ruppert und Suri erhoben keinen Einspruch mehr.

*

Es war ein inspirierender Abend gewesen. Angeregt ging Richard zu Hause noch einige Stapel mit Unterlagen durch, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Irgendetwas hatte ihm die Laune verdorben, als habe er sich einen Holzsplitter ins Fleisch getrieben, ohne zu wissen, wo das passiert war. Er dachte an Ruppert, ihr Gespräch, an Suri. Ja, Suri – mit ihr hatte es zu tun! Richtig, sie hatte eine spitze Bemerkung gemacht und gesagt, dass er immer bezahle, und irgendwie hatte ihn das verärgert. Was für eine übertriebene Reaktion. Sie hatte es doch bestimmt nicht böse gemeint. Und außerdem, so ein Quatsch.

Er versuchte das Gefühl abzuschütteln, stürzte sich auf einen Bericht über den Aufwärtstrend asiatischer Aktien, studierte die Charts – und auf einmal erschien ihm seine Wohnung sonderbar leer, obwohl ihm die Weite der Räume sonst immer gefallen hatte. Er durchschritt das Wohnzimmer und empfand den Hall seiner Schritte als beklemmend. Als hätte er nichts anderes zu bieten als Geld, ärgerte er sich. Irgendwie gelang es ihm nicht, Suris Spruch einfach wegzuwischen. Hatte er es eigentlich je geschafft, einfach etwas anzunehmen, ohne sofort dafür zu bezahlen? Nein, das hatte er nicht, musste er sich eingestehen, aber das war ja auch richtig so, setzte er aufmüpfig hinzu. Was für ein schreckliches Gefühl, jemandem etwas schuldig zu bleiben! Bei dem Wort „schuldig“ war ihm unbehaglich zumute, was sollte das denn jetzt?

Er musste sich hinsetzen, den ziellosen Gang durch die Wohnung unterbrechen. Warum war er bei dem Thema Geld und Bezahlen so empfindlich? Er versuchte in sich zu gehen, aber da war eine Wand, die er nicht überwinden konnte … doch er spürte, dass sie immer brüchiger wurde und kurz davor war zu zerbrechen!

Da fiel ihm die Zeitung ins Auge, die er gesucht hatte, und alles war wieder im Lot.

*

Es war ihm nicht gelungen, den Chefredakteur Eckardt für einen neuen Namen der „Börse am Samstag“ zu begeistern. Denn man verzichtete nicht ohne plausiblen Grund auf eine gut eingeführte Marke, an die sich die Zuschauer bereits gewöhnt hatten. Widerwillig musste ihm Richard recht geben.

Bereits nach drei Folgen war die Einschaltquote nach oben geschnellt, und die Börsentipps waren zu einer beliebten, auch in Fachkreisen geschätzten Sendung geworden. Man erwog bereits, ihm einen zweiten Termin am Mittwoch zu geben, was Richard vehement ablehnte. Er war doch nicht verrückt und würde sich sein Konzept verwässern: Alle sollten sie am Samstag vor dem Fernsehapparat sitzen und nicht denken, am Mittwoch kriege ich bestimmt auch noch das Wichtigste mit. Selbst gegen eine Wiederholung am Sonntag früh wehrte er sich, bisher jedoch ohne Erfolg.

Richard hatte eine charismatische Wirkung auf das Publikum, denn er verband Sachwissen mit selbstverständlicher Menschlichkeit. Und gerade solche volkstümlichen Bemerkungen wie die von Suri kamen gut an. Hätte das zu Hause die Ehefrau gesagt, niemand hätte es ernst genommen, aber aus seinem Munde wirkte es welterfahren und regte zum Nachdenken an.

Schon nach wenigen Monaten war Richard Andernach zum beliebtesten Börsenspezialisten avanciert. Jede Aktie, die er in seiner Sendung empfahl, stieg, und wenn er von etwas abriet oder einen Wert aus seinem Depot nahm, stürzte die Aktie ab. Er präsentierte eine gute Mischung aus DAX- und Nebenwerten, auch wagte er sich hin und wieder an Nanotech-Aktien heran.

Von der Wirtschaft hofiert, vom Publikum umjubelt, war Richards Leben ausgefüllter denn je. Hier winkte eine Beratertätigkeit, dort ein Fernsehauftritt oder ein Seminar, und täglich erhielt er Berge von Zuschriften, die er immer noch selbst beantwortete. Aber die meiste Zeit nahmen seine Recherchen in Anspruch, denn nichts war wichtiger, als up to date zu sein, besser gesagt, die Nase immer ein Stück weiter vorne zu haben als die anderen. Er war ganz in seinem Element, und tatsächlich hatten die Schritte in seinem Appartement seither nicht mehr hohl und unheimlich geklungen.

*

Dann passierte etwas Unvorhergesehenes, von dem später viele behaupteten, sie hätten es längst kommen sehen.

Suri hatte Richard in der Kirchgasse entdeckt, was eine solche Seltenheit war, dass er nicht um ein Stück der legendären Haustorte im Café „Maldaner“ herumkam.

„Was machst du denn in der Einkaufszone? Ich denke, du hasst Shopping!“ Voller Genuss ließ sich Suri dieses kunstvolle Gemisch aus Vanille, Schokomousse und Marzipan schmecken.

Unschlüssig rührte Richard in seinem Cappuccino, betrachtete skeptisch das nicht angerührte Stück Kuchen auf dem Teller und noch skeptischer sein Gegenüber.

„Suri, vielleicht hab ich mich geirrt.“

Erschrocken sah sie ihn an. Selbstzweifel gab es nicht in seinem Leben, bisher zumindest.

„Schaust du dir meine Sendungen an?“, begann er vorsichtig.

„Klar, Richard – ich verpasse keine einzige …“

„Ich hab doch die Aktie von Microstar empfohlen, und sie ist mittlerweile sagenhafte zweiundvierzig Prozent gestiegen!“

Sie nickte anerkennend.

„Nun“, mit zerquältem Gesichtsausdruck brachte er endlich hervor, „sie wird morgen ins Bodenlose fallen!“

Sie schaute ihn groß an, wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fand es nicht so schlimm, wenn einmal eine Aktie fiel, die er empfohlen hatte.

