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Danuta Reah

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Beschreibung

Wer dachte, im Krimi-Genre gebe es nichts Aufregendes mehr zu entdecken, wird von Danuta Reah eines Besseren belehrt. Statt für malerische englische Dörfer und Cottages entschied sie sich für eine faszinierend düstere, alte Industriestadt: Sheffield - eine Stadt auf der Suche nach einem neuen Gesicht ... Das Ende des Kalten Krieges schwemmt Asylanten und illegale Einwanderer in den Ort. Nur an der Universität floriert die High-Tech-Ära mit digitalen Archiven und ehrgeizigen linguistischen Analysen von Polizeiverhören. Engagiert dabei ist Gemma Wishart, Spezialistin für russische Dialekte. Doch eines Tages wird ihr Auto verlassen aufgefunden. Gleichzeitig wird in einem Hotel eine weibliche Leiche entdeckt. Mit zerstörtem Gesicht. Genau wie zuvor bei zwei anderen jungen Frauen. Alle offensichtlich Prostituierte. Während Gemmas Kollegin Roz Bishop auf eigene Faust nach der Vermissten sucht, ermittelt Kommissarin Lynne Jordan im Milieu. Und stößt dabei auf perfide Verbindungen zu den armen Ländern Osteuropas. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung ...

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Seitenzahl: 605

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über das Buch:

Wer dachte, im Krimi-Genre gebe es nichts Aufregendes mehr zu entdecken, wird von Danuta Reah eines Besseren belehrt. Statt für malerische englische Dörfer und Cottages entschied sie sich für eine faszinierend düstere, alte Industriestadt: Sheffield - eine Stadt auf der Suche nach einem neuen Gesicht ... Das Ende des Kalten Krieges schwemmt Asylanten und illegale Einwanderer in den Ort. Nur an der Universität floriert die High-Tech-Ära mit digitalen Archiven und ehrgeizigen linguistischen Analysen von Polizeiverhören. Engagiert dabei ist Gemma Wishart, Spezialistin für russische Dialekte. Doch eines Tages wird ihr Auto verlassen aufgefunden. Gleichzeitig wird in einem Hotel eine weibliche Leiche entdeckt. Mit zerstörtem Gesicht. Genau wie zuvor bei zwei anderen jungen Frauen. Alle offensichtlich Prostituierte. Während Gemmas Kollegin Roz Bishop auf eigene Faust nach der Vermissten sucht, ermittelt Kommissarin Lynne Jordan im Milieu. Und stößt dabei auf perfide Verbindungen zu den armen Ländern Osteuropas. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung...

Edel eBooks Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2015 Edel Germany GmbH
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2001 by Danuta Reah Original title: NIGHT ANGELS First published in Germany under the title NACHTENGEL by Blanvalet Verlag
Covergestaltung: Eden & Höflich, Berlin
Konvertierung: Jouve
Table of Contents
KurzbeschreibungTiteleiCopyright Page1234567891011121314151617181920212223
1
Zuerst war es wie ein Spiel. Der dunkle BMW war hinter ihr aus dem Parkplatz herausgefahren und ihr auf der Durchgangsstraße bis in die Stadtmitte von Manchester gefolgt. »Aufgeblasener Geldsack«, murmelte sie. Luke sagte das immer, wenn er jemanden sah, der einen Luxusartikel besaß, um den er ihn heimlich beneidete. Der BMW blieb bis zur Autobahn hinter ihr, und als alle drei Fahrbahnen leer vor ihm lagen, war der Fahrer zu ihrer Überraschung nicht mit Vollgas an ihr vorbeigezogen. Jedenfalls war der schnittige dunkle Wagen manchmal vor, dann wieder hinter ihr, aber immer in ihrer Nähe. Sie fing an, im Rückspiegel genauer auf den Fahrer zu achten, weil sie wissen wollte, ob es jedes Mal dasselbe Fahrzeug war. Aber die Fenster waren dunkel getönt. Protziger Fatzke! Ebenfalls eine Vokabel aus Lukes Wortschatz. Sie hatte den Eindruck, dass der Fahrer helle Haare hatte – blond oder vielleicht weiß? –, konnte es aber nicht genau erkennen.
Als sie Manchester verließ, fing es an zu dämmern, und als sie auf der geraden Straße an den hohen Steinmauern und den Läden vorbei nach Glossop kam, war es bereits dunkel. Sie fuhr langsamer, als sie den großen Platz erreichte. Am Morgen war hier viel Verkehr gewesen. Die Leute, die aus den Geschäften kamen, liefen, ohne sich umzusehen, so sorglos über die Straße, als sei es Sache der Autofahrer, ihnen auszuweichen, und das hatte sie rasend gemacht. Sobald die Fußgänger ihr Auto wahrgenommen  hatten, kümmerten sie sich nicht mehr darum und achteten nur noch auf den Gegenverkehr.
Die Hinfahrt am Morgen war ihr richtig auf die Nerven gegangen. Am schlimmsten war es in der verkehrsreichen Stadtmitte gewesen, wo Ortskundige sie durch Hupen dermaßen belästigt und nervös gemacht hatten, dass sie zu schnell an den Schildern vorbeiflitzte und sich verfuhr, denn alle schienen nur darauf aus zu sein, die Fremde aus ihrem Ort hinauszudrängen.
Deshalb hatte sie sich auf die Rückfahrt gefreut. Dann würde das Meeting hinter ihr liegen und nur noch der Heimweg vor ihr. Die Straßen würden leer sein, und nach dem anstrengenden Stadtverkehr erwartete sie eine ruhige Fahrt durch ländliche Gegenden, über den Snake Pass und die raue Höhenstraße durch das Coldharbour Moor, die abfallenden Serpentinen zwischen Kinder Scout und Bleaklow an Doctor’s Gate vorbei; dann kamen die sanfteren, bewaldeten Hügel und der Ladybower-Staudamm, es ging durch öde Moore, wo die Strecke immer länger schien, als sie erwartet hatte, und schließlich durch die Außenbezirke von Sheffield, wo sie sich entspannen konnte.
Die Fahrt durch Manchester war auf dem Rückweg ruhiger verlaufen, auf der Autobahn war viel los, aber es gab keine ungeduldigen Fahrer mehr, die an ihrer Stoßstange klebten und sie mit der Lichthupe belästigten. Die ausgedehnten Randbezirke von Ashton und Stalybridge wirkten eintönig und fast friedlich. Nur etwas war eigenartig …
Sie hatte geglaubt, den BMW hinter sich gelassen zu haben, als sie die Autobahn an der Ausfahrt zur A57 nach Glossop verließ. Während sie allmählich ruhiger wurde und sich klar machte, dass der Tag vorbei und alles prima gelaufen war, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte und alle zufrieden sein würden, sah sie ihn plötzlich wieder, zwei Autos vor ihr. Das Tageslicht war im Schwinden, und die Straßenbeleuchtung wurde bereits eingeschaltet. Man konnte nur schwer Einzelheiten erkennen, aber es schien derselbe Wagen zu sein.
Weswegen war sie besorgt? Dass jemand die gleiche Route wie sie fuhr? Bestimmt taten das viele Leute. Aber es war ein Wagen, der auffiel, und er musste die ganze Strecke seit Manchester mit ihr Schritt gehalten haben. Oder vielleicht war es doch nicht der gleiche Wagen? Wie viele dunkle BMWs gab es denn auf den Straßen? Und wie viele hast du heute früh schon gesehen?
Sie kam zu der Abzweigung mit dem Schild Sheffield in Richtung Woodhead Pass, kümmerte sich aber nicht darum, sondern bog rechts auf die A57 nach Glossop ab – eine einsame, schmale Straße mit dem passenden Namen Snake, die die Pennines vom südwestlichen Teil Sheffields her überquerte. Und bevor sie Sheffield erreichte, ging es – nach Glossop – noch durch ein ländliches Gebiet. Sie schien den BMW jetzt verloren zu haben.
Als sie langsam auf den Marktplatz in Glossop zufuhr, wäre ihr irgendein Lebenszeichen recht gewesen. Es nieselte, und die Sicht durch die nasse Scheibe war schlecht. Sie schaltete die Scheibenwischer an, aber sie kratzten und schabten nur. Sie musste die Wischblätter auswechseln. Die Geschäfte lagen wenig einladend im Dunkeln, nur aus einem Imbisslokal fiel gelbes Licht auf den Gehweg, aber niemand schien dort zu sein. In den Pubs mussten doch Leute sitzen, die der Regen von den Straßen vertrieben hatte. Die leeren Gehwege ließen sie an die nicht mehr fernen, langen Winterabende denken, und das Glänzen der nassen Steinplatten machte sie frösteln.
In der Dunkelheit versuchte sie, eine Telefonzelle ausfindig zu machen. Sie hatte so gut wie versprochen, auf dem Rückweg bei Luke vorbeizukommen, und musste ihm Bescheid sagen, dass sie es erst spät oder wahrscheinlich gar nicht schaffen würde. Der anstrengende Stadtverkehr schien jetzt weniger schlimm als die Vorstellung der Dunkelheit in den Bergen, der  einsamen Fahrt durch die öde Landschaft und der langen, gewundenen Straße bis nach Sheffield. Plötzlich war ihr die winterliche, nächtliche Fahrt über die Berge zuwider, obwohl die Winter heutzutage meistens nicht mehr so kalt waren, dass die Straßen in den Hochlagen unpassierbar wurden. Sie konnte sich an Fahrten in ihrer Kindheit erinnern, als sie mit ihrem Vater die Pennines überquerte und sie zwischen hohen Schneemauern fuhren und darauf hofften, dass der Schneepflug den Weg durch die Verwehungen frei gemacht hatte.
