Nachtfunke - Marion Hübinger - E-Book

Nachtfunke E-Book

Marion Hübinger

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Beschreibung

Ein verwegener Krieger und eine junge Seherin. Verbunden im Schicksal. Vereint im Kampf. Inmitten der unwegsamen Berge der Moragen lebt der stolze Stamm der Laxis, angeführt durch den Krieger Fino. Um eine der ihm Anvertrauten zu retten, muss er dem gegnerischen Clan der mächtigen Thuns die Stirn bieten. Im bevorstehenden Kampf bekommt er ungeahnte Hilfe von einer jungen Seherin, die die drohende Gefahr durch die Schleier der Vorsehung erkennen kann. Doch Finos Entscheidung ist weitreichender, als er zunächst angenommen hat ...

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Nachtfunke

Jessica StrangStapenhorststr. 1533615 Bielefeld

http: www.tagtraeumer-verlag.deE-Mail: [email protected]

Satz: Asuka LioneraLektorat: Michaela RetetzkiKorrektorat: Michaela RetetzkiUmschlaggestaltung: Asuka LioneraBildernachweis: www.shutterstock.de

ISBN 978-3-946843-48-1

1. Auflage

Inhalt

Prolog1234567891011121314151617181920212223EpilogDanksagung

Prolog

Sie weiß nicht, ob sie dem Halblicht trauen soll. Dort, wo die Weltengrenzen verschwimmen, wo ihre Gedanken fliehen und sie davon träumt, eine andere zu sein. Eine, die geliebt wird, nicht die unerwünschte Tochter, nicht die Auserwählte, nicht diejenige, auf deren Schultern die Zukunft ihres Stammes liegt.

Das Halblicht irrt nicht. Irgendwo hinter den Bergketten der Moragen wird ein neuer Anführer erwählt, einer, der zu Großem berufen ist. Sie weiß nicht, wer er ist. Er rührt ihre Seele, ihr Bran, selbst durch die Schleier des Halblichts. Ob er davon weiß? So wie sie, die mehr sieht als das, was das bloße Auge offenbart?

Ich habe sie in meinen Träumen erlebt. Unzählige Male. Groß und schlank, mit stolz erhobenem Haupt. Ihr weißblondes Haar umgibt sie wie ein leuchtender Kranz.

Bist du eine Kriegerin?

Wann immer ich mich ihr in meinen Träumen nähere, geht sie in Flammen auf. Rot glühend wie der Abendhimmel hinter meinem Dorf.

Daran muss ich in dieser Nacht denken, während ich in der Hütte liege und in die Dunkelheit starre.

»Erzähl uns von deiner Liebsten, Fino«, necken mich die Männer, Krieger wie ich selbst, mit denen ich schon lange das Lager teile. »Wer ist die Auserkorene, der du dein Herz schenken wirst?«

Ich seufze leise. Mir ist bewusst, dass alle im Dorf auf meine Wahl warten. Schon morgen werde ich ein Anführer sein, angesehener als viele andere, mein Körper gestählt vom harten Training eines Kriegers. Mit zweiundzwanzig Lebensjahren hat manch anderer seine Seelenpartnerin längst erwählt, und doch ertappe ich mich dabei, Nacht für Nacht von einer Fremden zu träumen. Sie sagen, es ist wichtig, den Fortbestand unseres Volkes zu sichern. Was kann ich dafür, dass mein Bran stumm bleibt, dass nicht eine der jungen Frauen unseres Stammes mein Herz erzittern lässt. Wenn sie davon sprechen, dann von diesem Augenblick, der alles im Leben verändern kann, der nicht mehr als einem Windhauch gleicht und das Bran wie einen saftigen Grashalm in Schwingung bringt. Ich sollte mit den jungen Männern mitreden, statt mich zu fragen, was ich falsch mache. Wie schon so oft spüre ich den Kloß, der meinen Hals beengt. Es sind die Worte meiner Mutter, an die ich mich erinnere, obwohl ich damals noch ein kleiner Junge gewesen war. Ihre Augen hatten geleuchtet, als sie davon sprach, dass jeder Mann wisse, wenn er der einen gegenüberstünde. Und dass die Frau sich glücklich schätzen könne, die ich einst erwählen würde.

»Es gibt Wichtigeres«, sage ich kurz angebunden und hoffe, sie belassen es dabei.