„Microstar produziert Nano-Batterien, und irgendwie scheinen sie bei der Herstellung mit einem Stoff in Berührung gekommen zu sein, der ihre Schutzhüllen aufgelöst hat. Was weiß ich, wie so was passieren konnte, auf jeden Fall kriegen sie die Dämpfe nicht mehr weg.“ Er schwieg, überlegte, ob er noch mehr sagen sollte, und fuhr dann fort: „Das ist wohl schon ein paar Tage her, Rattersford hat mich gerade angerufen, sie können es nicht mehr geheim halten, das Gebiet um die Fertigungshallen in Florida ist verseucht. Morgen wird es in den Zeitungen stehen.“

„Das ist ja schrecklich!“ Suri war bleich geworden.

„Rattersford hat sogar angedeutet, dass man versucht habe, die neueste Produktgeneration schneller auf den Markt zu bringen, und deshalb wohl ein paar Testphasen übersprungen habe. Kannst du dir das vorstellen?“

Jetzt verstand sie das ganze Ausmaß. Er hatte sich nicht nur in der Einschätzung eines Unternehmens geirrt, er hatte die Hersteller von Microstar vielleicht sogar dazu verleitet, schludrig zu arbeiten, um den durch ihn künstlich in die Höhe getriebenen Aktienkurs zu rechtfertigen.

„Richard, das ist wirklich schlimm!“ Sie fing seinen enttäuschten Blick auf. „Nicht dass du schuld daran bist … es ist ein unglückliches Zusammentreffen …“ Sie wollte ihm so gerne helfen, wusste aber nicht, wie. Am liebsten hätte sie ihn einfach in den Arm genommen, aber so steif und unnahbar, wie er dasaß, war das unmöglich. Sie wunderte sich ohnehin, dass seine übliche Lockerheit mit einem Schlag verschwunden war, und plötzlich bezweifelte sie, ob diese denn wirklich echt gewesen war.

„Sie werden es an mir auslassen, Suri, mir vorwerfen, ich hätte nicht genügend Informationen eingeholt. Vielleicht verliere ich sogar die Sendung.“

Das war es also. Suri konnte es nicht fassen. Die Umweltzerstörung interessierte ihn gar nicht! Er hatte Angst um seine Karriere, um seine erbärmliche eigene Haut. Sie hielt es nicht mehr aus in seiner Nähe. Sie stand auf, strich ihm bedauernd übers Haar und schüttelte den Kopf: „Sell in May und go away!“ Und weg war sie.

Richard starrte ihr ungläubig hinterher. Was war denn das jetzt?

Wenn ihn selbst seine Freunde im Stich ließen, war seine Lage hoffnungsloser, als er angenommen hatte. Was wollte sie ihm mit diesem Allerwelts-Börsenspruch sagen? Zurzeit war Mai, das stimmte, aber …

Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, Suri, Suri – du bist genial!

Und vergessen waren die Dämpfe und die verseuchten Gebiete.

Er bestellte einen Espresso, machte sich ein paar Notizen auf der Serviette und rief seinen Chefredakteur an.

„Eckardt, hier ist Richard Andernach. Du, es ist etwas Katastrophales passiert, aber für unsere Sendung gäbe es eine Lösung.“

*

Am Wochenende erwartete man mit Spannung die „Börse am Samstag“. Die Microstar-Aktien waren total abgestürzt, und die Firma hatte eine vernichtende Presse bekommen. Richard ließ man noch weitgehend ungeschoren, aber es kündigten sich hier und da bereits kritische Töne an.

Nachdem die Anfangsmusik verklungen war, stand Richard Andernach in einem nüchternen, schlichten Raum, steckte in seinem dunklen Anzug, hatte – wie zumeist – auf eine Krawatte verzichtet und schaute zu Boden. Die Kamera schwenkte auf sein Gesicht, dem man die durchwachten Nächte ansah. Er blickte die Zuschauer direkt an.

„Verehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Kollegen … ich muss Sie um Entschuldigung bitten … ich habe Ihnen versprochen, dass ich Ihnen bei der Verdopplung Ihres Vermögens helfe, und es ließ sich ja auch alles gut an. Aber ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe nicht bedacht, dass ich durch meine Börsentipps eventuell auch Schaden anrichten könnte. Einen größeren Schaden als nur ein Minus auf dem Bankkonto. Verzeihen Sie das ,nur‘, aber wichtiger als unser finanzieller Gewinn ist ja mit Sicherheit das Leben, die Natur, unsere Gesundheit. Vor vier Wochen habe ich die Aktie von Microstar empfohlen. Und Sie sind meiner Empfehlung gefolgt.“ Er seufzte tief, überwand sich und sprach weiter.

„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen! Aber leider war es nicht gerechtfertigt. Felsenfest war ich von der Güte der hergestellten Produkte überzeugt, habe mich mit Vertretern der Geschäftsleitung getroffen, sämtliche Zahlen studiert, aber … Sie haben es sicherlich schon in den Nachrichten gehört. Die neue Batterien-Generation war noch nicht ausgereift, irgendetwas ist beim Produktionsstart schiefgelaufen, giftige Dämpfe wurden freigesetzt, und das Umweltproblem ist leider auch jetzt noch nicht behoben.“

Schmerzlich verzog er das Gesicht.

„Sicher könnte ich sagen, fürchterliche Geschichte, das konnte man nicht voraussehen, solche Unfälle kommen eben vor. Aber mit Entsetzen wurde mir klar, dass gerade der schwindelerregende Aktienkurs, der auch durch meine Empfehlung ausgelöst wurde, vielleicht mit daran schuld war, dass die Firmenleitung von Microstar die Produktion zu schnell hochgefahren hat, vielleicht nicht jeden Test oft genug wiederholt hat. Ich will nicht sagen, dass hier fahrlässig gearbeitet wurde, aber man hat sich einfach beeilt, aus unseren Kursfantasien Tatsachen zu machen. Daran gebe ich mir die Schuld! Und natürlich auch daran, dass Sie alle viel Geld verloren haben!“

Wie ein Schuljunge stand er da, der den Eltern beichtete, dass er gerade eine Fensterscheibe zerschlagen hatte.