Endlich! Sie hatte doch gewusst, dass es auf dem Platz Telefonzellen gab. Sie hielt auf dem Kopfsteinpflaster an, ging schnell hinüber und fluchte, als sie in eine Pfütze trat und ihr Schuh sich mit eisigem Wasser füllte.
Sie humpelte weiter und spürte, wie ihre Zehen anfingen, am Schuh zu reiben, zog die Tür der Zelle auf und suchte in ihrer Geldbörse nach Kleingeld. Während sie auf das Freizeichen horchte, sah sie auf die Uhr. Halb acht, mindestens noch eine Stunde Fahrt bis nach Hause, dann ein großer Gin, oder nein, ein Whisky Mac, letzte Weihnachten hatte sie durch Luke diese sündhafte Mischung aus Whisky und Ingwerbier kennen gelernt. Danach ein heißes Schaumbad und schnell ins Bett. Sie spürte den leicht brennenden Ingwergeschmack schon auf den Lippen.
Das Telefon klingelte, dann hörte sie ein Klicken und Lukes Stimme. »Hinterlassen Sie eine Nachricht, ich melde mich.« Der Anrufbeantworter. Jäh überkam sie Ärger, weil er nicht da war, wenn sie ihn brauchte. Das ist nicht fair! Sie hörte den Piepston und sagte schnell: »Hallo, ich bin in Glossop. Es ist ungefähr halb acht. Es hat länger gedauert, ich fahre direkt nach Hause. In ungefähr einer Stunde bin ich dort.« Sie wartete, ob er abnahm; manchmal ließ er das Gerät laufen, um zu hören, wer anrief, aber er hob nicht ab. »Also, bis morgen«, sagte sie leise und ziemlich deprimiert.
Sie musste sowieso nicht unbedingt mit ihm sprechen, sagte sie sich, als sie zum Auto zurücklief. Es genügte, eine Nachricht zu hinterlassen. Aber sie hatte sich darauf verlassen, mit ihm reden zu können, nur zwei Minuten mit ihm verbunden zu sein, bevor sie die Fahrt über die hohen dunklen Berge und den einsamen Snake Pass antrat. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hielt inne. Eine Zigarette. Sie würde eine Zigarette rauchen, denn sie fühlte sich immer noch erschöpft nach diesem harten Tag, und es wäre vernünftig, vor der Weiterfahrt fünf Minuten auszuruhen. Eigentlich – sie sah sich schnell um, aber die Straße war immer noch leer – hatte sie eine bessere Idee. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem kleinen Beutel mit einem dünnen Joint, den Luke ihr am Abend zuvor gegeben hatte. Hatte sie ihn dabei? Ja!
Sie saß ruhig da und inhalierte den Rauch, hielt die Luft an und atmete dann langsam aus. Sie spürte, wie sie sich entspannte und ihre Furcht vor der einsamen Fahrt sich langsam verflüchtigte. Ihr wurde angenehm schwindelig, und das Licht der Straßenlaternen brach sich und blitzte in den Regentropfen auf. Genug. Sie musste noch fahren. Sie stellte den Sitz bequemer ein und legte den Sicherheitsgurt an. Dann rückte sie den Spiegel zurecht, war sich aber bewusst, dass sie nur versuchte, das Unaufschiebbare hinauszuzögern. Ihre Furcht hatte sich in Müdigkeit verwandelt, und sie wäre am liebsten einfach sitzen geblieben, um im Schutz des Wagens die Stille zu genießen. Aber je eher sie weiterfuhr, desto besser.
Sie drehte den Zündschlüssel um, sah in den Rückspiegel, legte den Gang ein, ließ die Kupplung kommen und fuhr los. Hinter sich hörte sie ein anderes Auto starten und anfahren. Sie war also nicht die Einzige, die sich in dieser Nacht zum Snake Pass aufmachte. Die Scheinwerfer eines Wagens hinter sich zu haben würde tröstlich sein und das Gefühl vertreiben, die Welt sei untergegangen und sie wäre die einsame Überlebende einer  Katastrophe. Aber auf dem letzten ebenen Stück, bevor die Straße anstieg, kam der Wagen hinter ihr näher und überholte sie zügig und mühelos. Aufgeblasener Geldsack. Teilnahmslos sah sie die Rücklichter vor sich in der Dunkelheit verschwinden. Sie war bekiffter, als sie gedacht hatte, und musste vorsichtig fahren.
Sie fröstelte und drehte die Heizung auf. Der Wind heulte und drückte den Motorengeruch ins Wageninnere. Ihre Füße waren heiß, aber sonst fror sie in der eiskalten Luft, die durch die undichten Fenster und die klappernde Tür hereinkam.
Sie fuhr hinter Glossop den Berg hinauf. Die Straße machte eine Rechtskurve und führte dann an einem Haus vorbei, durch dessen Fenster ein warmer Lichtschein auf die Straße drang, dann nach links. Auf der einen Seite waren Felsen, auf der anderen ein schroffer Abhang. Es war eine lange, steile Steigung. Sie schaltete in den dritten, dann in den zweiten Gang herunter. Der Motor dröhnte. Weiße Wölkchen flogen vor ihr durch die Luft, und plötzlich steckte sie in einer Nebelbank, in der die grellen Scheinwerfer sie blendeten. Sie fuhr langsamer, spähte hinaus und versuchte, etwas zu erkennen, denn auch die Scheibenwischer halfen nichts. Dann war es wieder klar, die Scheinwerfer beleuchteten die nasse Straße, die Felsen und das Gras des Heidemoors, auf dem ein Schaf hinter einem Felsbrocken Schutz suchte. Sie war fast auf dem Gipfel, und die Straße stieg nicht mehr an. Um sie herum war nichts als wilde Landschaft, flaches Torfmoor und Grasbüschel. Ihre Scheinwerfer spiegelten sich im Wasser der dunklen Tümpel. Bald würde die Straße abfallen, an Doctor’s Gate vorbei, zwischen Bleaklow und Kinder Scout hinunter, zwischen dicken Bäumen hindurch und weiter durch die leere Nacht.
Sie war halb in Trance, die Straße verschwand unter den Rädern. Bald zu Hause, bald zu Hause ging es ihr wie ein beruhigendes Mantra durch den Kopf. Sie dachte an Luke und fragte sich, ob sie ihn anrufen solle, wenn sie heimkam. Die letzten paar Monate mit ihm waren schön gewesen. Er würde ihr fehlen … Lichter tanzten durch die Dunkelheit, und sie betrachtete sie teilnahmslos. Der Wagen geriet ins Schleudern, sie schreckte auf und konzentrierte sich. Den Joint zu rauchen war eine schlechte Idee gewesen. Ärgerlich kurbelte sie das Fenster herunter und zuckte zurück, als der Regen auf ihr Gesicht und ihren Arm traf. Waren da Lichter vor ihr? Sie erinnerte sich an den Wagen, der sie überholt hatte, als sie aus Glossop herausfuhr. Aufgeblasener Geldsack… Sie versuchte, sich zu erinnern, wie der Wagen ausgesehen hatte. Dunkel, es war ein dunkles Auto gewesen …
Ohne jegliche Vorwarnung streikte der Motor ihres Wagens. Was zum…? Sie trat aufs Gas. Nichts. Sie sah auf den Benzinanzeiger. Noch halb voll. Sie hatte heute früh aufgetankt. Der Wagen rollte noch ein Stück weiter, wurde immer langsamer. Sie fuhr an die Seite und blieb stehen. Was nun …? Das Licht der Scheinwerfer brach eine Schneise durch Regen und Finsternis. Ihr war kalt. Mit steifen, ungeschickten Fingern drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor jammerte ein paar Mal, sprang aber nicht an. Sie versuchte es noch einmal und bemerkte, dass das Scheinwerferlicht dunkler wurde. Schnell schaltete sie die Scheinwerfer aus. Die Batterie war alt. Sie hätte das Licht sofort abdrehen sollen.
2
Sheffield, Freitag, 7 Uhr 30
Es war ein kalter Morgen. Der Regen vom Abend zuvor war gefroren und machte die Gehwege gefährlich glatt. Dort, wo das Eis zerbrochen war, bildete es weiße Muster auf den Pfützen. Als die Sonne aufging, war der Himmel wolkenlos.
Roz zitterte, als sie aus dem Auto ausstieg und die Kälte sie traf. Ihr Atem hing wie eine Wolke in der Luft. Der Parkplatz war so früh morgens noch leer, und sie konnte direkt vor dem Arts Tower parken. Sie bog den Kopf nach hinten, um an dem Gebäude hochzusehen. An windigen Tagen tat sie das manchmal und sah die Wolken vorbeiziehen, bis es ihr vorkam, als bewege sich der Turm und die Wolken stünden still. Sie holte ihre Aktentasche vom Rücksitz und schloss den Wagen ab.