»Kanoa mag viel von dir halten, Fino, der Fortbestand des Stammes steht dennoch an erster Stelle. Und geschadet hat es noch niemandem.« Ein wüstes Gejohle folgt auf diese Worte.

Ob die Männer meinen finsteren Blick richtig deuten würden, wenn sie ihn sehen könnten? Als Krieger diene ich dieser Aufgabe auf meine Weise Tag für Tag. Warum soll ich mich also drängen lassen? Warum nicht warten, bis ich mir sicher bin, dass ich sie gefunden habe, diejenige, die auch meine Mutter mit offenen Armen empfangen hätte, wenn sie noch lebte. Die Erinnerungen an sie verblassen mit jedem Lebensjahr mehr. Tief in mir weiß ich, dass ich an ihren Wahrheiten festhalten muss. Um sie nicht ganz zu verlieren.

Mutter, sag mir, wer ist die eine?

Vielleicht wüsste sie die Antwort.

»Lasst mich in Ruhe damit.« Die Männer lachen, als hätte ich einen Witz gemacht.

Wie soll ich heute an Schlaf denken? In dieser Nacht vor dem großen Tag, an dem ich eine derart bedeutende Rolle in unserem Stamm übernehmen werde. Ich verschränke die Hände unter meinem Kopf. Großzügig dulde ich ihre Späße, die sie auf meine Kosten machen, solange ich noch einer von ihnen bin. Genau wie ihre gut gemeinten Ratschläge. Denn es wird die letzte Nacht sein, in der ich mit ihnen in dieser Hütte schlafen werde.

»Eher früher als später wirst du eine Frau erwählen müssen, Fino, denn ein Anführer braucht eine Frau an seiner Seite. So wird es von den Alten erzählt.« Neben mir raschelt es, weil sich Inde, mein langjähriger und bester Freund, auf seinem Lager zu mir dreht. Seine kritische Miene, bei der er die knollige Nase nach oben zieht, kann ich mir nur allzu gut vorstellen. Tatsächlich weiß ich seine Sorge zu schätzen. Doch auch er kann mir nicht helfen.

Vielleicht wäre mein Leben weniger kompliziert, wenn ich nicht an Kanoas Seite zu ihrem nächsten Kriegeranführer ausgebildet worden wäre. Dann wäre ich einer von ihnen und keiner hätte mehr als nur einen flüchtigen Gedankenblitz für mich übrig. Stattdessen liege ich heute Nacht wach und denke an die Frau aus meinen Träumen. Lebt sie in meiner Welt? Manchmal erahne ich die Umrisse von Bergen, nur fürchte ich, es könnte überall sein. Werde ich sie je finden? Erst letzte Nacht war ich ihr näher als jemals zuvor. Nebel umhüllte ihre Gestalt, ihre Arme waren zum Gebet ausgebreitet und die Augen geschlossen. Ich hätte stehen bleiben sollen. Eine helle Stichflamme schoss aus dem Nebel hervor, kaum dass ich den ersten Schritt auf sie zu gemacht hatte. Mit einem unterdrückten Schrei war ich aufgewacht.

Mein Herz, es bangt um sie.

1

»Wirst du meine Krieger künftig anführen, Fino von den Laxis, so wie ich es dich gelehrt habe?«

Mein Hals fühlt sich trocken an. Ich versuche mich leise zu räuspern. Auch wenn ich schon lange wusste, dass dieser Tag kommen würde, wühlt mich Kanoas Ansprache mehr auf, als ich mir selbst eingestehen möchte. Ein Anführer? Ich? Bin ich das wirklich? Und will ich es überhaupt sein? Selbst wenn ich mein ganzes Leben genau darauf vorbereitet worden bin. Erst von meinem Vater, später von Kanoa, unserem Stammesältesten. Keine Worte meines Vaters waren gewichtiger als die, als er mir sagte, dass ich für diese Aufgabe geboren wurde. Und mir im selben Atemzug verbot, jemals Schwäche zu zeigen.