„Nun ist es aber passiert und nicht mehr rückgängig zu machen. Man muss aus seinen Fehlern lernen, und ich bin dabei, es zu tun. Ich habe nicht vor, mich von der Börse zu distanzieren. Ich habe eine andere Entscheidung getroffen. In Zukunft möchte ich nur noch in Aktien und Fonds investieren, die ich auch nach sozialen, ethischen und ökologischen Gesichtspunkten persönlich gutheißen kann! Das heißt im Klartext, unsere Sendung wird ein neues Gesicht erhalten! Es werden ausschließlich grüne Werte vorgestellt, zum Beispiel Solar- und Wasseraktien, wir werden in erneuerbare Energien investieren! Das liegt zwar schon eine Weile im Trend, aber gerade weil überall nachhaltige Unternehmen aus dem Boden schießen, die auf Zuschüsse und Unterstützungen spekulieren, gerade deshalb werde ich genau hinsehen! Mir genau die Firmen, ihre Philosophie und Ratings ansehen, aber auch den Politikern aufs Maul schauen und ihre Lippenbekenntnisse hinterfragen!

Deshalb wird es nun – in voller Übereinstimmung mit der Geschäftsleitung – drei Monate lang keine ,Börse am Samstag‘ geben. Wir folgen dem weisen Börsenspruch: ,Sell in May and go away‘, der die Flaute in den Sommer-Urlaubswochen zu einer Regenerierung der Kräfte nutzt. Und genau das werde auch ich tun. Auch ich werde verreisen, aber nicht in die Ferien, sondern ich werde in Deutschland, Europa und überall nach den besten und gleichzeitig moralisch integren, nachhaltigen Aktien suchen. Ich werde sie für uns suchen, liebes Publikum, und endlich damit Schluss machen, dass die Leute, die sich nie mit der Börse beschäftigt haben, verächtlich auf uns herabschauen, weil sie meinen, wir würden uns daran bereichern, dass Menschen entlassen, Firmen geschlossen werden müssen. Das ist jetzt vorbei! Im September werde ich Ihnen Ethik-Aktien präsentieren. Wir werden mit unserem Kauf eine gute Sache unterstützen und damit trotzdem Geld verdienen, und das mit einem ruhigen Gewissen!

Denken Sie bitte nicht, ich würde Sie jetzt mit den bisher empfohlenen Aktien allein lassen. Die drei Monate hindurch werden Sie auf unseren Internetseiten und im Bildschirmtext zu allen hier besprochenen Werten die neuesten Entwicklungen und Verhaltenstipps nachlesen können.

Ich hoffe sehr, dass Sie mir auch weiterhin treu bleiben, und freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen im September hier bei der neuen ,Börse am Sonntag‘!“

*

Während die Internetadresse und die Angaben zum Bildschirmtext auf dem Fernsehschirm eingeblendet wurden, stand Ruppert, der sich die Sendung mit Suri von zu Hause aus angesehen hatte, auf und schaltete den Apparat aus.

„Mein Gott, er hat ja wirklich Mut, und er wird es wieder schaffen, das garantiere ich dir!“

Suri schaute ihren Freund forschend an.

„Er meint es nicht ernst, Ruppert. Er lügt das Blaue vom Himmel, nur um sich beim Publikum lieb Kind zu machen und aus dem Schlamassel rauszukommen.“

Ruppert lächelte sie spöttisch an: „Das war doch ein genialer Schachzug, man bewirft sich selbst mit Schmutz, bevor es die anderen tun, zeigt Gewissen und Verantwortung und verspricht Besserung. Einfach fantastisch! Natürlich meint er es nicht ernst, Ethik-Aktien, dass ich nicht lache, aber wart es ab, auch die macht er noch salonfähig!“

Suri lief es kalt über den Rücken, wo war sie hier eigentlich hingeraten? Die Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, als sie daran dachte, wer Richard auch noch das Stichwort für seine scheinbare Wandlung geliefert hatte. Noch wusste sie allerdings nicht, dass Richards Welt durch diesen Börsenskandal auf ganz andere Weise erschüttert werden würde, als er im Moment annahm …

KAPITEL 2

Richard Andernach stand hoch im Kurs. Seine „Beichte“ war gut angekommen, Teile davon wurden in den Börsenblättern abgedruckt, er bekam sogar zwei Titelgeschichten. Man hatte ihm jedes Wort geglaubt, und die, die es nicht taten, sagten es nicht, weil das momentan unpopulär war. Nach seinem Schuldeingeständnis liebte man ihn nur noch mehr. Vorher war er der eloquente Börsenspezialist, jetzt war er zudem ein ernst zu nehmender Mensch, der auch einmal Fehler machte und nicht zu arrogant war, sie zuzugeben. Aber vor allem war er nun ein Mann mit einer Vision. Richard hatte eine Bewegung aufgegriffen, die zwar längst en vogue war, an die sich jedoch niemand in dieser Ausschließlichkeit herangetraut hatte.

Es gab sogar Angebote führender Zeitschriften, ihn bei seiner Suche nach Ethik-Werten zu begleiten und das Resultat als Fotoreportage in Fortsetzungen zu veröffentlichen. Man hatte sich schon alles wundervoll ausgemalt, Richard vor pittoreskem Hintergrund – einem Wasserfall, einer knorrigen Eiche, einer Solaranlage – mit blumigem Text und knallharten Fakten über die jeweilige Firma. Richard im Gespräch mit Vertreten von „Fridays for Future“, vielleicht gar mit Greta. Aber Richard zierte sich.

Eckardt wunderte sich, dass Richard, der erst so scharf auf den Medienrummel gewesen war, nun einen Rückzieher zu machen schien: „Du darfst nicht für drei Monate von der Bildfläche verschwinden!“

„Werde ich auch nicht“, Richard war es müde, die gleiche Sache immer wieder zu erklären, „aber es muss eine Weile Ruhe sein. Nicht so lange, dass man mich vergisst, da hast du völlig recht, aber ich muss wirklich Zeit haben zu recherchieren. Es ist immerhin ein ganz neues Gebiet, und ich muss erst überprüfen, ob das wirklich alles rentabel und hieb- und stichfest ist. Vielleicht bin ich einen ganzen Monat einfach nur im Internet und reise dann wochenlang von hier nach da.“

Sein Chefredakteur sah ihn zweifelnd an – hatte Richard durch die Microstar-Geschichte tatsächlich Federn gelassen? Dafür sprach auch, wie ihm seine Sekretärin erzählt hatte, dass Richard seinen schwarzen Maserati zu Schrott gefahren hatte. Er war doch immer ein so sicherer Fahrer gewesen. Hatte ihn die Sache wirklich so durcheinandergebracht?

