Wenn es dunkel wird - Peter Stamm - E-Book

Wenn es dunkel wird E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Peter Stamm erzählt uns in seinen Geschichten davon, wie sich die Welt verwandelt, Wenn es dunkel wird. Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn. Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie. David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern. Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.

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Seitenzahl: 188

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Peter Stamm

Wenn es dunkel wird

Erzählungen

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Über dieses Buch

 

 

Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich.

 

Unheimliche Geschichten von Peter Stamm: Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn..

Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie.

David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern.

Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, ein Band mit Theaterstücken. »Wenn es dunkel wird« ist seine fünfe Erzählungssammlung. Zuletzt erschienen die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

 

Nahtigal

David hatte die Maske mitgenommen, obwohl er sicher war, dass er sie heute noch nicht brauchen würde, eine Eichhörnchenmaske, die den ganzen Kopf bedeckte. Er hatte sie als Kind zum Geburtstag geschenkt bekommen, als er längst keine Lust mehr hatte, sich zu verkleiden, vielleicht, weil er da schon in dem Alter war, in dem es einem vorkommt, als sei man immer verkleidet, auch wenn man es nicht will. Sein Körper war ihm vorgekommen wie ein schlecht sitzendes Kostüm, das seine wirkliche Persönlichkeit, das, was er sein wollte, was er zu sein glaubte, zu etwas Unförmigem verzog. Warum ausgerechnet ein Eichhörnchen, warum nicht ein Wolf oder wenigstens eine Eule? Irgendwann musste er seine Mutter auf die Maske hingewiesen haben, schau mal, das Eichhörnchen, wie süß. Und Jahre später, als sie nicht gewusst hatte, was sie ihm schenken sollte, hatte sie sich daran erinnert und die Maske, ohne viel nachzudenken, gekauft. David hatte sie ein einziges Mal angezogen, an jenem Geburtstag, und seiner Mutter vorgespielt, er freue sich darüber. Danach hatte er sie zu unterst in seinem Schrank verborgen, ein beschämender Beweis dafür, wie wenig sie ihn kannte, wie wenig irgendjemand ihn kannte. Er schielte in die Plastiktüte, die neben seinem Stuhl stand, und musste heimlich lachen, wenn er daran dachte, wofür die Maske nun gut sein sollte. Seine Mutter würde sich wundern, alle würden sich wundern, wozu das Eichhörnchen imstande war.

An diesem Morgen, gleich nachdem seine Mutter zur Arbeit gegangen war, hatte David sich im Geschäft krankgemeldet. Sein direkter Vorgesetzter war in den Ferien, und die Sekretärin hatte nicht nachgefragt, als er gesagt hatte, er sei erkältet. Jetzt, während der Sommerferien, war ohnehin nichts los, und die Lehrlinge wurden mit allen möglichen sinnlosen Arbeiten beschäftigt. Auf dem Dachboden gab es einen unerschöpflich erscheinenden Vorrat an alten Briefumschlägen und Rechnungsformularen, auf die noch die alte Telefonnummer gedruckt war, und wenn gar nichts anderes mehr zu tun war, versammelten sich die Lehrlinge im Sitzungszimmer unter dem Dach, wo es im Sommer muffig und heiß war, und überklebten die alten Nummern mit kleinen Etiketten in Leuchtfarben, auf denen die neue Nummer stand, die auch schon seit Jahren galt. Die meiste Zeit aber ulkten sie herum, halb träge, halb aufgekratzt, oder trafen sich in der Kaffeeküche oder in einem der Sitzungszimmer, immer auf der Hut, von keinem Vorgesetzten beim Nichtstun erwischt zu werden.