Mich schaudert es nach wie vor, wenn ich daran denke. Die Härte meines Vaters, die mein Leben mehr geprägt hat, als mir lieb ist. Seine schnelle Zunge, die gnadenlos das Schwert gegen jeden führt, der ihm in die Quere kommt. Auch gegen mich. Wie hätte ich ihm als Junge gewachsen sein sollen! Seine Rolle als Vater, die nie eine fürsorgliche gewesen war, hat er an dem Tag verwirkt, als er mich nach Mutters Tod aus seinem Leben ausschloss. Drei Wildschweine, so viel war es ihm wert, dass Kanoa mich an seiner statt zum Krieger erzog. Weil ich seiner neuen Gefährtin ein Dorn im Auge war. Ich schlucke die Bitterkeit herunter, denn der Älteste hat dank seiner Güte wieder wettgemacht, was ich bei meinem Vater an Lieblosigkeit erlebt habe. Trotz allem war es ein einsamer Weg, den ich mit zehn Lebensjahren an der Seite von Kanoa einschlug. Der für mich so etwas wie ein Vorbild wurde, obwohl er nur mein Lehrer war. Weder Vater noch Mutter, die ich stolz machen konnte. Und heute? Nicht ein Blatt, das ich nicht wende, weil ich nach Gewissheit suche. Ist dies der richtige Weg?

Ich bin im Zeichen des Schwertes geboren, mein Krafttier ist der Widder. Geboren, um mich zum Wohl der Gemeinschaft in deren Dienst zu stellen. Unser Stamm führt mir gerade mit seiner Ehrerbietung mehr als deutlich vor Augen, was das wirklich bedeutet. Der Platz um den Steinernen Kreis, an dem wir uns für wichtige Zusammenkünfte versammeln, ist voller Menschen, die mich erwartungsvoll ansehen. Auch mein Vater müsste unter ihnen sein. Nur ist er der Letzte, den ich sehen will.

Jetzt oder nie!

Ich strecke meinen Rücken durch und zögere nicht mehr länger. Der Widder, der erst vor wenigen Tagen in meinen Oberarm geritzt wurde, bäumt sich wild auf. Er ist genauso bereit wie ich. Kraftvoll schlage ich die rechte Faust zum Zeichen der Zustimmung auf meine linke Brust, dorthin, wo mein Bran verborgen liegt.

Höre ich da ein leises Aufatmen in der Reihe hinter mir? Inde hat mich bis zuletzt damit aufgezogen, dass Bane, Kanoas Erstgeborener, die Rolle sofort an sich reißen würde, sollte ich kneifen. Wir beide wissen, dass Bane ein Hitzkopf ist und ein umso schlechterer Anführer wäre. Und dass er mich hasst, weil sein eigener Vater mich ihm vorgezogen hat.

Ich hole tief Atem. Meine Stimme klingt fest, als ich die Worte spreche, die genau jetzt von mir erwartet werden. »Ja, ehrwürdiger Kanoa, ich werde deine Axt und dein Speer sein. Möge ich ein würdiger Nachfolger sein.«

Wie auf Kommando schlagen alle Männer ihre Fäuste auf die Brust und rufen im Takt meinen Namen. Die Frauen beginnen, mit den Füßen auf den trockenen Boden zu stampfen, selbst die Kinder schreien.

»Fino! Fino!«

Mein Herz pocht im Gleichtakt mit den Stimmen. Stolz fließt durch mich hindurch wie flüssige Bronze.

Die Entscheidung ist gefallen.

Fortan bin ich nicht mehr der, der ich zuvor war.

Kanoa weist mir den Platz zu seiner Linken. Er steht vor dem mächtigen Stein, der die Form eines Schildes hat und ihm als Stammesältesten gebührt. Nun ergreift er mit einem wissenden Lächeln meine Hand, um sie in die Höhe zu recken.

Jetzt ist es so weit!

Alle Dorfbewohner, einer nach dem anderen, kommen auf mich zu und berühren mich mit meinem Namen auf den Lippen. Manche streifen den Widder an meinem Arm nur ehrfürchtig, andere lassen ihre Hand darauf ruhen und spüren seiner Kraft nach. Der Segen jedes Einzelnen stärkt mein Bran und mein Bewusstsein, wie groß das Vertrauen meines Stammes in mich und meine ehrenvolle Aufgabe ist. Selbst jetzt, in diesen friedvollen Zeiten.

