Nacht zusammen - Ralf Kramp - E-Book

Nacht zusammen E-Book

Kramp Ralf

4,6

  • Herausgeber: KBV
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Verbrechen lohnt sich, nicht? Nun, nicht immer. So mancher Schuss geht nach hinten los, und so manche Prise Gift schluckt unverhofft der Falsche. Ralf Kramp ist ein Meister des schwarzen Humors. Seine Geschichten haben es in sich, denn hier läuft es oft gänzlich anders als erwartet. Heimtückische Mordpläne, skrupellose Killer, perfide Mordwaffen, ahnungslose Opfer - Ralf Kramp mischt alle Zutaten zu einem teuflisch guten Krimicocktail. In seinen rabenschwarzen Geschichten jagt er den Lesern kalte Schauer über den Rücken und erschüttert im nächsten Moment ihr Zwerchfell.

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Seitenzahl: 178

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Ralf KrampNacht zusammen

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Abendgrauen (Hg.)

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss

Abendgrauen II (Hg.)

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Ein Viertelpfund Mord

Ein kaltes Haus

Abendgrauen III (Hg.)

Totentänzer

Nacht zusammen

Stimmen im Wald

Ralf Kramp, geboren 1963 in Euskirchen, lebt und arbeitet als Karikaturist, Krimiautor und Veranstalter von Krimi-Erlebniswochenenden in der Eifel. Für sein Krimi-Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Eifel-Literatur-Förderpreis. Seither erschienen neun weitere Bücher bei KBV, unter anderem der historische Kriminalroman … denn sterben muss David! (2001), seine Kurzkrimi-Sammlung Kurz vor Schluss (2001) und die Reihe um den kauzigen Helden Herbie Feldmann.

Im Jahr 2002 erhielt er den Kulturpreis des Kreises Euskirchen.

Seit 2007 führt er mit seiner Frau Monika in Hillesheim das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« mit 26.000 Bänden, dem »Café Sherlock« und der Buchhandlung »Lesezeichen«.

www.ralfkramp.de

www.kriminalhaus.de

Ralf Kramp

Nacht zusammen

Für Heike und Hans.

1. Auflage 20062. Auflage 2010

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion: Dorothee Steuer, Sankt AugustinSatz: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-940077-43-1E-Book-ISBN 978-3-95441-067-5

Inhalt

Vergissmeinnicht

Welcome back

Stille Schönheit

Schwarzer Tod

Vatertag

Baden gegangen

Guck mal

Ein Problem im Garten

Ein Paket, ein Paket!

Bloody Bayreuth

Freddie Fuchs bumst Elvira Ente

Ein Kenner und vier völlig unterschiedliche Weine

Ottos Auge

Stiftels finsteres Geheimnis

Flipper im Regen

Bond, James Bond

Stille Nacht

Von Menschen und Waffen

Nacht zusammen

Weihnachtsgedicht der Brigitte L. (56)

Vergissmeinnicht

Seit er am Morgen aus dem Haus gegangen war, quälte ihn die Frage, was diese drei Kreuzchen auf dem Kalender bedeuten mochten. Sie sollten ihn an etwas erinnern, so viel war klar. Nur an was? Paul Kolvenbach war vergesslicher als andere Menschen. In seinen Taschentüchern gab es Knoten, die ihn an andere Knoten erinnern sollten, die er in Dinge hineingemacht hatte, damit er bestimmte Dinge nicht vergaß. Nur welche Dinge?