Sie sah auf ihre Uhr. Halb acht, noch genug Zeit. Sie ließ sich die Vorbereitungen für das Meeting durch den Kopf gehen. Roz war die ranghöchste Forschungsassistentin der Gruppe für forensische Linguistik, die Law-and-Language-Group, ein kleines, erst vor kurzer Zeit an der Universität gegründetes Team, das von Joanna Grey geleitet wurde. Als Roz vor einem Jahr nach Sheffield gekommen war, hatte sie eine Stelle am Linguistischen Seminar angenommen, in der Hoffnung, ihre Forschungsarbeit zu Befragungsmethoden weiterverfolgen zu können. Die ehrgeizige und umtriebige Joanna hatte sie ermutigt, ihre Fähigkeiten beim Erstellen von Computersoftware und Sprachanalysen auszubauen, und ihr dann das Feld der forensischen Linguistik näher gebracht, einen im Wachsen begriffenen Bereich, der sich mit sämtlichen Aspekten von Sprache in der juristischen Praxis befasste.
Während sich Roz in der neuen Abteilung eingewöhnte, wurde ihr klar, dass Joanna bestrebt war, mit großer Sorgfalt ein Team aufzubauen. Roz hatte früher über den Subtext von Verhören geforscht, das heißt, die subtilen Nuancen untersucht, die in solch einer Situation in den Antworten der Betroffenen mitschwangen. Gemma Wishart, eine erst vor kurzem von Joanna eingestellte Forschungsassistentin, spezialisierte sich auf das Englisch, das von Personen osteuropäischer Herkunft gesprochen wurde.
Joanna hatte ihr Projekt mit Umsicht organisiert und sich für die beiden Zuschussanträge die Unterstützung des derzeitigen Seminar-Direktors, Peter Cauldwell, gesichert. Der eine Zuschuss war gedacht für die Analyse aufgezeichneter Polizeiverhöre, mit der Absicht, Lehrmaterial und Software zu erstellen, und der andere, um Systeme zur Feststellung der regionalen und nationalen Herkunft von Asylbewerbern zu entwickeln. Zugleich hatte sie das Ziel verfolgt, eine unabhängige Forschungsgruppe aufzubauen, die in den verschiedenen Gremien und Komitees innerhalb der Universität vertreten war. Dort waren damals alle dafür, dass Gruppen sich mit Drittmitteln selbst finanzieren sollten.
Als sie ihre Gelder zusammengetragen hatte, griff Joanna nach der Freiheit und etablierte die Law-and-Language-Gruppe als unabhängiges Forschungsteam. Ein Jahr hatte sie Zeit, zu beweisen, dass die Gruppe Gewinne erwirtschaften konnte. Der Zuschuss hielt sie über Wasser und daneben erledigten sie routinemäßig die juristischen Aufträge, die Joanna schon seit Jahren immer wieder bekam: Dokumentenanalyse, Untersuchung von Zeugenaussagen, Wiederauffinden gelöschter Computerdateien, Arbeiten mit Audio- und Videobändern.
Die heutige Konferenz war das erste einer ganzen Reihe von Treffen mit den Leuten, die dem Projekt jederzeit ein Ende machen konnten, indem sie ihm ihre Unterstützung entzogen. Alles musste so glatt, effizient und effektiv laufen wie ein gut geschriebenes Computerprogramm. Es ging um die Leute mit den finanziellen Mitteln. Die wollten nichts von der Theorie reiner Forschung oder von abstrakten Zielen wissen, die die Grundlagenforschung monate- und jahrelang beschäftigte. Sie wollten hören, was Joanna und ihr Team an Leistungen erbrachten.
In Joannas Terminplanung war eine unabwendbare Schwierigkeit aufgetreten. Am Tag zuvor hatte sie ein Meeting gehabt und verließ sich deshalb darauf, dass Roz alles organisierte. »Ich komme rechtzeitig, vor neun«, hatte sie gesagt, bevor sie ging.» Auf dem Weg hierher nehme ich Gemma mit. Sieh zu, dass alles vorbereitet ist.« Roz eilte durch die Pforte, und das Wissen um ihre Verantwortung ließ ihren Adrenalinspiegel steigen. Der Pförtner grüßte sie, während sich die Türen hinter ihr schlossen.» Morgen, Frau Dr. Bishop.«
Sie nickte etwas zerstreut. »Morgen, Dave«, sagte sie und nahm den vertrauten Geruch der Universität wahr. Meistens ging sie über die Treppe zu ihrer Abteilung hinauf, ihr einziges Zugeständnis an ihre Fitness, heute aber hatte sie sich für das Meeting in Schale geworfen, und ihre Schuhe waren nicht zum Treppensteigen geeignet. Sie ging am Aufzug vorbei und trat, von seinem regelmäßigen Klappern angezogen, auf die Plattform des Paternosters. Er fuhr an der kahlen Wand zwischen Erd- und Zwischengeschoss nach oben, und die Nummern der Stockwerke erschienen an der Wand über ihrem Kopf, glitten vorbei, und dann taten sich die Öffnungen zu den Fluren auf, die danach wieder unter ihren Füßen verschwanden.
An ihrem Korridor angekommen, verließ sie die Plattform so gewandt und routiniert, wie es nur jemand kann, der an einen Paternoster gewöhnt ist. In der Abteilung war nur das weit entfernte Summen einer Bohnermaschine zu hören, mit der die Putzfrauen ihre Morgenrunde beendeten. Die langen Flure lagen im Dunkeln, nur hier und da durch die Pendeltüren unterteilt. Sie schloss die Tür zu ihrem Büro auf, legte ihre Tasche ab und holte den Hefter mit den Unterlagen heraus, die sie und Joanna für das Meeting zusammengestellt hatten. Sie ordnete ihre Notizen für die Präsentation, prüfte nochmals jedes Detail des Vormittags und vergewisserte sich, dass alles vorbereitet war. Joanna betonte immer wieder, Erfolg erfordere nicht nur, dass man das Richtige tat und die richtigen Zahlen vorweisen, sondern auch, dass man sich selbst als erfolgreich darstellen konnte. Deshalb hatte Joanna das Kostüm von Mulberry gekauft, deshalb hatte sie die Porzellantassen und den guten Kaffee aus eigener Tasche beigesteuert.
Roz sah auf die Uhr. Fast acht. Sie musste den Konferenzraum überprüfen, sich vergewissern, dass Luke seinen Teil erledigt hatte, dass alle Geräte bereitstanden und funktionierten, und sie musste sicherstellen, dass der Kaffee zum richtigen Zeitpunkt bestellt war. Sie schloss ihre Bürotür hinter sich ab und rekapitulierte die Dinge, die zu tun waren. Der Flur, auf dem sich ihre Räume befanden, lief um den Aufzugsschacht und das Treppenhaus herum. Er war leer, die Beleuchtung schlecht, und die Bürotüren waren verschlossen. Als sie ihr eigenes Büro verließ, hielt sie inne und sah auf das Schild an der Tür. DR. ROSALIND BISHOP, FORSCHUNGSASSISTENTIN. Das nächste Büro war das von Joanna: DR. JOANNA GREY, INSTITUTSLEITUNG. Vor der Biegung kam dann die Doppeltür mit dem Ausgang zum Treppenhaus. Joanna hatte bei der Verteilung der Räumlichkeiten unmissverständlich angeordnet, dass ihr eigenes und das Büro von Roz nebeneinander am einen Ende des L-Flügels liegen und die so genannte Chefecke bilden sollten. Damit schien ihr der erforderliche Abstand zwischen ihnen und Gemma, der jungen, gerade promovierten Akademikerin, sowie Luke, dem Techniker, und den neuen Forschungsassistenten hergestellt, wer immer diese auch sein würden. Roz hatte es bedauert, dass ihre Loyalität Joanna gegenüber sie daran gehindert hatte, dies alles Luke zu erzählen. Es hätte ihn bestimmt amüsiert.
Jemand war vor ihr im Flur, lief jedoch in die andere Richtung. Ohne Licht war es zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können. Die Gestalt war zu groß, um Gemma sein zu können. Wer immer es war, er verschwand um die Ecke und ging auf Gemmas Büro zu. Roz stieß die zweite Tür auf. Entweder täuschten sie ihre Augen und es war doch Joanna – oder möglicherweise auch Gemma – oder es war jemand, der zu dieser Zeit nichts in diesem Teil des Gebäudes zu suchen hatte.
Als sie um die Ecke bog, war der Korridor schon wieder leer. Wer immer es war, er musste um die nächste Ecke zu den Aufzügen zurückgegangen sein. Sie zuckte die Schultern und ließ die Sache auf sich beruhen. Sie stand vor Gemmas Büro und betrachtete den Zettel, der mit einem Reißnagel befestigt war. DR. GEMMA WISHART. Sie runzelte die Stirn. Gemmas Vertrag lief über ein volles Jahr. Was würde es wohl kosten, die Beschilderung zu aktualisieren? Aber bald würden die neuen Forschungsassistenten kommen, und Joanna plante, einen davon in Gemmas Büro unterzubringen. Vielleicht hatte sie vor, das Büro ohne Namen nur mit FORSCHUNGSASSISTENTEN beschildern zu lassen. Roz ging weiter den Korridor entlang.