Sehr viel später an diesem Abend, als ich im Rund mit vielen unserer Dorfbewohner, meinen Freunden, Kriegern und den alten Männern sitze und mich mit ihnen an dem frisch erlegten Bock erfreue, lasse ich meinen Blick durch die Hütte der Ältesten schweifen. Hierhin hatten wir uns zurückziehen müssen, als sich die ungestümen Regenwolken über die Berge gestürzt und in unserem Tal ergossen hatten. Die Hütte ist die größte in unserem Dorf. Einst mit den höchsten Stämmen der Birken erbaut, die es in unserem Tal zu finden gibt. Der Boden ist mit Steinen ausgelegt, die auf wundersame Weise die Wärme des Tages speichern.

Die Ältesten reden mit erregten Gemütern. Nicht nur auf ihren Gesichtern hat sich die Wärme des Feuers niedergelegt. Die meisten Frauen sind längst in ihren Hütten, kümmern sich um die Kinder oder erzählen ihre eigenen Geschichten. Trotzdem kommt es mir so vor, als spürte ich weiterhin die vielen sehnsuchtsvollen Blicke, die mir die Jüngeren unter ihnen zugeworfen haben. Heute ganz besonders. Alle Bäuche sind gut gefüllt, und das Kräuterwasser hat viele Runden gemacht. Ich ertappe Kanoa dabei, wie sich sein Geist bei geschlossenen Augen für einen Moment davonschleicht. Ja, er kann zufrieden sein.

Wie es der Rangfolge entspricht, sitze ich neben Bane, Kanoas ältestem Sohn. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich einen Platz möglichst weit weg von ihm wählen. Denn er lässt mich selbst heute nicht vergessen, dass ich ihm bei seinen Plänen im Weg stehe. Pläne, oder wohl eher Hoffnungen, seinen Vater endlich stolz zu machen. Wobei meist das Gegenteil der Fall ist.

Mit Schrecken stelle ich fest, dass er die Schale Kräuterwasser einige Male zu oft angesetzt hat. Das Wanken eines altersschwachen Baumes ist nichts gegen das seiner Stimme.

»Und, Fino? Hast du jetzt alles, was du begehrst?«, sagt er mit vollem Mund, während der Saft der roten Beeren an seinem Kinn heruntertropft. »Die Frauen werden sich jetzt erst recht um dich reißen!«

In seinen Augen blitzt der blanke Neid auf. Ich presse die Lippen zusammen. Um nichts zu sagen, was ich hinterher bereue. Was kann ich dafür, dass mich die jungen Frauen kaum aus den Augen lassen! Sie haben es sich heute nicht nehmen lassen, wieder und wieder den Widder an meinem linken Arm zu berühren. Er ist ein mächtiges Zeichen, das eines Kämpfers und starken Beschützers. Wie könnte ich es ihnen verdenken, wenn sie versuchen, mein Bran für sich zu erwecken. Als Anführer der Krieger nehme ich fortan eine besondere Stellung in unserem Stamm ein. Eine, die selbst mich mit Ehrfurcht erfüllt, wenn ich daran denke.

Ich kenne nichts anderes als das Leben eines Kriegers. Ich bin einer von ihnen. Die meisten meiner Krieger überragen mich zwar an Größe, dafür steche ich wegen meines hohen Haarkamms, der einer gestutzten Pferdemähne ähnelt, überall hervor. Automatisch greife ich nach dem Zopf, den ich heute dazu im Nacken gebunden habe. Er und das neue Gewand aus der Haut des Widders, den ich eigenhändig erlegen musste, legen Zeugnis davon ab, dass ich ab jetzt derjenige bin, der Entscheidungen zu treffen hat. Für unseren gesamten Stamm.

Und genau das ist es, was Bane noch viel mehr ärgert. Seine Brust glänzt im Schein der Fackeln, sie ist muskulöser als die manch anderer. Ich kann nicht leugnen, dass er einer unserer besten Krieger ist. Allerdings haftet ihm dank seines hitzigen Temperaments der Ruf an, oftmals launisch, wenn nicht gar kopflos zu handeln.

