Nacht ist der Tag - Peter Stamm - E-Book

Nacht ist der Tag E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Gillian ist eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin, sie ist eine schöne Frau, sie führt eine abgesicherte Beziehung mit Matthias, sie hat ihr Leben unter Kontrolle. Eines Nachts hat das Paar nach einem Streit einen Unfall, ihr Wagen rammt auf nasser Straße ein Reh. Matthias stirbt, sie erwacht im Krankenhaus. Mit einem zerstörten Gesicht. Erst langsam setzt sich ihr Leben wieder zusammen und eine Geschichte aus der Vergangenheit wird zu einer möglichen Zukunft. Eindringlich, mit leisen Worten und unausweichlichen Bildern erzählt Peter Stamms neuer großer Roman von einer Frau, die ihr Leben verliert, aber am Leben bleiben muss – eine Tragödie, die zu einem Neuanfang wird.

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Seitenzahl: 235

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Peter Stamm

Nacht ist der Tag

Roman

FISCHER E-Books

Nacht ist der Tag, der mir dein Bild entzieht,

Und Tag die Nacht, die dich im Traume sieht.

William Shakespeare

Mehrmals halb erwachen und wieder wegdämmern, auftauchen aus dem Schlaf und zurücksinken in die Schwerelosigkeit. Gillian liegt im Wasser, es leuchtet blau. Ihr Körper sieht gelblich darin aus, aber sobald er auftaucht, verschwindet er in der Dunkelheit. Alles Licht kommt aus dem warmen Wasser, das über ihren Bauch, über ihre Brüste schwappt. Es ist ölig, perlt von der Haut ab. Sie scheint sich in einem geschlossenen Raum zu befinden, es ist still, trotzdem spürt sie, dass sie nicht allein ist. Sie wird geliebt, die Liebe füllt sie aus.

Die Zeit macht Sprünge. Als sie ein Rauschen hört, öffnet sie die Augen. Jetzt ist sie allein. An der Wand sind Reihen von Lichtpunkten, die vorher nicht da waren. Sie schließt die Augen, das Rauschen entfernt sich und verstummt.

Später bewegt sich eine weiße Gestalt an ihrer Seite, die Hände besänftigend ausgestreckt, und verschwindet wieder. Gillian spürt eine leichte Übelkeit, die beinahe wohltuend ist, eine köstliche Schwäche, die sie hinunterzieht, zurück in den Schlaf. Dann ist es hell, alles ist blendend weiß. Auf dem Nachttisch steht ein Tablett mit Frühstück. Es riecht nach Kaffee und Blumen. Ganz langsam erwacht ihr Körper, sie spürt die Beine und den Arm, der die Decke wegschiebt, die Kühle auf der nackten Haut. Sie hat kaum Schmerzen, nur das Gefühl, sich zu sammeln und wieder aufzulösen, ein langsames Pulsieren. Neben ihr liegt eine Hand, die auf einen Knopf drückt und zu ihrer Hand wird. Etwas hebt ihren Körper hoch, sie hört ein leises Surren. Das Atmen fällt ihr ungewöhnlich leicht, so als würde die Luft ungebremst in ihren Körper strömen und zugleich entweichen. Ein Finger drückt auf den grünen Knopf, auf dem eine kleine Glocke abgebildet ist. Zeit vergeht.

Die weiße Frau betritt den Raum, kommt zum Bett und nimmt, ohne zu fragen, den Nachttopf. Und wieder das Gefühl, sich aufzulösen, die Wärme, die aus dem Körper strömt.

Sind Sie fertig?

Gillian sagt etwas, das wie ein kurzes Stöhnen klingt. Es kommt ihr vor, als bewohnte sie nur noch den kleinsten Teil dieses Körpers, der ihr sehr groß erscheint, ein leeres Gebäude voller seltsamer Geräusche, voller unkontrollierter Bewegung. Wenn man ein Zimmer betritt, scheint es gerade jemand verlassen zu haben. Von irgendwoher sind Gespräche zu hören, Gelächter. Gillian eilt eine Treppe hinunter, aber sie kommt wieder zu spät. Auf dem Tisch steht das schmutzige Geschirr, stehen leere Schüsseln. Die Servietten liegen zusammengeknüllt auf dem weißen Tischtuch, zwischen Weinflecken und Krümeln.

