Nächte im Savoy - - Laura Lee - E-Book

Nächte im Savoy - E-Book

Laura Lee

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Beschreibung

Gefühlvoll, atmosphärisch und herrlich romantisch! Die New-York-Times-Bestsellerautorin Laura Lee ist eine Meisterin der historischen Romance.

Die Londoner Ballsaison ist eröffnet. Und der Duke hat nur Augen für eine junge Buchhändlerin ...


London 1896: Die unscheinbare Buchhändlerin Evie Harlow ist zwar im heiratsfähigen Alter, aber nahezu mittellos, und hat die Hoffnung auf die große Liebe fast aufgegeben. Da treibt das Schicksal Maximilian Shaw, den Duke of Westbourne in ihren Laden. Um eine Wette zu gewinnen, will er sie zur begehrtesten Schönheit der Londoner Ballsaison machen. Evie ist empört und weist dem unverschämten Duke entschieden die Tür. Doch als ihre geliebte Buchhandlung plötzlich vor dem Ruin steht, bleibt Evie keine Wahl, und sie lässt sich auf Max’ Spiel ein. Westbourne führt sie in die Gesellschaft ein, finanziert ihren Aufenthalt im Savoy und gibt ihr persönlich Tanzstunden. Und schon bald bekommt Evie nicht nur vom Wirbeln über das Parkett Herzklopfen ...

»Das Beste, was es im historischen Liebesroman gibt!« Julia Quinn
Spice-Level: 3 von 5

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

London 1896: Buchhändlerin Evie Harlow liebt ihren Beruf von ganzem Herzen. Es gibt nichts Schöneres für sie, als das perfekte Buch für jeden Kunden zu finden. Doch ihr Einkommen reicht gerade so, um sich ein bescheidenes Leben zu finanzieren. Da treibt der Zufall Maximilian Shaw, den Duke of Westbourne, in ihre Arme. Um eine Wette zu gewinnen, will er sie zum Diamanten der Londoner Ballsaison machen. Empört lehnt Evie ab, aber das Schicksal hat andere Pläne. Denn Evies geliebter Laden erleidet einen Wasserschaden, und sie muss das Geschäft für mehrere Wochen schließen. Evie sieht keine andere Möglichkeit, als sich auf Max’ Spiel einzulassen. Von da an residiert sie im Savoy, trägt wertvollen Schmuck und die schönsten Kleider. Der Duke gibt ihr sogar höchstpersönlich Tanzstunden. Und schon bald bekommt Evie nicht nur vom Wirbeln über das Parkett Herzklopfen …

Autorin

Laura Lee arbeitete viele Jahre in der Werbebranche, betrieb ein Cateringunternehmen und managte eine Baufirma, bevor sie sich ausschließlich dem Schreiben von historischen Liebesromanen widmete. Und das mit Erfolg: Ihre Bücher sind New-York-Times-Bestseller, und sie wurde bereits zweimal mit dem RITA Award der Romance Writers of America ausgezeichnet. Laura Lee lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen im Nordwesten der USA.

LAURA LEE

NÄCHTE im SAVOY

Die Liebe eines Dukes

Roman

Aus dem Englischen von Ann-Catherine Geuder

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Bookshop Cinderella« bei Forever, an Imprint of Grand Central Publishing, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2025

Copyright © Copyright © 2023 by Laura Lee Guhrke

Copyright © dieser Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Lee Avison / Trevillion Images

© Greg Pease Photography / Stone RF / gettyimages

Redaktion: Antje Steinhäuser

ES · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-31694-5V001

www.goldmann-verlag.de

Für die unvergleichliche Sophie Jordan.

Sie weiß, warum.

1

London, 1896

»Max, Darling, genau jemanden wie dich suche ich!«

Maximilian Shaw wusste auch ohne den Kopf zu wenden, wer ihm da so überzeugend ins Ohr raunte. »Delia? Was für eine wunderbare Überraschung.«

Er legte die Zeitung beiseite, in der er bis gerade eben gelesen hatte, und drehte sich schmunzelnd zu dem attraktiven Gesicht seiner Lieblingscousine um.

»Auch wenn du mich sicher gleich um einen Gefallen bitten wirst.«

Delia schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ich habe mich in eine furchtbare Lage gebracht, Max, und ich brauche deine Hilfe. Ich weiß, es ist der Gipfel der Unverschämtheit, einen Herzog um einen Gefallen zu bitten …«

»Als ob dich das jemals davon abgehalten hätte«, warf er trocken ein.

Sie beugte sich zu ihm vor, wobei die breite Krempe ihres Hutes über seinen Kopf strich und ihm das dunkle Haar zerzauste. »Es ist keine große Sache«, versprach sie und gab ihm einen liebevollen Klaps auf die Wange, ohne darauf zu achten, dass sie sich im Foyer des Savoy, dem luxuriösesten Hotel Londons, befanden. »Eine Bagatelle, weiter nichts.«

Max kannte nur zu gut die Gefahren, die mit Delias sogenannten Bagatellen einhergingen. Seine Cousine war ein Jahr jünger als er und hatte ihn schon von dem Tag an, als sie ihre ersten Schritte auf der Welt tat, in ihre Pläne verwickelt. »Das letzte Mal, als du so etwas behauptet hast«, sagte er und erhob sich, »habe ich mir eine blutige Nase und ein blaues Auge geholt.«

Sie winkte lässig ab. »Das gehört alles zu unserer verschwendeten Jugend. Darf ich mich zu dir setzen?«, fügte sie hinzu, bevor er reagieren konnte, und zeigte mit dem Kinn auf den leeren Stuhl zu seiner Rechten.

Es wäre Max nie in den Sinn gekommen, Nein zu sagen. Wenn man Delia einen Gefallen tat, geriet man tatsächlich oft in Schwierigkeiten, aber Max konnte ein bisschen Ärger ab und an durchaus etwas abgewinnen, und außerdem durfte er einer Schönheit in Not doch keinesfalls die kalte Schulter zeigen.

»Ich bin dir selbstverständlich gerne zu Diensten. Sollen wir vielleicht bei einer Tasse Tee darüber reden?«, fügte er hinzu und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des berühmten Speisesaals. »Oder möchtest du lieber in die American Bar? Frank ist wahrscheinlich schon im Dienst. Wir könnten ihn bitten, uns einen dieser köstlichen neumodischen Drinks zu mixen.«

»Frauen sind in der American Bar nicht zugelassen«, erinnerte Delia ihn, und ihr war deutlich anzusehen, was sie davon hielt.

»Die Bar hat noch nicht geöffnet, also sollte Frank nichts dagegen haben.«

»Hör auf, mich derart verführen zu wollen. Ich habe keine Zeit für Cocktails oder Tee. Nicht heute. Ich muss in einer halben Stunde an der Charing Cross Station sein, sonst verpasse ich meinen Zug nach Dover.« Dennoch ließ sie sich auf den leeren Stuhl neben ihm sinken. »Ich warte nur darauf, dass mein Mädchen und der Page mein Gepäck herunterbringen«, fuhr sie fort und ließ den Blick durch das opulente Foyer des Savoy schweifen. »Dann reise ich auf den Kontinent.«

»Auf den Kontinent, ja?«, echote er, während er sich wieder setzte. »Zum Vergnügen oder geschäftlich?«

»Beides natürlich. Wenn ich kein Vergnügen an meiner Arbeit hätte, würde ich sie nicht machen.«

Das, dachte Max, entsprach zweifellos der Wahrheit. Schließlich bedurfte Delia keines Einkommens. Ihr dritter Mann hatte ihr bei seinem Tod ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Sie arbeitete daher tatsächlich rein zu ihrem Vergnügen, obwohl Max nicht genau wusste, worin genau diese Tätigkeit bestand. Irgendetwas für das Hotel, mit César Ritz, dem Manager des Savoy, als direktem Ansprechpartner und mit Aufgaben, die elegante Partys, Shopping und den Einsatz einer beträchtlichen Portion Charme beinhalteten – mit anderen Worten ein Posten, der wie geschaffen war für seine Cousine. »Also, was ist das für ein Gefallen?«, fragte er. »Und warum kannst du dich nicht selbst darum kümmern, wenn er so unbedeutend ist?«

»Aber das habe ich dir doch gerade gesagt! Ich habe keine Zeit. César hat mich vor einer Stunde angerufen und mich unverzüglich nach Rom beordert – wegen irgendeiner Katastrophe in seinem neuen Hotel dort. Niemand sonst als César würde glauben, dass es die einfachste Sache der Welt ist, vier Hotels in vier Ländern gleichzeitig zu führen. Jedenfalls habe ich ihn gewarnt, dass er sich zu viel zumutet, und ihm angeboten, nicht nur in diesem, sondern auch in den anderen Hotels auszuhelfen, und nun hat er endlich beschlossen, mir eine Chance zu geben, also fahre ich heute nach Rom. Aber ich war so in Eile zu packen, dass mir erst im Fahrstuhl wieder einfiel, dass ich auch Auguste meine Unterstützung zugesagt habe. Allerdings habe ich dafür jetzt schlicht keine Zeit mehr, und als ich dich hier in der Lobby sitzen sah, war das wie die Antwort auf all meine Gebete.«