Er hatte irgendwann begonnen, mit seiner Vergesslichkeit zu leben. Er vergaß alles Mögliche und das mit geradezu professioneller Regelmäßigkeit:

Er vergaß, die Winterreifen aufzuziehen und die Blumen zu gießen. Er vergaß, Rechnungen zu bezahlen, und vergaß, Freunde am Bahnhof abzuholen. Er vergaß Eintopf wochenlang im Kühlschrank und vergaß die Handbremse zu lösen. Er lief mit offenstehendem Hosenstall durchs Leben und trug Preisetiketten an seinen Pullovern zur Schau. Einmal war er tatsächlich ins Grübeln geraten, weil er doch tatsächlich trotz angestrengten Grübelns nicht mehr auf seinen zweiten Vornamen kam. Heinz war ihm dann irgendwann bekannt vorgekommen. Paul-Heinz, ja, genau, das war es. Das war, als er vergessen hatte, sein Auto aus der Werkstatt abzuholen und daher mit der Bahn zur Arbeit fahren musste. Über die Suche nach dem Namen Heinz hatte er im Übrigen dann völlig vergessen auszusteigen und war ins Bergische Land weitergefahren. Komplizierte Geschichte, da er sich seine Geheimnummer nicht merken konnte und somit kein Geld für eine Karte zurück ziehen konnte. Und auf der Arbeit konnte er sowieso nicht Bescheid sagen, da er die Telefonnummer nicht mehr zusammenbekam.

Ohnehin hatte er sein Handy zu Hause liegen lassen.

Was aber auch nicht schlimm war, denn es war ein Feiertag gewesen.

Sein kleines Haus am Waldrand bei Dollendorf nannten seine Freunde Villa Vergissmeinnicht. Das hatten sie in lilafarbenen Lettern auf ein Schild gemalt und über seiner Haustür festgedübelt. Er hatte einige gute Freunde, die ihn an viele Dinge erinnerten. Evi hatte einmal die Villa Vergissmeinnicht gerettet, indem sie nach Antritt seines Urlaubs das Bügeleisen, die Kochplatte und den elektrischen Heizlüfter ausgeschaltet hatte. Seither kontrollierte sie öfter.

Ulf hatte ihm einmal aus der größten Peinlichkeit herausgeholfen, als er ihn vom heimischen Fernseher weggeholt hatte, weil er sonst die Beerdigung seines Vaters verpennt hätte.

Das ein oder andere Rendezvous war geplatzt, weil er seine weiblichen Bekanntschaften schlicht und ergreifend vergessen hatte. Die eine in ihrem Zuhause in Bad Münstereifel, die andere im Restaurant, wieder eine andere an der Bushaltestelle. Das hatte sich nicht eben förderlich auf sein Liebesleben ausgewirkt. Einmal hatte er es tatsächlich geschafft, eine junge hübsche Frau abzuholen und ins Kino nach Euskirchen zu begleiten, hatte aber leider nicht daran gedacht, dass er dort bereits mit einer anderen verabredet war.

Seither versuchte er, das mit den Frauen anders zu regeln.

Vermutlich waren deshalb diese Kreuze im Kalender.

Vor etwa zehn Jahren war er zum ersten Mal nach der Arbeit bei Ford auf diesen Parkplatz an der Militärringstraße gefahren und hatte dort die Scheibe der Beifahrertür heruntergekurbelt.

»Fuffzich mit Gummi«, hatte die Frau mit dem Kaugummi genuschelt.

Die Sache lief ohne Zwischenfälle ab. Man fuhr gemeinsam auf einen anderen, kleineren Parkplatz, wo man unbeobachtet war, und dort nahm die Frau den Kaugummi für etwa zehn Minuten aus dem Mund. Dass er hinterher vergaß, die Scheinwerfer anzuschalten, und deshalb beim Verlassen des Parkplatzes gleich einen Zusammenstoß verursachte, schmälerte den Wert seines Erlebnisses kaum.

Beim nächsten Mal, etwa drei Monate später, hatte es Ärger gegeben, weil er sein Geld vergessen hatte.

Und diesmal geschah etwas, was ihn selber überraschte. »So blöd kann doch gar keiner sein!«, fauchte die Frau. »Hierhin kommen und das Geld vergessen.«

Sie kannte Paul-Heinz Kolvenbach nicht.

Und er selber kannte sich wenige Augenblicke später auch kaum wieder, als sich seine Hände um ihren Hals schlossen und als die Knorpel ihres Halses unter dem Druck seiner Finger mit einem leisen Knack völlig durcheinandergerieten.