 

Es regnet. Gillian fragt sich, wie lange sie schon hier liegt, aber sie erwartet keine Antwort. Ihre Kraft reicht kaum für die Frage. Sie sitzt vornübergebeugt im Bett, ohne sich zu erinnern, wie sie in diese Position gekommen ist. Plötzlich spürt sie etwas Kaltes, erst ist es nur ein kleiner Punkt, dann wird ein Rücken daraus, Strich um Strich wird er in die Leere gemalt, bis sie ihn ganz spürt. Es riecht nach Alkohol. Das Radio läuft, Gillian hört das Zeitzeichen, eine Stimme, die sehr schnell spricht, sie versteht nur einzelne Worte, die keinen Sinn ergeben. Der UNO-Sonderbeauftragte, die Marssonde Beagle 2, ein Halbfinalsieg bei den Australian Open, ein Tiefdruckgebiet mit Zentrum über der Biskaya. Vereinzelte Regenschauer. Sie spricht in Gedanken nach: der UNO-Sonderbeauftragte, die Marssonde, das Tiefdruckgebiet, und versucht, den Zusammenhang zu verstehen. Das Gefühl von Kälte vergeht und der Rücken verschwindet aus ihrem Bewusstsein, das Nachthemd senkt sich wie ein Vorhang. Atemlos wartet Gillian, bis er sich wieder hebt. Jemand gibt ihr einen kleinen Schubs, und sie schaut sich, während sie auf die Bühne rennt, kurz um, als wäre sie gestolpert. Sie wendet sich dem Publikum zu, schaut in die Scheinwerfer und verbeugt sich tief. Drei, vier Vorhänge, dann ebbt der Applaus ab, das kurze Glück ist vorüber. Gillian weiß, dass sie nicht gut gewesen ist, der Regisseur wird es ihr sagen, einmal mehr. Du spielst nur, wird er sagen. Du musst deine Rolle leben.

Sie können sich zurücklehnen. Soll ich das Radio laufen lassen?

Gillian versucht, sich zu konzentrieren. Alles hängt von ihrer Antwort ab. Sie will aufwachen, aufstehen, aber es geht nicht. Sie kann ihre Beine nicht bewegen, es ist, als hätte sie keine Beine. Das Radio verstummt, die Schwester geht zum Fenster und schließt die Vorhänge. Gillian erinnert sich an Regen. Das Tiefdruckgebiet. Es muss einen Zusammenhang geben.

Ruhen Sie sich ein wenig aus.

Wovon ausruhen? Etwas ist geschehen. Gillian umkreist die Erinnerung, sie nähert sich ihr und weicht dann wieder zurück. Wenn sie die Hand ausstreckt, verschwinden die Bilder, und das blaue Wasser taucht auf, immer wieder das blaue Wasser und das leere Haus, ihre erste Bühne. Aber das andere ist die ganze Zeit da und wartet auf sie. Sie weiß, es gibt einen Ausweg, und sie wird ihn nehmen. Später.

 

Der Arzt zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich auf die Lehne. Er hielt einen kleinen, in rosa Plastik eingefassten Spiegel in der Hand, ein Spielzeug. Er fragte, wie es ihr gehe.

Besser, sagte Gillian. Ich bin wieder da.

Zum ersten Mal konnte sie sich erinnern.

Zwei Tage, sagte er, als sie ihn fragte, wie lange sie schon hier sei. Einen Monat, ein Jahr, es hätte sie nicht gewundert.

Wir mussten Ihnen ein starkes Schmerzmittel geben.

Das war kein schlechter Trip, sagte Gillian und versuchte zu lachen.

Als sie die Hand hob, hielt der Arzt sie fest mit einer schnellen, aber sanften Bewegung. Nicht, sagte er, Sie sollten die Stelle nicht berühren.

Er fing an, ihr Gesicht zu beschreiben wie einen Gegenstand, es war eine sachliche Bestandsaufnahme, aber Gillian begriff nicht ganz, was er sagte. Dann beschrieb er ihr die Vorgehensweise, die Operationen, die nötig sein würden.

In einem halben Jahr wird man kaum noch etwas sehen.

Etwas sehen wovon?, fragte Gillian.

Ein Ohr können wir leicht replantieren, sagte der Arzt, aber die Nase hat zu viele feine Gefäße. Wir werden Ihnen eine neue machen.

Das sieht im Moment nicht sehr schön aus, sagte er, aber ich glaube, es ist gut, wenn Sie es sich anschauen.