David hatte um zehn in der Stadt sein wollen, aber nachdem er im Geschäft angerufen hatte, war er noch einmal ins Bett gekrochen, als sei er tatsächlich krank, und war wieder eingeschlafen. So saß er erst um elf vor der kleinen Kneipe im Außenviertel und schaute zur Bankfiliale hinüber, die in einem Einfamilienhaus untergebracht war. Es war heiß auf dem kopfsteingepflasterten Vorplatz, und die Sonne blendete ihn. Seit er angekommen war, war niemand in die Bank hineingegangen oder herausgekommen, nur zwei Frauen mit Fahrrädern standen vor dem Gebäude auf dem Gehsteig und unterhielten sich. Die Wirtin kam. Sie musste über sechzig sein, aber sie war dünn wie ein junges Mädchen, ihr Haar war blond gefärbt, und sie trug eine hautenge lilafarbene Jeans. Sie öffnete den Sonnenschirm, der neben Davids Tisch stand, und fragte nach seinen Wünschen. Er bestellte einen Milchkaffee. Erst seit er in der Lehre war, trank er Kaffee, nicht weil er den Geschmack mochte, sondern weil alle Kaffee tranken und es irgendwie Teil des Erwachsenseins zu sein schien. Auch Alkohol trank er erst seit kurzem und nur an den Firmenanlässen, von denen es viele gab zu allen möglichen Gelegenheiten, Betriebsausflüge und Sommerfeste und Weihnachtsessen, auf die David sich zugleich freute und vor denen er sich immer ein wenig fürchtete.

Elf Uhr dreiundzwanzig. Ein Mann in Motorradkleidung und mit Helm betritt die Bank, schrieb er in ein kleines Heft, das er extra zu diesem Zweck angeschafft und mitgebracht hatte. Einen kurzen Moment lang fürchtete er, der Mann könnte dieselben Absichten haben wie er und ihm zuvorkommen. Atemlos wartete er, bis der Motorradfahrer wieder herauskam, sich ohne Eile auf seine Maschine setzte und davonfuhr. Die Wirtin hatte den Kaffee vor David auf den Tisch gestellt und sich zu den Gästen an den anderen Tisch gesetzt, zwei alten Männern und einer alten Frau mit einem kleinen Hund, die, seit David hier war, immer wieder Anläufe zu einem Gespräch gemacht hatten, das jeweils nach wenigen Sätzen erstarb. Die Frau mit dem Hündchen hatte sich schon zweimal verabschiedet und war dann doch einfach sitzen geblieben. Elf Uhr vierunddreißig. Älteres Ehepaar betritt die Bank, schrieb David in sein Heft und merkte, dass er vergessen hatte, die Zeit aufzuschreiben, zu der der Mann mit Motorradkleidung die Bank verlassen hatte. Er ärgerte sich über seine Unaufmerksamkeit, der kleinste Fehler konnte das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen. Elf Uhr sechsunddreißig, schrieb er, ein großer Mercedes hält circa zehn Meter von der Bank entfernt vor einem Möbelgeschäft. Eine junge Frau steigt aus. Sie lehnt sich ans Auto, scheint auf jemanden zu warten.

Auf dem Zuckerbeutel stand ein Zitat. Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt. Seneca. 4. v. Chr. – 65 n. Chr. David wunderte sich immer noch darüber, dass ausgerechnet er, der sich zu Hause keinen Keks genommen hätte, ohne seine Mutter um Erlaubnis zu fragen, diesen Plan ausgeheckt hatte. Seit Wochen, seit Monaten hatte er daran herumgedacht, hatte sich vorgestellt, wie er die Eichhörnchenmaske überstreifte, die Bankfiliale betrat und zum Schalter ging. Er zog die Armeepistole seines Vaters aus der Plastiktüte, richtete sie auf die einzige Kundin im Raum und verlangte von der Schalterbeamtin mit verstellter Stimme das Geld. Geld, würde er nur sagen. Alles. Schnell. Er hatte zu Hause üben wollen, seine Stimme zu verstellen, aber er war sich so blöd dabei vorgekommen, dass er es schnell wieder aufgegeben hatte.

Elf Uhr neununddreißig. Das Ehepaar verlässt die Bank. Die junge Frau läuft auf dem Gehsteig auf und ab und raucht eine Zigarette. David steckte das Notizbuch weg. Die Frau wirkte nervös. Was würde sie aussagen, wenn die Polizei sie befragte? Sie konnte den jungen Mann nicht beschreiben, sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er die Bank betreten hatte. Erst als der Alarm losging, hatte sie einen Schritt Richtung Eingang der Bank gemacht und dann einige davon weg. Da hatte sie ihn gesehen, einen jungen, schlaksigen Mann mit Eichhörnchenmaske, blauen Jeans, schwarzem T-Shirt, der auf ein Fahrrad stieg und um die Ecke verschwand.