»Auguste Escoffier?« Der berühmte Chefkoch des Savoy? Max schüttelte verwirrt den Kopf. »Delia, wir wissen beide, dass ich ein exquisites Mahl durchaus zu schätzen weiß, aber ich habe absolut keine Ahnung, wie man es zubereitet. In der Not könnte ich vielleicht ein Ei kochen«, fügte er zögernd hinzu. »Aber ich bezweifle, dass irgendjemand das gerne essen würde.«

»Du brauchst nichts zu kochen«, versicherte sie ihm lachend. »Jetzt hör zu. Auguste gibt in drei Wochen ein Bankett für den Epicurean Club – eine große Sache, mit über hundert Gästen. Es sind alle Mitglieder eingeladen, in Begleitung ihrer Frauen, und sogar der Prince of Wales soll kommen.«

»Ich weiß. Ich bin selbst Mitglied in diesem Club. Die Einladung habe ich bereits erhalten.«

»Wie schön!« Delia strahlte ihn begeistert an wie ein Kind, das gerade ein Geschenk bekommen hat. »Und deshalb bist du genau die richtige Person, um Auguste an meiner Stelle zu unterstützen. Wie du weißt, präsentiert der Epicurean Club bei solchen Anlässen immer eine Reihe aufregender neuer Gerichte, weshalb das Bankett auch hier im Savoy stattfindet. Auguste hat sich bereits schier den Kopf zerbrochen, was er servieren soll, aber er ist dieser Tage genauso überarbeitet wie César, der Arme, und ihm will partout nichts mehr einfallen.«

Kein Wunder, dachte Max. Schließlich war der Speisesaal des Savoy zum beliebtesten und angesagtesten Restaurant für jeden Aristokraten im Umkreis von tausend Meilen avanciert und die kulinarische Brillanz seines Chefkochs seit über fünf Jahren ununterbrochen gefragt. Doch wenn Escoffier an einer kreativen Dürre litt, sah Max nicht, was er dagegen tun konnte. »Der Preis des Erfolgs für beide, fürchte ich.«

»Wie dem auch sei. Auguste hat mich um Hilfe bei der Zusammenstellung des Menüs gebeten. Und er möchte, dass ich die Dekoration plane, die Blumen bestelle und so weiter. Also habe ich natürlich sofort Evie Harlow darauf angesetzt.«

Die Erwähnung einer ihm völlig unbekannten Person weckte Max’ Neugierde. »Evie wer?«

»Evie Harlow. Sie hat hier in der Nähe eine Buchhandlung und recherchiert immer für mich, wenn ich eine dieser Angelegenheiten plane. Sie ist ein wahres Wunder. Erinnerst du dich an das Bankett für den Edelweiß Club vor ein paar Jahren? Das, das wegen der Blumen so eine Sensation war?«

»Ehrlich gesagt nicht. Ich bin kein Mitglied in diesem Club, und ich kann mir nicht vorstellen, wie Blumen für Furore sorgen sollten. Aber du wirst mich sicher gleich aufklären.«

»Nicht irgendwelche Blumen«, korrigierte sie ihn. »Edelweiß. Es wächst nur in den höchsten Bergregionen. Ich wollte es für die Tischdekoration haben, aber wie um alles in der Welt sollte ich an Edelweiß herankommen, frage ich dich? Die Alpen erklimmen und es selbst pflücken?«

Das Bild brachte ihn zum Schmunzeln, denn Delias Vorstellungen von sportlicher Betätigung beschränkten sich auf Spazierengehen (in schicken Kleidern auf schicken Straßen), Automobilfahren (mit einem Chauffeur) und Walzer tanzen (gewöhnlich mit den bestaussehenden, reichsten Männern im Saal). »Das wäre in der Tat lächerlich«, stimmte er zu.

Falls Delia den amüsierten Unterton in seiner Stimme gehört haben sollte, so zeigte sie es zumindest nicht. »Evie hat es allerdings geschafft, welche für mich zu besorgen. Wie sie das gemacht hat, weiß ich bis heute nicht.«

»Ich beginne zu verstehen, weshalb du einen so guten Ruf als geschickte Einkäuferin hast.«

»O je, jetzt habe ich mich verraten, nicht wahr? Aber Evie ist wirklich ein Genie. Ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde. Jedenfalls haben sie und ich beim Epicurean Club an ein fernöstliches Thema gedacht, und sie hat mir versprochen, ein paar exotische Rezepte aus jenem Teil der Welt aufzutreiben. Kaum zu glauben, aber sie erwähnte ein Gericht mit Hühnerfüßen!«

Max starrte sie an, nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Mit Hühnerfüßen?«

»Wir haben auch über verschiedene Suppen gesprochen – eine aus Schwalbennestern, eine andere aus Haifischflossen.«

Max hatte sich bisher immer für einen abenteuerlustigen Burschen gehalten, der stets bereit war, neue Dinge auszuprobieren, weshalb er auch Mitglied im Epicurean Club war, aber diese Speisen könnten selbst für ihn zu gewagt sein. »Wie … ähm … exotisch.«

Delia lächelte, sodass ihre hübschen Grübchen an den Wangen sichtbar wurden. »Es entspricht nicht unbedingt meinem Geschmack, aber Evie hat mir versichert, dass das in Peking sehr begehrte Delikatessen sind.«

Max war nicht sicher, ob er das besonders beruhigend fand.

»Neben den Rezepten«, fuhr Delia fort, »hat sie mir auch eine Liste von Händlern versprochen, die die nötigen Zutaten liefern könnten sowie Ideen für die Tischdekoration und Blumen. Nur hat sie mir diese Informationen noch immer nicht zukommen lassen, was so gar nicht ihre Art ist, und ich mache mir langsam Sorgen. Ich wollte heute Nachmittag bei ihr vorbeischauen, aber jetzt, wo ich nach Rom fahre, schaffe ich das nicht mehr. Ich hoffe also, dass ich dich überreden kann, sie aufzusuchen. Es wäre wirklich reizend, wenn du die Informationen, die sie zusammengestellt hat, bei ihr abholen und sie Auguste bringen könntest.«

Max spürte einen Anflug von Enttäuschung. Delias Wünsche waren normalerweise nicht so banal. »Ich bin ein Herzog, Delia, kein Lakai.«

»Zum Glück, ja, denn ein Lakai wäre hier ganz und gar nicht von Nutzen. Ich brauche keinen Handlanger. Ich brauche jemanden, der mit einem großen Koch wie Escoffier zusammenarbeiten kann, will sagen, der mit den Informationen, die Evie für uns zusammengetragen hat, Escoffier bei der Erstellung des perfekten Menüs unterstützen kann. Dafür brauche ich jemanden, der sich in der feinen Küche auskennt und sie zu schätzen weiß, jemanden mit Geschmack und Urteilsvermögen.«

»Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren, Cousine«, unterbrach er sie. »Das funktioniert bei mir nie.«

»Das funktioniert bei dir immer«, korrigierte sie und lachte. »Aber in diesem Fall schmiere ich dir gar keinen Honig ums Maul. Du bist wirklich perfekt dafür geeignet, mich zu vertreten. Du bist Mitglied in diesem Club und hast schon an vielen Veranstaltungen dieser Art teilgenommen.«

Trotz seiner Mitgliedschaft fand Max nicht, dass er auch nur im Geringsten geeignet war, die genussvolle Qualität von Hühnerfüßen, Schwalbennestern und Haifischflossen zu beurteilen, aber er kam nicht mehr dazu, das zu sagen.

»César, Darling!«, rief Delia aus, den Blick auf jemanden hinter ihm gerichtet, und als Max sich auf seinem Platz umdrehte, sah er Ritz höchstpersönlich auf sie zukommen, ein adrett gekleideter Mann von kleiner Statur mit einem enormen Schnurrbart, zurückweichendem Haaransatz und einem leichten Hinken, das auf seine Angewohnheit zurückzuführen war, Schuhe zu tragen, die eine halbe Nummer zu klein waren. Die tiefen Falten der Erschöpfung in seinem Gesicht bestätigten Delias Einschätzung. Die Leitung von vier großen Hotels in vier verschiedenen Ländern hatte den Mann eindeutig zermürbt.

»Sie haben meinen Cousin sicher schon kennengelernt?«, sagte Delia, als Ritz neben ihrem Tisch stehen blieb. »Den Duke of Westbourne?«

»Diese Ehre hatte ich schon, ja.« Ritz verbeugte sich. »Euer Gnaden, wir freuen uns, dass Ihr während der Londoner Ballsaison bei uns wohnen werdet.«

Max hätte am liebsten laut aufgestöhnt. Da seine Cousine für das Hotel arbeitete, war es unvermeidlich, dass sie von seinen Plänen erfuhr, aber er hatte gehofft, zumindest in Ruhe seine Koffer auspacken zu können, bevor sie ihn mit Fragen bombardierte. Doch der Schaden war bereits angerichtet, und nachdem Ritz sich verabschiedet hatte und gegangen war, sah Max die Neugier in Delias Augen aufschimmern und seufzte resigniert.

