Nacht und Nebel - Ahmet Ümit - E-Book

Nacht und Nebel E-Book

Ahmet Ümit

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Beschreibung

Mine, die heimliche Geliebte des Geheimdienstmitarbeiters Sedat, ist verschwunden. Er selbst hat bei der Aushebung eines Terroristenunterschlupfs kaltblütig auf Fliehende geschossen. Gibt es zwischen diesen beiden Ereignissen einen Zusammenhang? Sedat, der nur knapp einem Attentat entkommen ist, macht sich auf die Suche. Sie führt ihn in Istanbuls Künstlerszene, in die Schattenwelt der Kinderprostitution und Kleinstadtganoven. Kategorien wie "Gut" und "Böse" lösen sich auf. Das herrschende System verliert für Sedat Tag für Tag an Glaubwürdigkeit. Je näher er der Lösung des Falls kommt, desto mehr zerfällt seine Selbstsicherheit. In einem furiosen Finale bricht seine Lebenslüge zusammen.  

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Seitenzahl: 475

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Über dieses Buch

Ein Auftrag führt den Geheimdienstmitarbeiter in Istanbuls Künstlerszene, in die Schattenwelt der Kinderprostitution und Kleinstadtganoven. Je näher er der Lösung des Falls kommt, desto mehr zerfällt seine Selbstsicherheit. In einem furiosen Finale bricht seine Lebenslüge zusammen.

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Ahmet Ümit (*1960) studierte Verwaltungslehre in Istanbul und schrieb 1983 seine erste Erzählung. Von 1974 bis 1989 beteiligte er sich an Untergrundaktionen. Später arbeitete er in einer Werbeagentur. Er gilt als der Autor, der für die Türkei den Kriminalroman literaturfähig gemacht hat.

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Wolfgang Scharlipp (*1947) verbrachte seine Jugendjahre auf verschiedenen Kontinenten. In Deutschland studierte er Turkologie, Tibetologie, Indologie sowie Chinesisch. Seit 1997 ist er Universitätsprofessor in Kopenhagen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Ahmet Ümit

Nacht und Nebel

Kriminalroman

Türkische Bibliothek

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel Sis ve Gece bei Doğan Kitapçılık, Istanbul.

Die deutsche Erstausgabe erschien in der Türkischen Bibliothek im Unionsverlag, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut.

Eine Initiative der Robert Bosch Stiftung.

Originaltitel: Sis ve Gece (Istanbul, 1996)

© by Ahmet Ümit 1996

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Selçuk Demirel, 1989

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30168-9

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Version vom 22.06.2022, 07:26h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

NACHT UND NEBEL

1 – Wie bin ich hierher gekommen? Und woher …2 – Der Geruch von Magnolien weht herüber. Ein lauer …3 – Ich friere. Mein Schatten fällt auf die glänzenden …4 – Ein kräftiger Wind und dichte Schneeflocken wollen mich …5 – In der Leere dieses Wohnhauses herrscht ein bedrückendes …6 – Unsere Wohngegend in Esenköy sieht aus wie ein …7 – Mines Vater ist im Hotel Büyük Londra abgestiegen …8 – Der Prachtbau ist zwar alt, aber seine dicken …9 – Bevor ich an der Tür der Griechin klingle …10 – Es wird schon dunkel, als ich zu unserem …11 – Im zweiten Stock der Ersten Abteilung, am Ende …12 – Als ich wieder beim Gebäude des Geheimdienstes eintreffe …13 – In einer der dunklen Straßen, die zwischen die …14 – Die Sicherheitsabteilung ist in heller Freude, als wir …15 – Endlich sind wir dem Gewusel der Sicherheitsabteilung entkommen …16 – Ich habe meinen Ford vorne an der Straße …17 – In der Istiklâl-Straße gehe ich neben einer jungen …18 – Mein Onkel trägt den dunkelblauen Anzug, den er …19 – Ein Klingeln weckt mich, das von ganz tief …20 – Als wir wieder von der Toilette zurück sind …21 – Als ich den Raum verlasse, sehe ich …22 – Als ich zur Zentrale des Nachrichtendienstes komme …23 – Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit treffe ich …24 – In den Gängen des Krankenhauses hallen die Stimmen …25 – Ich treffe Naci in seinem Büro im Ersten …26 – Im zweiten Stock eines Cafés, das an der …27 – Aber Mine kommt nicht wieder. Die Tage vergehen …NachwortWorterklärungenZur Aussprache des Türkischen

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Über Ahmet Ümit

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1

Wie bin ich hierher gekommen? Und woher? Ich weiß es nicht! Ich fand mich hier, sinnlos auf und ab laufend, vor diesem Haus mit der Eisentür, die für alle Ewigkeit geschlossen bleibt, den Fenstern, auf denen eine dicke Staubschicht liegt, mit den von Fäulnis geschwärzten Fensterrahmen, vor diesen alten Mauern mit dem bräunlichen Moos. Was habe ich hier zu suchen vor diesem armseligen Gebäude, das einer gespenstischen Ruine gleicht, in diesem Garten, der wie ein verwahrloster Friedhof aussieht? Ich weiß es nicht. Sosehr ich mich bemühe, mein Gedächtnis kann die Tür zur Vergangenheit nicht einen Spalt weit öffnen. Doch, einige Traumgestalten regen sich, aber sie bleiben verschwommen. Es ist, als hätte die Zeit verschmolzen und durcheinander gemischt, was ich erlebt habe. Ich habe mich in ein wirres Rätsel verstrickt und kann es nicht lösen. Genauso wie ich die Geschichte dieses tristen Hauses nicht verstehe, das mitten in dieser Einöde Wind und Regen überlassen ist.

Ich verstehe nichts von Architektur, aber so viel kann ich sagen: Mit seinen hohen Türmen, den kahlen Wänden und den winzigen Fenstern hat dieses Bauwerk mit unseren Gebäuden nicht das Geringste gemein. Es erinnert mich an Schlösser, die ich in Deutschland gesehen habe. Wenn jetzt Mine hier wäre, würde sie sagen: »Diese Türme sind typisch für das Mittelalter, die Fenster zeigen den Einfluss der deutschen Renaissance.«

Mine! Ja, Mine habe ich gesucht! Seit fünf Tagen ist sie weg. Ich bin zu ihr nach Hause gegangen. Seit fünf Tagen hat niemand von ihr gehört. Aber – hier stimmt doch was nicht! Was hat die verschwundene Mine damit zu tun, dass ich jetzt hier vor diesem Geisterhaus mitten in der öden Steppe stehe?

Ich wende den Blick zum Gebäude. Bei einem anderen Betrachter würde es Furcht und Schrecken auslösen, bei mir indes nur Traurigkeit. Ich habe es vorher noch nie gesehen, doch ich fühle, dass es ein unauflösliches Band zwischen uns gibt. Ich gehe auf die Tür des Gebäudes zu und sinke in die faulenden Blätter im Garten ein. Über der zweiflügeligen Eisentür zieht ein marmorner Vorsprung meine Aufmerksamkeit auf sich. Was ich auf diesem Vorsprung zuerst bemerke, ist ein Stern. Gleich darunter ähnelt etwas einem Lauf und lässt mich sofort an einen Revolver denken. Unter dem Griff des Revolvers ist ein Halbmond in den Stein gehauen. Ein Stern, darunter ein Revolver und gleich unter dem Revolvergriff ein Halbmond. Vage erinnere ich mich an dieses Emblem, aber ich komme einfach nicht darauf.

Ich nähere mich der Tür. Davor hängt ein verrostetes Hängeschloss. Ich zerre daran. Es gibt nicht nach. Obwohl es so alt und zerbrechlich aussieht, ist es sehr stabil. Ich lasse ab von dem Schloss und versuche die Tür aufzustoßen. Die eisernen Flügel sind ganz eingestaubt, als hätte sie seit Jahren niemand berührt. Sie geben kein bisschen nach. Dunkelgelbe Staubkörnchen flirren um meine Hände. Ich gebe nicht auf. Mit beiden Händen hämmere ich gegen die Tür. Von drinnen kommt kein Laut. Ich schlage noch fester dagegen. Ich schlage, bis meine Hände schmerzen, aber merkwürdig, es macht mir nichts aus, ich schwitze nur. Außerdem schwitze ich nur rechts. Ich hämmere weiter gegen die Tür, aber von drinnen kommt keine Antwort, nur mein Schweiß tritt mir noch immer aus allen Poren. Ich kann die Hitze fühlen, die über meine Haut streicht. Warum schwitzen nur meine rechte Schulter und die rechte Seite des Bauches? Das verstehe ich nicht. Und weil ich es nicht verstehe, steigt Angst in mir auf. Ich fürchte mich vor meiner Vergangenheit, vor meinen Gedanken, meinem Körper und vor diesem alten Haus.