Gillian schloss die Augen, öffnete sie wieder und streckte die Hand aus. Der Arzt reichte ihr den Spiegel. Sie drehte ihn hin und her wie eine Waffe, von der sie nicht wusste, wie sie zu bedienen war. Sie sah das Fenster, die vielen Blumensträuße, die im Zimmer standen, die Tür und das Gesicht des Arztes. Er lächelte und stellte eine Frage, aber sie hörte nicht hin, bewegte immer noch den Spiegel, als suchte sie den richtigen Ausschnitt, und ließ ihn dann sinken.

Ist es schlimm?

Er nickte und sagte noch einmal, in einem halben Jahr. Jemand, der Sie nicht kennt, wird kaum etwas merken.

Und jemand der mich kennt?

Wir versuchen, es so ähnlich wie möglich hinzukriegen, Bilder gibt es ja genug von Ihnen. Sie werden staunen, sagte er. Die plastische Chirurgie hat große Fortschritte gemacht.

Warum kann ich den Kaffee riechen, wenn ich keine Nase mehr habe?

Die Riechzellen sind hier, sagte der Arzt und zeigte auf seine Nasenwurzel. Er stand auf. Soll ich Ihnen den Spiegel hierlassen?

Nein, sagte sie, und dann ja.

Als der Arzt gegangen war, hob Gillian den Spiegel mit einer schnellen Bewegung hoch und hielt ihn sich dicht vor das Gesicht, als wolle sie sich dahinter verstecken.

 

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie es ihr gesagt hatten. Vielleicht hatten sie es ihr gar nicht gesagt, vielleicht wusste sie es einfach. Oder sie ahnte es nur, dass Matthias tot war. Es war still, nur der Wind war zu hören, der durch die Bäume wehte, das Tropfen von Wasser und ein unregelmäßiges Knacken, wie wenn verbogenes Metall sich langsam entspannte. Das Licht ging an und aus, orangefarbenes Licht. Gillian fühlte keinen Schmerz, sie merkte nur, dass ihr Gesicht nass war. Im Mund hatte sie den metallischen Geschmack von Blut. Sie hatte den Kopf nicht drehen können, aber aus den Augenwinkeln hatte sie Matthias gesehen, der über das Lenkrad gebeugt lag, als wäre er vor Erschöpfung eingeschlafen. Er bewegte sich nicht, er tauchte auf, verschwand, tauchte auf, verschwand. Sein Gesicht wirkte dunkel selbst im Licht, gerötet wie das eines Alkoholikers. Wenn sie nur das Blinklicht hätte ausschalten können, dann wäre alles gut gewesen, dann hätte sie schlafen können. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Und dann, langsam, entstand der Schmerz, im Brustbereich, in den Beinen, im Gesicht. Es war, als hätte sie ihr Gesicht nie vorher gespürt, es zog sich im Schmerz zusammen wie eine Hand zur Faust. Matthias war tot. Was sollte sie mit all seinen Sachen machen? Wie seiner Familie begegnen, seinen Freunden? Sie dachte an die Lebensmittel im Kühlschrank, die langsam verdarben, die Topfpflanzen, die austrockneten. Dann war sie sich plötzlich sicher, Matthias war nicht tot. Es ist nicht möglich, dachte sie, und der Gedanke war so erleichternd, dass sie fast lachen musste. Es ist ja gar nicht möglich.

 

Als Gillian erwachte, stand ihr Vater am Bett, neben ihm der Arzt. Sie redeten leise. Gillian hörte nicht hin. Sie schloss die Augen und sah wieder das Loch in ihrem Gesicht, durch das sie in ihr Inneres gesehen hatte. Sie versuchte, die Hände zu heben, um sich zu verbergen, zu schützen. Die Bettdecke drückte auf ihre Brust, sie konnte kaum die Finger bewegen. Plötzlich fiel ihr auch das Atmen schwer. Sie öffnete die Augen. Die beiden Männer standen immer noch da. Sie schwiegen jetzt und schauten auf sie herunter, in sie hinein. Gillian schaffte es nicht, die Blicke aufzuhalten, zu erwidern oder abzuwenden. Sie schloss die Augen, rannte davon, floh in den verborgensten Winkel. Ein sinnloses Spiel, ein Reigen, ein Kinderlied mit unendlich vielen Strophen. Dann hörte sie ihren Vornamen, der Arzt hatte ihn ausgesprochen. Als sie zu ihm hochschaute, traf ihr Blick jenen des Vaters. Der Vater wandte sich ab.

Wie geht es Ihnen?