Zuerst war er erschrocken, als sie leblos mit ihrem Kopf auf seinen Schoß sackte.

Paul-Heinz tastete nach ihrem Puls und fand ihn nicht. Und dann reagierte er sehr kühl und kalkulierend. »Du darfst jetzt nur keinen Fehler machen«, sagte er sich. »Vergiss jetzt bloß nichts!«

Dann fuhr er auf die Autobahn zurück in die Eifel und brachte die tote Frau, die sich bereits ihres pinkfarbenen Lackjäckchens und des Büstenhalters entledigt hatte, im Schutz der Dunkelheit in sein Häuschen am Waldrand.

Bevor er schließlich in seinem Keller die vor Jahren begonnenen Sanierungsarbeiten wieder aufnahm und ein Stück des Lehmbodens durch eine kleine Bodenplatte aus Beton ersetzte, erfreute er sich noch zwei Tage am Anblick der toten Frau, die er mittlerweile vollständig entkleidet hatte und in das alte Ehebett seiner Eltern neben sich legte. Das hatte ihm gefallen. Er wusste gar nicht, dass diese Dinge in ihm schlummerten.

»Kaum zu glauben«, flüsterte er, als er sich damals im Spiegel betrachtete. »Ich erkenne dich kaum wieder, Paul … Heinz. Paul-Heinz, ja, genau.«

Und diese drei Kreuzchen? Vermutlich hatte er sich diesen Tag vor längerer Zeit ausgeguckt. Genau! So musste es sein. Seit dieser Geschichte damals gab es in seinem Keller vier neue Betonstreifen. Heute sollte es wieder einmal so weit sein.

Und so brachte er einen eintönigen Arbeitstag in den Automobilwerken hinter sich und vergaß fast die Mittags-pause. Abends suchte er seinen klapprigen Sierra auf dem riesigen Werksparkplatz. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis er ihn fand.

Einmal, da hatte er ihn überhaupt nicht gefunden. Das war, als er am Morgen von einem Kumpel mitgenommen worden war.

Er freute sich auf den Abend.

Seit dem letzten Mal war viel Zeit vergangen. Gut, dass er sich drei Kreuzchen zur Vorbereitung gemacht hatte!

Gerade noch rechtzeitig dachte er daran zu tanken. Das wäre ja mal wieder was gewesen!

An der Stelle, an der es immer geschah, geschah es auch diesmal. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das nach Haar-lack roch. Sie zappelte mehr als die anderen.

Als er mit ihr in die Eifel fuhr, zappelte sie nicht mehr. Die Scheinwerfer des Gegenverkehrs tauchten sie immer wieder in gelbliches Licht. Sie saß da und hatte den Blick unbeteiligt ins Leere gerückt. Paul-Heinz hatte sie festgeschnallt. Er hatte sie noch nach ihrem Namen fragen wollen.

Vergessen.

Als er den Wagen hinter den schützenden Büschen seiner Einfahrt geparkt hatte, stieg er aus und zog ihren schlaffen, halbnackten Körper vom Beifahrersitz.

Zement! Er musste dringend daran denken, im Baumarkt in Hillesheim Zement zu kaufen! Das würde er sich gleich aufschreiben.

Wahrscheinlich würde er es bis ins Haus schon wieder vergessen haben.

Aus den Augenwinkeln sah er das Schild Villa Vergissmeinnicht über der Tür.

Mit der Rechten steckte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür, während er im linken Arm die tote Frau hielt, deren hohe Absätze über den Boden schleiften.

Drei Kreuzchen, dachte er noch, als er sie hineinzerrte.

Und als das Licht aufflammte, noch bevor er den Schalter ertastete, kam ihm plötzlich die Erinnerung daran, was sie zu bedeuten hatten!

Siebzehn Augenpaare starrten ihn an. Siebzehn Münder hatten sich geöffnet, um wie aus einer Kehle Happy Birthday zu intonieren. Evi kam aus der Küche mit einer Torte voller Kerzen, und Ulf ließ eine Handvoll Konfetti durch den Raum rieseln, noch bevor er überhaupt begriffen hatte, was geschehen war.