Fürchte dich nicht, sage ich mir. Irgendwann wird schon jemand kommen und mich finden, meine Leute werden mich doch nicht im Stich lassen? Selbst wenn mich alle vergessen, Yıldırım nicht. Yıldırım? Ist Yıldırım nicht tot?

Ich schwitze. Von meiner Schulter, meinem Bauch rinnt warmer Schweiß. Ich merke, dass mein Hemd schwerer geworden ist, dass meine Hose schon ein wenig feucht wird. Immer stärker schwitze ich.

In meinem Ohr schallt ein Klingellaut. Erst glaube ich, dass es der Wind ist, der durch die dürren Äste streicht; als es wieder klingelt, weiß ich, dass es ein Telefon ist. Ich drehe mich um und betrachte das alte Haus vor mir. Wie eine verschlossene Kiste, die ihr Geheimnis nicht preisgibt. Wieder dieses Klingeln, diesmal ist es beharrlicher. Ich muss das Telefon finden. Aufgeregt laufe ich wieder hinüber zur Tür. Bestimmt ist es Yıldırım, der anruft. Endlich hat er meine Spur gefunden. Ich schlage auf die Tür ein, ich stoße sie, ich ramme mit der Schulter dagegen, aber vermag sie kein bisschen zu bewegen. Wieder die Klingel. Aufmerksam lausche ich. Das Klingeln scheint von der Rückseite des Hauses zu kommen. Ich renne in diese Richtung. Als ich an die Ecke komme, ist da eine Telefonkabine, wie sie sonst an den Straßen stehen. Ich muss abnehmen, ehe das Telefon wieder verstummt. Ich stürze in die Kabine. Noch während es klingelt, hebe ich den Hörer ab.

»Hallo?«

Am anderen Ende kein Laut.

»Hallo?«

Mein Körper brennt wie in hohem Fieber. Ich schwitze. »Hallo?«

Eine erstickte Stimme beginnt zu sprechen: »Man hat Yıldırım Binbaşı erschossen. In der Nähe seines Hauses …«

Ich möchte etwas fragen. Aber mein Mund ist so trocken, und ich merke, wie sich die dünne Haut über meinen Lippen spannt und an verschiedenen Stellen aufspringt. Ich versuche meine Lippen mit der Zunge anzufeuchten. Wie eine vertrocknete Echse krümmt sich meine Zunge im Mund. Die Stimme wartet nicht auf meine Frage, der Hörer wird aufgelegt. Wie versteinert bleibe ich mit dem Hörer in der Hand stehen. Vom Hörer fließt eine Flüssigkeit, die aussieht wie roter Schleim, die Schnur entlang zum Apparat. Ich schaue hin, es ist mein eigener Schweiß. Wenn ich noch länger in dieser Kabine bleibe, wird der Schweiß mich umbringen.

Als ich aus der Kabine herauskomme, taucht eine Menschenmenge vor mir auf, ein Trauerzug. Alle sind schwarz gekleidet, offenbar eine offizielle Trauerfeier. In gesammelter Trauer kommen sie mit schweren Schritten näher. Die meisten sind Männer; nur vor dem Sarg geht eine Frau. Vor ihrer Brust trägt sie ein Ölgemälde. Es muss das Bild des Verstorbenen sein. Das Haar der Frau ist unter einem schwarzen Kopftuch verborgen. Als sie sich nähern, erkenne ich sie: Gülseren, Yıldırıms Frau. Ich schäme mich. Ohne zu wissen, warum, werde ich verlegen wie ein Kind. Gülseren kommt auf mich zu, bleibt vor mir stehen. Ich lasse den Kopf hängen.

»Wenn du ihn bloß nicht allein gelassen hättest«, sagt sie. »Er hat dir vertraut.« In ihrer Stimme sind weder Trauer noch Wut. Sie klingt mechanisch und monoton.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, weiche nur zwei, drei Schritte zurück. Sie aber tritt näher. Je näher sie kommt, desto mehr weiche ich zurück. Jeden Schritt, den ich tue, folgt sie mir nach. Ich werde nervös. Was will diese Frau von mir? Ich hebe meinen Kopf. Ich bin darauf vorbereitet, dass sie mich mit einem vernichtenden, anklagenden Blick ansieht, der mir bedeutet, ich sei ein Feigling. Gülseren aber steht aufrecht vor mir mit ausdrucksloser Miene. Sie sieht mich nicht einmal, ihre Augen sehen durch meinen Körper hindurch auf einen Punkt in weiter Ferne. So schaut kein normaler Mensch. Ich sehe zur Menschenmenge hinüber und hoffe, dass mir vielleicht jemand zu Hilfe kommt. Aber sie haben alle den gleichen Blick wie Gülseren … Ich bekomme Angst. Ich will sofort weg von hier, weit weg von diesen merkwürdigen Menschen. Als ich mich umdrehe und losrennen will, stolpere ich über meine eigenen Füße und schlage der Länge nach auf den Boden. Schnell drehe ich mich zu den Leuten um. Gülseren und der Trauerzug kommen auf mich zu. Ich habe keine Zeit, mich aufzurichten. Gleich werden sie mich zertrampeln. Ich greife nach meinem Revolver. Sobald ich mich bewege, wird auch die Menge schneller. Meine Hand findet die Pistolentasche, aber die Waffe ist weg. Sie kommen näher und näher, kein Meter ist mehr zwischen mir und dem Gemälde, das Gülseren vor sich her trägt. Mir ist, als erkenne ich den Mann auf dem Bild, aber je näher es kommt, desto verschwommener die Farben, und die Umrisse lösen sich auf. Ich glaube, ich verliere den Verstand. Ich hebe den Kopf und schaue mit einem letzten Funken Hoffnung auf Gülseren. Ihr Blick ist noch immer auf diesen Punkt in der Ferne gerichtet, keine Regung zeigt sich in ihrem Gesicht. Sie und die Menschen hinter ihr kommen langsam näher. Ich will schreien: »Bleibt stehen! Es ist ein Irrtum!« Aber ich kann den Mund nicht öffnen. Ich weiß nicht, was los ist. Mein Kiefer, die Lippen und die Zunge gehorchen mir nicht mehr. Sosehr ich mich auch anstrenge, nicht einmal ein Seufzer kommt über meine Lippen. Ich habe Angst. Je größer meine Angst wird, desto stärker schwitze ich. Ununterbrochen tritt mir Schweiß aus allen Poren, fließt über meine Schulter, über den ganzen Körper. Das Gemälde nähert sich schnell, jeden Augenblick wird sie es mir ins Gesicht schlagen. Ich wende meinen Kopf zur Seite und presse ihn gegen den Boden. Das Gesicht in die Erde gegraben, warte ich voller Angst darauf, dass ich zertreten, womöglich gelyncht werde. Mein Herz beginnt zu rasen wie eine kaputte Uhr, die zu schnell läuft. Ich höre meinen Schweiß auf die Erde tropfen. Das Tropfen übertönt das Klopfen meines Herzens. Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe und eine schleimige Spur von mir auf der Erde zurückbleibt. Aber die Sekunden vergehen, und niemand tritt mich, nicht ein einziger Fußtritt trifft mich. Zögernd warte ich ab. Nichts rührt sich. Gleich neben mir müssen sie stehen geblieben sein, mich mit Furcht einflößenden Blicken anstarrend und in tödliches Schweigen versunken. Nun bin ich es leid zu warten. Voller Angst hebe ich meinen Kopf. Merkwürdig, keiner da. Verwundert suche ich die Gegend ab. Nein, nichts, da ist niemand. Sie sind weg. »Sie sind tatsächlich weg«, murmle ich erleichtert. Wohin nur können so viele Menschen innerhalb eines Augenblicks verschwinden? Als ich mich erst mit den Händen, dann mit den Knien hochstemme, sehe ich das Bild, das Gülseren getragen hat. Genau vor mir, unter einer alten Platane, die bald umfällt, steht es auf einer ganz neuen Staffelei. Sie haben es also hier gelassen. Vielleicht ist es ein Zeichen, und sie wollen mir etwas mitteilen? Sorgfältig betrachte ich das Bild. Sieht aus wie ein Mann, der ausgestreckt auf dem Boden liegt. Aus dieser Entfernung kann ich es nicht genau erkennen. Nun verschwimmen die Farben nicht. Ich gehe auf das Bild zu. Jetzt sehe ich den Mann klar. Mit beiden Händen hält er sich den Bauch und krümmt sich auf der Erde. Zwischen seinen Fingern entspringt eine rote Quelle, von seiner linken Schulter dehnt sich ein dunkler Fleck bis über seinen rechten Arm aus. Er muss verletzt sein. Das Gesicht ist verzerrt, Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Auf dem Bild ist dieser Mann so deutlich, so echt. Das Rot, das durch seine Finger rinnt, breitet sich aus. Irgendwie kommt mir der Mann bekannt vor. Ich kenne ihn von irgendwoher …

2

Der Geruch von Magnolien weht herüber. Ein lauer Windzug streicht über unseren sonnigen Balkon und spielt mit den Vorhängen. Mir ist, als sähe ich das Dunkelgrün des Kastanienbaumes im Garten. Ist dies hier das Gartenhäuschen meines Großvaters? Eigenartig! Haben wir es nicht schon längst verkauft? Irgendjemand in meiner Nähe spricht, die Stimmen sind gedämpft. Ich versuche zuzuhören. Der Magnolienduft verflüchtigt sich, ich verliere die Kastanienbäume aus dem Blick, der laue Wind hält plötzlich inne.