»Lass gut sein, Bane, heute ist keine Nacht zum Streiten.«

»Pah«, schnaubt er leise, damit es nur für meine Ohren bestimmt ist. »Dieser Abend! Der bedauernswerte Fino! Ohne Mutter aufgewachsen, vom eigenen Vater abgeschoben, bla, bla, bla, ich kenne die Geschichten, die das Herz meines Vaters erweicht haben. Warum sonst hätte er dich wählen sollen? Welche Heldentat hast du vollbracht, um dir die Rolle des Anführers zu erwerben? Was finden die Frauen nur an dir?«

Ich weiß, worauf Bane anspielt. Im Zweikampf stehen wir beide auf Augenhöhe. Aber mein Schicksal umweht mich wie der Duft verbrannter Kräuter. Die jungen Frauen schreckt das nicht, im Gegenteil. Vielleicht wäre es leichter, wenn ich heute Abend eine von ihnen erwählt hätte. Einen Krieger an ihrer Seite zu haben, bedeutet für die Frauen, dass ihr Ansehen steigt. Und dass sie damit das Anrecht auf eine eigene Hütte erwerben. Noch etwas, was mir Bane neidet. Dabei kann ich mir noch nicht vorstellen, mein Leben, meine Hütte mit einer Frau zu teilen. Als könnte mein Herz nicht im richtigen Rhythmus schlagen. Als wäre es seit dem frühen Tod meiner Mutter eingefroren. Auch wenn mein Los schlussendlich zu meiner Rettung und die Krieger so etwas wie meine neue Familie wurden.

Bane winkt mit der Schale Kräuterwasser vor meinen Augen herum. Er leckt sich mit der Zunge über den Mund. »Ist das dein Trick? Geheimnisvoll wirken, damit das die Frauen noch mehr anstachelt? Wenn du es genau wissen willst, ich halte dich einfach für feige!«

Einen Krieger feige zu nennen, grenzt an die schlimmste Beleidigung. Schräg hinter mir stöhnt nicht nur Inde laut auf. Mein Kopf zuckt kurz zu ihm und ich schüttle ihn andeutungsweise. Mir ist bewusst, was mein Freund gerade denkt. Wehr dich endlich gegen diesen Idioten! Sonst wird er dir weiter das Leben zur Hölle machen! Doch ich wäre nicht gerade heute zum Anführer von unseren Kriegern gemacht worden, wenn mich nicht eine wesentliche Eigenschaft kennzeichnet, die weder Inde noch Bane haben: Besonnenheit. Einer der Gründe, warum Kanoa mich seinem eigenen Sohn vorgezogen hat.

Darum richte ich mich auf meinem Platz auf und werfe Bane einen stechenden Blick zu.

»Du weißt genau, dass ich es mir nicht ausgesucht habe, Bane, weder die Rolle des Anführers noch dass die Frauen meine Aufmerksamkeit suchen. Außerdem solltest du längst begriffen haben, dass mich deine Larina nicht interessiert.«

Bane wettert weiter. »Und was habe ich davon, Fino, kannst du mir das bitte sagen? Larina hat dich am Feuer angeschmachtet, als wärest du der einzige Krieger weit und breit. Mich hingegen würdigt sie weiterhin keines Blickes, egal, wie viele Geschenke ich ihr vor die Hütte lege.«

Ich kann nur erahnen, wie demütigend es für einen Mann sein muss, sein Herz an eine Frau zu verlieren, die ihn nicht erhört. Larina ist mit ihren weit über den Rücken fallenden blonden Haaren und der ungewöhnlichen Zierlichkeit eine Augenweide, keine Frage. Außerdem geht sie sorgsam mit ihrem Wissen um Kräuter und Pflanzen um. Eine interessante Gefährtin, die einem Krieger bestens zur Seite stehen würde.

»Du könntest vielleicht …«

»Ich scheiß auf deinen Rat, Fino!« Bane unterbricht mich barsch und fällt in seine ursprüngliche Rolle zurück. Mich zu verachten, macht es für ihn leichter. Er fährt sich durch sein schwarzes Haar, das ihm strähnig über den Augen hängt.

Natürlich hätte ich es wissen müssen. Kanoas Sohn würde sich eher die rechte Hand abhacken, als von mir Hilfe anzunehmen. Dabei weiß ich mehr über Larina, als mir lieb ist. Sogar mehr als manche ihrer Freundinnen, weil sie sich mir in einem schwachen Moment anvertraut hat.