„Sag mal, du bist dir doch sicher, dass das funktioniert, ja? Komm nur nicht nach sechs Wochen und sage, wir lassen das Ganze! Dann bist du weg vom Fenster, das ist dir doch klar, eine ganz normale ,Börse am Samstag‘ wird es nicht mehr geben, zumindest nicht für dich!“

Das war deutlich. Aber Richard hatte keine Angst, er glaubte an sich und seine Fähigkeiten, nur wollte er endlich in Ruhe gelassen werden. Und sich auf sein Konzept konzentrieren.

„Du weißt doch, dass ich ein Eigenbrötler bin. Und … hat es sich nicht immer ausgezahlt für dich? Ich habe keine Lust, meinen Arbeitsrhythmus zu ändern, nur weil sich irgendein Journalist profilieren will. Vertrau mir, Eckardt!“

Sie saßen sich gegenüber, schauten sich an, beide hielten dem Blick des anderen stand.

„Okay, kleines Zugeständnis. Nach einem Monat trete ich an die Presse heran und gebe einen ersten Ausblick. Meine Bedingung ist, die Zeitung darf ich mir aussuchen.“

Eckardt nickte zufrieden, damit konnte er leben. Er griff zur Sektflasche, schenkte beiden ein.

„Darauf stoßen wir an“, er grinste übers ganze Gesicht, „nicht dass du mir als Waldschrat zurückkommst … allerdings so eine leicht bekleidete Eingeborene an deiner Seite, die ließe ich mir schon gefallen!“

Richard lächelte säuerlich. Und Eckardt dachte, dass diese Reaktion ganz zu dem passte, was man sich über ihn erzählte. Er galt als Einzelgänger, gewährte niemandem Einblick in sein Privatleben, und er wurde – wenn überhaupt – nie länger als ein paar Tage mit einer Freundin gesehen. Wonach er sich wirklich sehnte – ob nach Frauen, Männern oder wer-weiß-was – das hatte bisher noch niemand herausgefunden.

*

Endlich allein! Der Skandal um Microstar hatte ihn doch mehr Kraft gekostet, als er zugeben wollte. Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn davon, dass es da tatsächlich einen grauen Schimmer um die Mundwinkel herum gab. Das musste wieder anders werden!

Er zog den Ärmel seines Hemdes ein Stück weiter nach unten, damit er die Schürfwunde am linken Arm bedeckte, die er sich bei dem Unfall mit seinem Wagen zugezogen hatte. Der Maserati war hin, aber zum Glück war weder er noch jemand anders ernsthaft zu Schaden gekommen. Das beruhigte ihn. Er verstand es zwar gut zu verdrängen, aber sein Gewissen regte sich durchaus, wenn er an die verseuchten Gebiete dachte und an all die zunichte gemachten Hoffnungen der Anleger.

Jetzt, da er kein Auto mehr hatte, war seine Wohnung wirklich wieder zu seiner Höhle geworden, nicht dass er sich noch zum „Bären“ – der auf fallende Kurse setzt – entwickelte, dachte er lächelnd.

Er brauchte jetzt eine Seelendusche, und die fand er im CD-Regal: Salsa, Samba, Merengue! Und die Musik ergoss sich wie ein Gewitterregen über ihn, fuhr ihm durchs Haar, versengte seine Haut, stürzte auf seinen Körper nieder. Er schloss die Augen und atmete die Töne ein. Und alles fiel ab von ihm: die Angst der letzten Tage, die Verkrampfung, das schlechte Gewissen, die Erschöpfung! Man sollte ihm den Menschen zeigen, der von solchen Klängen unberührt blieb und den sie nicht zu den wildesten Bewegungen verlockten. Nach einer halben Stunde fühlte er sich wie ein neuer Mensch.

Er holte sich in der Küche ein Wasser, trank die halbe Flasche in einem Zug leer, inspizierte den Kühlschrank, entdeckte eine Bio-Käsecreme – das passte, sie wurde auf zwei Brotscheiben verteilt. Und zurück gings ins Wohnzimmer an den PC.

Hier gab er die Begriffe „Ethik-Aktie“, dann „Bio-Aktie“, „Nachhaltigkeit“, „grüne Werte“, „Aktie für erneuerbare Energien“ ins Suchsystem ein. Er surfte von hier nach da, las, druckte aus, tippte mehr als einmal auf „Kontakt“, verschickte Mails. Er ließ sich in die Welten der Windkraft und des blauen Goldes Wasser treiben und entdeckte auch viel Kurioses – doch zu seiner eigenen Überraschung machte es ihm Spaß. Es war einfach ein Wahnsinnsgefühl, an einer neuen Aufgabe zu arbeiten, es belebte und erfrischte ihn, es trieb seinen Adrenalinpegel in die Höhe.

Für den Anfang würde er gar nicht weit reisen müssen. Er war schon immer dafür gewesen, den deutschen Aktien den Vorrang zu geben. Also würde er bei Wind- oder Solaraktien beginnen. Da stieß er im Internet auf den Artikel: Wasser, das Öl des 21. Jahrhunderts! Hier fand sich allerlei Wissenswertes über Wasseraktien, -fonds und -zertifikate. Er konnte gar nicht aufhören zu lesen, holte sich immer mehr Zusatzinfos, war von der Materie fasziniert.