Sie sagte nichts. Sie durfte sich nicht verraten. Sie hatte sich versteckt, wenn sie sich nicht rührte, konnten sie sie nicht finden. Stundenlang konnte sie ausharren in ihrem Versteck, im Kleiderschrank oder hinter dem Sofa, auf dem Dachboden, bis sie merkte, dass niemand sie suchte. Dann schlich sie langsam zurück, zeigte sich immer offener, aber es war so, als wäre sie durch das lange Verbergen unsichtbar geworden. Die Eltern schauten durch sie hindurch. Welche Erleichterung, wenn sie eine Viertelstunde lang in der Küchentür gestanden hatte und die Mutter ihr endlich befahl, den Tisch zu decken, als sei nichts geschehen. Sie hörte die Tür aufgehen und sah, wie der Vater den Raum verließ. Der Arzt folgte ihm.

Etwas war zerbrochen. Gillian erinnerte sich an die Verzweiflung, mit der sie die Teile aneinandergehalten hatte, als müssten sie wieder zusammenwachsen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in jenes Autowrack gekommen war. Nur an die Schwerelosigkeit erinnerte sie sich. Plötzlich war ihr bewusst geworden, dass die Zeit eine Richtung hatte, dass sie unumkehrbar war. Ihre erste Erinnerung war dieses Gefühl, nichts mehr tun zu können, alle Kraft, alles Gewicht zu verlieren. Es war, als habe das Bewusstsein den Körper schon verlassen, der sich schwebend und mit großer Geschwindigkeit durch den Raum bewegte, gegen etwas prallte, zurückgeworfen wurde, wieder aufprallte in einem lächerlichen Hin und Her.

Gillian hatte immer gewusst, dass sie in Gefahr war, dass sie irgendwann bezahlen musste für alles. Jetzt hatte sie bezahlt. Als der Arzt sie nach ihren Erinnerungen gefragt hatte, hatte sie nur langsam den Kopf hin und her bewegt. Es war kein Kopfschütteln, sie suchte an den weißen Wänden nach ihren Erinnerungen. Aber die Bilder, die sie sah, hatten nichts mit ihr zu tun. Ihr Job, ihre Eltern, Matthias gehörten zu einem anderen Leben.

Es ist alles noch da, sagte sie, nur ich bin weg.

 

Die sorgfältigen Bewegungen der Schwester, ihr konzentriertes Lächeln.

Sie sagen, wenn es weh tut.

Der Schmerz bestand aus kleinen Ereignissen, die dicht vor ihrem Gesicht stattfanden, ein Feuerwerk von Stichen, die Gillian nicht mit sich in Verbindung brachte. Der Körper reagierte darauf, zuckte zusammen oder versuchte reflexartig, sich zu entziehen. Die Schwester entschuldigte sich, ihre Stimme klang ungeduldig. Gillian hatte nicht vor, sich für diesen Körper zu entschuldigen, der nur ein Erbstück war. Sie war eine dritte Partei, war eben erst hier eingezogen. Wenn jemand kam, öffnete sie die Tür und ließ ihn ein. Sie beobachtete den Besucher, versuchte in seinen Blicken zu lesen, was er von diesem Haus hielt. Sie freute sich, wenn er seine Bewunderung ausdrückte. Ja, nicht wahr, es ist schön hier. Es ist noch viel zu tun. Sie lachte. Die Schwester erklärte ihr, was sie tat, aber Gillian hörte nicht zu. Sie versuchte, den Schmerz mit ihrem Gesicht in Deckung zu bringen, ihn zu einem Bild zu formen, aber es gelang ihr nicht. Das Bild war unvollständig, die Proportionen stimmten nicht.

Wir sind gleich fertig, sagte die Schwester. So, das ging doch ganz gut.

Sie verließ das Zimmer. Auf dem Nachttisch lag der Spiegel. Gillian dachte an den Spiegel, nicht an das Gesicht. Der Spiegel war das Gesicht, das sie vor sich halten konnte. Sie streckte die Hand aus, zögerte, wartete noch ein wenig, nahm ihn dann doch. Sie spielte damit, hielt ihn sich umgekehrt vor die Augen und betrachtete die glänzende Rückseite, den schwachen Reflex ihres Gesichts, eine Ahnung von Intaktheit. Wenn jemand sie jetzt betrachtet hätte, wäre sein Gesicht zu ihrem geworden. Dann drehte sie den Spiegel um, schaute sich lange an. Früher hatte sie sich manchmal zu Hause vor den Spiegel gestellt und sich tief in die Augen geschaut. Aber die Augen waren wie Glaskörper gewesen, die Pupillen Löcher, hinter denen die undurchdringliche Dunkelheit ihres Körpers verborgen lag.