Neben Gemmas Büro war der Konferenzraum. Roz schloss die Tür auf und sah hinein. Alles war vorbereitet. Die Lamellen der Jalousien waren schräg gestellt, damit die Morgensonne nicht auf den Bildschirm fiel, um die Tische stand die richtige Anzahl von Stühlen – nur ein kleines Detail, aber Joanna würde gerade auf diese Einzelheiten Wert legen, mit denen die Gruppe den Eindruck von Effizienz hervorrufen sollte –, und der Overheadprojektor stand neben Joannas Stuhl am Kopfende des Tisches. Roz drückte auf den Knopf, und ein beleuchtetes Quadrat erschien genau in der Mitte der Projektionsfläche. Luke musste gestern Abend länger geblieben sein und alles vorbereitet haben.
Sie sah wieder auf die Uhr. Es war fast zehn nach acht. Joanna hätte eigentlich inzwischen hier sein sollen. Sie hatten verabredet, dass sie vor dem Meeting noch einmal einige der Hauptpunkte durchsprechen würden. Roz ging zum Computerraum, der am Ende von Joannas Reich lag. Roz nannte den Computerraum immer »Lukes Zimmer«, weil das bereits sein Arbeitsplatz war, bevor er in Joannas neue Gruppe versetzt wurde, und weil man ihn meistens hier antraf. Eigentlich hatten sie nicht genug Platz für ein eigenes Techniker-Zimmer. Joanna missfiel der Besitzerstolz, mit dem Luke sein Büro betrachtete. Sie hatte mit Roz über ihre Pläne gesprochen, die neuen Forschungsassistenten eine Weile hier unterzubringen, um Lukes Exklusivanspruch zu durchbrechen. Luke war das einzige Mitglied der Gruppe, das Joanna nicht selbst ausgewählt hatte, und sie gab sich keine Mühe, zu verbergen, dass sie ihn nicht mochte und es ihr nicht Leid täte, wenn er ginge. »Ich will Menschen mit erstklassiger Intelligenz«, hatte sie einmal zu Roz gesagt. Luke mit seinem Notenschnitt von 2,1 passte offenbar nicht in diese Kategorie, obwohl er ein ausgezeichneter Softwarespezialist war. Joanna hatte ihre Macken.
Roz stieß die Tür auf und Kaffeeduft zog auf den Flur heraus. Luke saß an einem der Rechner, hatte seinen Stuhl zurückgeschoben, die Füße auf die Querstreben eines zweiten gestellt und hielt einen Becher in der Hand. Als sie eintrat, drückte er auf eine Taste, die alles auf dem Bildschirm verschwinden ließ. Dann drehte er sich auf seinem Drehstuhl herum. »Roz«, sagte er unverbindlich. Sie und Luke gingen dieser Tage behutsam miteinander um.
» Hi. Danke, dass du alles fertig gemacht hast.« Trotz seiner unkonventionellen Art leistete Luke effiziente Arbeit.
Er antwortete nicht, sondern sagte nur: »Willst du die Dias noch mal durchgehen?«
» Sind sie noch genau so geordnet wie gestern?« Er nickte und stellte den Becher auf seinen Schreibtisch. Er trug Jeans und Turnschuhe. Das würde bei Joanna gar nicht gut ankommen. Sie fragte sich, ob er jemals daran dachte, vielleicht einen winzig kleinen Kompromiss einzugehen, um Joanna zufrieden zu stellen.» Zeig mir nur das erste, das wir geändert haben.«
Er tippte Befehle ein, und Roz sah das Dia mit den Einkommensprognosen der Gruppe für die ersten zwei Jahre. Sie waren beeindruckend, besonders, weil die EU-Mittel farblich markiert waren, die Joanna entgegen allen Erwartungen bekommen hatte. Es war eindrucksvoll. »Das ist prima«, sagte sie.
Luke sah immer noch auf den Monitor. »Wir brauchen ein Logo für die Gruppe«, sagte er.
Roz sah kurz zu ihm hinüber. Luke kümmerte sich sonst nicht um Ideen wie Corporate Identity, Formulierung von Visionen, Qualitätsabläufe – kurz, die Art von Managementphrasen, die Joanna so liebte. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Sie passte sich seiner gelassenen Art an und sagte: »Ja, vielleicht könntest du eines entwerfen.«
Lukes Mundwinkel zuckte, als er sie ansah, und dann brachen beide in Gelächter aus. »Danke, Luke«, sagte sie noch einmal und meinte es ehrlich. Sie wusste jetzt, dass bei dem Meeting alles problemlos funktionieren würde. Er hatte dafür gesorgt.» Ich seh dich dann nachher.« Sie schaute auf die Uhr, als sie zu Joannas Büro zurückging, wo sie nachsehen wollte, ob Joanna inzwischen gekommen war.
Acht Uhr fünfundvierzig. Joanna sollte auf jeden Fall schon hier sein. Roz fing an, sich Sorgen zu machen. Es sah Joanna gar nicht ähnlich, sich zu verspäten, besonders nicht bei so etwas Wichtigem wie diesem Meeting. Sie fühlte eine Spannung im Magen und zwang sich, locker zu bleiben. Dann ging sie wieder den Korridor entlang und durch die Pendeltüren. Bei Gemmas Tür blieb sie stehen, schloss auf und sah hinein. Das Zimmer war leer, der Schreibtisch gewissenhaft aufgeräumt, die Ablagen für Eingänge und Ausgänge leer. Über den Monitor lief der Bildschirmschoner. Der Computer war angeschaltet gewesen. Er sollte aus sein. Joanna würde durchdrehen, wenn sie das sähe. Wenn der Computer an und niemand im Zimmer war, hatte jedermann Zugang zu Gemmas Daten. Roz schaltete ihn ab und sah wieder auf die Uhr. Es war acht Uhr fünfzig. Sie und Joanna wollten sich eigentlich um neun treffen und die Tagesordnung durchgehen, um sich kurz vor Beginn noch einmal zu vergewissern, dass alles reibungslos klappen würde. Peter Cauldwell würde sich über jede Gelegenheit freuen, sie in die Pfanne zu hauen. Die Besprechung sollte um halb zehn beginnen. Plötzlich spürte Roz eine ungewohnte Panik aufsteigen.
Verdammt. Sie holte zweimal tief Luft, ignorierte ihre Nervosität und zwang sich, nicht weiter an alle möglichen Katastrophen zu denken. Es brachte nichts, sich Sorgen zu machen, dass etwas schief gehen könnte, denn alles würde gut laufen. Joanna würde da sein. Hätte es irgendwelche Probleme gegeben, hätte sie sich bei Roz gemeldet. Dies wiederholte Roz immer wieder wie ein Mantra und versuchte, sich zu entspannen.
Überall glitzerte der Raureif. Jenseits der Universität und der Weststadt erstreckte sich der Peak District in der Wintersonne. Hoch oben auf dem Stanage Edge, wo der graue Stein sich vom dunklen Torf und den vertrockneten Farnen abhob, glänzte der Reif und machte den Erdboden tückisch glatt. Marienkäferchen waren rotschwarz im Eis eingeschlossen, eine gefrorene Erinnerung an den Sommer. Die Straße führte über den Bergkamm und an den Staudämmen bei Ladybower und Derwent vorbei und stieg dann bis zum Pass hinauf an. Die hohen Lagen des Kinder Scout und Bleaklow sahen in diesem Licht fast harmlos aus, ihre trügerischen Gipfel verführten den Gelegenheitswanderer, ein bisschen zu weit zu gehen, ein bisschen zu hoch zu steigen.
Der Verkehr auf der Straße zum Snake Pass kam nur langsam voran. Es war eine ungünstige Mischung aus Berufsverkehr vom westlichen Sheffield her und den Urlaubern, die gemütlich fahren, die Landschaft genießen, vielleicht sogar das Auto abstellen und ein bisschen wandern wollten. Weiter oben lichtete sich der Verkehr, die Landschaft wurde monotoner und die Berge bedrohlicher. Wanderer, die von Doctor’s Gate aus den Bleaklow ersteigen wollten, sahen einen Wagen, der an der Seite in den Graben gefahren war. Es war ein alter, roter, ziemlich mitgenommener Fiesta. Vielleicht gehörte er einem begeisterten Wanderer, der schon so früh in den Bergen war.
Hull, Freitag, 8 Uhr
Die dunklen Wolken hingen niedrig und drohten mit Regen oder Schnee. Die Straße war jetzt belebter, denn der Berufsverkehr wurde stärker. Das Blenheim Hotel, an der preiswerteren Seite des Marktplatzes, bestand aus einer Anzahl edwardianischer Reihenhäuser, deren Wohnungen vor Jahren umgebaut worden waren. Es war ein kleines Haus, das von außen eng und schmal wirkte, innen aber ein endloses Labyrinth war. Hinter jeder Tür lag noch eine weitere. Auf jedes Treppenhaus folgte das nächste. Die Korridore bekamen kein Tageslicht und waren nur schwach beleuchtet. Vielleicht war dies zufällig oder aus Gründen der Sparsamkeit so, aber es war günstig. Die düstere Beleuchtung verbarg bis zu einem gewissen Grad die abgewetzten und fleckigen Teppiche, die abgeplatzte Farbe, Schmutzflecken und die sich ablösenden Tapeten an den Wänden.