Dass er darauf nicht früher gekommen war! Natürlich hatten die Verfasser recht, der Erdölpreis hatte große Auswirkungen auf bestimmte Marktsegmente und Branchen und somit auch auf den Börsentrend, aber Öl war im Gegensatz zum Wasser im Überfluss vorhanden. Wasser hingegen war wirklich knapp! Natürlich klang das erst einmal seltsam, da es doch siebzig Prozent der Erdoberfläche ausmachte. Aber nur ganze drei Prozent davon entfielen auf das lebensnotwendige Süßwasser! Den Rest fand man in den Ozeanen, und dieser Rest war salzig. Aber selbst von den drei Prozent Süßwasser war der Löwenanteil in den Polarkappen gebunden, sodass man das tatsächlich verfügbare Trinkwasser auf weniger als ein Prozent veranschlagte. Und mahnende Stimmen wurden nicht müde zu behaupten, zwei Drittel hiervon seien bereits verschmutzt. Richard wurde ganz mulmig zumute und hatte auf einmal einen ganz trockenen Mund.

Im Groben hatte er schon gewusst, dass die Wasservorräte bedroht waren, doch dass es derart schlimm stand, hatte er sich nicht klargemacht. Er blätterte einige Artikel durch und machte sich Notizen: Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland circa 123 Liter pro Tag, allerhöchstens zwei Liter davon wurden getrunken, der Rest wurde zum Kochen, Geschirr spülen, Baden benötigt. Du meine Güte, um eine Badewanne zu füllen, brauchte es 150 Liter Wasser oder gar noch mehr. Und eine zehnminütige Dusche verbrauchte genauso viel. Unvorstellbar! Der größte Wasserverbraucher sei die Landwirtschaft – um ein Kilogramm Äpfel zu ernten, benötige man 700 Liter, für ein Kilogramm Rindfleisch 15.400 Liter, und der Spitzenreiter Kakao verbrauchte pro Kilo sogar 27.000 Liter. Bis wir eine Tasse Kaffee genießen können, werden 140 Liter Wasser für Anbau und Verarbeitung der Bohnen verbraucht. Der Wasserverbrauch bei Gemüse schien da noch am geringsten auszufallen, Tomaten galten mit 110 Litern pro Kilogramm als sparsamstes Lebensmittel. Das durfte doch nicht wahr sein! Richard schlug die letzte Seite auf, felsenfest davon überzeugt, an den Bericht einer Umweltgruppe geraten zu sein. Aber nein, es waren Auszüge aus einem Buch eines renommierten Verlages. 1280 Liter für die Fertigung eines Smartphones, aber stolze 300.000 bis 400.000 Liter für die Herstellung eines einzigen Autos! Er kam sich vor wie in einer Science-Fiction-Story, das sollte wohl alles ein Scherz sein. Aber der Autor schien es todernst zu meinen. Okay, das prüfe ich nach, nahm Richard sich vor.

Er ging aufgeregt im Zimmer hin und her. Wenn das tatsächlich stimmte, überlegte er, dann sitzen wir wirklich bald auf dem Trockenen. Ihm war klar, dass Deutschland zu den privilegierten Ländern gehörte, die noch verschwenderisch und gedankenlos den Wasserhahn aufdrehen konnten. Er zwang sich, auch die Zahlen der Weltbevölkerung zu überfliegen: Von 7,71 Milliarden Erdbewohnern haben über zwei Milliarden keine sichere Trinkwasserversorgung und doppelt so viele keinen Zugang zu einer Toilette. Über 780.000 Menschen verlieren jährlich ihr Leben durch verunreinigtes Wasser, und in den Entwicklungsländern stirbt alle fünfzehn Sekunden ein Kind an Durchfällen, zumeist verursacht durch verschmutztes Wasser.1 Er konnte nicht weiterlesen, das verkraftete er jetzt nicht.

Zum Glück fiel sein Blick auf eine fett gedruckte Überschrift „In H2O – gut investiert“. Richtig, darum ging es ja eigentlich. Für einen Augenblick hatte er tatsächlich den Grund seiner Recherche vergessen. Ein bekannter Fondsmanager sprach von mehreren Segmenten der Investitionsmöglichkeiten: in die der Wasserversorger, Wasseraufbereitung, Entsalzungsanlagen sowie in Firmen, die Modelle für Sparprogramme in Industrie und Alltag entwickelten oder in Wasser schonende Produktionsverfahren in der Landwirtschaft. Das war doch nicht möglich! Auch hier wurde behauptet, siebzig Prozent der Wasservorräte würden verbraucht, um Lebensmittel herzustellen. Darum musste er sich kümmern, das wollte er mit eigenen Augen sehen.

Er griff sich einen Stapel der ausgedruckten Tabellen, setzte sich wieder an den PC und legte ein Musterdepot an. Er gab sämtliche Wasserwerte ein, auf die er bei seiner Suche gestoßen war – deutsche wie ausländische. Dieses Depot würde er jetzt erst einmal zwei Wochen lang beobachten.

Er atmete tief durch, es war weit nach Mitternacht, aber er hatte Berge von Arbeit bewältigt. An Schlaf war nicht zu denken, dazu war er viel zu aufgewühlt. Seine Konzentrationsfähigkeit hatte nachgelassen, doch er genoss diesen Zustand angenehmer Erschöpfung. Jetzt fiel ihm die Stille im Raum auf. Selten hielt er es so lange aus ohne Musik. Er stöberte in seinem CD-Regal, wusste gar nicht, was er hören wollte, heute musste es etwas anderes sein als sonst. Im untersten Fach bewahrte er die ausrangierte Musik auf, er griff wahllos nach einer CD. Auf dem Cover war ein dichter Wald abgebildet, es war Meditationsmusik, das Geschenk einer Praktikantin. Er hatte die CD nie angehört, also warum nicht jetzt?

Er machte es sich auf dem Sofa bequem und dämpfte das Licht. Die Musik war genau so, wie er sie sich vorgestellt hatte, nichtssagend, aber beruhigend. Doch dann bekamen die Töne etwas Schwebendes, Wagners „Waldweben“ fiel ihm als Vergleich ein. Und plötzlich plätscherte leise ein Bach. Es traf ihn so unvermittelt, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er schloss die Augen, das Wasser rauschte, eine geheimnisvolle Melodie umspielte die Tropfen. Was war das? Warum wurde er so traurig, was er hörte, war doch eigentlich wunderschön? Es war so vertraut, so … nah.