»Schau! Er hat sich bewegt, er kommt zu sich.«

Die Stimme kommt von so weit her, dass ich sie kaum höre. Meine Augenlider scheinen von einem tonnenschweren Gewicht niedergedrückt, nur mit Mühe öffne ich sie. Strahlen- des Licht blendet meine Augen. An meinem Kopfende stehen zwei Gestalten. Eine Zeit lang weiß ich nicht, wo ich bin. Das grelle Licht brennt in meinen Augen. Ich will kein Licht, ich will keine Stimmen, ich will nicht darüber nachdenken, wo ich bin. Ich sehne mich nach dem schattigen Garten des Häuschens.

Meine Mutter und Tante Neriman sitzen in dem kleinen Raum, halten Frauenzeitschriften in den Händen und unterhalten sich über Mode. Mein Vater und Onkel Ismet sitzen wie immer am Tisch unter dem Kastanienbaum und trinken Rakı. Ich gehe zu ihnen hinüber und nehme ein Stück Pastırma vom Teller meines Onkels. Es schmeckt sehr gut. Mein Onkel wirft einen Blick zu den Frauen hinüber und hält mir dann sein Glas hin. »Probier mal!« Noch habe ich den Geschmack des Rakı nicht kennen gelernt. Aber ich lasse nichts auf meine Mannhaftigkeit kommen und nehme einen Schluck aus dem Glas, das er mir reicht. Von meiner Kehle bis zum Magen hinunter brennt es wie Feuer. Ich kann mich nicht sehen, aber ich schaue sicher komisch drein. Mein Onkel bricht in schallendes Gelächter aus. Mein Vater sieht uns zu, zieht die Augenbrauen zusammen und schüttelt den Kopf.

»Er kommt zu sich. Ruft den Doktor, Doktor!«

Der scharfe Geschmack des Rakı verschwindet. Aber Übelkeit steigt in mir auf.

»Seht mal, er wacht auf! Schwester, rufen Sie den Doktor, den Doktor, wo ist er?«

Ich höre die Stimme sehr deutlich. In ihr ist eine aufgeregte Freude, und sie hallt in meinen Ohren wider.

Ich öffne die Augen. Die Gestalten an meinem Kopfende werden rasch deutlicher. Erst erkenne ich das Gesicht meiner Frau Melike, dann das meines Onkels Ismet.

Melike hat sich über mich gebeugt, ihre vor Schmerz zusammengekniffenen Augen sind voller Tränen. »Wie fühlst du dich, Liebling? Du wirst wieder gesund werden, du wirst gesund werden. Mach dir keine Sorgen!« Sie versucht, mir Mut zu machen, aber eigentlich müsste sich jemand darum kümmern, dass sie sich beruhigt.

Onkel Ismet wirkt gelassen. Als er merkt, dass ich ihn ansehe, lächelt er. Die Spuren von Kummer sind noch nicht ganz aus seinen Augen verschwunden. Er tritt näher. »Du siehst gut aus«, sagt er. Hört er sich gekränkt an? Und wenn schon, was geht mich das an? Ich möchte nach Mine fragen.

»Habt ihr sie gefunden?« Meine Stimme ist so kraftlos, dass ich erschrecke. Als wolle er meine Reaktion testen, blickt mir der Onkel direkt in die Augen und beantwortet meine Frage: »Sie hatten sich für den Kampf entschieden, und so konnten wir einen nur tot in die Hände kriegen«, antwortet er. »Den anderen hast ja du fertig gemacht.«

Wen habe ich fertig gemacht? Fahri, er muss von Fahri reden. Ja, den habe ich erschossen. Ich habe gesehen, wie er zu Boden gestürzt ist. Bevor er fiel, hat er mich wohl verwundet. Nein, Fahri hatte nicht einmal geschossen. Es muss der andere gewesen sein, der mich angeschossen hat. Der Kerl, der als Sesamringeverkäufer verkleidet war. Haben sie den auch erschossen? Ist der etwa tot?

Als ob er meine Gedanken lesen würde oder einfach nur sehen möchte, wie ich auf das reagiere, was er mir mitteilt, fährt mein Onkel fort: »Er wollte gerade fliehen, wir konnten ihn im Haus der Terrorgruppe in die Enge treiben. Er hat zuerst geschossen. Wenn wir ihn bloß lebend in die Hände gekriegt hätten!«

Melike hört uns aufmerksam zu.

»Bei ihm haben wir eine automatische Pistole polnischer Herkunft gefunden. Das ist nicht die Waffe, mit der auf dich geschossen wurde.«

Sie haben die Waffe nicht gefunden, macht nichts. Wichtig ist nur Mine. Was ist mit ihr geschehen? Fahri ist tot. Wenn sie seinen Freund auch erschossen haben, wie soll ich dann Mine finden? Und wenn ich meinen Onkel ganz offen nach ihr frage? Ich weiß, er wird nicht gerade freundlich darauf reagieren. Melike weicht ohnehin nicht von meiner Seite. Ich muss meinen Onkel ein wenig näher heranrufen. Ich will mich aufrichten, schaffe es aber nicht. Meine rechte Schulter steckt in einem Verband, auf dem Rücken der linken Hand ist eine Kanüle befestigt, die in die Vene führt. Als ich den Kopf hebe, sehe ich am anderen Ende des Schlauches einen Plastikbeutel mit Blut. Die dunkelrote Flüssigkeit im Beutel sickert langsam in meine Adern. Aber das Blut scheint stillzustehen, als ob es nicht weniger würde, und es wird immer dunkler, bleibt im Beutel. Auf einmal hallt es in meinen Ohren wider. Schwinden mir die Sinne vom Anblick des Blutes? Nein, Menschenskind! Den Anblick von Blut bin ich gewohnt. Aber warum ist mir so schwindlig? Das Gesicht meines Onkels verschwimmt. »Der Arzt, jemand soll den Arzt holen!«, fleht die Stimme meiner Frau und verflüchtigt sich in der Ferne. Ich schließe die Augen. Yıldırım Abi steht mir auf einmal gegenüber, mit einem Lächeln unter seinem Schnauzbart, und bietet mir eine Zigarette an.

»Auf wen wartest du?«, frage ich ihn, als ich die Zigarette nehme.

»Auf wen werde ich hier wohl warten?«, fragt er spöttisch zurück und schaut sich um.

Auch ich sehe mich um und stelle fest, dass wir uns vor dem Haus befinden, in dem meine Wohnung ist. Verwundert sage ich: »Das ist ja mein Haus.«

»Und ich habe schon auf dich gewartet.«

»Gut, aber bist du denn nicht tot?«, frage ich ihn.

Er tritt näher und flüstert, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Ich habe einen Auftrag für dich.«

»Einen Auftrag?« Da fällt mir etwas ein, und der Gedanke gefällt mir. »Etwa deine Mörder zu …«

»Das ist deine Angelegenheit, meine Mörder zu finden«, schneidet er mir das Wort ab. »Deinetwegen bin ich gekommen.«

»Meinetwegen?«

»Ja, du wirst eine Prüfung ablegen. Und ich bin zum Prüfungsbeauftragten bestimmt worden.«

Das verstehe ich nicht, verdutzt frage ich ihn noch einmal: »Yıldırım Abi, bist du denn nicht tot?«

»Stimmt, ich bin tot.« Und mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen fügt er hinzu: »Aber wenn du denkst, dass mein Tod mich von meinem Auftrag befreit, dann irrst du dich.«

Ich sehe ihn eine Zeit lang an, als könnte ich ihn dann besser verstehen. »Nun gut, was ist das für eine Prüfung?«

»Das darf ich dir nicht sagen. Wenn du das gebrauchst, was man dich gelehrt hat, gibt es keinen Grund, warum du die Prüfung nicht bestehen solltest. Vor vielen Jahren bin ich in Panama durch eine ähnliche Prüfung gegangen. Ich bin sicher, auch du wirst sie bestehen.«

Er lächelt. Ich lächle zurück. Er sieht überhaupt nicht wie jemand aus, der gestorben ist.