Die Putzfrau hatte schon mit ihrer Arbeit angefangen, als die letzten Gäste noch in dem Raum im Untergeschoss frühstückten, der auch als Bar genutzt wurde. Der Geruch von Bier und Zigaretten begrüßte die Gäste, wenn sie dem Schild »Dining Room« folgten und zum Frühstück die schmale Treppe in der Eingangshalle hinuntergingen. Die Stufen waren für eine normale  Treppe zu schmal, wahrscheinlich war es eine alte Hintertreppe aus den Tagen, als das Hotel noch ein Privathaus und die Gegend ein Wohngebiet der wohlhabenden Mittelschicht war.
Einige Gäste hatten zweifellos am Abend zuvor in diesem Raum gesessen, an der Bar gestanden oder sich einen Weg durch die Menge gebahnt, und der Biergeruch rief sicher Erinnerungen wach.
Kleine Packungen Frühstücksflocken und Krüge mit Orangensaft standen aufgereiht auf der Bar. Die Bedienung nahm am Tisch die Bestellungen entgegen und brachte dann Teller mit hellrosa Speck, schlaff und leicht ranzig riechend, matschigem Rührei und Würstchen, aus denen beim Einschneiden das Fett herauslief. Der Geruch nach Gebackenem überdeckte vorübergehend den nach Bier und Tabak.
Marys Mann hatte angerufen. Sie hatte am Abend zuvor einen Unfall gehabt. »Hatte bestimmt getrunken, würde mich nicht wundern«, hatte Mrs. Fry zu Anna gesagt. »Du wirst heute Vormittag allein zurechtkommen müssen.« Sie klang ungeduldig. Anna schaffte es immer. Sie war jung, und wenn man Arbeit so nötig wie sie brauchte, dann schaffte man es eben. Mrs. Fry wusste das. Also arbeitete Anna jetzt allein, aber die alte Hexe war schon wieder hinter ihr her und behauptete, es gehe nicht schnell genug, die Zimmer würden nicht rechtzeitig fertig, und sie solle sich beeilen. Anna murmelte Mrs. Frys ewige Litanei vor sich hin, während sie den Flur sauber machte: »Bist du noch nicht weiter, Anna? Los, beeil dich, Anna!« Sie war auf der zweiten Hintertreppe. Auf dieser Seite des Hotels gab es drei Zimmer, es war ein anderer Teil als der mit der Bar und dem Restaurant. Dieser hintere Bereich des Gebäudes ging auf den Garten – eigentlich eher ein Hof – hinaus, wo die Mülleimer standen und ein paar Büsche den Müll aufzuhalten versuchten, der in die kleine Gasse hinter den Reihenhäusern geworfen wurde. Anna nahm den Wischeimer, trug ihn die schmale Treppe hinunter und stieß dabei an die Seitenwände. Hier unten roch es immer muffig und feucht, ein schwacher, aber unverwechselbarer Geruch.
Das erste Zimmer war ein totales Chaos. Anna verzog das Gesicht. Es roch ungelüftet und nach abgestandenem Alkohol, Zigarettenrauch, Schweiß und altem Parfüm. Eine leere Whiskyflasche stand beim Papierkorb auf dem Boden, und neben dem Bett war ein Glas mit einer Zigarettenkippe, die sich aufzulösen begann. Der Aschenbecher war voll. Auf dem Nachttisch lag ein benutztes Kondom. Sie zog neue Handschuhe aus der Tasche ihres Anzugs. Zurzeit brachte sie ihre eigenen mit. Wenn Anna Mrs. Fry sagte, dass sie neue Handschuhe brauche, sagte sie immer »Ach ja«, aber irgendwie wurden sie nie rechtzeitig nachbestellt. Sie schaltete das Licht im Bad an. Es war besser, gleich über das Schlimmste Bescheid zu wissen.
Sie warf das schmutzige Bettzeug und die Handtücher auf den Boden im Flur. Den breiten Wäschekarren konnte sie nicht über die schmale Treppe hinunterbringen. Sie würde den Haufen aufsammeln und ihn hochtragen müssen. Sie sah sich die Handtücher an und verzog angeekelt das Gesicht. Das zweite Zimmer war nicht so schlimm. Der Mief wurde von Seifen- und Zahnpastageruch überlagert. Das Bett war zerwühlt, als sei der Schlafende hastig aus dem Bett aufgesprungen. Auf dem Teppich war Puder und der Abdruck von einem Fuß. Aber das Badezimmer war in Ordnung, die Toilette gespült, die Badematte feucht, die Handtücher ordentlich auf die Stange gehängt.
Sie sah auf die Uhr. Sie hatte Zeit aufgeholt. Die Zimmer sollten bis um zehn Uhr fertig sein, sonst würde Mrs. Fry einiges zu sagen haben. Aber sie würde Anna nicht wegschicken. Fünf Monate war es Anna schon gelungen, diese Arbeit zu behalten. Sie beklagte sich bei niemandem wegen der miserablen Bezahlung, war zuverlässig und hatte in der ganzen Zeit, die sie in dem Hotel arbeitete, nie einen Tag freigehabt. Niemals kam sie zu spät. Sie störte die Gäste nicht, machte ihre Arbeit immer ordentlich und wurde rechtzeitig fertig. Über die Zimmer, die Anna geputzt hatte, gab es keine Klagen.
Hier unten im Keller konnte sie rauchen und eine Pause machen. Der Ventilator des fensterlosen Badezimmers dröhnte. Sie holte ihre Zigaretten und das Feuerzeug aus der Tasche ihres Anzugs. Fünf Zigaretten pro Tag waren ihre Ration. Sie zündete eine an, lehnte sich an die Wand des Badezimmers und blies die Luft zum Ventilator hinauf. Sie hasste den Rauchgeruch.
Das letzte Zimmer im Keller war eng und ungemütlich. Sie drückte sich an der geschlossenen Badezimmertür vorbei, stolperte über etwas und warf einen Blick in das Zimmer. Der Schrank war klein und an die schmale hintere Wand neben die Glastüren gezwängt, die auf den Hof hinausgingen. Die Stores vor den Türen klebten an den feuchten, beschlagenen Glasscheiben. Die Frisierkommode stand an der langen Wand gegenüber dem Bett. Der Gang dazwischen war so schmal, dass Anna sich zur Seite drehen musste, um durchzukommen. Das Zimmer war … sie sah sich um. Das Bett schien nicht benutzt zu sein, aber Kleider waren darauf verstreut, Jacke und Rock einer Frau. Ein Schuh lag vor der Doppeltür, der andere im schmalen Eingangsbereich. Sie war darauf getreten, als sie hereinkam. Der Gast war noch nicht abgereist.
Anna zog das Bett ab und warf das saubere Bettzeug auf die Matratze. Die Betten mussten frisch bezogen werden, egal, ob sie benutzt waren oder nicht. Sie hob die Schuhe auf, stellte sie unten in den Kleiderschrank und hängte Rock und Jacke auf einen Bügel. Vielleicht gehörte die Frau, die hier übernachtet hatte, zu den wenigen Gästen, die länger als eine Nacht blieben. In diesem Zimmer war es kalt, ganz anders als in den anderen Zimmern im Kellergeschoss mit ihrer stickigen, feuchten Luft. Anna spürte einen Luftzug an den Knöcheln und knöpfte ihre Strickjacke bis zum Hals zu.
Der Staubsauger war in die Steckdose auf dem Flur draußen eingesteckt. Sie schaltete ihn an, merkte aber an dem schwachen Sog, dass der Beutel ausgewechselt werden musste. Schon wieder etwas, das extra Zeit kostete. Sie warf den vollen Beutel in ihren Putzkorb, setzte schnell und geübt einen neuen ein und saugte das kleine Stück Teppich gründlich ab. Mit ihrem Putztuch fuhr sie über die Tapetenleiste und die Oberflächen der Frisierkommode und des kleinen Nachttischs. Der Aschenbecher war leer und das Tablett mit den Sachen zum Teekochen unberührt. Mit ihrem Tuch wischte Anna über etwas Klebriges, Schmieriges, das einen braunen Fleck hinterlassen hatte. Sie wischte ihn weg, war aber mit dem Zimmer nicht recht zufrieden, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Sie sah die Stores, die an den Scheiben klebten, und beschloss, das Kondenswasser abzuwischen. Vielleicht würde es dann weggehen, das … das war’s! Dieser Geruch in der Luft! Der war schuld daran, dass einem das Zimmer unsauber vorkam. Einen Moment glaubte sie, etwas Verbranntes zu riechen – ein unbehagliches Gefühl erfasste sie, und ihr wurde leicht übel.
Der Türflügel bewegte sich, als sie ihn abwischte, weil er einen Spalt offen stand. Jemand hatte die Glastüren aufgemacht und nur angelehnt. Deshalb war es hier so kalt. Warum würde jemand das tun? Um sich hinauszustehlen, ohne die Rechnung zu begleichen? Und dann ein gutes Kostüm und ein paar Schuhe zurücklassen? Jemand, der frische Luft schnappen wollte? Und das Zimmer inzwischen völlig ungesichert ließ? Ratlos schüttelte sie den Kopf. Wenn sie als Reinigungskraft im Hotel etwas gelernt hatte, dann war es eines, nämlich dass das Benehmen von Menschen, die von zu Hause weg sind, unergründlich ist. Sie musste die Türen fest zuschlagen, um sie abriegeln zu können. Der Geruch kam wahrscheinlich aus einem der Mülleimer im Hof und würde sich bei geschlossener Tür verlieren.