Hatte er die CD vielleicht doch schon gehört? Er sah sich das Bild genauer an – nein, ganz bestimmt nicht. Aber dieser Wald, die Bäume und Sträucher, die sich im Wind wiegten, der silbrig glänzende Bach – Herbstein, der Oberwald, der Gebirgsbach, Paul … sein Schulfreund Paul.

*

Er wollte nicht an ihn denken, alles in ihm wehrte sich dagegen. Nein, er konnte es nicht ertragen! Dennoch tauchte Pauls Gesicht vor ihm auf, die klaren, blauen Augen, bei denen man immer den Eindruck hatte, sie gehörten einem wesentlich älteren, erfahreneren Menschen, das blonde Haar, dieses Lächeln, das mitten ins Herz traf, so voller Vertrauen, so … Abrupt sprang er auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Er wollte sich ablenken, sein Blick suchte Halt an den Bücherregalen, an der matten Oberfläche einiger Kunstdrucke, doch nichts von dem, was er sah, konnte ihm weiterhelfen. Entsetzen packte ihn, er lebte im Nichts, alles war belanglos, nichts reichte über eine bestimmte Grenze hinaus. Er fasste verschiedene Gegenstände an, strich über den Stoff seiner Jacketts, die auf einer silbern glänzenden Kleiderstange aufgereiht hingen, er empfand nichts, er betrachtete den Schreibtisch, die Börsenzeitungen, all die Papiere über Umweltaktien, die ihn eben noch so begeistert hatten, im Grunde waren sie wertlos.

Ich bin krank, dachte Richard, ich hab einen Burn-out, morgen gehe ich zum Arzt, dann kommt alles wieder ins Lot. Er blieb vor seiner Musikanlage stehen, hier war etwas halbwegs Brauchbares, das fühlte er, etwas, das ihn noch erreichte. Er griff nach einer Klassik-CD, dabei fiel die Hülle der Meditationsmusik zu Boden, er starrte aufs Cover.

Die Musik und dieses verdammte Bild, sie waren schuld an seinem Zustand! Er spürte, wie Wut in ihm hochstieg, und plötzlich konnte er sich nicht mehr beherrschen und zerstampfte die Hülle mit beiden Füßen. Er zerrte am CD-Player, bis der Mechanismus reagierte, riss die eben gehörte CD heraus und trampelte auch auf ihr herum.

Dann stand er ernüchtert im Raum. Er sah auf das zerknüllte, eingerissene Cover, und ihm wurde schwindlig. Er ließ sich zurück auf die Couch fallen, griff nach der Cognacflasche auf dem Tischchen daneben, setzte sie an und nahm einen großen Schluck. Es hatte keinen Sinn – selbst wenn er den ganzen Cognac hinunterstürzte, würde das Paul nicht mehr vertreiben. Alles hatte er versucht, um ihn zu vergessen, aber es funktionierte nicht mehr! Paul war plötzlich wieder da und würde sich nicht mehr vertreiben lassen. Richard vergrub das Gesicht in seinen Händen und weinte.

Damals, nachdem sie den Bach im Oberwald entdeckt hatten, zeigte sich wieder, wie unterschiedlich die beiden Jungen waren. Richard konnte an nichts anderes denken als an ihr seltsames Erlebnis und wollte unbedingt wissen, ob alles nur ein Traum gewesen war. Paul jedoch war eher geneigt, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Sie hatten einen wunderschönen Ort entdeckt, nur das zählte für ihn. Hätte Richard sein Messer wiedergefunden, es wäre ihm Beweis genug gewesen, an Einbildung und Trugschluss zu glauben. So aber war er wieder und wieder den Waldweg hinaufgegangen, hatte die Stelle gesucht, an der sie gewesen waren, und den sandigen Grund des Baches abgetastet, die Wurzeln und Sträucher am Ufer durchsucht, das Messer jedoch blieb verschwunden. Paul schien das nicht zu stören.

„Aber willst du denn gar nicht wissen, ob wir all das tatsächlich gehört und gesehen haben?“ Richard konnte es nicht fassen.

„Wir haben es doch erlebt, so oder so macht es keinen Unterschied“, Paul schaute ihn mit seinen großen, blauen Augen voller Zutrauen an und lächelte, was wieder das kleine Grübchen an der Wange erscheinen ließ.

„Manchmal bist du ein wahrer Kindskopf, Paul. Das ist doch wichtig!“

Paul zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen, glaubst du das wirklich? Und Richard legte beschützend den Arm um seinen Freund und dachte, ich muss auf ihn aufpassen.

Denn nichts war ihm wichtiger als seine Freundschaft mit Paul, und er fühlte instinktiv, dass dieser manchmal den einfachsten Belangen des Alltags nicht gewachsen war und sich – zumindest in den Augen der anderen – sonderbar verhielt. Dann wieder bewies er übermenschlichen Mut oder wusste von Dingen, die ihm niemand zugetraut hätte. Vertrauen hatte er einzig zu Richard, und nur ihm gestattete er eine solch zärtliche Berührung. In der Regel tat er sich schwer mit Körperlichem, auch mit Freundschaften, und in Gesellschaft war er meist still und abwartend. Doch er bewunderte Richard, weil ihm die Dinge des Lebens so leicht fielen.

Paul lebte mit seinem Vater in dem kleinen Klinkerhäuschen neben der Kirche, und die beiden kamen recht gut zurecht. Denn ihre Bedürfnisse waren ähnlich. Den Vater interessierte fast ausschließlich die Orgel, die er liebevoll seine „Menuetta“ nannte. Und es war ein Glück für ihn, dass auch sein Sohn die Musik liebte und ein gelehriger Schüler war. Dennoch lag ein Schatten über dem Haus, und in manchen Momenten wirkte es seltsam leer, obwohl doch zwei Menschen darin wohnten. Es fehlte die beiläufige Zärtlichkeit im Umgang miteinander, der helle Klang, es fehlte die weibliche Hand … Es fehlte Gabriela Hellmundt, Pauls Mutter.