»Wir werden uns zusammen auf eine Reise begeben. Auf dieser Reise kommt es darauf an, dass du keine Fehler machst.«

Alles ist wie früher. Ich bin sofort dabei. Genauso wie in alten Zeiten lasse ich mich augenblicklich von dem Ereignis forttragen. Als sei Yıldırım Abi nicht ums Leben gekommen, als müssten wir uns gemeinsam auf eine größere Operation vorbereiten. Durch die Erfahrung vieler Jahre selbstsicher geworden, antworte ich ihm: »In Ordnung, ich bin bereit.«

»Dann fangen wir also an.« Mit einer Kopfbewegung zeigt er auf ein Auto, das mehrere Meter entfernt steht. »Lass uns zum Wagen gehen!«

Ich krame die Autoschlüssel hervor und schließe die Türen auf. Während ich einsteige, bemerke ich, dass Yıldırım bereits auf dem Beifahrersitz sitzt. Als er meine Überraschung bemerkt, lächelt er: »Was hast du denn? Na los, setz den Wagen in Bewegung!«

Ich drehe den Zündschlüssel um, und der Motor springt sofort an. Ich schaue Yıldırım an, stelle aber keine Fragen. An diese neue Situation muss ich mich erst gewöhnen. Ich nehme den Fuß von der Kupplung, drücke aufs Gas, und der Wagen fährt sogleich los. Wir lassen den Garten des Hauses hinter uns. Ich suche noch immer nach einem Anhaltspunkt, was diese komische Prüfung, der ich hier unterzogen werden soll, wohl bedeuten kann, aber da fragt mich Yıldırım Abi: »Hast du das Mädchen gefunden?«

Ich drehe mich zu ihm um, und wir sehen uns in die Augen. Unmöglich zu erkennen, ob er mich anklagt oder mir Recht gibt. Ich wende mich wieder der Straße zu.

»Hast du mit ihr etwas angefangen, nachdem ich gestorben bin?«, fragt er weiter. Weder Zorn noch Herablassung klingen in seiner Stimme an. Ich spüre vielmehr die Aufrichtigkeit eines Freundes, der meinen Kummer mit mir teilen will. Aber ich halte mich zurück. Ich weiß, dass Yıldırım nicht viel von Ehe, Kindern oder Liebe hielt. Er fürchtete sich immer vor gefühlsmäßigen Bindungen, die wichtiger als unsere Arbeit werden und uns bei unseren Aufgaben im Wege sein könnten. Aus diesem Grund hatte er neben seiner Frau immer nur flüchtige Bekanntschaften.

»Woher weißt du davon?«, frage ich ihn.

»Hast du das vergessen? Wir wissen doch alles, wir müssen alles voneinander wissen. Nur wenn man Bescheid weiß, kann man eine Aufgabe erledigen.« Er klingt spöttisch, als ob er einen dozierenden Lehrer imitiert.

Etwas in mir spannt sich an, aber ich muss mich beherrschen, muss lockerer werden. Ebenso spöttisch erwidere ich: »Da sind wir beim Thema Spionage und Gegenspionage.« Ernster frage ich dann: »Wer um Himmels willen hat dir von Mine erzählt?«

»Niemand. Ich habe das selbst herausgefunden.«

»Na schön, noch einmal frage ich nicht, ob du tot bist, aber sag mir, warum du nachgeforscht hast.«

»Als du aufgehört hast, nach meinen Mördern zu suchen, habe ich mir gedacht, dass es dafür einen guten Grund geben muss.«

Ich hätte mir denken können, dass das Gespräch darauf kommen wird. Während er weiterredet, bleibe ich still.

»Glaub nicht, dass ich dir etwas vorwerfe, du musst nicht unbedingt meine Mörder finden. Der Grund für meine Nachforschungen war reine Neugier.«

Ich reiße mich zusammen. »Weißt du nicht, dass die Mörder gefunden wurden? Jener Terrorist …«

»Aber Sedat! Rede wenigstens du nicht so dummes Zeug. Gerade hast du noch gefragt, ob ich gekommen sei, um meine Mörder zu finden!«

»Als wir so miteinander gesprochen haben …«

»Das ist nicht anständig, Sedat. Du beleidigst damit deine eigene Intelligenz genauso wie meine.«

Ich merke, dass ich während des Gesprächs immer tiefer in den Sitz gesunken bin. Ich lege einen anderen Gang ein und gebe mehr Gas. Am Straßenrand taucht die Werbung einer Blue-Jeans-Marke auf einem riesigen Reklameschild auf. Ein attraktives Mädchen mit dunklem Teint und nacktem Oberkörper steckt in einer Jeans, die alle Einzelheiten ihres Unterleibes betont, und lächelt uns aufreizend zu.

Als wir an dem Schild vorbeifahren, fragt Yıldırım Abi: »Hat das Mädchen dir wenigstens gut getan?«

Ich widerspreche augenblicklich: »Nein, nicht so, wie du denkst. Ich habe sie geliebt.«

»Das meine ich auch. Das Mädchen hat dir den Boden unter den Füßen weggezogen, sie hat dich in eine Welt zurückgeführt, die du schon längst vergessen hattest.«

Ich warte darauf, dass er hinzufügt: »… während ich gestorben bin.« Aber er sagt es nicht. Um mich von der Last des soeben Gesagten freizumachen, frage ich: »Hat die Prüfung etwa hiermit zu tun?«

»Möglicherweise. Genaueres kann ich nicht sagen.«

»Eigentlich hatte ich die Absicht, alles meinem Onkel zu erzählen«, sage ich und gestehe damit wohl meinen Fehler ein.

»Das halte ich nicht für ratsam, die verstehen dich nicht. Seit der Sache mit dem Bittschreiben haben die kein Vertrauen mehr in dich.«

Eine solche Antwort habe ich überhaupt nicht erwartet. Was führt dieser Mann im Schilde?

»Was denkst du, war diese Beziehung ein Fehler?«

»Wenn du gewusst hättest, dass diese Beziehung nicht richtig ist, hättest du sie nicht trotzdem begonnen?«

»Vielleicht …«

»Ich bin mir sicher. Du warst doch verliebt. In deinem Alter ist Verliebtheit sehr gefährlich.«

»Was hat das Alter damit zu tun?«

»Eine ganze Menge. Aber jetzt ist nicht die richtige Zeit, darüber zu reden.«

»Du redest in Rätseln. Jetzt sei offen und sag endlich mal was Vernünftiges!«

»Bau nicht auf mich. Du bist ganz allein. Was du tust, wirst du alleine tun.«

Er wendet sich von mir ab und schaut auf die Straße, als ob er mir dadurch zu verstehen geben will, dass er das Gespräch nicht fortsetzen möchte. Aber dann dreht er sich erneut zu mir um: »Die einzige Hilfe, die ich dir anbieten kann, ist, dir zu sagen, dass du vorsichtig sein sollst. Sei vorsichtig!«

»Sei vorsichtig!« Diese zwei Wörter hallen in meinen Ohren wider. Yıldırım gibt diese Warnung nicht unbegründet von sich, er hat uns immer nur gewarnt, wenn wir während einer Operation unmittelbar mit einer bewaffneten Auseinandersetzung rechnen mussten. Gibt er mir damit ein Zeichen? Vielleicht irre ich mich, vielleicht sagt er es nur so dahin. Aber lieber irre ich mich, als in der Prüfung zu versagen.