»Du bleibst für die gesamte Ballsaison in der Stadt?«, fragte sie. »Du bist also nicht nur kurz hier, um über irgendetwas Wichtiges im House of Lords abzustimmen, am Bankett teilzunehmen und ein paar alte Freunde zu sehen? Du meine Güte«, fügte sie hinzu, als er den Kopf schüttelte, »ich glaube, die Planeten sind gerade auf ihrer Umlaufbahn stehen geblieben.«

»Ehrlich, Delia«, entgegnete er gespielt verärgert, »du brauchst gar nicht so schockiert zu tun. Ich bin bekannt dafür, die Ballsaison ein- oder zweimal zu besuchen.«

»Nicht mehr, seit deine jüngste Schwester in die Gesellschaft eingeführt wurde, und das ist mindestens fünf Jahre her. Trotzdem ergibt es durchaus Sinn, würde ich sagen, da du gerade erst Geburtstag hattest. Dein … zweiunddreißigster, nicht wahr?« Sie beugte sich näher vor und musterte ihn beunruhigend gründlich. »Ich glaube, ich sehe einen winzigen Hauch von Grau in deinem Haar.«

Instinktiv berührte Max mit einer Hand die wenigen – sehr wenigen – silbernen Strähnen an seiner Schläfe. »Oh, sei nicht albern.«

»Gut, wenn du dadurch nach so langer Zeit wieder zur Vernunft kommst«, sagte sie. »Aber warum willst du im Savoy absteigen? Du besitzt doch ein prächtiges Haus in London. Warum wohnst du nicht dort?«

»Allein in diesem riesigen Haus? Wie absurd.«

»Gar nicht so absurd, wenn man bedenkt, warum du hier bist.«

Obwohl es wahrscheinlich sinnlos war, setzte Max eine verblüffte Miene auf. »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Jetzt zier dich nicht so! Es ist doch sonnenklar, dass du dich entschieden hast, endlich wieder zu heiraten. Die Familie wird erleichtert sein, dass das Herzogtum nicht an die Krone zurückgeht. Und welcher Ort wäre besser geeignet als London im Mai, um die perfekte Herzogin auszuwählen?«

Anstatt ihr zu sagen, dass er seine Wahl bereits getroffen hatte, bemühte Max sich, alles abzustreiten. »Du liebst es wirklich außerordentlich, voreilige Schlüsse zu ziehen, teure Cousine.«

»Nun, zu derselben Schlussfolgerung werden auch deine Schwestern kommen, wenn du länger als ein paar Wochen in London bleibst. Und wenn sie erst einmal herausgefunden haben, was du wirklich vorhast, werden sie in Windeseile hier sein.«

Dass seine vier Schwestern in die Stadt kamen, um ihm bei seinen Heiratsabsichten zu helfen, wollte er, wenn irgend möglich, vermeiden. Und es war auch gar nicht nötig, denn er hatte ja bereits eine junge Dame gefunden, die genau seinen Vorstellungen entsprach. Dennoch hatte er die Absicht, dies so lange wie möglich zu verschweigen.

Es würde nicht leicht sein, die Hand der schönen und betörenden Lady Helen Maybridge zu gewinnen, nicht einmal für einen Mann seiner Position und seines Reichtums, und er wollte seine Chancen nicht unnötig aufs Spiel setzen. Bei ihrem Debüt im letzten Jahr hatte Helen London im Sturm erobert und jeden, der ihr begegnete, verzaubert, und sie war auf bestem Wege, diese Ehre zu wiederholen. Kaum Mai, und schon standen die Verehrer vor ihrer Tür Schlange, darunter – wenn die Gerüchte stimmten – Kronprinz Olaf aus irgendeinem Balkan-Königreich. Als einfacher Herzog wusste Max, dass er sich gehörig würde anstrengen müssen, und das Letzte, was er dabei gebrauchen konnte, war die Einmischung von vier wohlmeinenden, aber äußerst neugierigen und sich in durchweg alles einmischenden Schwestern. Er konnte sich zur Genüge vorstellen, wie sie Helen bei jeder Gelegenheit sagten, wie gut ihr Bruder Max aussähe, und eine Andeutung nach der anderen über seine Absichten machte.

»Das«, sagte er mit einem Schaudern, »ist genau, wovor ich mich fürchte.«

»Du willst also nicht, dass deine Schwestern etwas von deinen Plänen erfahren?«

»Kannst du mir das verübeln?«, murrte er. »Als ich das letzte Mal hier war, haben meine Schwestern die Hälfte ihrer Zeit damit verbracht, nach Ehemännern für sich zu suchen – und dabei meine Hilfe in Anspruch genommen, sehr zum Leidwesen und Ärger meiner unverheirateten Freunde. Und wenn sie nicht gerade mit ihren eigenen Heiratsambitionen beschäftigt waren, stellten sie mir ihre Freundinnen als geeignete Herzoginnen vor. Nur um sicherzugehen«, fügte er leicht verbittert hinzu, »dass ich denselben Fehler nicht zweimal mache.«

»Sie wollen nur das Beste für dich! Sie wollen dich glücklich sehen.«

»Ja, dessen bin ich mir bewusst, und ich liebe sie auch dafür. Trotzdem ziehe ich es vor, meine ehelichen Angelegenheiten ohne ihre Hilfe zu regeln. Und dieses Mal«, fügte er hinzu, bevor sie etwas erwidern konnte, »werde ich mich nicht von Leidenschaft leiten lassen.«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn traurig an. »Max, wir wissen alle, dass Rebecca nicht die Richtige für dich war, aber das bedeutet nicht, dass …«

Er unterbrach sie mit einem verärgerten Fluchen. »Müssen wir wirklich noch einmal auf die grauenhafte Geschichte meiner ersten Ehe zurückkommen? Ja, ich habe mich in eine völlig ungeeignete Frau verliebt, als ich noch jung und dumm war, und wir haben beide den Preis dafür bezahlt. Aber nachdem sie mich verlassen hat und nach Amerika geflüchtet ist, lief doch alles prächtig, nicht wahr? Wie überaus günstig für uns alle«, fügte er mit harter Stimme hinzu und spürte, wie sich seine Brust jäh zusammenzog, »dass sie sich, kurz bevor ich in New York nach ihr suchen konnte, vor eine Kutsche warf und mich so vor der skandalösen Wahl bewahrte, sie entweder mit Gewalt nach Hause zu schleppen oder aufgrund ihres Verschwindens die Scheidung zu erwirken.«

»Es war nicht deine Schuld.«

»Nein, wirklich nicht? Ich war so verrückt vor Leidenschaft, dass ich mein eigenes Urteilsvermögen ebenso ignorierte wie Rebeccas Zögern und auch alle Warnungen meiner Familie und Freunde. Ich habe ein Mädchen geheiratet, dem unsere Lebensweise völlig fremd war – ohne auch nur ein einziges Mal zu überlegen, ob es der Aufgabe gewachsen war. Wenn ich keine Schuld trage, wer dann?«

»In Fällen wie diesem bin ich nicht sicher, ob Schuld ein besonders sinnvolles Konzept ist, mein lieber Max. Du und Rebecca, ihr habt euch nun mal ineinander verliebt. Wir können uns nicht immer aussuchen, in wen wir uns verlieben. Das heißt aber nicht, dass du dich dieses Mal nicht in die Richtige verlieben kannst.«

»Wenn sich nach der Hochzeit Liebe einstellen sollte, ist das schön, und ich werde dafür dankbar sein.«

»Und wenn nicht?«

Er zuckte mit den Schultern. »Solange wir gut zusammenpassen, uns gernhaben und uns unserer Pflicht bewusst sind, spielt das kaum eine Rolle.«

»Ein sehr vernünftiger Ansatz«, sagte sie so herzlich, dass Max ihr einen scharfen, prüfenden Blick zuwarf. »Ich frage mich allerdings … Wenn die Liebe nicht zu deinen Kriterien gehört, was dann?«

»Ich beabsichtige eine Frau zu heiraten, die gut auf ihr Amt als Duchess of Westbourne vorbereitet ist. Es wird eine Frau sein, die in dieses Leben bereits hineingeboren wurde und sich der damit verbundenen Verantwortung voll bewusst ist. Wenn ich also eine Frau wähle, die den gleichen Hintergrund und die gleichen Interessen hat wie ich, und die eine Lebensauffassung besitzt, die mit der meinen vereinbar ist, dann denke ich, dass unsere Verbindung sehr zufriedenstellend sein wird.«

»Na, dann ist ja alles ganz einfach, nicht wahr?«, erwiderte Delia begeistert. »Warum sparst du dir nicht einfach all die Mühe der Ballsaison und überlässt es mir, deine Ehe zu arrangieren? Ich werde die perfekte Frau für dich finden, das verspreche ich dir.«

Beunruhigt richtete er sich in seinem Stuhl auf. Würde er ihr von Helen erzählen müssen? Aber dann grinste sie, und er entspannte sich wieder.