Beinahe hätte Paul-Heinz bei dieser gelungenen Überraschung völlig vergessen, dass er sich ja in Begleitung befand.

Welcome back

Brian Hoffer fluchte. Das konnte er, auch wenn man ihm das nicht zutraute. Er tat es für gewöhnlich heimlich, sodass niemand es mitbekam. Seine Frau hatte ihn schon so erlebt, und vielleicht ein paar seiner engsten Freunde, aber in der Öffentlichkeit verkniff er es sich. Sein Image konnte womöglich Schaden nehmen.

Ein wahrer Schwall amerikanischer Schimpfwörter erfüllte die nächtliche Frühlingsluft. Der vordere rechte Reifen des Ford war platt. So platt wie ein Zehncentstück. So platt wie ein Pfannkuchen. So platt wie seine Managerin Jennifer, die ihm diesen Scheißjob in Deutschland aufs Auge gedrückt hatte.

Er schlug wütend mit der flachen Hand auf das Wagendach und starrte in die Nacht. Jetzt hätte er ein Vermögen für eine Zigarette gegeben, aber er hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben. Ganz heimlich tat er es ab und zu. Er tat vieles heimlich. Zugeständnisse an die Rolle, die er jetzt schon seit sieben Jahren, und wenn nichts dazwischenkam, vermutlich auch für den Rest seines Lebens spielen würde: »Doktor Darlington« raucht nicht, also raucht auch Brian Hoffer nicht.

»Oh, no, no, Freunde«, hatte er vor etwa einer Viertelstunde mit seinem amerikanischen Akzent gesagt, den er kultivierte und gerne gezielt einsetzte, wenn er sich in Europa aufhielt. »Kein Hotel, sorry. Ich muss heute Nacht noch nach Koln zuruck.« Dafür hatten sie natürlich Verständnis. Man hätte ihn gerne in Wachtendonk beherbergt, das spürte er deutlich, aber um nichts in der Welt wollte er hier am Niederrhein bleiben. Köln war okay. Aber hier wurde er an allen Ecken und Enden daran erinnert, wo er herkam.

Es reichte, dass ihn die Veranstalter im Kulturhaus mehrfach als »Einen der ihren« herausgestellt hatten. Der Abend hatte unter dem Motto »Ein Wachtendonker kehrt zurück« gestanden. Als er das in der Vorankündigung gelesen hatte, hätte er am liebsten gleich abgesagt. Aber Jennifer hatte ihm geraten: »Du bist auf Deutschlandtour, also fahr da hin. Lies aus deinem Buch und erobere die Herzen. Die neue Staffel von »Doktor Darlington« startet in Deutschland im Herbst. Da kannst du diese Publicity gut gebrauchen.«

Brian tat meistens, was Jennifer ihm empfahl. Sie hatte ein Händchen für Termine und Kontakte. Also war er nach Wachtendonk gefahren, hatte sich unterwegs ein paarmal tüchtig verfranst, weil alle Ortsnamen irgendwie gleich klangen und weil alles so miserabel ausgeschildert war, und dann war er in dem Örtchen angekommen, in dem er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Das war lange her.

Die Stadt hatte sich verändert. Alles war sauber und hübsch zurechtgemacht, und man hatte einen Teil des alten Klosters gleich neben der Pfarrkirche durchaus geschmackvoll zum Bürgerhaus ausgebaut.

Dann hatte er da gesessen, unter dem lackierten Dachgebälk auf einem Podest. Neben sich die obligatorische Flasche Wasser. Stilles, so hatte er vorab erbeten. Und dann hatte er für anderthalb Stunden abwechselnd auf die markierten Textstellen seines Buches, das er schon fast auswendig konnte, und in die etwa achtzig Gesichter der Wachtendonker geblickt, die mit großen Augen und offenen Mündern an seinen Lippen zu kleben schienen.