Sie hatte den Vater verlassen, als der Junge sechs Jahre alt gewesen war. Zumindest war das die offizielle Version. Die Nachbarn kannten Christoph Hellmundt als einen Mann, der mehr Glanz in den Augen hatte beim Finden einer neuen Akkordverbindung als beim Anblick seiner schönen Frau. So verstanden manche der Dorfbewohner ihr Weggehen sogar, nur dass sie ihr Kind zurückließ, das verzieh ihr niemand. Doch keiner wusste, was sich wirklich zwischen den Eheleuten zugetragen und welch perfide Rolle dabei Christoph Hellmundt gespielt hatte.

Richard hatte einmal mit Paul zusammen das Familienalbum betrachtet und staunend die Fotos von Frau Hellmundt bewundert. Beinahe erschrak er, denn nie zuvor hatte er eine schönere Frau gesehen. Auch so konnte also eine Mutter sein! Nicht dass er seine eigene etwa nicht geliebt hätte, sie war wundervoll, und wenn sie sich abends über ihn beugte, um ihn auf die Wange zu küssen, dann war das mit nichts aufzuwiegen, und er wusste einfach, alles war gut. Aber nie hatte er etwas anderes in ihr gesehen als eben seine Mutter, auch wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass sie Wünsche haben könnte, die über die Familie und den Gasthof hinausgingen. Bei Pauls Mutter war das anders. Ohne viel vom Leben zu verstehen, war Richard allein beim Betrachten der Fotos klar, dass diese Frau nicht nach Herbstein gehörte.

Er sah heimlich zu seinem Freund hinüber, der ganz in das Album vertieft war, wollte ihn trösten, ihn aus seiner Erinnerung reißen, aber er traute sich nicht.

„Sie war so zärtlich zu mir, strich mir immer die Strähne aus dem Gesicht, und abends zum Einschlafen summte sie mir manchmal die ,Königskinder‘ ins Ohr. Nie wollte sie mir das Lied vorsingen, weil es zu traurig sei, aber die Melodie liebte sie sehr. Und ich liebte das Lied dann auch“, Paul hob den Blick, und er hatte Tränen in den Augen, „sie hat sich nie mehr gemeldet.“ Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne.

„Hm“, Richard nickte und wusste nicht, was er sagen sollte, „weiß man denn, wohin sie gegangen ist?“

Traurig schüttelte Paul den Kopf: „Sie hat Verwandte in München, aber ob sie dort ist, keine Ahnung.“

Abrupt schlug er das Album zu und verließ das Zimmer.

Der Alleingelassene wusste erst nicht, wie er sich verhalten sollte. Dann hörte er Musik aus dem oberen Stockwerk. Unbestimmt tastend wurden da Töne angeschlagen, die, aus ihrer scharfen Umrandung enthoben, beinahe unwirklich verhallten. Gebannt lauschte Richard, die Musik zog ihn nach oben. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinauf. In diesem Teil des Hauses war er bisher noch nie gewesen. Pochenden Herzens erreichte er das Ende des Flurs. Die Tür – nur leicht angelehnt – schob er mit dem Ellbogen nach innen. Das Erste, was er sah, war ein schön verschnörkelter Bücherschrank, davor ein paar Sessel und wuchtige Möbel, die mit dem Dämmerlicht im Raum verschmolzen und eine unsichtbare Linie zogen um Paul und das Klavier vor dem Fenster – so als wolle man verhindern, dass ein Unbefugter in diesen Kreis eindrang. Paul war mittlerweile völlig in das Spiel vertieft, und seine Hände flogen geschmeidig über die Tasten. Unfassbar – sein schüchterner Spielkamerad war Herr über all diese Töne, die in wundervoller Weise zusammenklangen.

Die Melodie berührte ihn, sie war schön und traurig zugleich. Richard kannte sie nicht, was nichts heißen wollte, da er in diesen Dingen wenig bewandert war. Es ging ein solcher Zauber von Paul und seinem Spiel aus, dass sich Richard leise bis zum Klavier vorwagte. Doch alle Vorsicht war überflüssig, Paul bemerkte ihn gar nicht, er nahm überhaupt nicht mehr wahr, was um ihn herum passierte, war ganz versunken in die Musik. Richard konnte dem Drang nicht widerstehen, Paul von der Seite zu betrachten, und was er sah, erschreckte ihn. Das war nicht mehr sein vertrauter Freund, da saß ein Fremder.

Pauls Gesicht war wie von einer Flamme erleuchtet, und sein Lächeln war kühn, befreit und seltsam durchscheinend. Und auf einmal hatte Richard Angst, Angst um den Freund, weil dieses Lächeln nicht ins alltägliche Leben gehörte, nicht in die Schule, nicht ins Kino, nicht einmal in die Kirche passte es, am ehesten noch … in den Oberwald.

Da hämmerte Paul plötzlich in die Tasten, und die Musik bekam etwas Gewaltsames und war auf einmal kein bisschen melodisch mehr, sondern voll schriller Töne. Und Pauls Gesicht verzerrte sich, seine Augen blickten starr aufs Klavier, sein Körper begann zu zucken, die Hände zitterten und schlugen dann immerzu auf die Tasten ein, Speichel trat ihm aus dem Mund.

„Paul“, schrie Richard, „was hast du denn?“ Er ging zu seinem Freund und wollte ihn festhalten. Doch dieser schien ihn nicht zu erkennen und schlug mehrmals nach ihm.

Richard taumelte zurück und war so geschockt, dass er nichts als fortwollte. Er ist doch mein Freund, sagte er sich beschämt. Und obwohl er sich dagegen wehren wollte, rannte Richard wie in Panik zurück ins Treppenhaus, vorbei an Pauls Vater, der gerade nach Hause kam, und beeilte sich, in den „Goldenen Hirsch“ zu kommen.

Hier tönte ihm gleich das Lachen des angetrunkenen Gärtners Hustler entgegen, den er so gar nicht leiden konnte. Heute begrüßte er ihn aufs Freundlichste. Dann sah er sich in der Gastwirtschaft um, blickte liebevoll über die Tische, bemerkte, dass an einem Salz und Pfeffer fehlten, und richtete sofort alles ordentlich her. Er fühlte den erstaunten Blick seiner Mutter, die sein ungewohntes Verhalten vom Tresen aus beobachtet hatte. Er rannte zu ihr hinüber, umarmte sie heftig und barg seinen Kopf in ihrer Schürze. Sie drückte ihn fest.