»Mein lieber Max«, sagte sie liebevoll, »es macht mir immer wieder ungeheuren Spaß, dich ein wenig aufzuziehen, und ich hoffe sehr, dass du dich bis zu meiner Rückkehr in das richtige Mädchen verliebt haben wirst. Aber so beschäftigt du auch sein wirst, du wirst doch die Zeit finden, mir diesen kleinen Gefallen zu tun, nicht wahr?«

»Natürlich, das weißt du. Obwohl ich nicht verstehe, warum diese Frau nicht selbst entscheiden kann, welche der exotischen Rezepte, die sie da aufgespürt hat, am besten für das Bankett geeignet sind, und sie diese direkt mit Escoffier bespricht.«

Delia schüttelte den Kopf, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Das geht nicht, fürchte ich. Evie ist ein wahrer Schatz, und sie ist auch sehr klug, weshalb sie so grandios darin ist, all die Informationen für mich zu beschaffen. Aber es gibt da eine gewisse Sprachbarriere. Auguste spricht kein Englisch.«

»Und sie spricht kein Französisch?« Das überraschte ihn doch sehr. »Ich dachte, alle Mädchen müssten Französisch lernen«, sagte er. »Dass es zwingend zur Schulbildung dazugehört.«

Sie runzelte die Stirn. »In unseren Kreisen ist das auch so, mein Lieber. Aber nicht unbedingt in allen anderen.«

Er hob abwehrend die Hände. »Ich wollte nicht wie ein Snob klingen. Aber du hast mir nichts über ihre Herkunft erzählt, außer dass sie eine Buchhandlung besitzt, was für mich ein gewisses Maß an literarischer Bildung voraussetzt. Ich bin davon ausgegangen, dass Französischkenntnisse dazugehören.«

»Oh, Evie besitzt durchaus Französischkenntnisse. Sie kann es lesen und schreiben … aber es sprechen?« Delia verzog das Gesicht. »Als wir letztes Jahr mit den Vorbereitungen für ein französisches Bankett beschäftigt waren, tat es mir in den Ohren weh zu hören, wie sie sich durch die Menüs haspelte. Was ihre Herkunft angeht, so ist die recht ansehnlich – eine Familie der oberen Mittelschicht, die erst in jüngster Vergangenheit ins Straucheln geraten ist. Ihre Mutter starb, als Evie noch ein Kind war, und ihr Vater zog sie allein in einer schmuddeligen kleinen Wohnung über dem Buchladen auf. Anscheinend ist das alles, was der Familie noch gehört. Und auch er ist inzwischen verstorben und hat ihr nichts weiter hinterlassen. Sie ist jedoch fest entschlossen, den Laden am Laufen zu halten. Ich weiß nicht, ob ich sie für töricht halten oder ihren Mut bewundern soll.«

»Das bringt nicht viel ein, nehme ich an?«

»Leider nein. Das Gebäude ist natürlich ein wertvoller Besitz, da es im Herzen Londons liegt. Bei einem Verkauf würde sicher eine nette kleine Mitgift herausspringen, aber der Laden selbst bringt so gut wie nichts ein. Er gehört zu jener Sorte, die hauptsächlich muffige alte Trottel bedienen, die ebenso muffige Erstausgaben wollen, von denen sonst noch nie jemand etwas gehört hat. Was für ein tristes Leben für eine junge Frau – haufenweise harte Arbeit und keine Zeit für Vergnügungen.«

»Hat sie denn keine Familie?«

»Nur ein oder zwei Cousinen, glaube ich.« Delia runzelte nachdenklich die Stirn. »Der zweite Ehemann ihrer Tante ist ein Baron – Lord Merrivale, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber zwischen ihnen herrscht eine gewisse Feindseligkeit. Er verlangte von ihr, den Laden zu verkaufen, und als sie sich weigerte, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben – so etwas in der Art. Und Evie ist stolz wie der Teufel, also bezweifle ich, dass sie ihn um Hilfe bitten würde, selbst wenn sie mittellos wäre.«

»Auf jeden Fall scheint sie eine fähige junge Frau zu sein. Meinst du nicht, dass sie trotz der Sprachbarriere allein mit Escoffier zurechtkommen würde?«

»Mit Auguste? Der wirft sie raus, bevor sie auch nur bonjour zu ihm gesagt hat.«

»Mein Französisch ist nicht viel besser, wage ich zu behaupten.«

»Ja, aber bei dir ist es etwas anderes«, schnurrte sie. »Du bist ein Herzog. Außerdem bist du Mitglied im Epicurean Club. Und du kennst den Prinzen und hast unzählige Male mit ihm zu Abend gegessen. Wer könnte Auguste besser bei der Planung dieses Festes helfen als du? Ah!«, rief sie und sah an ihm vorbei, »da ist ja endlich mein Mädchen. Ich muss jetzt gehen.«

Sie stand auf, und als er es ihr nachtat, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Danke, Max. Ich sollte in etwa einem Monat zurück sein. Schreib mir doch bitte in der Zwischenzeit nach Rom und lass mich wissen, wie das Bankett verlaufen ist. Und sollte ich in irgendeiner italienischen Zeitung von deiner Verlobung lesen, bevor du mir persönlich davon erzählt hast, wäre ich ziemlich verärgert.«

»Aber wo finde ich diese Harlow?«, fragte er, als Delia sich abwandte und durch das Foyer auf eine mürrisch dreinschauende Frau in Schwarz und den Pagen des Savoy zuging, die gemeinsam mit einem Stapel Kisten und Koffern an der Ausgangstür auf sie warteten. »Wohin soll ich mich wenden?«

»Harlow’s Bookshop«, rief sie ihm über die Schulter zu, ohne innezuhalten. »Geradeaus über die Strand und zwei Blocks die Wellington Street hinunter. Ein winziger Laden, aber ich denke, du wirst ihn ohne allzu große Schwierigkeiten finden. Auf bald!«

Max starrte ihr verwirrt hinterher, als sie durch die gläserne Ausgangstür schlenderte, die der livrierte Türsteher für sie offen hielt, und er konnte nur hoffen, dass dieser Gefallen für Delia nicht das gleiche Ergebnis haben würde wie der letzte. Eine blutige Nase und ein blaues Auge waren kein guter Start in die Ballsaison, schon gar nicht, wenn er vorhatte, die begehrteste Frau Londons für sich zu gewinnen.

2

Jeder, der Evangeline Harlow kannte, hätte sie wahrscheinlich mit Tugenden wie »fleißig« und »vernünftig« beschrieben. Immerhin hatte Evie es geschafft, innerhalb weniger Jahre den Schuldenberg ihres Vaters abzutragen und die kleine Buchhandlung, die sie von ihm geerbt hatte, vor den Gläubigern zu bewahren – etwas, das keine Frau ohne Arbeitsethos und gesunden Menschenverstand würde erreichen können.

Harlow’s Bookshop war nie sehr gut besucht gewesen, vor allem nicht von wohlhabenderen Kunden, aber Evie sah nach dem Tod ihres Vaters keine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb hatte sie Stunde um Stunde damit verbracht, sich zumindest unter den Büchersammlern einen guten Ruf zu erwerben. Und auch wenn der finanzielle Gewinn in den sieben Jahren unter ihrer Leitung eher mager ausgefallen war – wie Cousine Margery ihr bei jeder Gelegenheit ins Gedächtnis rief –, war Evie doch stolz darauf, dass jeder, der einen obskuren Titel oder eine seltene Erstausgabe suchte, wusste, dass er in Harlow’s Bookshop sehr wahrscheinlich fündig werden würde.

In letzter Zeit jedoch neigten Evies gesunder Menschenverstand und ihre eiserne Arbeitsmoral bedauerlicherweise dazu, sie immer wieder im Stich zu lassen, zumindest in einigen sehr spezifischen Situationen.

»Evie«, flüsterte ihr junger Assistent Clarence ihr zu. »Du hast schon haufenweise Zucker in die Tasse getan.«

»Ja«, erwiderte Evie gedankenverloren, während sie einen weiteren Würfel in die Teetasse fallen ließ. Sie legte die Zuckerzange beiseite, nahm einen kleinen Löffel zur Hand und rührte damit den Tee um. Sie lehnte sich ein wenig von dem Tresen zurück, um durch die offene Tür in den Laden zu spähen und den jungen Mann zu beobachten, der gerade die Bücherregale im Mittelgang des Ladens durchstöberte.

Rory Callahan. Wer hätte gedacht, dass sich der schlaksige Junge, den sie bereits ihr Leben lang kannte, während seiner Jahre im Ausland in einen so umwerfend attraktiven Mann verwandeln würde? Das Wasser in Europa musste über magische Kräfte verfügen …

Rory und sie waren mit nur wenigen Monaten Abstand auf die Welt gekommen und durch die Nachbarschaft ihrer Familien schon in frühester Kindheit enge Freunde geworden. Evie hatte ihm Bücher geliehen, und er hatte mit ihr zusammen die Violet Creams genascht, die er aus der Konditorei seines Vaters stibitzte, wenn der alte Mann nicht hinsah. Evie hatte Rory bei seinen Schularbeiten geholfen, und im Gegenzug hatte er ihr seine Träume anvertraut: dass er irgendwann einmal die Welt verändern wollte. Sie empfanden Zuneigung und Kameradschaft füreinander, aber trotz der Verkupplungsversuche ihrer Väter hatte es zwischen ihnen nie auch nur den kleinsten Funken Romantik gegeben.

Beide waren sie auf Internatsschulen gegangen, fern ihrer Familien, doch während Evie nach ihrem Abschluss zurückgekehrt war, um ihrem Vater in der Buchhandlung zu helfen, hatte Rory in München begonnen, Politik zu studieren. Als sein Vater zwei Jahre später starb, war Rory nur so lange wie nötig nach London gekommen, um die Konditorei an Clarences verwitwete Mutter zu verkaufen, dann war er nach Deutschland zurückgekehrt. Allerdings hatte es ihn dort nicht mehr lange an der Universität gehalten; vielmehr beschloss er schon bald, dass Studieren nichts für ihn war, und machte sich stattdessen auf Reisen, um etwas von der Welt zu sehen.