David stellte sich vor, wie er den Mercedes über eine Landstraße lenkte, die Frau saß neben ihm, er legte eine Hand auf ihr Knie, lächelte ihr zu. Wohin fahren wir?, fragte sie. Nach Frankreich, sagte er, an die Côte d’Azur. Du bist verrückt, sagte sie und lachte, ich habe doch gar nichts dabei. Dann kaufen wir dir eben neue Sachen, sagte er, Geld spielt keine Rolle. Wie viel hatte er in seiner Plastiktüte? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Und wenn das Geld aufgebraucht war? Auch an der Côte d’Azur gibt es Banken. Du bist verrückt, sagte sie. Man lebt nur einmal, sagte David und beschleunigte den Wagen. Es ging nicht ums Geld bei seinem Plan, es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah.

Die junge Frau schaute auf die Uhr. Auch David schaute auf die Uhr. Zehn vor zwölf. Er durfte nicht zu lange hierbleiben, die Wirtin und die anderen Gäste sollten sich nicht an ihn erinnern, wenn die Polizei sich später nach Verdächtigen erkundigte. Er stand auf und ging über die Straße. Im Fenster der Bank hing eine Liste der aktuellen Wechselkurse, Euro, USA, Dänemark, England, Norwegen, Schweden, Australien, Kanada, Japan, lauter Länder, in denen David noch nie gewesen war. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er seinen Kaffee nicht bezahlt hatte, und er lief zurück über die Straße. Die Wirtin schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er gegangen war.

Am nächsten Tag regnete es. David fuhr wieder in die Stadt. Er hatte von Bankräubern gehört, die den Tatort Monate im Voraus auskundschafteten, jedes Detail notierten, sich Pläne des Gebäudes beschafften, heimlich Fotos machten. Er saß im Bus und dachte darüber nach, was er noch herausfinden musste. Überwachungskameras, schrieb er in sein Heft. Öffnungszeiten. Schalterraum, Fluchtweg. Vor lauter Nachdenken verpasste er seine Station und stieg erst eine später aus. Auf einer Seite der Straße standen kleine schäbige Einfamilienhäuser, auf der anderen eine große Wohnsiedlung mit fünfstöckigen Blocks aus den fünfziger oder sechziger Jahren. Statt zurückzugehen, ging David weiter aus der Stadt hinaus. Der Regen wurde schwächer und dann wieder stärker. Die Straße führte über die Autobahn, und David lehnte sich ans Geländer der Brücke und schaute hinunter auf die vorbeifahrenden Autos und Lkws und fragte sich, wohin sie alle unterwegs waren. Wie lange brauchte man von hier an die Côte d’Azur? Aber er konnte ja gar nicht fahren, er war erst vor einigen Monaten achtzehn geworden und hatte kein Geld für die Fahrschule, geschweige denn für ein Auto.

Er verließ die Hauptstraße und ging durch kleinere Straßen, die zwischen den Wohnblocks hindurchführten. Unter dem Vordach eines der Häuser stand eine junge Frau und rauchte. Sie trug trotz der Kühle nur Jeans und ein dünnes T-Shirt und schien ihn zu beobachten. David wandte den Blick ab. Hier wäre ein gutes Versteck, wenn er untertauchen müsste, dachte er. Er blieb stehen und drehte sich um. Die Frau schaute immer noch zu ihm herüber, und plötzlich fasste er einen Entschluss und ging auf sie zu. Sie verzog keine Miene, schaute ihm entgegen mit vollkommener Gleichgültigkeit. Er fragte, ob hier vielleicht eine Wohnung frei sei. Die Frau schwieg lange, dann sagte sie, hast du keinen Schirm? Nein, sagte David. Ich suche nämlich eine Wohnung. Für dich allein?, fragte die Frau. Wie alt bist du? Ihr T-Shirt war aus ganz dünnem Stoff, und David sah, wie sich ihr BH darunter abzeichnete. Ich bin nicht von hier, sagte er. Ich auch nicht, sagte die Frau. Sie schwiegen wieder, als sei schon alles gesagt oder noch gar nichts. Endlich trat die Frau ihre Zigarette aus, sagte tschüss und wandte sich um. Es wäre schön, hier zu wohnen, sagte David. Ich glaube nicht, sagte die Frau, ohne sich noch einmal umzudrehen, und verschwand im Haus. Durch die Glastür sah David, wie sie die Treppe hochstieg. Er hoffte, dass sie seine Blicke spüren und sich noch einmal umdrehen würde. Sie würde ihn anlächeln und wieder herunterkommen und ihm die Tür aufhalten. Komm doch mit rein. In ihrer Wohnung wäre es kühl und etwas düster. Wir sollten die nassen Sachen ausziehen, sagte sie. Aber ihre Kleider waren ja gar nicht nass.