Sie versuchte mit aller Kraft, sich in diesem Fleisch wiederzuerkennen. Sie erkannte die Augen, die Augenbrauen, den Mund, aber sie bildeten kein Ganzes. Wenn der Arzt oder eine Schwester das Zimmer betrat, legte sie den Spiegel schnell auf den Nachttisch, und stellte sich vor, das Bild wäre darin gefangen und sie könnte es so vor den Blicken der anderen verbergen. Sie versuchte, in den Augen der Schwester Ekel oder Entsetzen zu sehen. Aber sie sah nur gleichgültige Freundlichkeit.

Sie betrachtete die Gesichter der Schwestern, versuchte, sich in ihnen einzunisten. In Gedanken ahmte sie ihre Mimik nach, schob die Ober- über die Unterlippe, blinzelte, runzelte die Stirn. Sie verwickelte die Schwestern in Gespräche, nur um ihre Gesichter betrachten zu können, um sich in ihnen auszuruhen.

 

Der Vater rückte einen Stuhl neben das Bett. Wenn Gillian den Kopf drehte, konnte sie sehen, wie er dasaß und an die Wand starrte, an der ein Ausstellungsplakat hing, eine grüne Fläche und diagonal darauf angeordnet drei rote Punkte.

Gefällt dir das Bild?

Drei Punkte. Sie hatte den Kopf vom Kissen gehoben. Er schaute kurz zu ihr und dann gleich wieder weg.

John Armleder, sagte sie, der Name des Künstlers klang plötzlich bedrohlich.

Man würde ihr die Haut abziehen, ganz hatte sie es nicht verstanden, aber der Arzt wollte Haut von der Stirn lösen, ohne sie von der Blutversorgung zu trennen, herunterklappen und für die neue Nase verwenden.

Matthias ist tot, sagte der Vater.

Ja, sagte Gillian, natürlich.

Sie hatte es gewusst, sie hatte ihn gesehen. Ihr flossen Tränen über die Schläfen, bevor sie merkte, dass sie weinte. Der Vater nahm ein Kleenex aus einer Schachtel, die auf dem Nachttisch stand und wischte ihr die Tränen ab, eine ungewohnt zärtliche Geste.

Es tut mir leid.

Ich hätte tot sein können, den Satz hatte Gillian sich immer wieder gesagt, aber er hatte keine Bedeutung. Die Tränen hörten so plötzlich auf, wie sie angefangen hatten. Der Vater warf das Kleenex in den Mülleimer bei der Tür und kam zurück zum Bett, setzte sich wieder auf den Stuhl. Er wartete einen Moment, dann sagte er, sie müssten ein paar organisatorische Dinge klären.

Mutter war in eurer Wohnung und hat das Nötigste erledigt.

Gillian hatte, seit sie im Krankenhaus war, oft an ihre Kindheit gedacht und an die Zeit, nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte, an die Schauspielschule, die Jahre auf kleinen Bühnen in der Provinz. Sie erinnerte sich vage, wie die Geschichte weiterging, die Heirat mit Matthias, die Arbeit beim Fernsehen. Sie hatte sich einen Schluss ausgedacht, eine Szene in einem Garten, ein sonniger Sommernachmittag, sie war älter geworden, aber immer noch eine anziehende Frau, ein Mann war da, sie tranken Weißwein und redeten über vergangene Zeiten.

Matthias ist tot, sagte Gillian.

Er hatte 1,4 Promille, sagte der Vater. Es war eine bloße Feststellung, als nenne er Matthias’ Größe oder sein Gewicht.

Ich bin müde, sagte sie.

Hauptsache, du bist am Leben, sagte der Vater.

Das sagt man so. Ich weiß nicht …

Er schaute sie kurz an und wandte sich gleich wieder ab.

Deine Freundin hat gesagt, dass du dich mit Matthias gestritten hast.

Kann sein, sagte Gillian, vielleicht haben wir uns gestritten.

 

Matthias hatte den Film entdeckt und ihn zum Entwickeln ins Fotogeschäft gebracht. Kurz bevor sie zu Dagmars Silvesterparty fahren wollten, hatte er ihr die Abzüge hingeknallt.

Wer hat die gemacht?

Gillian hatte die Fotos, ohne sie genau anzuschauen, zusammengerafft und zurück in den Umschlag gesteckt.

Das geht dich nichts an.

Matthias lachte höhnisch auf. Es ist natürlich völlig normal, dass man sich so fotografieren lässt.