Nur das Bad war noch zu machen. Sie sah auf die weiß gestrichene, fest geschlossene Tür neben der schmalen Diele. Die Gäste ließen die Badezimmertür meistens offen, und der Dampf zog zusammen mit dem Geruch nach Seife und Shampoo oder auch unangenehmeren Dingen ins Zimmer; die Handtücher lagen achtlos auf den Betten, dem Teppichboden und den Stühlen verstreut. Sie legte die Hand auf den Türgriff, scheute sich aber irgendwie, diese Tür zu öffnen. Dumme Hirngespinste! Sie drückte die Klinke nach unten und versuchte, die Tür aufzustoßen. Aber es ging nicht. Anna runzelte die Stirn. War sie abgeschlossen? Sie lauschte und hörte Wasser rieseln und durch die Rohre laufen. Sie klopfte. Stille. Wenn jemand im Bad wäre, dann wäre er oder sie doch bestimmt ins Zimmer gekommen und hätte ihr gesagt, sie solle mit dem Putzen warten, bis das Zimmer geräumt sei. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie die ganze, zuvor gewonnene Zeit wieder verloren hatte. Sie war spät dran. Bald würde Mrs. Fry herunterkommen, um nachzusehen, was sie tat. Der Gedanke daran scheuchte sie auf, sie fasste den Griff fester und drückte gegen die Tür. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie manchmal klemmte. Trotzdem hatte sie ein unbehagliches Gefühl im Magen. Etwas schien sie aufzufordern, sich einfach abzuwenden. Sieh nicht nach! Vergiss es!
Die Tür klemmte noch einen Moment und flog dann auf. Plötzlich stand sie in der heißen, feuchten Badezimmerluft in einem Geruch, der so durchdringend wie auf einem Fleischmarkt bei ihr zu Hause war. Scharf, widerlich und schmutzig.
Das Wasser tropft und tropft, als sie durch die Büsche kriecht. Der Gestank von Verbranntem liegt noch in der Luft, aber es ist ein abgestandener Geruch. Asche, die Reste eines Feuers. Feuer bedeuten doch sonst Wärme und Feste, Musik und Stimmen. Stimmen! Sie hält inne, horcht. Stille, nur das Tropfen des Wassers. Aber der Feuergeruch vermischt sich mit einem anderen, schweren, süßlichen Geruch von etwas Verdorbenem.
Jetzt kann sie das Haus sehen. Es steht außerhalb des Dorfes am Waldrand. Der Feuergeruch kommt natürlich vom Dorf, nicht von ihrem Haus. Sie späht durch die Blätter und horcht, ob sie nicht die Stimme der Mutter hört, die die Kinder ruft, oder ihren Vater, der mit den Männern zusammen eine Pause macht und mit ihnen lacht. Sie werden sich alle sorgen. Sie ist weg gewesen, wie lange, zwei Nächte? Drei? »Ich bin wieder da …«, flüstert sie und späht durch die Blätter auf die Überreste ihres Hauses und auf das kleine Bündel, das auf der Schwelle liegt und aus dem ein Schuh auf die Büsche zeigt, hinter denen sie sich versteckt. Der Regen muss das Feuer gelöscht haben. Sie sieht das Wasser von den Traufen und dem kaputten Dach tropfen.
Anna war auf etwas getreten und sah nach unten, wich unwillkürlich zurück und wischte automatisch den Fuß auf dem Teppich ab. Der Boden war nass. Etwas tropfte auf ihren Hals, sie zuckte zusammen und fuhr herum. Wassertropfen kamen von der Decke, und die Wände glänzten feucht. Ein stetiges Geräusch von rieselndem Wasser ertönte aus der Badewanne, wohl vom Duschkopf, aber nur schwach. Der rosafarbene, durchsichtige Duschvorhang war vorgezogen. Das Wasser lief, floss und rauschte in den Rohren und gurgelte im Abflussloch.
Jemand lag in der Wanne. Das war ihr erster Gedanke. Jemand ließ ganz langsam Wasser laufen und hörte nicht auf Geräusche, Bewegungen, den Staubsauger, den Lärm vom Putzen. Jemand …
… Sie ist jetzt an der eingeschlagenen Tür. Dahinter – Mutter, Vater, der Tisch, wo sie immer alle sitzen und reden, und die Kleinen rennen herum und der Geruch von… Scharf, verrottet.
Langsam streckte Anna die Hand aus und zog den Vorhang zurück.
Sie dachte, es wäre ihre Mutter.
Die Frau – es war eine Frau, das konnte sie erkennen – war in der Wanne zusammengesunken. Sie sah … wie zerbrochen aus, ein Spielzeug, das heruntergefallen und zersprungen ist. Ihr Gesicht – Krischa … ? – das Gesicht wie Krischas Puppe, sie waren auf das Gesicht von Krischas Puppe getreten, und es war verzerrt und zerschlagen, die Augen in den Augenhöhlen verdreht, der Mund zu einem grausigen Grinsen verzogen. Krischas Puppe! Das Wasser aus dem Duschkopf tropfte vom Haar der Frau. Bänder, es ist wie… Ihr erster Gedanke war, dass sie eigentlich stärker bluten müsste. Dann versagten ihr die Knie, und ihr Körper wurde kalt. Ihr Mund füllte sich mit Speichel, und ihr schwindelte. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Knie schlugen auf dem Boden auf. Sie spürte durch die Strümpfe die Feuchtigkeit an den Beinen. Ihre Hände rutschten am Badewannenrand entlang und versuchten, sich festzuhalten. Ich will nicht, dass es mich berührt!
Sie zog sich hoch, stand aufrecht, drehte das Wasser im Waschbecken voll auf und wusch sich Hände und Gesicht. Dann spülte sie immer wieder den Boden ab und versuchte, alles sauber zu machen, Ordnung zu schaffen, ihre Arbeit zu tun. Sie zog das Handtuch von der Stange, spürte seine Feuchtigkeit an ihren Händen und ließ es zu Boden fallen. Etwas schwamm in der Toilette. Sie drückte immer wieder auf die Spülung. Ihr Blick schoss hektisch von der Handtuchstange zum Waschbecken, zu den Wassergläsern und zur Badewanne … Nein! Sie starrte auf den Boden und konzentrierte sich auf die Fugen zwischen den Fliesen.
Zwischen der Kloschüssel und der Badewanne lag etwas auf dem Boden. Ein Stück Papier, nein, eine Karte, eine Visitenkarte, die auf dem nassen Boden klebte, etwas, das jemandem, der dort gesessen hatte, aus der Tasche gefallen sein musste, jemandem der neben der Badewanne saß und vielleicht mit der Person redete, die sich duschte und die … das Geräusch des Wassers, als sie durch die Büsche kriecht … Der Gestank von Verbranntem stieg ihr in die Nase. Sie fühlte Brechreiz. Abfall auf dem Boden. Sie bückte sich automatisch, hob die Karte auf und betrachtete sie, ließ sie wieder fallen.
Dann war sie wieder im Zimmer, ihre Beine zitterten, sie hielt sich an der Tür und den Wänden fest, nur damit sie aus dem Bad herauskam. Sie musste jemanden holen, musste Hilfe holen, sie musste … sie musste …
Sie musste nachdenken.
Sie machte den Staubsauger auf und nahm den Beutel heraus, den sie eingesetzt hatte, bevor sie anfing, das Zimmer zu putzen. Der alte Beutel war zum Bersten voll, aber sie schaffte es, ihn wieder hineinzuschieben, ohne dass er zerriss oder zu viel von dem Inhalt herausfiel. Sie faltete den neuen Beutel wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche. Ihre Hände zitterten. Sie nahm das Bettzeug und die Handtücher und trug sie die Kellertreppe zum Wäschekorb hinauf. Sie horchte. Verkehrsgeräusch in der Ferne. Schritte im Flur des nächsten Stockwerks. Schnell. Sie musste sich beeilen.
Sie zog einige Teile des schmutzigen Bettzeugs aus dem Korb und stopfte ihre Ladung tief unten hinein. Die schmutzigen Laken legte sie obendrauf und behielt einen Satz Laken und Handtücher zurück. Wieder die Treppe hinunter, um die Laken auf den Fußboden zu werfen. Die Tür schließen oder sie offen lassen?