Die Tische standen noch vor dem Lokal, aber die Stühle waren zusammengeklappt und lehnten an der Hauswand. David betrat den winzigen Raum, in dem es nur eine Theke, einen Zigarettenautomaten und zwei Tische gab. Die Luft war warm und schwer vom Regen draußen. Am Tisch neben dem Eingang saßen wieder zwei alte Männer und eine Frau mit einem Hündchen, aber andere als gestern, als seien dieselben Rollen mit neuen Schauspielern besetzt worden. Auch die Wirtin, die hinter der Theke stand, war eine andere, eine rundliche Frau von unbestimmtem Alter. Könnte ich einen Kaffee kriegen, fragte David. Die Wirtin zögerte kurz, dann sagte sie, ja, ich glaube, einen habe ich noch. Die anderen Gäste lachten. Der war gut, sagte die Frau mit dem Hündchen.

David saß am hinteren Tisch. Am Fenster war ein gehäkelter Vorhang, und er konnte die Bank nicht sehen, aber es wäre aufgefallen, wenn er gleich wieder gegangen wäre. Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und schaute sich um. An den Wänden hingen Postkarten, wohl von Stammgästen, Ansichten von Ibiza, Bangkok, Kenia. Auf einem Barhocker lag ein großer Plüschhund, wie man sie an Schießbuden gewinnen konnte, auf einem zweiten ein Stapel mit Sitzkissen. Auf der Theke standen Präsentationsständer mit Lotterielosen. Kleiner Einsatz – großer Gewinn. Ist heute dein Glückstag? Sofort bis zu 250000 Franken gewinnen. Als David ging, sah er vor der Kneipe eine Friseuse vom Salon nebenan, die im Stehen einen Espresso trank. Wolken, schrieb er in sein Notizbuch, alle Geräusche scheinen verstärkt zu werden von den nassen Oberflächen, das Rauschen der Autos, der Lärm der Vögel, die Kirchenglocken.

Zurück im Dorf ging David auf direktem Weg nach Hause, er durfte niemandem von der Firma begegnen. Zu Hause schaute er ein wenig fern und aß das Brot, das er sich beim Frühstück fürs Mittagessen geschmiert hatte. Am Nachmittag fuhr er mit dem Rad in den Wald. Er hatte die Armeepistole dabei und wollte sie ausprobieren. Munition hatte er keine, es wäre wohl nicht schwierig gewesen, sie zu beschaffen, aber es hätte die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und alles nur komplizierter gemacht. Er stand mitten im Wald und zog die Pistole aus der Plastiktüte und krächzte mit verstellter Stimme, Geld, schnell, immer und immer wieder. Geld, alles, schnell. Am Donnerstag oder spätestens am Freitag würde das Wetter besser werden. Waren das gute Aussichten? Raubte man eine Bank besser bei Regen oder bei Sonne aus?