Du kannst beruhigt sein, sagte sie, die Bilder kommen nicht an die Öffentlichkeit.

Dann hast du es nur zum Spaß gemacht?

Vielleicht wollte ich sie dir schenken, sagte sie.

Matthias schwieg einen Moment. Und was wenn der Typ im Labor sich Abzüge gemacht hat?, fragte er. Aber dir scheint es ja egal zu sein, wer dich so sieht.

Du hast doch den Film zum Entwickeln gebracht, sagte Gillian, ich habe dich nicht darum gebeten.

Matthias verließ den Raum. Eine Stunde später stand er in seinem dunklen Anzug in der Tür und fragte, ob sie bereit sei. In diesem Moment verlor Gillian jeden Respekt vor ihm.

Gut, sagte sie, fahren wir. Ich ziehe mich nur schnell um.

Sie ging ins Schlafzimmer und zog ihr kürzestes Kleid an, schwarze Netzstrümpfe, hochhackige Schuhe. Sie schminkte sich die Lippen knallrot und tupfte ein wenig Parfüm hinter die Ohren, einen üppigen Duft, den Matthias ihr geschenkt und den sie kaum je verwendet hatte. Matthias stand ungeduldig im Flur.

Als sie an ihm vorbei zur Wohnungstür ging, sagte er leise, gehst du auf den Strich oder zu einer Silvesterparty?

Im Auto sprachen sie kein Wort, und während der Party tat er sein Bestes, nicht in ihre Nähe zu kommen. Gillian beobachtete ihn aus der Entfernung, wie er dastand, mit seinem geschniegelten Haar und dem glänzenden Anzug.

Nachts um zwei saß nur noch der harte Kern um den großen Tisch, der voller schmutziger Teller und leerer Gläser war. Matthias war der einzige Mann, er stand abseits mit einem Glas in der Hand und starrte durch die Terrassentür in den dunklen Garten. Dagmar, die sich kürzlich von ihrem Freund getrennt hatte, sagte, es koste sie immer mehr Überwindung, Männer als erotische Objekte wahrzunehmen. Obwohl sie abgemacht hatten, dass Gillian nach Hause fahren würde, hatte sie ziemlich viel getrunken. Sie stimmte Dagmar zu und sagte, der weibliche Körper sei einfach schöner als der männliche. Dagmar stand auf, um zur Toilette zu gehen. Dabei blieb sie kurz hinter Gillian stehen, legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Wange. Matthias öffnete die Terrassentür und ging hinaus in den Garten.

Matthias war Kulturredakteur einer Illustrierten, in der kaum über Kultur berichtet wurde. Als sie sich kennengelernt hatten, arbeitete Gillian noch beim Lokalfernsehen. Er hatte sie beeindruckt, weil er in der Kulturszene alle und jeden kannte. Sie liefen sich immer wieder über den Weg, Matthias stellte ihr Leute vor und überredete sie, zu den Premierenpartys zu kommen. An einem sehr kalten Wintertag trafen sie sich bei einer Premiere in einem kleinen Theater über der Stadt. Nach der Vorstellung saßen sie zusammen mit den Künstlern an einem Tisch. Gillian unterhielt sich den ganzen Abend fast nur mit dem Komponisten. Er hatte sie nach ihrem Namen gefragt, und sie hatte ihm erklärt, dass ihre Mutter Engländerin sei. Sie hatte das Gefühl, der Komponist wüsste etwas über sie, was ihr selbst verborgen blieb. Als sie nach Mitternacht alle zusammen das Theater verließen, war die Straße schneebedeckt und ein eisiger Wind wehte. Matthias sagte, er müsse ihr etwas zeigen. Während die anderen zur Station der Standseilbahn gingen, führte er sie über die Straße zu einer kleinen Plattform, von der aus man eine wunderschöne Aussicht hatte. Die Lichter der Stadt flimmerten in der Kälte und selbst die Sterne schienen ungewöhnlich nah. Matthias zeigte ihr einen Gedenkstein, der unter einer großen Linde stand, und sagte, hier sei Büchner begraben. Er legte ihr den Arm um die Schultern und erzählte ihr das Märchen vom armen Kind aus Woyzeck, das Gillian noch aus der Schulzeit kannte. Und der Mond war ein Stück faules Holz, die Sterne kleine goldene Mücken und die Erde ein umgestürzter Hafen. Dann küssten sie sich.