»Sei vorsichtig!« Jedes Mal, wenn ich diese Ermahnung höre, fährt meine Hand gleich zur Waffe. Dieses Mal reagiere ich nicht so, begnüge mich vielmehr damit, die Umgebung zu mustern. Da ist nichts, was mich misstrauisch machen könnte. Die Nebenstraße, auf der wir fahren, wird bald mit einer scharfen Kurve in die Hauptstraße einmünden. Der Verkehr ist ruhig. Weiter vorn, wo die Kurve beginnt, steht ein Mann auf dem Bürgersteig. Ganz klar kann ich es nicht erkennen, aber vor ihm steht etwas, was wie der Verkaufswagen eines Straßenhändlers aussieht. Als wir näher kommen, sehe ich, dass der Mann Sesamringe verkauft. Sesamringe? Aber hierher kommen doch so gut wie keine Fußgänger! Verkauft er Sesamringe an die Leute in den Autos? Aufmerksam beobachte ich den Mann. Ich habe ihn hier in der Gegend noch nie gesehen. Er sieht aus wie einer jener Straßenhändler, die frisch aus dem Dorf gekommen sind. Ich muss sichergehen, wende mich zu Yıldırım und sehe, dass er mich beobachtet. Er ist ja der Prüfungsbeauftragte, keine einzige meiner Bewegungen, kein Augenzwinkern, kein Atemholen will er sich entgehen lassen. Er schüttelt den Kopf, als ob er sagen will: »Frag nichts!«, und beantwortet so meinen Hilfe suchenden Blick.

»Wunderst du dich?«, fragt mich Yıldırım. Ihn hatte ich völlig vergessen.

»Du hast das auch gesehen, oder?«, frage ich zurück.

»Du darfst nicht ohnmächtig werden«, schärft er mir ein.

»Wo warst du?«

»Ich war hier, neben dir.«

»Du bist nicht getroffen worden, was?«

»Sei nicht albern, Gespenster werden nicht erschossen.«

»Recht hast du«, sage ich lächelnd. Sogar das Lächeln verursacht mir Schmerzen. Ich muss schlimm aussehen.

»Du musst jemanden finden, der dich ins Krankenhaus bringt.«

»Du würdest mir nicht helfen, nicht wahr?«

»Ich habe doch gesagt, das ist deine Prüfung.«

»Habe ich denn bestanden?«, frage ich ihn.

»Die Prüfung ist noch nicht beendet«, antwortet er nur.

»Noch nicht beendet?«

Er schüttelt den Kopf. »Sie fängt noch mal von vorne an.«

Sein rätselhaftes Verhalten bringt mich völlig durcheinander. Meine Gedanken treiben wie einzelne Fetzen auseinander und auf einen fernen Horizont zu, mein Verstand hat nicht mehr die Kraft, sie wieder zu vereinen. Ich verstehe nichts mehr. Ich will raus aus diesem Auto und ins Krankenhaus. Aber ich kann mich nicht bewegen. Innerlich verfluche ich alles und jeden. Das Lenkrad drückt sich mir in den Magen, ich rutsche zurück, damit dieser Druck nachlässt. Wie hart der Sitz ist! Das Steuerrad presst sich noch immer an mich. Ich versuche dem Druck seitlich auszuweichen, schaffe es aber nicht. So bin ich zwischen Steuerrad und Sitz eingeklemmt. Als ob sie sich abgesprochen hätten, quetschen sie meinen Körper wie eine Schraubzwinge, um alles Blut aus meinen Adern zu pressen. Ich kann kaum atmen. Wie ein Fisch, der aufs Land geworfen wird, reiße ich meinen Mund auf, aber Luft kriege ich nicht. Alles dreht sich um mich, in meinen Ohren hallt es. Ich friere so sehr, dass meine Zähne klappern. Ich möchte mich zusammenrollen, doch jede Bewegung verursacht mir Schmerzen in Schulter und Bauch.

Ich höre, wie Yıldırım mich auffordert: »Beruhige dich, beruhige dich, es ist gleich vorüber.«

Ich öffne die Augen … Aber das ist nicht Yıldırım; ein Mann in weißem Kittel und mit finsterem Gesicht fühlt meinen Puls, sieht auf die Uhr und zählt, dann legt er die Hand auf meine Stirn und fragt teilnahmslos: »Hast du Schmerzen?«

»Mir ist kalt.«

»Das ist normal«, erklärt er. »Du hast viel Blut verloren.«

Mein Onkel und Melike beobachten uns mit sorgenvollen Augen.

Der Arzt steht auf. »Es gibt keinen Grund zur Sorge. Sein Zustand bessert sich.«

»Er zittert«, sagt Melike mit einer Stimme, als ob ihr selbst kalt wäre.

Der Arzt wendet sich an die kleine Krankenschwester neben ihm: »Legen Sie noch eine Decke auf den Patienten.«

Die Schwester holt eine Decke aus dem Wandschrank. Melike nimmt sie ihr ab und breitet sie so vorsichtig über mir aus, als fürchte sie, mich damit zu verletzen. Aber ich friere immer noch. Mir wird einfach nicht wärmer.

3

Ich friere. Mein Schatten fällt auf die glänzenden Marmorwände der Leichenhalle, eine traurige Gestalt. Die Schultern hängen herab, ich sehe aus wie ein buckliger Bettler.

»Geht es dir gut, Chef?«, fragt Mustafa respektvoll.

»Ich fühle mich ein bisschen zerschlagen, aber ich schaffe das schon«, antworte ich.

Vor zwei Tagen bin ich aus dem Krankenhaus entlassen worden und eigentlich noch nicht so weit wiederhergestellt, dass ich raus auf die Straße könnte. Aber die Zeit drängt, ich muss den Mann identifizieren, der mich angeschossen hat.

Wir gehen durch die Leichenhalle. Ich erschauere innerlich. Spöttisch sieht mich der Angestellte an. Er denkt wohl, dass ich mich vor den Toten fürchte. Ich bin in Zivil, vermutlich denkt er, ich sei ein Zeuge. Aber irgendwie ist auch Mustafa nervös.

»Warum grinst du?«, fährt er den Angestellten an.

»Nichts«, beschwichtigt der Mann ihn und reißt sich zusammen.

Zehn Kabinen mit glänzenden Metalltüren liegen nebeneinander, er geht zur zweiten und öffnet sie. Kühle Luft strömt heraus. Ich fröstle. Der Mann zieht die Liege, über der ein weißes Tuch ausgebreitet ist, heraus. Die Liege läuft auf Schienen und hält zwischen Mustafa und mir. Der Angestellte der Leichenhalle schaut auf den Zettel am Fuß der Leiche.

»Özer Yılkı, das ist doch der Tote, den Sie suchen, nicht wahr?«

»Genau der«, antwortet Mustafa und sieht mich dabei an. Dann hebt er langsam das Tuch hoch. Zuerst erblicke ich die rabenschwarzen Haare des Toten. Unglaublich, wie sehr diese Haare glänzen, als ob sie einem lebenden Menschen gehörten. Dann sehe ich sein Gesicht. Der Mann ist in den Dreißigern, hat eine schmale Stirn, dünne Augenbrauen. Seine Augen hat jemand zugedrückt, oberhalb des Wangenknochens ist ein schwarzes Loch, die Leistung eines 9-mm-Geschosses. Aber das ist nicht der Sesamringeverkäufer, der auf mich geschossen hat! Ich sehe ihn mir genau an, nein, das ist er auf keinen Fall. Der Verkäufer hatte braunes, schütteres Haar, ja eigentlich eine Glatze. Auf einmal kommt mir der Gedanke, dass die Haare dieser Leiche eine Perücke sein könnten.

»Kontrollierst du mal seine Haare?«, frage ich.

Mustafa begreift nicht und sieht mich fragend an.

»Die Haare, hab ich gesagt! Vielleicht ist das eine Perücke, würdest du mal nachsehen?«

Mustafa begreift noch immer nicht. Der Angestellte reagiert schneller. An meinem Tonfall hat er erkannt, dass ich der Chef bin, und will den vorher begangenen Fehler wieder gutmachen, sich vielleicht auch an Mustafa rächen. Er tritt einen Schritt vor und greift mit einem Ruck in die Haare des Toten. »Nein«, sagt er dann. »Das sind seine eigenen.«

Aufmerksam studiere ich das weiße Gesicht des Leichnams. Nein, das ist nicht der, der auf mich geschossen hat, mit Sicherheit nicht. Erfreut sage ich mir, dass der Täter also nicht tot ist.

»Ist er das nicht?« Ich hebe den Kopf und begegne Mustafas fragendem Blick. Ob es für ihn irgendeine Bedeutung hat, dass ich den Leichnam nicht identifizieren kann?

»Bist du bei der Operation dabei gewesen?«

»Ja, Chef«, antwortet er, und seine Augen blitzen auf.

Ich frage nicht, ob er ihn selbst erschossen hat, denn der Fall ist offensichtlich.