In den folgenden sieben Jahren schrieben sie sich regelmäßig Briefe, aber obwohl Evie seine Beschreibungen von Wiener Schlössern, Schweizer Bergen und Villen an der Côte d’Azur sehr genoss, hätte sie, wenn sie jemand gebeten hätte, ihre Gefühle für Rory zu beschreiben, immer gesagt, er sei wie ein Bruder für sie.

Und dann, vor zwei Wochen, war er zurückgekehrt.

In dem Moment, in dem er zum ersten Mal seit über zehn Jahren Harlow’s Bookshop betrat, eine Schachtel Violet Creams unter dem Arm und so gut aussehend wie ein Märchenprinz, hatte sich für Evie alles geändert, und während des halben Dutzends Besuche, die er ihrem Buchladen seitdem abgestattet hatte, war der Gedanke, dass er wie ein Bruder für sie war, vollends aus ihrem Kopf verschwunden. Sein Haar, das in seiner Jugend weißblond gewesen war, hatte sich zu einer goldenen Farbe verdunkelt, die selbst im sanften Dämmerlicht des Ladens von Sonnenlicht durchflutet schien. Seine Augen leuchteten blauer, als sie es in Erinnerung hatte, so blau wie der Sommerhimmel, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Evie begonnen, von Romantik zu träumen und davon, wie es sein könnte, sich zu verlieben.

»Aber Evie«, sagte Clarence, und sein eindringliches Flüstern unterbrach erneut ihre Gedanken, »du nimmst doch gar keinen Zucker mehr in deinen Tee. Zu teuer, hast du gesagt.«

Evie verzog das Gesicht bei der unangenehmen Erinnerung an ihren fortwährend niedrigen Kontostand. »Das liegt daran, dass du genügend Zucker für uns beide nimmst«, antwortete sie mit einem gutmütigen Stoß in die Rippen des Jungen. »Ich sollte Anna bitten, mir zum Ausgleich Zucker aus ihren Vorräten zu geben.«

»Wenn du das tust, wird Mum mich noch mehr Stunden in der Konditorei arbeiten lassen! Zwischen ihr, dir und der Schule habe ich überhaupt keine Zeit mehr für mich.«

»Ja, dein Leben ist schrecklich hart.« Sie schaute wieder durch die Tür – Rory durchstöberte immer noch die Bücherregale. »Und außerdem«, fügte sie hinzu, bevor Clarence etwas erwidern konnte, »ist dieser Tee nicht für mich. Er ist für Rory.«

»Umso schlimmer, wo du ihn doch so sehr magst!«

Evie durchfuhr es bei diesen Worten siedend heiß. Waren ihre Gefühle tatsächlich so offensichtlich? Mit einem Ruck richtete sie sich auf, auch wenn sie dabei Rory aus dem Blickfeld verlor. »Was redest du für einen Unsinn«, sagte sie zu Clarence. »Natürlich mag ich ihn. Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten. Und er mag Zucker in seinem Tee.«

»Ich hoffe, er tut es – um deinetwillen.«

Evie hatte keine Ahnung, was der Junge damit meinte, aber auch keine Zeit, das herauszufinden. Sie schenkte eine zweite Tasse schwarzen Tee ein. Doch als sie die Tasse auf das Tablett stellen wollte, die sie gerade zusammengestellt hatte, packte Clarence sie – aus Gott weiß welchem Grund – am Arm. »Evie, warte«, flehte er und stieß dabei die Tasse an, sodass der Inhalt über den Rand schwappte und nicht nur Evies Hand, sondern auch ihre rechte Manschette und die linke Seite ihrer weißen Bluse bespritzte.

Sie stöhnte auf. »Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast!«

»Aber Evie, du hast sieben Würfel …«

»Ach, lass doch, Clarence«, unterbrach sie ihn ungeduldig und deutete mit einer Kopfbewegung auf die zwei übrig gebliebenen Fingersandwiches und das Stück Mohnkuchen auf dem Tresen. »Zeit für deine Teepause. Danach kannst du die Kiste mit den Büchern auspacken, die heute Morgen gekommen ist.«

Der Fünfzehnjährige blickte freudlos auf das magere Angebot hinab. »Ich weiß nicht, wie du von mir erwartest, dass ich so hart arbeite, wenn du mir nie etwas Anständiges zu essen gibst«, brummte er, während er seinen kleinen Imbiss auf einen Teller schob und sich eine Tasse Tee einschenkte. »Ich werde Mum sagen, dass du mich verhungern lässt. Und sie wird mir glauben«, fügte er hinzu, als Evie lachte. »Schließlich bin ich ihr Sohn.«

»Genau deshalb wird sie dir nicht glauben. Anna merkt es immer, wenn du lügst. Und da sie eine meiner ältesten Freundinnen ist, weiß sie, dass ich grundsätzlich keine Lügen verbreite. So, und jetzt geh.«

Clarence stieß einen tiefen Seufzer aus, nahm seine Tasse in die freie Hand und machte sich auf den Weg in den Lagerraum. »Wenn dieser Mann jetzt öfter den Laden besucht, werde ich nie wieder etwas Anständiges zu futtern bekommen.«

»Ach, hör auf, dich zu beschweren«, rief Evie ihm hinterher, während sie ihre Bluse mit einer Serviette abtupfte. »Ich mache dir später mehr, versprochen.«

Ihre Bemühungen, die unansehnlichen Flecken zu entfernen, halfen jedoch wenig, und Evie gab es schließlich auf. Sie warf die Serviette beiseite, füllte ihre Tasse mit dem Rest aus der Kanne auf, und nachdem sie erfolglos versucht hatte, einige der verirrten Strähnen ihres braunen Haars wieder in den Dutt auf ihrem Kopf zu stecken, nahm sie das beladene Tablett und machte sich auf die Suche nach Rory.

Er schlenderte inzwischen nicht mehr zwischen den Bücherregalen umher, sondern lümmelte jetzt an der Kasse, als ob er auf sie warten würde. Als sie mit dem Tablett nach vorne eilte, klingelte die Glocke über der Tür, und ein weiterer Mann betrat den Laden und stellte sich hinter Rory an die Kasse, während Evie ihren Platz hinter der Theke einnahm.

Sie nickte dem Neuankömmling zur Begrüßung zu, doch ihr eiliger Blick erfasste nur einen teuren, gut geschnittenen Cutaway und dunkles Haar, das unter der Krempe eines grauen Homburgs hervorlugte, bevor Rory das Wort ergriff und damit ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte.

»Grundgütiger, Evie, was ist das alles?« Rory warf einen Blick auf das Tablett, das sie zwischen ihnen auf die Theke stellte. »O je, ich hoffe, ich habe dich nicht bei deiner Teepause gestört?« Er blickte auf, die Stirn besorgt gerunzelt.

»Oh, nein, natürlich nicht. Ich dachte … das heißt, ich habe mich gefragt … ähm …« Sie hielt inne, von plötzlicher Schüchternheit ergriffen, und musste hart schlucken, bevor sie fortfahren konnte. »Ich habe sowieso gerade alles für den Tee vorbereitet«, sagte sie schließlich.

»Das mag sein, aber ich fühle mich trotzdem geehrt, dass du an mich denkst.«

»Natürlich denke ich an dich«, platzte es aus ihr heraus, und sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber Rory lachte nur.

»Ich denke auch an dich, Evie.« Er lehnte sich über die Theke. »Die ganze Zeit.«

Instinktiv lehnte sie sich ebenfalls näher nach vorne, doch in diesem Moment hörte sie den Fremden hüsteln, und mit einem kleinen Ruck richtete sie sich auf und blickte ihn an. »Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen, Sir.«

»Liebste Evie«, murmelte Rory und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder einmal auf sich, »du hättest dir keine Umstände zu machen brauchen.«

»Wie ich dir jedes Mal sage, wenn du vorbeikommst: Es bereitet mir keine Umstände. Außerdem ist das das Mindeste, nach der Schachtel Violet Creams, die du mir gebracht hast.«

»Das ist etwas anderes. Mit dir Violet Creams zu essen, gehört zur Tradition. Aber da du darauf bestehst«, fügte er lachend hinzu, griff nach der Tasse vor ihm und trank einen kräftigen Schluck Tee – nur um plötzlich zu husten und zu würgen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie bestürzt.

»Nein, nein.« Er stellte die Tasse ab und klopfte sich räuspernd auf die Brust. »Ich … ähm … ich habe mich nur verschluckt, das ist alles. Aber vielleicht …« Er hielt inne, hustete erneut und warf einen hungrigen Blick auf das Tablett. »Vielleicht hilft eines dieser Sandwiches?«

Er legte sich zwei auf einen Teller und schlang den ersten gierig hinunter.

»Besser?«, fragte sie, als er das zweite Sandwich gegessen hatte und sich ein drittes nahm.

»Ja, danke. Du bist immer so gut zu mir«, fügte er hinzu und griff nach einem vierten Sandwich. »Aber ich bin nicht gekommen, um einen Imbiss zu ergattern.«

Der Mann hinter ihm schnaubte ungläubig auf.