Diesmal fuhr David absichtlich eine Station zu weit. Immer noch Regen, schrieb er in sein Heft, böiger Wind. Mitten in der Stadt riecht es wie im Wald. Freudige Stimmung, fast feierlich, ohne zu wissen, weshalb. Er brauchte einige Zeit, bis er das Mietshaus wiedergefunden hatte. Niemand war zu sehen, und David las die Namen auf den Klingelschildern, Marra, Reisacher, Wittwer, Garofalo, Nahtigal. Nahtigal sollte es sein. Und wie hieß sie mit Vornamen? Renata war der erste Name, der ihm einfiel, er hatte keine Ahnung, weshalb. Er kannte niemanden, der so hieß. Renata Nahtigal, er sagte den Namen ein paarmal vor sich hin, schrieb ihn in sein kleines Heft. Sie hatte gesagt, sie wohne nicht hier. Vielleicht war sie zu Besuch bei ihren Eltern gewesen. David ging die Straße auf und ab und wartete, aber die Frau tauchte nicht auf. Es hatte wieder zu nieseln angefangen, und er stellte sich bei dem Haus unter, vor dem er sie getroffen hatte. Du bist ja ganz nass, sagte Renata, du wirst dich noch erkälten. Ihr Vater war in den Ferien oder im Krankenhaus, sie war gekommen, um den Briefkasten zu leeren, die Pflanzen zu gießen. Du kannst mir helfen, sagte sie, mein Vater hat viele Pflanzen. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, und Renata zeigte ihm Fotos aus ihrer Kindheit. Sie saßen dicht beieinander, und Renatas eine Hand, mit der sie das Album hielt, lag auf Davids Oberschenkel. Du musst aufpassen, dass du dich nicht erkältest, sagte sie. Warst du schon einmal an der Côte d’Azur?, fragte David.

Es war Mittag. Auf den Bänken im Zentrum des Viertels saßen Lehrlinge und aßen Sandwiches oder Kebab, den sie am Imbiss in der Nähe gekauft hatten. David betrachtete sie und beneidete sie um die Ruhe und die Regelmäßigkeit ihres Alltags, die er selbst aufs Spiel gesetzt hatte. Sie hatten gute Aussichten, ihren Weg zu gehen, ein anständiges Leben zu führen wie ihre Eltern und ihre Großeltern als Teil von etwas Größerem. Er selbst schien für dieses Leben verloren zu sein, auch wenn er es noch bis vor einer Woche selbst gelebt hatte. Er wusste nicht mehr genau, wann er gemerkt hatte, dass es zu einer Entscheidung kommen musste, es war, als habe er es erst gemerkt, als es schon zu spät gewesen war. Und alles, was geschehen war und was geschah und noch geschehen würde, führte hin auf diesen einen Moment. Er würde vor der Bank stehen, zwei Atemzüge lang, und dann die Eichhörnchenmaske überziehen und hineingehen und tun, was zu tun war.

Die Sekretärin hatte die Mutter angerufen und sich nach David erkundigt. Was ist los mit dir?, fragte die Mutter. Du kannst dich doch nicht einfach krankmelden und dann in die Stadt fahren, um wer weiß was zu machen. Ich habe mich wirklich nicht wohl gefühlt, sagte David. Die Mutter legte eine Hand auf seine Stirn und sagte, also Fieber hast du keines. Dann gehst du morgen wieder zur Arbeit? Übermorgen, sagte David, wir haben ohnehin nichts zu tun. Seine Mutter seufzte und ging in die Küche, um das Abendessen zu kochen.

Später, im Bett, ging David in Gedanken noch einmal jede Bewegung, die er machen, jedes Wort, das er sprechen würde, durch. Er blätterte in seinem Heft, las seine Notizen. Auf der letzten beschriebenen Seite stand nur ein Name, Renata Nahtigal. Er löschte das Licht und versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern. Erst hatte er gedacht, sie sei in seinem Alter, aber als er dann vor ihr stand, sah er an den feinen Linien in ihrem Gesicht, dass sie älter war, vielleicht dreißig oder sogar fünfunddreißig. Er ging ins Bad, um die nassen Sachen auszuziehen. Die Plastiktüte nahm er mit. Hast du Angst, dass ich deine Sachen klaue?, rief Renata ihm lachend hinterher. Als er fünf Minuten später ins Wohnzimmer trat, nackt bis auf die Eichhörnchenmaske über dem Kopf, stieß sie einen spitzen Schrei aus und fing dann an zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