»Das ist nicht der Mann, der auf mich geschossen hat.« Damit raube ich ihm den Stolz, dass es nicht nur ein beliebiger Terrorist war, den er erledigt hat, sondern der Mann, der seinen Chef angeschossen hat. Mustafa und ich arbeiten jetzt seit zwei Jahren zusammen. Ich habe versucht, zu ihm eine ähnlich gute Beziehung aufzubauen, wie sie zwischen Yıldırım und mir bestand. Es klappte nicht. Zuerst hielt ich Mustafa für untalentiert, dann habe ich eingesehen, dass auch ich nicht so gut bin wie Yıldırım. Jetzt herrscht zwischen uns eine Beziehung wie zwischen einem Chef und seinem Untergebenen, achtungsvoll, aber kühl. Ich glaube nicht, dass er schlecht über mich denkt, aber niemals wird er mich bewundern, wie ich Yıldırım bewundert habe. Das hätte ich auch nicht verdient.

»Gehen Sie jetzt nach Hause, Chef?«, fragt er, als wir in den Wagen steigen.

»Mach erst mal die Heizung an«, erwidere ich. »Ich bin halb erfroren.«

»Tut mir leid, Chef«, antwortet er und wendet sich mit einer bedauernden Geste an mich. »Die Heizung ist wieder kaputt.«

Während Mustafa den Zündschlüssel umdreht, wickle ich mich in meinen Mantel. Das Beste wäre jetzt, nach Hause zu gehen, etwas Heißes zu trinken und auszuruhen. Aber ich muss Mine finden. Jede Minute verblasst sie ein wenig mehr. Das wird mir auf ganz merkwürdige Weise bewusst. Inzwischen sind zwanzig Tage vergangen: Ist sie noch am Leben? Solange man ihre Leiche nicht findet, habe ich Hoffnung. Auch den Sesamringeverkäufer, der auf mich geschossen hat, muss ich finden! Er ist der Schlüssel zum Ganzen. Wer ist dieser Mann? Sicherlich einer von Fahris Freunden aus der Terrorgruppe, wer sonst? Aber in allen Berichten, die über Fahri geschrieben wurden, stand, dass er sich von der Gruppe losgesagt hat. Der Kerl hat uns also reingelegt. Wie der den Mut aufgebracht hat, mich umzubringen! Keiner also, den man unterschätzen darf. Nicht umsonst hat Mine ihn bewundert. Bewundert? Nennen wir das eher Liebe!

»Wir fahren nach Hause, nicht wahr?«

Mustafas Frage holt mich wieder zurück.

»Nein, nach Kurtuluş.«

»Zum Haus des verschwundenen Mädchens?«

Dass er Mine als »das verschwundene Mädchen« bezeichnet, verwirrt mich. Aber wie soll er sie denn sonst nennen, schließlich ist sie eine unter tausenden von Vermissten laut unseren Unterlagen.

»Ja«, sage ich zu Mustafa, »ja, zum Haus des verschwundenen Mädchens.«

Mein Assistent versucht mir zu widersprechen. »Mir ist aufgetragen worden, Sie nach Hause zu bringen.«

Und der, der diesen Auftrag gegeben hat, ist auch mein Chef, mein eigener Onkel Ismet Bey.

»Vergiss das. Setz mich in Kurtuluş ab, und dann fahr zu Kommissar Naci. Lass dir von ihm die Akte geben über Fahri und die anderen, die in diesem Fall verhaftet wurden, und bring sie zu mir nach Hause.«

»Wenn ich kein offizielles Schreiben dabei habe, bekomme ich mit der zuständigen Abteilung Schwierigkeiten.«

Was ist heute los mit diesem Jungen? Hat ihm jemand die Ohren lang gezogen?

»Gib meinen Namen an. Die wissen, dass wir mit Naci zusammenarbeiten. Wenn sie trotzdem rummeckern, sag ihnen, dass das Schreiben nachgereicht wird.«

Mein Ansinnen macht Mustafa nervös. Wahrscheinlich hat er Angst vor negativen Vermerken in seiner Akte, auf der anderen Seite traut er sich aber auch nicht, sich gegen mich zu stellen. Ob er zu Ismet geht und erzählt, was los ist? Du liebe Zeit, den Mut hat er nicht, sich über seinen Chef zu beschweren! Außerdem weiß er, dass Ismet mein Onkel ist. Ich beobachte Mustafa: Er schaut nachdenklich drein, während er den Wagen lenkt. Ich will ihm nicht Unrecht tun, vielleicht ist er in Wirklichkeit ein guter Kerl. Aber ob gut oder schlecht, das ändert nichts. Er ist ein Geheimdienstler, gefangen zwischen Regeln und Vorschriften; wie kann er da bei seiner Arbeit selbst entscheiden, was wichtig und was unwichtig ist?

Als unser Wagen in Aksaray an einer Ampel hält, frage ich ihn: »Mine hatte eine Freundin in Rom, ihr Name war, glaube ich, Selin. Ist die zurück?«

Er ist mit seinen Gedanken woanders und kann mir zunächst nicht folgen. Gott sei Dank schaltet die Ampel in dem Augenblick auf Grün und kommt ihm zu Hilfe. Nachdem er den Wagen in Bewegung gesetzt hat, beantwortet er meine Frage. »Selin Orhun, die ist noch nicht zurück. Sie wissen, ihr Vater ist bei der Botschaft in Italien. Wir haben ein paar Mal in Rom angerufen und mit Selin gesprochen. Dem Mädchen war der Ernst der Lage nicht klar.«

»Was hat sie erzählt?«

»Sie hat ihre Freundin gesehen, bevor sie nach Italien geflogen ist. Sie meinte, vielleicht ist sie in die Ferien gefahren oder so, würde sicherlich bald wieder auftauchen. Wir haben gesagt, dass sie vielleicht entführt worden ist. ›Unwahrscheinlich‹, meinte sie bloß. ›Wer sollte Mine denn entführen wollen?‹ Anscheinend weiß das Mädchen von nichts.«

»Habt ihr nach Fahri gefragt?«

»Haben wir; ein guter Junge, hat sie gesagt. Sie meinte, von Fahri habe Mine nichts Schlechtes zu erwarten. Sie weiß nicht, dass der Junge tot ist, und wir haben ihr auch nichts gesagt.«

»Wann will sie in die Türkei zurückkehren?«

»In Kürze, die Semesterferien sind bald zu Ende.«

»Wir müssen sie treffen«, dränge ich.

»Sobald sie zurück ist, werden wir mit ihr in Verbindung treten, Chef.« Mustafa schweigt einen Augenblick, wendet sich dann zu mir. »Dieses verschwundene Mädchen, ist das Ihr Spitzel gewesen, Chef?« Diese Frage muss schon lange in seinem Kopf herumspuken.

Vielleicht sollte ich verärgert reagieren, aber sein Mut gefällt mir. »Das haben manche vermutet.«

»War sie es nicht?«

»Wir haben im gleichen Viertel gewohnt. Ihre Mutter war die Freundin meiner Frau. Eines Tages hatte die Polizei die Schule gestürmt und alle Schüler eingesammelt und mitgenommen. Ihre Mutter hatte mich um Hilfe gebeten. Ich bin zur Polizei gegangen und habe sie rausgeholt.«

»Das Mädchen hatte also mit den Vorgängen nichts zu tun.«

»Doch, hatte sie. Sie hatte Sympathie für die Linken und viele gute Absichten. Wenn sie Ungerechtes oder Unregelmäßigkeiten sah, hat sie opponiert. Weißt du, diese jungen Menschen sind für terroristische Gruppierungen gutes Menschenmaterial. Ich habe ihr erklärt, wie es tatsächlich zugeht. Wir haben uns angefreundet. Natürlich haben wir auch darüber geredet, was zu der Zeit in der Schule vor sich ging …«

»Auch Fahri hat sie für einen Ihrer Spitzel gehalten.«

»Du glaubst, dass sie das Mädchen entführt haben, nicht wahr?«

»Wer sollte es sonst gewesen sein?«

Ja, wer sollte es sonst gewesen sein?

»Auf jeden Fall wollten die Sie bestrafen«, meint Mustafa. »Warum hätten sie denn Fahri sonst wieder freigelassen, als er das erste Mal verhaftet wurde?«

»Da war nichts zu machen«, antworte ich. »Ich war beim Verhör auch dabei. Drei Tage bevor Mine verschwand, ist Fahri nach Antalya gereist. Er ist die ganze folgende Woche bei seiner Familie geblieben. Es gibt Zeugen. Sein Vater war Offizier, letztes Jahr ist er gestorben.«

»Auch wenn er Offizier war, Chef! Erst hätte er mal seinen Sohn ordentlich erziehen sollen. Sogar die Waffe, mit der dieser ehrlose Kerl auf Sie geschossen hat, gehörte der Armee.«

»Bist du sicher?«, frage ich und drehe mich zu ihm um.