»Natürlich nicht, Rory«, sagte sie und warf dem Fremden einen tadelnden Blick zu. »Ich weiß, dass du so etwas nie tun würdest.«

Der elegant gekleidete Mann hob skeptisch eine Augenbraue, aber Evie beschloss, ihn besser zu ignorieren. Sie wandte sich wieder Rory zu. »Hast du dich schon entschieden, was du tun wirst, jetzt, wo du wieder zu Hause bist? Ich schätze, du nimmst bald eine Anstellung an?«

»Ich? In einem Büro arbeiten und Zahlen addieren oder für einen reichen Magnaten Diktate schreiben?« Rory lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, mir steht der Sinn nach etwas anderem als doppelter Buchführung und Schreibmaschinen.«

»Selbstverständlich«, murmelte der Fremde, und jede Silbe triefte vor Sarkasmus.

Zum Glück ignorierte Rory ihn. »Außerdem«, fuhr er fort, während er ein weiteres Sandwich vom Tablett nahm, »habe ich nicht umsonst eine Universitätsausbildung. Es ist an der Zeit, denke ich, sie auch zu nutzen.«

»Um was zu tun?«, fragte sie.

»Ich habe einen Plan, aber bevor ich dir davon erzähle, muss ich dir eine Frage stellen.«

Ihr Herz machte vor Aufregung einen Satz. Vielleicht wollte er sie in eine Varietéshow mitnehmen? So einen Ausflug hatte sie das letzte Mal lange vor dem Tod ihres Vaters unternommen. Oder er könnte mit ihr spazieren gehen – ein Abendspaziergang auf dem Thames Embankment. Sie könnten bei Brown’s anhalten und ein Eis essen. Er könnte es wagen, auf dem Rückweg ihre Hand zu berühren …

»Ich habe mich gefragt«, unterbrach er diese reizvollen Überlegungen, doch dann hielt er inne, um sich den letzten Bissen Sandwich in den Mund zu schieben und nach einem Stück Mohnkuchen zu greifen. Evie verharrte in schier unerträglicher Anspannung. »Ich habe mich gefragt«, fuhr er schließlich fort, »was es mit diesem Lagerraum auf sich hat, den du hinter dem Laden hast.«

Sie blinzelte verblüfft, und ihre romantischen Tagträume gerieten ins Wanken. »Der Lagerraum?«

»Ja. Benutzt ihr ihn für irgendetwas?«

»Benutzen wir ihn?« Als Evie merkte, dass sie begann, sich wie ein zahmer Beo anzuhören, riss sie sich mühsam zusammen. »Nun, wir benutzen ihn natürlich als Lagerraum. Und er dient mir auch als eine Art Büro. Wieso?«

»Ich suche einen Ort, an dem ich Versammlungen abhalten kann.« Nachdem er sein Stück Kuchen gegessen hatte, nahm er sich noch eines. »Um neue Mitstreiter zu finden, Gelder einzusammeln, so etwas in der Art.«

»Geld für was?«

»Für mich.« Er holte tief Luft. »Ich habe beschlossen, in die Politik zu gehen.«

Das Erstaunen musste ihr ins Gesicht geschrieben sein, denn er lachte. »Ist das so eine Überraschung? Du hast doch immer gewusst, dass ich politisch interessiert bin.«

Ja, das wusste sie. Und es war eine seiner Eigenschaften, die sie am meisten an ihm mochte. Er kümmerte sich um Dinge, die wichtig waren, genau wie sie. Er wollte das Los der einfachen Leute verbessern. »Es gefällt mir, dass du die Welt verbessern willst, aber …«

»Es wird nicht einfach sein, dies zu erreichen. Wir müssen die Gesellschaft zuallererst von diesem alten fehlerhaften System befreien. Wir müssen es niederreißen – vollständig. Wir müssen die überholten Institutionen zerschlagen, die privilegierten Klassen zerstören und alles, wofür sie stehen. Wir müssen die Banker, die Aristokraten, ja die Monarchie selbst stürzen …«

Evie runzelte die Stirn. Sie mochte Queen Victoria. »Das ist ziemlich gewagt, oder nicht?«

»Es muss getan werden, Evie! Erst wenn wir uns von der dekadenten alten Welt befreit haben, können wir eine neue Welt erschaffen, eine bessere Welt! Wir können uns nicht darauf verlassen, dass diese tattrigen Narren in Westminster irgendwann einmal etwas ändern – das wird nie geschehen. Sie machen es sich lieber in ihren schweren Betten bequem, fett und selbstgefällig, wie sie sind, und so verdammt blasiert. Nein, wenn sich jemals etwas ändern soll, dann sind es die arbeitenden Männer, die das bewirken werden.« Er nahm ein weiteres Sandwich vom Tablett. »Männer wie ich.«

Der Kunde hinter ihm gab einen spöttischen Laut von sich, und Evie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, vergeblich allerdings, denn der Mann sah sie nicht einmal an. Stattdessen studierte er die Bücher auf dem Schautisch in der Nähe, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Rory zu. »Du willst also für das Amt kandidieren?«

»Das tue ich, aber dafür brauche ich Geld. Und das muss ich jetzt beschaffen.«

»Was ist mit dem Geld aus dem Verkauf der Konditorei? Du hast doch sicher noch etwas davon?«

»Natürlich«, erwiderte er rasch, »aber es ist nicht annähernd genug. Politik ist ein teures Spiel, Evie. Es wird viel Zeit und Arbeit erfordern, aber am Ende werde ich es schaffen, und wenn ich es erst geschafft habe, werden die Männer, die all die Arbeit verrichten, endlich eine wahre Stimme haben.«

Evies Unbehagen verstärkte sich noch. »Ich hoffe …« Sie hielt inne, räusperte sich und verschränkte ihre Finger unter der Theke. »Ich hoffe, du wirst dich dafür einsetzen, dass auch Frauen eine Stimme haben, und dafür kämpfen, dass wir gewählt werden? Immerhin«, fügte sie tadelnd hinzu und zwang sich zu einem Lachen, »sind auch wir Arbeiterinnen.«

Sie hätte nicht an Rory zu zweifeln brauchen. »Auf jeden Fall«, sagte er, und seine Stimme klang fest und überzeugt. »Ich betrachte Frauen als die wichtigsten Arbeitskräfte von allen.«

»Selbstverständlich«, murmelte der Mann hinter ihm erneut und blätterte in seinem Buch.

»Ich bin froh, dass du das Frauenwahlrecht unterstützt, Rory«, beeilte sie sich zu sagen, da sie befürchtete, er könnte sich über die unhöfliche Bemerkung des Fremden ärgern. »Es ist so wichtig.«

»Natürlich ist es das«, antwortete Rory, während er ein weiteres Stück Kuchen nahm. »Was den Lagerraum angeht, so hatte ich gehofft, du würdest ihn mir für die Versammlungen zur Verfügung stellen.«

»Ich nehme an, das ließe sich einrichten. Hattest du einen bestimmten Tag im Sinn?«

»Ein Abend pro Woche sollte ausreichen. Wir könnten einen Tisch herbringen, ein paar Stühle hineinstellen …«

»Einmal pro Woche?« Sie starrte ihn entsetzt an, weil sie die Schwierigkeiten eines solchen Arrangements offensichtlich sehr viel klarer vor Augen hatte als Rory. Ihr Lagerraum war klein und beinhaltete nicht nur das überschüssige Inventar des Ladens und die Schreibwaren, sondern auch ihren Schreibtisch, Aktenschränke und ein paar Regale mit Büchern. Wenn dort auch noch ein Tisch und mehrere Stühle hineingestopft werden würden, gäbe es keinen Platz mehr, um sich dorthin zurückzuziehen. »Du willst ihn einmal pro Woche nutzen?«

»Es wäre auch nur für ein paar Stunden«, beeilte er sich zu sagen. »Es ist wichtig, dass wir einen Ort haben, an dem wir uns treffen können, und dein Lagerraum wäre perfekt. Es geht um die Arbeiter, Evie«, fügte er hinzu, als sie weiter zögerte, und wieder beugte er sich näher vor, schenkte ihr ein zärtliches Lächeln. »Es geht um uns.«

Wie hätte sie beim Blick in diese herrlichen blauen Augen ablehnen können? »Also gut«, sagte sie und lachte. »Du hast mich überzeugt. Wir werden das schon irgendwie hinkriegen.«

Er lächelte sie unverwandt an, dann steckte er sich den letzten Bissen Kuchen in den Mund und löste sich von der Theke. »Wäre dir mittwochs recht? Um sieben Uhr?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er die letzten beiden Sandwiches vom Tablett und wandte sich zum Gehen.

»Bis morgen«, rief sie ihm hinterher, traurig darüber, dass dieses schöne Stelldichein bereits zu Ende war. »Einen schönen Tag noch, Rory.«

Er quittierte ihren Abschied mit einer Handbewegung, hielt aber erst an der Tür inne, wo er sich noch einmal umdrehte und sie ansah. »Ach, Evie?«

Sie beugte sich vor, lächelte, hoffte. »Ja?«

»Meinst du, wir könnten zur Stärkung ein paar von deinen köstlichen Sandwiches und Kuchen haben?«

Diese Worte waren nicht ganz das, was sie sich erhofft hatte, aber Evie spürte den Blick des Fremden auf sich, deshalb zwang sie sich zu einem Lächeln. »Ja, gerne«, sagte sie, als ob sie es sich leisten könnte, regelmäßig einem Raum voller Menschen Sandwiches und Kuchen zu servieren.