3
Roz fand die Besprechung langweilig, obwohl sie entscheidend war. An ihrer Arbeit interessierte sie die Forschung, und obgleich die finanziellen Mittel sehr wichtig waren, teilte sie nicht Joannas Vorliebe für Überzeugungsarbeit und Verhandlungen, die für die Finanzierung erforderlich waren. Sie unterdrückte ein Gähnen und sah zu Luke hinüber, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, den Blick gesenkt hielt und gelegentlich etwas auf seinen Notizblock kritzelte. Er wirkte ebenfalls unkonzentriert. Roz beobachtete Joanna bei ihrer Präsentation. Sie stellte die finanzielle Lage und die Forschungsarbeit des Teams dar, legte ihre Vorschläge für Neueinstellungen vor und vermied bewusst alle Bereiche, in denen es nicht ganz so gut aussah. Joanna machte ihre Sache gut. Sogar besser als gut. Niemand, der ihr zuhörte, hätte geglaubt, wie angespannt sie vor Beginn des Meetings gewesen war. Sie war erst fünf Minuten vor neun eingetroffen, weil sie Gemma abholen wollte. Offenbar hatten sie dies am Mittwoch vereinbart, damit Gemma ihr noch vor dieser wichtigen Besprechung einen Kurzbericht über das Ergebnis ihrer Fahrt nach Manchester geben könnte. Aber Gemma hatte nicht aufgemacht und Joanna hatte bei dem Versuch, sie zu wecken, Zeit verloren, bis ihr klar wurde, dass Gemma nicht da war.
Roz runzelte die Stirn. Unzuverlässigkeit war untypisch für Gemma. Und was noch schlimmer war, sie hatte nicht angerufen, sondern nur am Abend zuvor eine E-Mail geschickt. Joanna hatte sie gesehen, als sie vor der Konferenz ihre Post daraufhin überprüfte, ob es kurzfristige Änderungen gab oder jemand verhindert war.
Bitte entschuldige, dass ich morgen nicht zum Meeting kommen kann. Ich habe eine Panne und werde in Manchester übernachten. Ich melde mich, sobald ich wieder in Sheffield bin.
Gemma.
Joanna war ausgerastet. Dann hatte sie alles auf später verschoben und mit Roz schnell die Strategien für das Meeting durchgesprochen.
Roz betrachtete die anderen Konferenzteilnehmer eingehend, während der Vertreter des Universitätskomitees für Zuschüsse seine Ausführungen herunterleierte. Da war Peter Cauldwell, offiziell Joannas Vorgesetzter, der ihr skeptisch lächelnd zuhörte. Was immer Joanna vorschlagen mochte, Cauldwell würde dagegen sein. Er und Joanna waren in der Vergangenheit zu oft aneinander geraten, um ein gutes Team bilden zu können. Für Joanna hatte ein Vorhaben Priorität: Die Gruppe dem Einflussbereich Cauldwells zu entziehen, so schnell sie konnte. Dann war der Vertreter des Finanzierungskomitees da. Er hatte es in der Hand, Joanna jetzt sofort, noch heute, zu stoppen, wenn sie ihn nicht überzeugen konnte. Außerdem war noch der Vertreter des Academic Board anwesend, der Mittelbewilligung, dessen Unterstützung in dieser frühen Phase sehr wichtig war, und schließlich ein Vertreter des Vizekanzlers. Wie Luke neulich gesagt hatte: »Alle hohen Tiere der Uni sind da, um mitzuerleben, wie Grey dem Cauldwell das Fell über die Ohren zieht.« Ihre Blicke trafen sich über den Tisch hinweg, und sie fühlte den kindischen Impuls zu lachen.
Peter Cauldwell gab mit gedämpfter Stimme eine vernünftige Erklärung dazu ab, wieso Joannas Plan, der die Selbständigkeit der Law-and-Language-Gruppe vorsah, Zeitverschwendung und eine Vergeudung wertvoller Mittel sei. »Es gibt überall im Land kleine Abteilungen, die sich gerichtsmedizinischer Aufträge annehmen«, sagte er. »Und es gibt einige Privatunternehmen. Wir sind eine akademische Institution. Wir müssen dieses Geld« – den Zuschuss, den Joanna für die Gruppe losgeeist hatte – »verwenden, um die Forschungsarbeit, die wir bisher betrieben haben, auszudehnen. Ich strebe nicht an, unsere forensische Arbeit einzustellen, aber ich glaube, wir können sie innerhalb der bestehenden Strukturen abwickeln.«
Joanna lächelte, und Roz fing wieder Lukes Blick auf. Er tat so, als setze er sich anders hin, und zog dabei den Finger quer über die Kehle. Joanna begann ihre Diapräsentation, sprach kurz über jedes Schaubild und legte dar, wie viel finanzielle und andere Unterstützung sie in den letzten sechs Monaten zusammenbekommen hatte. Ihre Tabellen waren so angelegt, dass sie wie nebenbei auch die Mittel zeigten, die Cauldwells komplette Gruppe bekam. Sie erschienen neben den Zahlen, die die Versammelten studieren sollten. Nach den Tabellen, die sie benutzte, hatte ihr kleines Team mehr Universitätsgelder und Drittmittel bezogen, als Cauldwells viel größeres Team in einem Jahr geschafft hatte. Roz wusste, dass diese Zahlen kein realistisches Bild gaben. Peter Cauldwells Gruppe hatte sich mit einem Langzeitprojekt befasst, das jetzt in die Endphase kam, und über die neuen Gelder, die hereinkamen, konnte man entweder noch nicht verfügen, oder sie wurden heimlich, still und leise in andere Kanäle geleitet, damit man sichergehen konnte, dass die Budgets für Personal und Ausstattung gesichert waren. Wie alle guten Abteilungsleiter war Cauldwell ein Genie im vollen Ausschöpfen der Mittel. Aber auf Papier sahen seine Zahlen schlecht aus, und Joanna wusste das.
Um ein Uhr war alles vorbei. Roz war auf dem Weg zurück in ihr Büro und wurde von der offensichtlich erfreuten Joanna abgefangen. Sie hatte jedes Recht zur Freude, dachte Roz. Allerdings war jetzt vermutlich ein potenzieller Dolchstoß von hinten ihr Hauptproblem. Sie erinnerte sich an Cauldwells verdrießliches Gesicht. Er würde Joanna – oder ihnen allen – nicht so bald vergeben.
» Es ist gut gegangen. Mit Cauldwells Kritik hab ich kurzen Prozess gemacht«, sagte Joanna vergnügt. »Wir kriegen jetzt unsere zusätzlichen Kräfte, und wenn nicht, dann weiß ich auch, warum.« Sie schaute, zerstreut und schon mit weiteren Plänen beschäftigt, in die Ferne. »Wir werden mehr Platz brauchen. Das ist erst der Anfang.« Dann sah sie Roz scharf an und fragte:» Was ist mit Gemma?«
Roz war es gewöhnt, dass Joanna plötzlich das Thema wechselte, fragte sich aber, wieso sie erwartete, dass sie mehr über Gemmas Fernbleiben wusste als Joanna selbst. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht weiß Luke etwas.«
Joanna starrte sie weiter durchdringend an. Roz war an dieses seltsame Verhalten gewöhnt und wartete, bis Joanna auf ihre Antwort reagierte. »Luke?«
Roz seufzte. Bestimmt hatte Joanna bemerkt, dass zwischen Luke und Gemma irgendetwas lief. Gemma war eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin. Sie saß viel vor ihrem Computer und vergrub sich in ihren Büchern, war ruhig und zurückhaltend. Nach einiger Zeit an einer russischen Universität, war sie nach Sheffield gekommen, und Roz hatte manchmal das Gefühl, dass Gemmas Ehrgeiz anderen Gebieten galt, obwohl sie sehr gute Arbeit leistete. Dann hatte sie sich mit Luke eingelassen.
Obwohl Roz versucht hatte, sich nichts daraus zu machen, hatte es sie doch gestört. Roz und Luke waren von der Zeit an, als sie ein Jahr zuvor nach Sheffield gekommen war, gute Freunde geworden. Sie waren allein stehend und wollten sich beide nicht auf eine ernste Beziehung einlassen. Sie hatten einen ähnlichen Geschmack, was Clubs, Tanzen und Musik anging. Luke konnte unbekümmert sein, mit wilden Trinkgelagen befriedigte er seine Neigung zur Ausgelassenheit, und sein gelegentlicher Trübsinn zog sie irgendwie an. Es war eine Freundschaft gewesen, die sie hoch schätzte. Und dann, vor ein paar Monaten, bei etwas zu viel Musik und nach etwas zu viel Wein hatten sie miteinander die Nacht verbracht, eine Vertraulichkeit, die sie vorher immer vermieden hatten, über die sie nie sprachen und vor der Roz seitdem zurückschreckte. Danach war ihr Umgang miteinander etwas unsicher. Als Roz zu Joannas Stellvertreterin befördert wurde, war das eine weitere Erschwernis für ihre Freundschaft, und als er die Sache mit Gemma anfing, war sie auf ein Mindestmaß reduziert.
Joanna sah sie immer noch starr an. Roz schüttelte den Kopf.» Ich will mal sehen, ob Luke mehr weiß«, sagte sie. Joanna dachte darüber nach, ohne es zu kommentieren, und begann dann über Aufträge zu reden, die erledigt werden mussten. Etwas schoss Roz durch den Kopf, und sie nahm sich vor, in Gemmas Terminplan nachzusehen. Da war doch etwas … Sie schob es auf und hörte Joanna zu, die schließlich zu Ende kam.