»Ja«, antwortet Mustafa, »es war die Dienstwaffe seines Vaters, eine Kırıkkale.«

Das macht mich stutzig. Eine Gruppe soll für ihre Verbrechen nicht ihre eigenen Waffen, sondern die Kırıkkale-Pistole eines verstorbenen Offiziers verwenden? Seltsam.

»Und die Waffe des anderen?«

»Die Waffe, mit der er auf Sie geschossen hat, haben wir leider noch nicht gefunden. Aber die Ballistiker haben die Munition untersucht und sagen, dass es ein Colt war, wie er bei der Armee zum Einsatz kommt.«

Ich sehe den Sesamringeverkäufer vor mir. Seine Waffe ist schwer, ja vielleicht ein Colt, den er mit beiden Händen hält. Er steht breitbeinig da, um beim Rückstoß nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»War das etwa auch eine Waffe des Offiziers?«, frage ich.

»Das ist möglich, Ismet Bey lässt das gerade untersuchen.«

Ismet Bey lässt also untersuchen. Mein Onkel, vielleicht hat er mein Verhältnis zu Mine herausgefunden und die Angelegenheit in die Hand genommen. Ob er den Jungen hier auch für seine Dienste verpflichtet hat? Nein, sicherlich nicht. Er arbeitet allein. Wir sind ja aus ein und derselben Familie, das bleibt alles unter uns.

»Warum hat Ismet Bey Ihnen nichts davon erzählt?« Mustafa kommt die Sache zunehmend verdächtig vor. Oder hat der Junge mehr Verstand, als es mir anfangs schien?

»Er will sicher warten, bis es mir wieder besser geht.«

Er beobachtet mich aus den Augenwinkeln. »Werden wir dieser Sache nachgehen, Chef?«

»Warum, ist dir irgendetwas zu Ohren gekommen?« Mein Ton ist nicht hart, aber energisch.

»Ich habe ein Gerücht gehört, wonach die politische Polizei den Fall übernehmen soll.«

Ist es nicht besser, wenn ich mit dem Onkel spreche, bevor die Sache immer verwickelter wird? Nein, immer mit der Ruhe, nichts überstürzen. Erst mal abwarten und sehen, wie die Dinge liegen.

»Dieses Problem mit der Vollmacht, was?«, sage ich lächelnd. Wenn ich mich locker gebe, werden sich Mustafas Zweifel zerstreuen. Aber sein Gesicht wirkt angespannt. Als wir von Pangaltı nach Kurtuluş kommen, wird mir klar, warum.

»Chef«, sagt er mit einer Stimme, als ob er mich inständig bitten will. »Wenn Sie nach Hause kommen, sagen Sie wenigstens, dass ich Sie abgesetzt habe.«

»In Ordnung, mach dir keine Sorgen.«

Nachdem unser Wagen im dichten Verkehr der Kurtuluş-Straße eine Zeit lang nur schrittweise vorwärts kam, biegen wir rechts in eine Nebenstraße ab. Die Straße führt recht steil bergab, und wir fahren hinab bis zum Friedhof von Feriköy. Als wir zu der entlegenen Straße kommen, die parallel zum Friedhof verläuft, bitte ich ihn: »Lass mich hier aussteigen. Das Haus ist gleich da vorn.«

»Wenn Sie wollen, kann ich auf Sie warten«, sagt er mit einem letzten Anflug von Hoffnung. »Das Wetter ist scheußlich. Es kann ja sein, dass Sie danach keinen Wagen finden.«

Aber ich muss jetzt allein sein; mit ihm an meiner Seite kann ich nicht ordentlich nachdenken.

»Danke, Mustafa, ich komme schon zurecht.«

Seine Nervosität nimmt noch zu. »Wann sind Sie zurück?«

»In ein paar Stunden bin ich zu Hause. Vergiss nicht den Bericht über Fahri und seine Kameraden von der Terrorfraktion! Wenn es ein Problem gibt, ruf mich an«, sage ich zu ihm und steige aus.

»Gut, ich rufe an«, verspricht Mustafa. »Passen Sie auf jeden Fall auf sich auf!« Dieser Wunsch kommt von Herzen, denn er weiß sehr gut, dass er büßen muss, wenn mir etwas zustößt.

»Mach dir keine Sorgen, Mustafa«, beruhige ich ihn. »Unkraut vergeht nicht.«

»Auf Wiedersehen, Chef«, sagt er, als ich die Tür schließe.

4

Ein kräftiger Wind und dichte Schneeflocken wollen mich wegwehen. Auf dem Boden, den der Schnee allmählich zudeckt, hinterlasse ich Fußspuren. Diese einsame Straße wirkt im Schneetreiben noch verlassener. Mich fröstelt, und ich wickle mich eng in meinen Mantel. Ein Schwindelgefühl erfasst mich. Ich möchte mich gegen den rostigen Strommast vor mir lehnen, mich wenigstens eine kurze Zeit ausruhen. Doch lieber nicht, denn ich friere immer stärker. Noch ein paar Meter, und ich werde an der Ecke zu der Sackgasse stehen, in der Mines Haus liegt. Ich überlasse mich wieder dem Wind.

Als ich in die Sackgasse einbiege, sehe ich ein Bild, das mich Schwindel und Frieren vergessen lässt. Vor dem Haus, in dem Mine wohnt, steht ein Mädchen, mit dem Rücken zu mir, und wartet darauf, dass die Haustür geöffnet wird. Es hat Mines blauen Umhang um die Schultern geworfen. Mustafa hatte Recht, ich hätte niemals hierher kommen sollen! Ich fühle mich nicht gut. Jetzt habe ich doch am helllichten Tage Halluzinationen. Aber seltsam, Mines Erscheinung verschwindet nicht etwa. Ich gehe auf sie zu. Sie trägt eine schwarze Baskenmütze, aber ich kann mich nicht entsinnen, dass Mine eine solche Mütze besessen hat. Aber mein Gedächtnis arbeitet noch nicht wieder richtig. Habe ich ihr nicht oft gesagt: »Schwarz steht dir wirklich gut«? Es liegen weniger als zehn, elf Schritte zwischen uns. Als ob ich mich vor einer Verletzung fürchten würde, nähere ich mich vorsichtig dem Phantom der jungen Frau, nach der ich mich so viele Tage lang in Ungewissheit gesehnt habe. Sie hat den Kopf eingezogen und tritt immer wieder auf der Stelle; offensichtlich friert sie. Mine hat so viel gefroren. In den Nächten, die ich bei ihr verbrachte, hat sie sich immer wie eine verschmuste Katze an meine Brust geschmiegt. Als ich näher komme, sehe ich, dass sie eine schwarze Plastiktüte trägt, als ob sie gerade vom Einkauf zurückkehren würde. Ich sehe ihre Hand, die die Plastiktüte trägt, ohne Handschuhe, sie ist von der Kälte ganz rot. Das sieht alles so wirklich aus! Wenn ich sie nun leicht an der Schulter antippe, wird sie sich dann wie immer umdrehen und mich herzlich anlächeln? Gibt es das, so präzise Wahnvorstellungen? Als wir für die CENTO-Kurse nach London geflogen sind, sprach die Professorin im Vortrag über Sozialpsychologie auch über geheime Kräfte des Gehirns. Was ich jetzt empfinde, erinnert mich daran. Ein süßer Wahn. Als nur noch ein Abstand von wenigen Metern zwischen uns ist, dringt ein metallisches Klicken an mein Ohr, die mechanische Türöffnung. Wie oft habe ich diese Klingel gedrückt und ungeduldig auf dieses Geräusch gewartet? Das Mädchen stößt die Eisentür auf und schlüpft hinein. Ich muss dort sein, ehe die Tür sich schließt. Als ich mich hastig bewege, gleite ich aus und kann nur knapp einen Sturz verhindern. Kurz bevor die Tür ins Schloss fällt, kriege ich das kalte Eisen mit letzter Kraft zu fassen. Ich fühle einen kalten Schauer über meinen Körper kriechen, aber ich darf sie jetzt nicht verlieren; schnell schlüpfe auch ich durch die Tür. Die junge Frau hat die Beleuchtung eingeschaltet und steigt die Treppe hinauf. Das kann doch nicht wirklich Mine sein! Vielleicht hat sie sich wieder eine ihrer Verrücktheiten ausgedacht und ist ein paar Tage bei einem Freund geblieben, den niemand kennt? Ist sie wirklich so unverantwortlich? Irgendetwas lässt mich zögern. Hoffentlich ist es so, denke ich und steige die Treppen ebenfalls hoch. Wenn ich mich beeile, hole ich sie noch ein. Dann verringert sich der Abstand zwischen uns. Die junge Frau bleibt im dritten Stock vor der Wohnung der Hausbesitzerin stehen und klingelt. Warum bleibt Mine vor dieser Tür stehen, anstatt zu ihrer eigenen Wohnung zu gehen? Sie wird die verspätete Miete bezahlen wollen, oder sie hat, wie üblich, für die Leute dort etwas vom Supermarkt mitgebracht. Mines Gesicht sehe ich immer noch nicht. Sie sieht sich auch nicht nach mir um, obwohl sie meine Schritte hören muss. Ich bin ganz nahe bei ihr, aber merkwürdig, es ist, als ob meine Erregung abnimmt, je näher ich ihr komme. In mir wird eine Stimme immer lauter, die sagt, das kann nicht Mine sein. Jetzt bin ich hinter ihr, vorsichtig berühre ich sie mit der Hand am Umhang.