Alles was er las, war selbstverständlich geschönt und aufpoliert, aber wen interessierte das schon? Die Leute wollten ein Märchen aus Hollywood, also bekamen sie es. In seiner Biografie beschrieb er den kometenhaften Aufstieg eines Kleindarstellers zum gefeierten Fernsehstar. Er erzählte von Tugenden wie Fleiß, Fairness und Ehrlichkeit. Welche Strippen er hatte ziehen müssen, und welche Tricks notwendig waren, um dahin zu kommen, wo er jetzt war, das würde für immer sein Geheimnis bleiben.

Er war »Doktor Darlington«, der unfehlbare, der untadelige Arzt mit der trauten kleinen Familie und dem glücklichen Händchen für all die Probleme seiner Mitmenschen. Wenn er, Brian Hoffer, irgendwo auftauchte, sagten die Menschen »Doktor« zu ihm. Von ihm wurde erwartet, dass sein Privatleben möglichst dem seiner Kunstfigur entsprach. Keine Affären, keine Laster, keine Turbulenzen. Irgendwann hatte er beschlossen, das gnadenlos durchzuziehen. Er war verheiratet mit Lucy, einer patenten Frau, die durchaus schön anzusehen war und ihm zwei Kinder geschenkt hatte, die er tatsächlich über alles liebte.

Er hatte sich eingerichtet. Die wilden Jahre waren vorbei. Wer prominent ist, kann sich vieles erlauben – aber längst nicht mehr alles.

Er hatte sie an diesem Abend alle zufriedengestellt, hatte Autogramme gegeben, hatte sich ins Gästebuch eingetragen und hatte zum Schluss, während des obligatorischen Smalltalks immer wieder auf die Uhr geschaut und hatte gesagt, er müsse dringend zuruck nach Koln.

Und jetzt stand er an seinem Leihwagen, hatte zehn Minuten lang aufs Übelste geflucht, weil der Akku seines Handys leer war, weil sich der verdammte Reservereifen ebenfalls als völlig platt erwiesen hatte, und er ärgerte sich, für diesen Abend keinen Fahrer verlangt zu haben, der sich um alles hätte kümmern können. Aber er hatte unbedingt allein nach Wachtendonk fahren wollen. Nicht, dass er mit irgendwas Konkretem gerechnet hatte, das ihn kompromittieren konnte, aber er war seit vielen Jahren vorsichtig geworden. »Doktor Darlington« ging kein Risiko ein.

Über ihm rauschte der Wind in den hohen Bäumen, und ihm wurde kalt. Er hatte den Wagen an den Rand der schmalen Straße gelenkt, die ganz sicher nicht die war, die ihn zuruck nach Koln führen würde. Allem Anschein nach hatte er sich schon wieder verfahren. Allzu weit hatte er sich zwar noch nicht vom Ort entfernt, hinter sich konnte er noch die Lichter des Ortes erkennen. Aber auf dem platten Land täuschte das. Zu Fuß würde es eine hübsche Strecke zurück werden.

Bei dem Gedanken daran, wieder in dieses Gemeindehaus hineinzugehen, in dem sicherlich noch ein bisschen gefeiert wurde, verfinsterte sich seine Miene. Für den Rest des Abends hätte er dann mindestens einen der braven Bürger dieser Stadt an der Backe, der ihn, den zurückgekehrten Wachtendonker erbarmungslos zuquasseln würde.

Ganz offensichtlich war er hier in der völligen Einöde gelandet. Kein Auto kam vorbei. Keiner hörte sein Fluchen. Er trat mit Wucht gegen den platten Reifen.

In diesem Moment entdeckte er ein schwaches Licht.

Weiter vorne gab es offensichtlich ein Haus oder etwas Ähnliches.

Brian Hoffer schlug den Mantelkragen hoch und ging los.

Nach ein paar Minuten fand er ein altes Bauerngehöft, mit tief hinabreichendem Dachüberstand, mit winzigen Sprossenfenstern und einer angrenzenden, völlig zerfallenen Scheune. Das Licht drang nur aus einem einzigen Fenster gleich neben der Haustür, und als Hoffer klopfte, weil er nirgends eine Klingel fand, fühlte er sich nicht eben wohl in seiner Haut.