„Junge, was hast du denn, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, Mama“, strahlte er sie an, „ich hab riesigen Hunger.“

Und er genoss es, wie die Mutter ihm Besteck und Serviette zurechtlegte, in der Küche verschwand und bald mit einem Teller voll dampfender Nudeln mit Gulasch zurückkam. Ihr herzliches: „Lass es dir schmecken!“, tat ihm ebenso wohl wie das gut gewürzte Essen, und er fühlte sich wieder in Sicherheit.

Eigentlich hatte er Glück mit seinen Eltern, er war sich dessen gar nicht bewusst gewesen. Doch es fehlte ihm an nichts, und er fügte sich ohne viel nachzudenken in den Tagesablauf. Die Eltern ließen ihm viel Freiheit, bestanden aber auf der Einhaltung einiger weniger Regeln. Er sah verstohlen zu seiner Mutter hinüber, die einen neuen Gast bediente. Er war so froh, dass sie hier bei ihm war und es ihm nicht erging wie Paul.

In jungen Jahren hatte seine Mutter nicht gerade von einer Gastwirtschaft geträumt. Sie wollte in die Stadt und dort Sprachen lernen. Aber dann hatte sie sich unsterblich in Hans Andernach verliebt, und der war nun mal Gastwirt, hatte gerade erst den „Goldenen Hirsch“ von seinem Vater übernommen. Da war nichts zu machen. Doch hatte sie nicht ungern auf ihre Pläne verzichtet, denn schnell entwickelte sie sich zu einer guten Köchin, die sich immer mal wieder an einer neuen, exquisiten Küchenkreation versuchte und die dafür – nach anfänglichem Befremden – mehr und mehr Anerkennung fand.

Sein Vater war durch und durch praktisch veranlagt, hatte viel übrig für Genuss und Wohlleben, meinte aber, zuerst müsse eine Grundlage dafür geschaffen werden. So führte er die Wirtschaft rentabel, war aber darauf bedacht, gutes Fleisch und Gemüse auf den Tisch zu bringen, denn bei ihm sollte man schon etwas Rechtes bekommen für sein Geld. Bei seinen Gästen gab er sich kumpelhaft-freundlich, und obwohl er gegen ein gemeinsames Gläschen nichts einzuwenden hatte, wusste er letztlich Abstand zu wahren. Nur bei der weiblichen Kundschaft gelang ihm das nicht immer, aber seine Frau blieb von solchen Eindrücken unberührt, denn sie konnte sich über seine Aufmerksamkeit nicht beklagen und sah es nicht ungern, wenn ihn eine Jüngere anblitzte, und dachte in aller Gelassenheit: Aber er gehört mir! So herrschte Zufriedenheit, ja manchmal sogar Glück in Richards Elternhaus, wenn auch das Verspielte, der Müßiggang, der Sinn für alles Künstlerische fehlten.

Dieses ganz andere hatte er in wunderbarer Weise in Paul gefunden, und vielleicht hatte auch das die Jungen so fest aneinandergeschweißt. Doch seit jenem Tag, an dem er Paul heimlich beim Klavierspielen beobachtet und er diesen schrecklichen Anfall miterlebt hatte, fühlte Richard sich in seiner Gegenwart unwohl. Es war ihm, als habe sich Paul vor ihm entblößt, unfreiwillig zwar, trotzdem war es ihm peinlich. Und diese Krankheit verwirrte Richard zutiefst, sie löste eine unbegründbare Angst in ihm aus, und er begann seinem Freund aus dem Weg zu gehen.

Paul hingegen konnte Richards Zurückhaltung nicht begreifen. Er hatte mehrfach versucht, ihm zu erklären, dass das eine epileptische Attacke gewesen war und dass so etwas nie lange dauerte. Paul bemühte sich sehr, an ihre früheren Gewohnheiten anzuknüpfen. Doch Richard wich seinen Fragen aus, und Paul nahm es hin wie ein über ihn verhängtes Schicksal, geübt im Verzichten und Traurig­sein.

So kam es, dass beide auch unabhängig voneinander zum Bach im Oberwald gingen. Und für jeden war der Bach ein anderer. Richard erkundete seine Beschaffenheit und teilte mit Steinen einen zweiten Wasserlauf ab, wollte eingreifen, verändern, verbessern. Paul hingegen saß oft am Ufer, einfach nur so, blinzelte in die Sonne und sinnierte vor sich hin. Und als er Richard einmal wieder fragte, ob er heute mit ihm zum Wald hinauf käme, weil er ihm unbedingt etwas zeigen wolle, da hatte Richard abgelehnt. Er war zum Fußballspielen verabredet mit ein paar Nachbarjungen, mit denen er sich in letzter Zeit öfter traf. Als er aber sah, wie enttäuscht sich Paul allein auf den Weg machte, tat ihm seine Absage leid. Er rief ihm nach: „Warte auf mich“, doch Paul hörte ihn nicht mehr, und Richard ließ es dabei bewenden. Wie sehr er dies allerdings bereuen sollte, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn seit diesem Nachmittag war Paul verschwunden.

Richards pralle, bunte Welt stürzte plötzlich ins Schwarz-Weiße. Wie ausgediente Möbel war alles mit Tüchern bedeckt, jeder Laut war gedämpft, und nichts mehr drang wirklich zu ihm durch. Doch innerlich zerrissen ihn das Entsetzen, der Kummer und das Gefühl der Schuld. Warum hatte er Paul nur von sich weggestoßen, sich kaum mehr mit ihm verabredet, warum waren ihm die Begegnungen so unangenehm geworden, dass er ihn an diesem entscheidenden Tag im Stich gelassen hatte? Seine Irritation wegen des epileptischen Anfalls und des absonderlichen Klavierspiels wäre doch bestimmt bald überwunden gewesen. Auch hatte er selbst längst begonnen, ihn zu vermissen. „Paul“, wiederholte er ständig seinen Namen, als würde ihm das den Freund auf magische Weise zurückbringen. Immer wieder lief Richard hinauf in den Oberwald zu ihrem Bach, warf sich auf den Boden und betete, dass Paul bald gefunden würde und am Leben sei!