»Mine«, flüstere ich.

Sie dreht sich um und schaut mich an, einen Augenblick ist mir, als sähe ich Mines Gesicht, aber dann begegne ich dem leeren Blick von Maria, der geistig zurückgebliebenen Tochter der griechischen Hausbesitzerin.

»Du bist es also, ich habe dich für Mine gehalten«, sage ich.

Mit großem Ernst sieht das Mädchen mich an, dann legt sie einen Finger an die Lippen. »Pst! Sie schläft!«, sagt sie.

»Wer schläft?«

Mit dem Finger, den sie an die Lippen gelegt hatte, zeigt sie nach unten. Ich sehe dorthin, kann aber nichts erkennen. Sie lächelt, öffnet die Plastiktüte und nimmt eine Stoffpuppe heraus.

»Guck, das ist Floris.« Sie hält mir die Puppe hin. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll, und nehme sie schließlich, als sich die Tür öffnet und Frau Eleni in ihrem Rollstuhl zögerlich herausschaut. Als sie mich erkennt, beruhigt sie sich.

»Ah, Sedat Bey, Sie sind es! Ich habe mich schon gefragt, wer denn da mit Maria redet.«

Wie immer hat sie die weißen Haare auf dem Hinterkopf zu einem Dutt hochgesteckt. In ihrem Gesicht voller Runzeln zeichnet sich ihr zähes Wesen ab. Nur ihre Augen glitzern voller Zweifel. Offensichtlich haben sie die Geschehnisse der letzten Tage sehr beunruhigt.

»Sie haben sich lange nicht sehen lassen.«

Dass ich lange nicht hier war, ist ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. In den Zeitungsmeldungen über das Verbrechen ist mein Name nicht gefallen, und deshalb weiß sie auch nichts von den Ereignissen. Besser so.

»Ich hatte zu tun«, entschuldige ich mich. »Ich musste für eine Nachforschung verreisen.«

»Wegen Mine?«

»Kann man so sagen.«

Die Frau wirkt interessiert. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragt sie und weist auf die Tür.

Nach kurzem Zögern nehme ich ihren Vorschlag an, vielleicht kann ich ja etwas Neues erfahren. Maria steht immer noch vor der Tür herum. Ich strecke ihr die Puppe hin, die ich in der Hand halte, sie nimmt sie schweigend entgegen.

»Komm, mein Schäfchen«, ruft Frau Eleni sie, ihre Stimme voller Zärtlichkeit. Maria folgt ihrer Mutter und kommt herein. Nachdem sich die Griechin bekreuzigt hat, flüstert sie: »Möge Gott mir helfen und ihr den Verstand noch mal eingeben!«

Ich sehe Maria an; ihre Augen, wie zwei große Oliven unter dicken Augenbrauen, schimmern ausdruckslos. Wenn ich sie so anschaue, fällt mir auf, dass sie größer ist als Mine und schwerer gebaut. Wie konnte ich sie mit Mine verwechseln? Offenbar stehe ich noch unter den Nachwirkungen meiner Verletzung. Und dieser Umhang gehört doch Mine? Als wir durch den schmalen Flur gehen, sage ich zur Mutter: »Ich habe Ihre Tochter mit Mine verwechselt. Ich habe sie von hinten gesehen, und dieser Umhang …«

Die Frau lächelt schmerzlich. »Das war vor zwei Monaten. Maria bestand darauf, genauso einen Umhang zu haben wie Mine. Ich habe versucht Maria davon abzubringen, indem ich ihr gesagt habe, dass Mine eine junge Frau und es ungehörig ist, wenn man genau das gleiche Kleidungsstück kauft. Aber eines Tages, als die beiden zusammen waren, da sagt sie doch tatsächlich zu Mine: ›Ich will den gleichen Umhang wie du.‹ Ich bin vielleicht erschrocken, aber Mine hat nur gelächelt und gesagt: ›Dann lass uns gehen und einen kaufen!‹ Sie wissen ja, sie war so impulsiv. Da gingen sie eben einen kaufen. Sie war ein sehr gutes Mädchen, so gut!«

Während ich der Frau zuhöre, sehe ich auf der linken Seite eine Tür offen stehen. In dem Raum steht ein breites Bett, darauf eine schneeweiße Decke mit Lochstickerei umrandet. Mein Blick fällt auf eine Ikone an der Wand genau mir gegenüber, in gelben und roten Farben auf schwarzem Untergrund gemalt. Je näher wir dem Wohnzimmer kommen, desto weiter wird der Korridor. Hier steht ein eiserner Kohleofen, in dem Feuer lodert. Der Duft des Lindenblütentees, der in einer Kanne auf dem Ofen siedet, erfüllt die ganze Wohnung.

»Ein schlimmer Winter dieses Jahr«, sagt die Frau.

»Ja«, antworte ich, »es schneit wieder.«

»Möge Gott den Armen helfen, damit sie genug Geld für ihre Kohle im Winter haben.«

Als ich das Wohnzimmer betrete, kann ich mich wie immer des Gefühls nicht erwehren, dass ich in ein Museum geraten bin. Als ob in diesem steinernen Gebäude die Zeit stillstünde, als ob die Menschen hier das Leben von früher lebten. Verteidigen sich so die Minderheiten, beschützen sie so ihre alten Dinge und lassen die Sachen unverändert? Nein, so sind alle alten Menschen. In jedem Gegenstand lebt eine Erinnerung. Sie bringen es nicht übers Herz, etwas wegzuwerfen. Mein Blick gleitet über längst vergilbte Bilder, die in halb zerfallenen Holzrahmen an der Wand hängen. In einem vergoldeten Metallrahmen steht eine junge Frau an der Seite eines Mannes mit gezwirbeltem Schnauzbart. Der Mann ist ihr Ehemann, Monsieur Koço, ein mittelgroßer, stattlicher Mann. Die Kristallgläser auf dem Nussbaumbüfett von der Jahrhundertwende spiegeln noch immer den Glanz vergangener Feste wider. Neben dem Büfett steht ein riesiger Spiegel mit silbernem Rahmen. In dieser Wohnung, die kaum noch jemand betritt, wartet er hoffnungsvoll darauf, dass neue Gäste kommen, um seinen Zauber erneut zu versprühen. Als einziges Gerät in diesem Wohnzimmer erinnert der kleine Fernsehapparat links in der Ecke an die gegenwärtige Zeit. Hinter dem Fernseher hängt – fast unter der Decke – der präparierte Kopf eines Hirsches; der Beweis dafür, welch ein großartiger Jäger Monsieur Koço war. Mit den immer gleichen Worten erzählt Madame die Geschichte des ausgestopften Hirschkopfes. Ihr Mann hatte in Kumkapı eine Weinschänke betrieben, aber seine große Leidenschaft war die Jagd. Vom Hasen bis zum Rebhuhn hatte er hunderte von Tieren geschossen, aber auf keinen Jagdausflug war er so stolz wie auf den in die Taurusberge, von wo er mit diesem Hirschkopf zurückkehrte.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagt Frau Eleni und zeigt auf den Sessel gegenüber dem Fernsehapparat.

Als ich mich setze, fällt mein Blick auf Maria. Sie hat die Plastiktüte auf dem Tisch liegen lassen und sich mit der Puppe in der Hand in eine ruhige Ecke des Raumes zurückgezogen. Irgendetwas erzählt sie der Puppe, und ihr Flüstern dringt bis zu uns herüber.