Es dauerte schier endlos lange, bevor die Tür geöffnet wurde. Fast hatte er schon die Hoffnung wieder aufgegeben.

Im Türrahmen erschien die kleine, gebückte Gestalt einer alten Frau, die ein Messer in der Hand hielt.

»Ich habe kein Geld im Haus«, knurrte sie abweisend. »Lohnt sich nicht bei mir.«

Er lachte befreit auf und breitete die Arme aus. »Keine Sorge, keine Sorge«, sagte er, so freundlich er konnte. Er legte das Doktor-Timbre in seine Stimme. »Ich bin kein Einbrecher und das ist kein Überfall. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Hilfe? Bei was?« Sie guckte immer noch skeptisch zu ihm auf. Er erkannte ihr Gesicht nur undeutlich im Halbdunkel. Schließlich trat sie zur Seite und brummte: »Kommen Sie rein.«

Er nickte beflissen, trat sich sogar unnötigerweise an einer zerfransten Matte die Füße ab und ging an ihr vorbei in das Haus.

Es roch nach Blumenkohl und Heizöl.

Die Alte schlurfte hinter ihm her und dirigierte ihn in ein spartanisch eingerichtetes Wohnzimmer. Sein Blick fiel gleich auf einen uralten Schwarzweißfernseher, in dem gerade die Nachrichten verlesen wurden.

Als er auf dem braunen Sofa Platz genommen hatte, stellte sie sich breitbeinig vor ihn, legte den Kopf schief, und auf ihre schmalen Lippen stahl sich ein Grinsen. »Ich kenn Sie«, sagte sie leise triumphierend. »Sie sind der Doktor!«

Er nickte mit gespielter Verlegenheit.

»So was, so was. Der Doktor bei mir im Wohnzimmer.« Sie legte das Messer auf den Tisch und raffte ihre Kittelschürze. »Warten Sie.«

Sie verschwand in dem angrenzenden Raum, in dem Hoffer die Küche vermutete.

»Was haben Sie denn für ein Problem?«, hörte er ihre Stimme. Es klimperte und klapperte.

»Mein Leihwagen hat einen Platten. Gleich vorne, an der Straße«, rief er. »Und da habe ich Ihr Licht gesehen.«

Sie kehrte mit zwei Flaschen Bier und zwei Gläsern zurück. »Da finden wir schon eine Lösung.«

Hoffer dachte verzweifelt daran, dass er diese Nacht eigentlich gern in Köln mit zwei ungarischen Prostituierten hatte verbringen wollen, die nicht nur ausgesprochen unternehmungslustig und unkonventionell waren, sondern auch die nötige Diskretion mitbrachten. Stattdessen würde er jetzt mit einer zahnlosen alten Granny vom Niederrhein ein Bierchen picheln. Oft lief alles anders, als man dachte.

»Ich habe mal Vico Torriani gekannt«, sagte die Alte, während sie einschenkte. »Feiner Kerl war das. Wir haben uns in Düsseldorf kennengelernt. Ich habe da früher mal in einer Gaststätte gearbeitet.«

»Vico Torriani, soso …«

»Wir sind ein paarmal ausgegangen. Essen, spazieren. Er war für vier Tage in Düsseldorf.«

Sie reichte ihm das Glas. Er zwang sich, nicht genau hinzusehen, damit ihn nicht der Ekel überkam. Sie prosteten sich zu, dann tranken sie, und schließlich wischte sich die Alte mit der Hand über den Mund und sagte: »Mehr war da nicht. Der Torriani, das war ein feiner Mann.«

Er nickte anerkennend und beschloss, auf den Punkt zu kommen: »Haben Sie vielleicht ein Telefon?«

»Klar.«

»Ich müsste mal telefonieren. Mein Auto ist liegen geblieben, und ich komme nicht weg von hier.«