»Danke, Evie«, sagte er und lächelte ihr zu, als er die Tür öffnete. »Du bist ein Engel.«

Und dann war er weg.

Evie lehnte sich über die Theke und sah ihm durch das Schaufenster nach, aber er wandte sich nicht mehr zu ihr um, als er die Straße hinunterging.

Du bist ein Engel.

Er verschwand aus dem Blickfeld, verschwand hinter dem Fensterrahmen, und Evie ließ sich mit einem verträumten Seufzer auf ihre Fersen zurücksinken.

Er würde jetzt noch öfter in den Laden kommen. Er glaubte an die Rechte der Frauen. Er brauchte ihre Hilfe. Er hielt sie für einen Engel.

»Ähem.«

Das Geräusch riss Evie aus ihren seligen Träumen, und sie drehte sich zu dem Mann um, der unentwegt diese unhöflichen, spöttischen Laute von sich gab und sich abfällig über ein Gespräch äußerte, das ihn nichts anging.

Aus irgendeinem Grund schien er von ihr ebenso irritiert zu sein wie sie von ihm. Seine dunklen Augen sagten ihr nichts, aber unter seinem Hut runzelte sich unverkennbar seine Stirn, und sein Mund war zu einem harten Strich zusammengekniffen. Sein Gesicht war an sich recht gut aussehend, dachte sie, aber in seinen kantigen, gemeißelten Konturen lag die unbestreitbare Arroganz eines Mannes, der daran gewöhnt war, dass man ihm auf der Stelle gehorchte. Das, zusammen mit seinen verächtlichen Bemerkungen von vorhin und dem teuren Schnitt seiner Kleidung, zwang Evie zu dem Schluss, dass er einer dieser verwöhnten reichen Lordschaften war, die nur allzu ungern warteten, bis sie an der Reihe waren.

Er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Tür, durch die Rory soeben hinausgegangen war. »Ein Freund von Ihnen, nehme ich an?«

Er sagte das in einem kultivierten, leicht gedehnten Tonfall, aber sie erkannte die Schärfe, die sich dahinter verbarg, und sie spürte ihre eigene Feindseligkeit weiter anwachsen. Aber das durfte sie nicht zeigen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit kühler Höflichkeit.

»Ich glaube, ja«, sagte er und zog seinen Hut. »Ich bin …«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment schellte die Glocke an der Ladentür, und drei junge Männer kamen mit großem Getöse herein.

»Ha! Da sind Sie ja, Westbourne!«, sagte einer von ihnen mit lauter Stimme, die unverkennbar vom Alkohol gefärbt war. »Wir wussten, wir haben Sie irgendwo hier verloren, sind aber dennoch bei unserer Suche gleich zweimal an dieser Tür vorbeigelaufen. Wie hätten wir auch darauf kommen sollen, dass Sie in einer Buchhandlung sind!«

Die beiden anderen Männer, die mit ihm hereingeschneit waren, lachten schallend über seine Bemerkung, obwohl Evie beim besten Willen nicht ergründen konnte, was sie so unterhaltsam daran fanden.

»Das ist nicht mein übliches Umfeld, Freddie, das gebe ich zu«, erwiderte der Mann und gab damit Evie die heiß ersehnte Gelegenheit, diesmal selbst einen spöttischen Laut von sich zu geben.

Leider schien er es nicht zu hören. »Ich bin hier«, fuhr er fort, »um etwas für meine Cousine zu erledigen.«

»Ich bewundere Sie für Ihren Familiensinn«, erwiderte Freddie. »Aber Sie bleiben doch nicht lange, oder? Buchläden sind so verdammt langweilig. Dieser hier ganz besonders«, fügte er mit einem missbilligenden Blick hinzu, bei dem sich Evie die Nackenhaare aufstellten. Ihr Laden mochte zwar klein und nicht sehr vornehm sein, aber was die Qualität der Bücher anging, war Harlow’s jeder der vom Adel frequentierten schicken Buchhandlungen überlegen.

»Nicht lange, nein«, antwortete Westbourne. »Fünf Minuten, höchstens.«

Seine Begleiter begannen, im Laden herumzuschlendern, und machten keine Anstalten, ihre Stimmen zu mäßigen oder ihr Lachen zu unterdrücken, und als Westbourne seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete, konnte Evie ihren Rachegelüsten nicht widerstehen. »Freunde von Ihnen, nehme ich an?«, sagte sie mit honigsüßer Stimme.

Dass seine Frage wie ein Bumerang zu ihm zurückkehrte, schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. »So würde ich das nicht unbedingt nennen«, antwortete er mit einem Schulterzucken. »Ich fürchte, für diese jungen Burschen bin ich eher ein lästiger älterer Bruder als ein Freund.«

»Lästig« konnte Evie sich durchaus vorstellen, aber so viel älter als die anderen wirkte er auf sie nicht. Er hatte dichtes, widerspenstiges Haar, schwarz wie Tinte, mit nur ein paar wenigen grauen Strähnen an den Schläfen. Die einzigen Falten in seinem Gesicht waren ein paar zarte Linien an Augen- und Mundwinkeln. Außerdem schien er kein überflüssiges Gramm Fett an seinem großen, breitschultrigen Körper zu haben. Evie schätzte ihn auf nur wenige Jahre älter als sie selbst, und obwohl sie mit achtundzwanzig bereits als alte Jungfer galt, war sie doch beim besten Willen nicht alt.

»Gestatten, ich bin der Duke of Westbourne«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich nehme an, Sie sind Miss Harlow, die Eigentümerin hier?«

Dass er einen hochtrabenden Titel trug, überraschte sie nicht, denn er schien die gleiche Anspruchshaltung zu haben wie die meisten in seinen Kreisen, und sein Titel bestätigte nur die Arroganz, die sie gleich zu Beginn an ihm wahrgenommen hatte. Aber woher wusste er, wer sie war? Zugegeben, die meisten ihrer Kunden kamen auf Empfehlung zu ihr, aber der Wortwechsel mit seinen Freunden deutete darauf hin, dass er sich nicht sonderlich für Bücher interessierte. Wahrscheinlich, dachte sie mit einem weiteren raschen Blick auf seinen Körper, verbrachte er seine Zeit eher mit sportlichen als mit literarischen Aktivitäten. »Ich bin Miss Harlow, ja.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Harlow«, sagte er und sah sich um, während er seinen Homburg wieder auf den Kopf setzte. »Man hat mir gesagt, Sie hätten hier ein schönes Etablissement.«

Sie nahm an, dass das als Kompliment gemeint war, aber während er weiterhin eingehend seine Umgebung betrachtete, fragte Evie sich, ob er wohl die verblasste Tapete, das schummrige Licht und den abgeplatzten Putz an der Decke bemerkte und sie für einen Widerspruch zu dem hielt, was er erwartet hatte. Der Gedanke, dass er ihren Laden aufgrund von Oberflächlichkeiten beurteilen und für mangelhaft halten könnte, machte sie verlegen und versetzte sie in eine seltsam defensive Stimmung.

»Eure Begleiter scheinen nicht dieser Meinung zu sein«, antwortete sie und zuckte zusammen, als das laute Lachen der jungen Männer durch den Laden hallte. »Zumindest nicht gut genug, um auf andere Kunden Rücksicht zu nehmen.«

»Was für ein Glück«, sagte er sanft, »dass im Moment keine anderen Kunden zugegen sind.«

Evie versteifte sich. »Mir war nicht bewusst, dass die Gegenwart eines Publikums vonnöten ist, um sich wie ein Gentleman zu verhalten.«

Falls sie gehofft hatte, dass ihre scharfzüngige Antwort ihn treffen würde, so wurde sie enttäuscht. »Dem sollte auch nicht so sein«, stimmte er ihr zu. »Aber zur Verteidigung meiner Gefährten möchte ich sagen, dass sie jung und voller Lebensfreude sind. Noch dazu waren sie den ganzen Winter über auf ihren Familiengütern auf dem Lande eingesperrt.«

Sie setzte einen Ausdruck gespielten Mitleids auf. »Die armen kleinen Kerlchen! Wie anstrengend für sie.«

Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, aber als er sprach, war seine Stimme ernst. »Exakt. Und jetzt, da sie gerade erst in der Stadt angekommen sind, versuchen sie, alle Freuden der Ballsaison an einem einzigen Tag auszukosten. Das hat sie etwas übermütig gemacht, fürchte ich.«

Sie beobachtete, wie Freddie, ein geckenhafter Dandy mit rotbraunen Locken, die unter einem modischen Strohhut hervorlugten, ein Buch aus dem Regal zog, einen Blick auf den Titel warf und dann eine abfällige Bemerkung über einfältige Romanautorinnen machte, die bei seinen beiden Begleitern ein weiteres schallendes Gelächter auslöste.

»Etwas übermütig … Welch charmante Art, eine Gans als Schwan zu bezeichnen«, erwiderte sie trocken.