An jenem Abend war nichts weiter geschehen. Sie hatten sich an einer Tramstation getrennt und waren in unterschiedliche Richtungen gefahren. Erst im Frühling darauf verbrachten sie zum ersten Mal zusammen eine Nacht. Gillian hatte ein paar turbulente Beziehungen hinter sich und war froh, dass Matthias unkompliziert war und dass er sie wirklich zu lieben schien. Er war sehr zärtlich, aber mit der Zeit schliefen sie immer seltener miteinander. Sie hatten beide so viel zu tun, dass Gillian es immer wieder hinausschob, mit ihm darüber zu sprechen.

Als er vor ihr niederkniete und um ihre Hand anhielt, lachte sie und zerzauste ihm die Haare. Das war in einem teuren Restaurant, wo man sie kannte und mit Namen grüßte. Die Situation war ihr erst peinlich gewesen, dann hatte sie ihr gefallen. In den nächsten Jahren hatte es immer wieder sorgfältig inszenierte romantische Diners oder Champagnerfrühstücke gegeben, eine Überraschungsparty an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag mit maskierten Gästen, Wochenendausflüge in Wellness-Hotels, Übernachtungen in speziell hergerichteten Zimmern für verliebte Paare.

Dann bekam sie den Job als Moderatorin und verdiente plötzlich so viel wie Matthias. Vor allem aber schien er darunter zu leiden, dass sie bei Anlässen, über die sie beide berichteten, die wichtigere Rolle spielte. Erst jetzt merkte Gillian, dass er zwar jeden kannte, aber niemand ihn wirklich ernst nahm. Wenn sie Interviews führte, sah sie oft aus den Augenwinkeln, dass er in der Nähe herumstand. Kaum war die Kamera ausgeschaltet, kam er dazu und mischte sich ins Gespräch ein. Dabei legte er demonstrativ seinen Arm um sie oder küsste sie.

Ist er wirklich beleidigt?, fragte Dagmar, als sie zurückkam.

Wir hatten einen Streit heute Nachmittag, sagte Gillian. Sie stand auf und ging hinaus in den Garten. Matthias stand rauchend auf der Terrasse. Was ist los? Ihre Stimme klang härter, als sie beabsichtigt hatte. Komm jetzt rein, es ist eiskalt.

Er behauptete, sie habe mit Dagmar geflirtet. Hat sie die Fotos gemacht?, fragte er.

Mir reicht es, sagte Gillian.

Wir gehen, sagte Matthias, als hätte er sie nicht gehört.

Ich kann nicht mehr fahren, sagte Gillian und zeichnete mit dem Zeigefinger eine Spirale über ihrem Kopf. Wir können ja bei Dagmar übernachten.

Das würde dir so passen, sagte er.

Sie ließ ihn stehen und ging wieder ins Haus. Jemand sagte etwas zu ihr, aber sie gab keine Antwort und schenkte sich ein Glas Grappa ein, und nachdem sie es geleert hatte, gleich noch eins. Übernachtet ihr hier?, fragte Dagmar. Jetzt müssen wir wohl, sagte sie und lachte.

Ja, sagte Gillian, wir haben uns gestritten. Aber das ist jetzt nicht wichtig.

Der Vater stand auf. Nimm ein paar von den Blumensträußen mit, sagte sie. Ich habe keine Ahnung, wer die alle geschickt hat. Soll ich dir die Karten vorlesen?, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Ich komme mir vor, als wäre ich hier aufgebahrt.

 

Am Nachmittag rief die Mutter an und bedankte sich für die Blumen. Sie fragte, wann sie Gillian besuchen könne.

Am liebsten gar nicht.

Jedes intakte Gesicht erinnerte Gillian an die Zerstörung ihres eigenen. Und es war ihr, als müsste sie das Entsetzen der anderen tragen, als müsste sie sie mit ihrer Tapferkeit trösten. Nur die Anwesenheit der Ärzte und Schwestern ertrug sie.

Die Mutter insistierte nicht. Sie sagte, sie habe nach der Wohnung geschaut, den Kühlschrank geleert, die schmutzige Wäsche gewaschen.

Vielen Dank, sagte Gillian, das wäre nicht nötig gewesen. Morgen werde ich operiert, dann sehen wir weiter. Sie sagte, sie sei müde.

Mach’s gut.

Du auch.

Sie versuchte zu schlafen, um nicht an den Unfall zu denken, nicht an die Operation, nicht an Matthias.

Gegen Abend kam ihr Vater noch einmal vorbei. Er war sehr sachlich. Nach der ersten Operation könne sie im Prinzip nach Hause, sagte er.