» … und dann ist da noch der Bericht für das Berufungsgericht, und das wär’s dann.« Sie sah auf die Uhr. »Peter Cauldwell möchte mich sprechen.« Statt eines zusätzlichen Kommentars zog sie eine Augenbraue hoch. »Ich treffe ihn in einer halben Stunde.«
Berichte! Das war es, was Roz eingefallen war. Gemmas Analyse der Sprachaufnahme, die sie von der Polizei in Hull bekommen hatten. Gemma hatte gesagt, sie würde ihren Bericht heute per Telefon durchgeben, aber sie wolle vorher noch etwas mit Roz besprechen. Roz runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Problem Gemma damit gehabt haben könnte. Es war ein ziemlich einfacher Auftrag gewesen, obwohl die Aufnahme selbst… merkwürdig war. Der Bericht würde wahrscheinlich auf Gemmas Schreibtisch liegen. Sie könnte nachsehen, ob es irgendwelche offensichtlichen Probleme gab, und ihn dann selbst telefonisch durchgeben. Gemma konnte dann die schriftliche Fassung fertig machen und sie übers Wochenende losschicken. Wenn der Bericht nicht da war … Dann wusste bestimmt Joanna Bescheid.
Zuerst Luke oder Gemmas Bericht? Der Bericht war wichtiger. Sie ging wieder den Korridor entlang zu Gemmas Büro und schaltete den Computer ein. Das Passwort kannte sie – Gemma und sie brauchten öfter Zugriff auf ihre jeweiligen Dateien. Sie ließ die Liste der Dokumente durchlaufen: akustische Profile, grundlegende Frequenzanalyse von … Hier war es: Entwurf, Bericht Hull. Roz öffnete die Datei, sah sich die Einzelheiten an und rief sich ins Gedächtnis, was genau Gemmas Aufgabe gewesen war. Die Aufnahme aus Hull war die polizeiliche Vernehmung einer Frau, die möglicherweise aus Osteuropa kam. Sie war Gemma mit dem Auftrag geschickt worden, die geographische Herkunft der Frau genauer festzustellen.
Roz blätterte den Schriftverkehr durch. Die Polizeibeamtin, die sich an Gemma gewandt hatte, war eine gewisse Lynne Jordan, Detective Inspector. Mit dem Tonband war eine klar formulierte Anfrage gekommen. DI Jordan wollte wissen, wo die Frau herkam, deren Muttersprache offensichtlich nicht Englisch war. Über das Band selbst gab es nur sehr wenig Information.
Roz hatte es mit Gemma zusammen angehört und fand den stockend gesprochenen Text, der nur schwer zu verstehen war, beklemmend. Sie fragte sich, was der Frau, die auf dem Band sprach, geschehen war und warum DI Jordan sie nicht direkt fragen konnte, woher sie kam. Gab sie vor, von woanders zu kommen, aus einem EU-Land, damit sie in Großbritannien bleiben durfte? War sie geflüchtet? War sie schon mal abgeschoben worden? Oder gestorben?
Er (sie) schlagen… ich sage nein, er (sie) machen, er…
Es ging Roz nichts an. Sie gab den Befehl <drucken> ein und überflog den Berichtsentwurf auf dem Bildschirm. Als er ausgedruckt war, las sie ihn genauer. Er war typisch für Gemma: Sehr gründlich und klar und, soweit Roz das beurteilen konnte, vollständig. Ob Gemma das Problem, was immer es gewesen war, gelöst hatte? Aber trotzdem fragte sie sich, was Gemma mit ihr hatte besprechen wollen. Sie saß nachdenklich da. Am späten Mittwochnachmittag war Gemma zu Roz ins Büro gekommen, um zu sagen, dass sie am nächsten Tag an Joannas Stelle nach Manchester fahren musste. »Joanna hat es mir gerade gesagt. Sie will mir später die Einzelheiten mitteilen.« Sie schien verärgert, hatte ihre Tasche abgestellt und darin nach ihren Notizen gesucht, dann war der Füller, dessen Kappe sie abnehmen wollte, quer durch den Raum geflogen.
Roz hatte ihr die Sachlage erklärt. »Ich glaube, Joanna möchte, dass du bei dem Meeting anwesend bist, weil es dein Fachgebiet ist«, sagte sie. Das Team in Manchester arbeitete mit ihnen zusammen und bewarb sich gemeinsam mit ihnen um Mittel für die Untersuchung des von Asylsuchenden gesprochenen Englisch.
» Ich hätte mir gewünscht, ein bisschen früher informiert zu werden«, sagte Gemma, und wie Roz fand, zu Recht. »Ich muss diesen Bericht noch erstellen und habe Detective Inspector Jordan gesagt, dass ich ihn morgen abschicken werde.«
» Gib doch deine Ergebnisse einfach telefonisch durch. Du kannst den Bericht nachschicken, sodass sie ihn am Montag bekommt. Sie wird die Information, die sie braucht, am Freitag haben, das ist die Hauptsache. Ist die Analyse fertig?«
» Ja. Ich habe alles gemacht, was sie verlangte. Es ist nur… Da war etwas, das ich besprechen wollte …« Sie sah auf die Uhr. »O Gott, sieh mal, wie spät. Ich muss gehen. Ich besprech’s am Freitag mit dir. Es läuft nicht weg.« Gemma schien zufrieden und ging.
Was immer sie beunruhigt hatte, Roz konnte keine Spur davon finden. Gemma hatte die Frau als russischsprachig identifiziert, mit sprachlichen Merkmalen, die darauf hinwiesen, dass sie aus dem östlichen Sibirien kam. Mit ihrer über viele Seiten gehenden Analyse belegte sie ihre Ergebnisse. Roz blätterte sie durch. Alles schien problemlos. Sie druckte die Niederschrift der Aufnahme aus und sah sie sich an. Drei Zeilen waren mit Sternchen markiert: 25, 127 und 204. Das war das einzige Anzeichen, dass etwas nicht komplett war, aber daraus ging nicht hervor, warum Gemma diese Zeilen gekennzeichnet hatte.
Mit dem Gefühl, dass aus ihrer Überprüfung jetzt Neugier wurde, blätterte Roz in Gemmas Kalender, um zu sehen, ob sie sich anstehende Termine vorgemerkt hatte und sich so alles klären ließ. Nichts. Sie war sich bewusst, dass sie ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen, deshalb ließ sie den Bericht auf ihrem Tisch liegen und ging zu Luke.
Die Tür zu seinem Büro war angelehnt, und Roz ging hinein. Ein Tonband mit knackenden und zischenden Hintergrundgeräuschen lief, und unter all dem hörte man auch Stimmen. Luke stand bei einem der Computer und schaute auf den Bildschirm, wo ein akustisches Profil zu sehen war. Luke markierte eine Stelle farblich. Er sah nicht auf, sagte aber: »In der Kanne ist Kaffee.« Er hatte immer Kaffee da, um seine Koffeinsucht zu befriedigen, und Roz – und Gemma – kamen oft in Lukes Büro, statt zur offiziellen Kaffeemaschine oder, noch schlimmer, zum Automaten zu gehen. Er führte schon lange einen Zermürbungskrieg gegen Joanna, die klare Trennungslinien liebte – Kaffee in Aufenthaltsräumen mit Kaffeemaschine, Bücher in Bibliotheken, Arbeit an Schreibtischen.
Roz sah Luke über die Schulter und auf den Bildschirm. »Was ist das?«, fragte sie. Er schien zerstreut.
» Es ist diese Überwachung aus Manchester. Wir sollen die Tonqualität des Bandes verbessern. Wenn sie ’ne gescheite Ausrüstung kaufen würden, könnten sie ein Vermögen sparen«, sagte er. Er nahm das Hintergrundgeräusch auf, um es von dem Band zu löschen; jetzt wo es Software gab, die den ganzen Prozess abwickelte, war das eine einfache Aufgabe. Er drückte eine Taste und spielte die Aufnahme ab. Diesmal legten sich nicht mehr die störenden Geräusche über die Stimmen, aber was gesprochen wurde, war verzerrt, hallte nach, und die Tonstärke schwankte. Er drückte eine weitere Taste, alles verschwand vom Bildschirm, und er drehte sich um und sah sie an.
» Hast du die Resultate von unserem letzten Durchlauf mit der Software bekommen?«, fragte Roz. Luke arbeitete mit ihr zusammen an der Analyse der Bandaufnahmen von polizeilichen Verhören.
» Ich hab sie am Mittwoch bekommen. Hörst du eigentlich nie zu?« Er schaute zu ihr hinüber. »Also Roz, kein Kaffee?«
» Ich nehme einen, wenn ich schon da bin.« Sie holte sich eine Tasse vom Regal und goss sich Kaffee ein. Er war stark und schwarz. »Und du?« Er schüttelte den Kopf, lehnte sich gegen seinen Schreibtisch zurück und wartete ab, was sie wollte.» Gemma«, sagte sie. »Joanna war wirklich sauer. Hast du etwas gehört?«
» Was, zum Beispiel?« Er schien leicht gereizt, wie er dieser Tage ihr gegenüber immer war. Einen Moment dachte sie, er würde nichts mehr sagen, aber er fügte hinzu: »Sie wollte gestern Abend nach ihrer Rückkehr noch bei mir vorbeikommen, wenn sie nicht zu müde wäre. Sie sagte, sie würde vielleicht anrufen, aber das hat sie nicht getan.« Er zuckte die Schultern.
» Ach.« Roz wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie erzählte ihm von der E-Mail.