»Klar, klar.« Ihre faltige Hand fuchtelte durch die Luft. Sie machte allerdings keine Anstalten, ihm das Telefon zu zeigen, sondern betrachtete ihn mit kleinen, wässrigen Augen. Er begann, ein wenig unruhig auf dem alten Sofa hin und her zu rutschen. »Da gab es schon den ein oder anderen vom Film und vom Fernsehen, den ich kennengelernt habe«, sagte sie versonnen. »Glaubt man kaum, was? Ich erzähl Ihnen das nur, weil Sie ja auch vom Film sind. Köpcke. Kannten Sie den?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Karl-Heinz Köpcke war Nachrichtensprecher. Dessen Frau war eine Cousine von meinem verstorbenen Mann. Wir haben öfters zusammen gefeiert. Der Köpcke, der konnte schlecht tanzen. Hat mir die Füße blau getreten.«

Hoffer ließ den Blick wandern. Nirgends war ein Telefon zu sehen. Vielleicht war er im Hausflur daran vorbeigegangen, ohne es bemerkt zu haben.

»Und da gab es diese Sängerin, Peggy March, die hatte hier irgendwo Verwandtschaft. Die kam immer, Gemüse bei uns kaufen. Frisches Gemüse vom Hof, das mochte die. War ne ganz schlanke, zierliche Person. Ist ja früh gestorben. Die hat immer da gesessen, wo Sie jetzt sitzen, Doktor Darling.

»Darlington«, es rutschte ihm heraus, und er ärgerte sich gleich im nächsten Augenblick dafür, dass er sie verbessert hatte. Er durfte jetzt nicht ungeduldig werden.

Sie schwieg eine Weile, und dann sagte sie langsam: »Ich kenne Sie noch von früher.« Der Zeigefinger ihrer rechten Hand deutete jetzt auf sein Gesicht. »Ja ja, noch von früher, aus Wachtendonk. Ist schon lange her.«

Er rang sich ein Lächeln ab und knetete seine Hände. »Ich werde Ihnen gleich ein Buch aus dem Auto holen und es für Sie signieren«, sagte er. »Da schreibe ich auch über Wachtendonk. Nur vorher würde ich gerne ….«

»Du schreibst über Wachtendonk?«, unterbrach sie ihn.

»Meine Jugend.«

»Ich kannte deine Mutter. Das war eine gute Frau. Weißt du denn noch alles? Von früher?«

Er machte eine vage Handbewegung. »Es ist lange her. Ich habe versucht, alles möglichst genau zu schildern. Die Erinnerung spielt einem natürlich den ein oder anderen Streich.« Er lachte nervös.

Sie trank einen tiefen Schluck und rülpste. Ihre Wangen waren glatt und ledern. Am Hals zogen sich sehnige Hautfalten hinab. Als sie jetzt sprach, tat sie das sehr langsam und fast lauernd: »Kannst du dich noch an deine Freundinnen erinnern?«

»Na ja, so ziemlich. Es gab zwei, drei, in die ich wirklich unsterblich verliebt gewesen bin«, log er. Er hatte es in der Jugend nie genau genommen. Es hatte zahlreiche Liebschaften gegeben, aber davon musste niemand etwas wissen. Das gehörte nicht in das Buch. »Doktor Darlington« tat so was nicht.

»Da war eine Blonde, mit der bist du damals rumgezogen.« Sie hielt die flache Hand an die linke Schulter. »Eine Hübsche, Blonde. Haare so bis hier. Erinnerst du dich?«

Natürlich war da eine Blondine gewesen. Er hatte alle Haarfarben durchgehabt. Die Blonde sah er nur undeutlich vor seinem geistigen Auge. Das war etwas Belangloses gewesen.

»Ja«, sagte er langsam. »Blond war die. Wie hieß sie noch? Irgendwas mit E.« Er kniff die Augen zusammen. Die Alte schmunzelte. Sie schien einiges zu wissen. »Mit E. Ellen … Eva … Nein, Edith! Edith war es. Genau. Ich erinnere mich. Natürlich erinnere ich mich. Was ist aus ihr geworden? Wissen Sie etwas über sie?«