Doch der Herzog kam nicht dazu, etwas zu antworten.

»Westbourne, beeilen Sie sich«, drängte Freddie, »sonst haben wir keine Zeit mehr für einen Drink, bevor wir uns für Lady Trents Kartenspielparty umziehen müssen. Sollten wir uns verspäten, würden wir beide in der Wertschätzung meiner lieben Schwester um einige Stufen sinken.«

»Ich mehr als Sie, Freddie, fürchte ich«, antwortete Westbourne und drehte sich ein wenig, um den jüngeren Mann anzusehen.

»Nur weil Helen von ihren Verehrern mehr erwartet als von ihrem Bruder«, konterte Freddie. »Wie auch immer, ich bleibe bei meiner Meinung. Wenn Sie weiter trödeln, kommen wir zu spät zu Lady Trent, und Helen hasst Unpünktlichkeit.«

Westbourne zuckte mit den Schultern, als ob der Unmut seiner Angebeteten keine Rolle spielte, eine Reaktion, die Evie nicht weiter verwunderte. Immerhin war er ein Herzog, und in seinen Kreisen wog das sicher schwerer als seine überhebliche Arroganz. Vermutlich war Letztere sogar eine direkte Folge seines Rangs.

»Im Spiel des Werbens, lieber Freddie«, sagte Westbourne, »ist es das Beste für einen Mann, sich nicht allzu verfügbar zu machen.«

Das bestätigte für Evie nur ihre Einschätzung seines Charakters. Sie schnaubte verächtlich, woraufhin der Herzog seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete. »Ich nehme an, Sie haben eine andere Meinung, Miss Harlow?«

»Es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern.«

Er gluckste. »Vielleicht nicht«, stimmte er zu, »aber ich wette, es juckt Sie in den Fingern, es dennoch zu sagen.«

Sie presste nur stumm die Lippen aufeinander, denn sie wusste, es war für eine Geschäftsfrau nicht klug, einen Kunden zu verärgern, schon gar nicht einen Herzog.

Er richtete seinen Blick auf das leere Teetablett zwischen ihnen. »Zweifellos«, murmelte er und fuhr mit einem behandschuhten Finger über den Rand des Tabletts, »glauben Sie, dass man sich seinem Angebeteten bedingungslos ausliefern sollte.«

Er sagte das so leicht dahin, doch Evie wusste trotzdem, was er damit ausdrücken wollte, und ihre übliche Besonnenheit war mit einem Mal wie weggeblasen.

»Wenn Ihr damit meint, dass ich nicht glaube, dass das Werben ein Spiel ist, Euer Gnaden, dann habt Ihr recht.«

»Ah, da muss ich Ihnen widersprechen«, sagte er und sah auf. »Das Liebeswerben ist durchaus ein Spiel.«

»Und die Liebe?«, konterte sie. »Ist die auch ein Spiel?«

»Die Liebe?« Er lachte leise, aber sein Lachen erreichte nicht seine Augen. Sie waren dunkel, hart und auf seltsame Weise undurchdringlich. »Meine liebe Miss Harlow«, murmelte er so leise, dass die anderen ihn nicht hören konnten, »was hat bitte die Liebe damit zu tun?«

Bevor Evie etwas erwidern konnte, schaltete sich Freddie wieder in das Gespräch ein. »Ich wage zu behaupten, dass Sie recht haben, Westbourne. Es ist ein Spiel, und mir gefällt Eure Strategie. Wenigstens einen Mann in der Stadt zu haben, der nicht hinter ihr her ist, wird meiner Schwester sicherlich guttun. Tatsächlich«, fügte er hinzu und ließ die mit Goldschnitt versehene, äußerst fragile Erstausgabe von Brontës Jane Eyre achtlos auf den Boden fallen, »wird sie Sie dafür wahrscheinlich umso mehr mögen.«

Diese unsanfte Behandlung ihrer Bücher war zu viel für Evie. »Bitte unterlassen Sie das«, rief sie scharf. »Bücher sollten mit Respekt behandelt werden.«

»Oh-oh«, sagte einer der anderen Männer und lachte. »Das war’s dann wohl, Freddie. Gleich bekommen wir alle eins mit der Rute übergezogen.«

»Und werden ohne Abendessen ins Bett geschickt«, fügte ein anderer hinzu.

»Wenn sie so etwas tun würde«, sagte Westbourne, bevor Evie etwas erwidern konnte, »hättet ihr drei Taugenichtse das mehr als verdient.«

Sollte er seine Worte als Tadel gemeint haben, so machte sein nachsichtiger Tonfall den Effekt allerdings zunichte und half auch nicht, Evies Meinung über ihn zu verbessern. Als einer seiner Begleiter dann auch noch gegen einen Auslagetisch stieß und dadurch mehrere Bücher zu Fall brachte, wünschte sie sich, sie hätte tatsächlich eine Rute, um sie allesamt auf die Straße zu jagen, bevor noch mehr ihrer Bücher auf dem Boden landeten.

»Nun denn, Gentlemen«, fuhr Westbourne fort, »da wir Miss Harlow für heute schon genug Ärger bereitet haben, warum legen Sie nicht die Bücher alle wieder dorthin zurück, wo sie hingehören, und gehen schon mal ins Savoy? Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.«

Zu Evies Erleichterung schienen seine Freunde für diesen Vorschlag empfänglich zu sein. Nachdem sie Westbourne versichert hatten, dass er sie in der American Bar des Savoy finden würde, und sie die Bücher, darunter auch Jane Eyre, wahllos auf den Auslagetisch zurückgeworfen hatten, machten sie sich auf den Weg zur Tür.

»Ich fürchte, die Claret Cups bei Lady Hargraves Teeempfang hatten eine stärkere Wirkung, als den jungen Männern bewusst war«, bemerkte Westbourne, als seine Freunde sich verabschiedeten. »Bitte erlauben Sie mir, mich in ihrem Namen zu entschuldigen. Ich hoffe, Sie können ihnen verzeihen?«

Sein Tonfall verriet ihr, dass er ihre Vergebung als ausgemachte Sache betrachtete. Leider lag er damit richtig. »Natürlich«, sagte sie und unterdrückte einen Seufzer, als sich ihr gesunder Menschenverstand wieder geltend machte. »Womit kann ich Euch behilflich sein, Euer Gnaden?«

»Ich bin im Auftrag meiner Cousine, Lady Stratham, hier. Wenn ich es richtig verstehe, haben Sie einige Informationen für sie zusammengestellt, und sie hat mich gebeten, diese zu holen.«

Sie blinzelte verblüfft. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass die bezaubernde Delia mit diesem Mann verwandt sein könnte. »Lady Stratham ist Eure Cousine?«

»Ja. Sie wurde nach Rom gerufen und hat mich gebeten, in ihrer Abwesenheit die Informationen zu besorgen, die Sie ihr für eine bevorstehende Dinnerparty zur Verfügung stellen sollten. Für den Epicurean Club?«, fügte er hinzu, als sie nicht antwortete.

Sie hatte Delias Auftrag völlig vergessen, stellte sie bestürzt fest. Rorys Rückkehr hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie an nichts anderes mehr gedacht hatte. Jetzt aber kehrten die Details dessen, was sie und Delia geplant hatten, mit aller Macht zu ihr zurück und wirbelten durch ihren Kopf, als hätte ein Tornado sie mit sich gerissen. Fremdartige, faszinierende Gerichte aus Fernost. Tischdekorationen mit Pagoden und Drachen. Große Vasen mit wunderschönen rosa Kirschblüten.

»Ach ja«, murmelte sie und fühlte beim Gedanken daran eine seltsame Wehmut in sich aufsteigen. »Das Bankett.«

Ein weiteres großes, aufwendiges Fest für die feine Gesellschaft, bei dem die Frauen schöne Kleider und die Männer Frack trugen und die Champagnergläser im glitzernden Licht der Kristalllüster funkelten. Evie hatte Delia bei der Planung solcher Veranstaltungen schon oft geholfen – doch sie selbst würde ein derartiges Fest nie besuchen können.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es wohl wäre, ein seidenes Abendkleid zu tragen und Blumen im Haar, dabei kostbaren Wein und exquisite Speisen zu genießen und unter Kronleuchtern über die Riviera und Rom und die Ereignisse der Ballsaison zu plaudern.

Aber das war nichts für Leute wie sie, das hatten ihr die Internatsjahre in Chaltonbury auf brutale Weise verdeutlicht. Nein, ihr Leben war hier – war es schon immer gewesen –, in diesen drei Stockwerken aus bröckelndem Backstein und Putz, keine fünf Meter breit.

Bei diesem Gedanken spürte sie, wie sich plötzlich ein gänzlich unerwartetes Gefühl der Unzufriedenheit und auch der Sehnsucht in ihr regte. Nicht nach einem Leben unter der feinen Lordschaft natürlich, sondern nach etwas, das aus mehr bestand als nur aus diesen Zimmern und der tagtäglichen Arbeit, nach etwas, das über ihre kleine Wohnung im Obergeschoss mit dem Gaskamin und den winzigen Fenstern, die direkt auf die Backsteinmauern gegenüber blickten, hinausging, nach etwas, das selbst ihre geliebten Bücher nicht bieten konnten. Nach etwas … mehr.