Aber es ist wohl ratsam, im Krankenhaus zu bleiben, bis du wieder einigermaßen …

Bis ich wieder wie ein Mensch aussehe?, sagte Gillian.

Bis du richtig gehen kannst. Wann darfst du das Bein belasten?

Sie haben mir eine Platte reingemacht, sagte Gillian, in einer Woche sollte ich wieder gehen können.

Außerdem ist es doch schön hier, sagte der Vater, fast wie in einem Hotel. Zu Hause könnten wir dir nicht die Pflege bieten, die du hier bekommst.

Ich brauche keine Pflege, sagte Gillian.

Wenn irgendwas ist, ruf mich an. Er stand auf und reichte ihr die Hand.

Ich habe alles, was ich brauche, sagte Gillian. Grüß Mutter von mir.

Du musst sie verstehen, sagte der Vater schon in der Tür.

 

Der Vorraum des Operationssaals war voller grün gekleideter Menschen. Gillian versuchte, sich aufzurichten, um besser zu sehen, aber es gelang ihr nicht. Sie sah die Gesichter von unten, Mundschutz und flache Augen, darüber Augenbrauen, die prominenter wirkten aus dieser Perspektive, lächerliche Gazehauben. Ein Gesicht senkte sich, freundliche Augen mit Lachfalten, und eine Stimme fragte, wie es ihr gehe. Immer wieder diese Frage: wie es ihr geht. Sie stellte sich andere Fragen: Was ist von mir übrig geblieben? Und ist das, was übrig ist, mehr als eine Wunde? Was wird da zusammenwachsen? Werde ich das sein?

Bevor sie antworten konnte, hatte sich das Gesicht wieder gehoben und verjüngt, schauten die Augen anderswohin. Der Mundschutz bewegte sich, sie hörte Sätze, die sie nicht zu verstehen versuchte, Anweisungen, ruhig und leise gesprochen. Sie spürte die Konzentration und eine Art freudige Erwartung. Sie musste an Schulausflüge denken. Die Klasse versammelte sich auf dem Bahnhof, einer nach dem anderen stieß zur Gruppe. Man grüßte sich kurz, sonst wurde nicht viel geredet. Der Chirurg sagte etwas, ganz leise. Jemand unterdrückte ein Lachen. Die Bewegungen schienen noch zufällig, jeder machte irgendetwas, man versuchte, dem anderen nicht im Weg zu sein. Der Anästhesist erklärte Gillian, was er vorhatte. Sie wusste nicht, was er von ihr erwartete. Die grünen Gestalten verschwanden eine nach der anderen, und einen Moment lang glaubte Gillian schon, sie wäre hier vergessen worden. Im selben Moment kam es ihr vor, als würden ihre Beine hochgehoben, als würde sie in eine dunkle Röhre geschoben und losgelassen werden. Sie glitt durch das Dunkel, hinunter, immer schneller, Lichter sausten vorüber, die Geräusche waren plötzlich sehr nah, ein heller Glockenton, eine Stimme bis zur Unverständlichkeit verlangsamt und von Echos begleitet. Dann wurde es sehr hell. Sie spürte eine Hand, die sanft ihre Schulter berührte. Wieder das freundliche Gesicht. Gillians Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte Hände, die sie hochhoben, ein Rütteln, hörte metallische Geräusche. Lampen zogen über ihr vorbei. Das Atmen fiel ihr schwer. Ihre Nase war verstopft. Sie hatte wieder eine Nase.

 

In der Nacht nach der Operation hatte Gillian Albträume. Am Morgen wusste sie nicht mehr, was sie geträumt hatte, aber sie spürte die nächtlichen Landschaften, durch die sich unsichtbare Menschen bewegten, die nicht miteinander sprachen, aber auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung standen. Öffnete man eine Tür, schien im selben Moment der Raum dahinter zu entstehen, wandte man sich ab, zerfiel er.

Der Spiegel lag nicht da, wo sie ihn hingetan hatte. Der Arzt hielt ihn in der Hand, als er ins Zimmer trat. Er erklärte ihr noch einmal genau, was er gemacht hatte, wie er ihr Knorpel im Rippenbereich entnommen und daraus eine Nase geformt habe und wie er einen Hautlappen von der Stirn heruntergeschlagen und die neue Nase damit bedeckt habe.

Das sieht jetzt nicht sehr schön aus, sagte er. Sie können sich vielleicht nicht vorstellen, wie das alles verheilen soll, aber ich versichere Ihnen …