Aber das war es nicht, woran er sich noch dreißig Jahre später erinnerte. Es war jener Moment am nächsten Tag, als er vor der Bank stand, zehn Uhr dreiundzwanzig. Vor zwei Minuten hatte eine ältere Frau die Bankfiliale betreten, in wenigen Minuten würde sie wieder herauskommen. David stand da, in der Hand eine Sporttasche mit der Eichhörnchenmaske, der Pistole. Das Wetter war tatsächlich wieder schön geworden, die Sonne schien, aber es war, als sei der Sommer zerbrochen in den zwei regnerischen Tagen. Das Licht war anders geworden, die Luft war klarer und roch schon nach Herbst. Ein leichter Wind ließ ihn frösteln. Er stand da, schaute auf die Uhr, zehn Uhr vierundzwanzig, er atmete zweimal tief durch. Es fühlte sich an wie jener Moment, wenn man auf der Schaukel nach oben geschwungen ist und für einen Moment lang schwerelos ist und glaubt, davonfliegen zu können, bevor die Schwerkraft wieder überhandnimmt und einen zurückzieht ins Leben.

Das schönste Kleid

Als ich Felix zum ersten Mal sah, hatte ich schon seit Monaten für ihn gearbeitet und alle möglichen Geschichten über ihn gehört. Er sei der George Clooney der Dendrochronologie, sagte Nicole, unsere Chefin, nach der ersten Sitzung. Das Projekt wurde von Daniela betreut, und auch sie erzählte die unglaublichsten Dinge über den Chefarchäologen. In der Kaffeepause überboten sich die beiden mit ihren Geschichten. Felix sei unglaublich schön, er sei sportlich, hochgebildet und intelligent und ein vollendeter Gentleman. Mittags geht er immer schwimmen im See, sagte Daniela. Sie hatte eine Sitzung mit ihm und trug unter einem leichten Sommerkleid ihren Badeanzug. Du willst mit ihm schwimmen gehen?, fragte Nicole ungläubig. Dann komme ich mit.

Als die zwei am Nachmittag zurück ins Büro kamen, stellte sich heraus, dass sie nur mit Felix zu Mittag gegessen hatten. Sie waren beide etwas gereizt. Irgendwann will ich ihn auch kennenlernen, sagte ich. Ich glaube nicht, dass das nötig ist, sagte Nicole.

Zwei Wochen später traf ich Felix dann doch. Ich hatte die Entwürfe für die Informationstafeln fertig, die rund um die Grabung angebracht werden sollten, und weil weder Nicole noch Daniela da waren, sagte der Chef, ich solle sie selbst vorbeibringen und sie mit dem Chefarchäologen besprechen. Dann könne der mir gleich sagen, was er davon halte. Ich rief ihn an, und wir verabredeten uns für elf Uhr.

 

Felix, sagte er und streckte mir die Hand hin. Er war braun gebrannt und trug einen weißen Schutzhelm, ich muss zugeben, er sah gut aus. Brigitte, sagte ich, ich bin die Graphikerin. Wenn es nach ihm ginge, sagte Felix, dann bräuchte es diese ganze Baustellenkommunikation nicht. Hier wird gegraben. Wenn es den Leute nicht passt, können wir das auch nicht ändern. Er führte mich in sein Büro, das in einem Container untergebracht war, und ich legte die Mappe vor ihn auf den Tisch. Er blätterte scheinbar ohne großes Interesse in den Entwürfen. Arbeiten in der Agentur eigentlich nur Frauen?, fragte er beiläufig. Nein, sagte ich, aber alle Frauen wollen für dieses Projekt arbeiten. Er blickte kurz hoch und fragte, ob wir uns denn alle für Archäologie interessierten. Für Archäologen, sagte ich und lächelte ihn an. Er schien nicht zu begreifen und klappte die Mappe mit den Entwürfen zu. Entscheiden Sie. Sie sind der Fachmann. Die Fachfrau, sagte ich, auch wenn ich kurze Haare habe. Er schaute mich an und lächelte gequält. Und sie interessieren sich also auch für Archäologie? Die anderen hatten keine Zeit, sagte ich schroff und hätte mich dafür ohrfeigen können. Felix’ Handy klingelte, und er nahm es ab, ohne sich zu melden. Während er zuhörte, verfinsterte sich sein Gesicht. Der Grabungsleiter, sagte er und steckte das Handy wieder ein. Ich muss runter.