Es war auf einem meiner Alleingänge in die Berge der Moragen, der mich auf dem Rückweg in die Nähe unserer Vorratshöhlen geführt hatte. Schon von Weitem hatte ich entdeckt, dass sich am Eingang jemand aufhielt, und mich vorsichtig herangeschlichen. Mit vielem hatte ich gerechnet, nur nicht, dort auf eine unserer jungen Frauen zu stoßen. Larina hatte wie eine verkümmerte Pflanze vor der Höhle gesessen, sodass ich sie beim besten Willen nicht ignorieren konnte. Die hellblonden Locken hatten ihre verquollenen Augen nicht verstecken können. Suchend hatte ich mich umgeblickt, jedoch weder andere Frauen noch einen der Wächter, die ihnen als Begleitung zur Seite standen, gesehen.

Ich wusste, dass die Frauen heute von ihrem Besuch bei den Thuns zurückerwartet wurden.

»Was machst du hier?«

Ich hatte meine Überraschung, sie allein anzutreffen, nicht verborgen. Auch war ich mir der unangebrachten Situation bewusst gewesen, denn es gehörte sich nicht, mit einer unvermählten Frau allein zu sein. Es sei denn, ich hätte ein eindeutiges Interesse an ihr. Ich hatte nur hoffen können, dass sie nicht zu viel in meine Freundlichkeit hineindeuten würde.

Als Larina nicht reagiert hatte, hatte ich dennoch nicht davon abgelassen, nach dem Grund ihres Kummers zu fragen.

»War der Handel mit den Thuns nicht zufriedenstellend?«

Sobald unsere jungen Frauen das Kindesalter hinter sich gelassen haben, zählt es zu ihren Aufgaben, die benachbarten Stämme regelmäßig zu besuchen, um den Handel mit seltenen Heilpflanzen, den Salben und Tränken und natürlich mit unserem Kräuterwasser, das bei Zusammenkünften jeder Art gern gereicht wird, voranzutreiben.

Ich hatte einen leisen Seufzer vernommen und abgewartet. Der Weg bis an das Ende des Tals dauert etliche Sonnenläufe und gemeinhin wird die Rückkehr der Frauen von allen Bewohnern freudig erwartet. Alle wollen erfahren, ob der Handel mit den Thuns, dem größten Stamm in unserem Tal, erfolgreich verlaufen ist. Darum hatte ich mich einmal mehr über dieses außergewöhnliche Zusammentreffen gewundert.

Bis Larina mir ihr verweintes Antlitz zugewandt hatte und die blanke Verzweiflung aus jedem ihrer Worte gequollen war.

»Doch, Fino, es gibt keinen Grund zur Klage.«

Ich hatte eine Augenbraue gehoben und allerlei Vermutungen angestellt, was passiert sein konnte. Als Larina erneut in sich zusammengesackt war, war ich in die Knie gegangen. Ich hatte ihre Hände, die auf ihrem Schoß lagen, sanft berührt.

»Was ist dann geschehen, Larina? Du kannst mir vertrauen, ich werde mit niemandem darüber reden, es sei denn, du wünscht es.«

Ein waghalsiger Vorstoß. Als ich ihre zu winzigen Schlitzen verengten Augen bemerkt hatte, hatte ich befürchtet, ihr zu nahe getreten zu sein. Der Schluchzer, der ihrem Mund entwichen war, hatte mich tief getroffen.

»Die Thuns! Ich hasse es, dort hinzugehen!«

Tatsächlich hatte ich im ersten Moment geglaubt, mich zu verhören.

»Die Thuns?« Ich hatte gestutzt, war kurz davor gewesen, sie ob ihres Ausbruchs zu tadeln. »Gehst du nicht schon seit mehr als vier Lebensjahren regelmäßig zu ihnen?«

Mit den Thuns betreiben wir intensiven Handel, denn sie sind mit Abstand der größte Stamm in unserem Tal. Die Nähe zu den Wäldern beschert ihnen einen unbegrenzten Vorrat an Holz und Wild. In der Werkzeugherstellung sind sie uns in vielem voraus. Bei meinem letzten Besuch konnte ich ihre Angelhaken, die sie aus Hirschgeweihen herstellen, bewundern. Niemand im Tal und auch weit darüber hinaus streitet den Thuns ihre führende Rolle ab. Dank ihres Einflusses war es zum großen Friedensschluss unter den Stämmen gekommen. Über ihre Krieger und Anführer werden unzählige Geschichten an den Feuern erzählt.

Beinahe war mir Larinas verzweifelte Mimik entgangen. »Ja«, hatte sie geantwortet. »Aber dieser Pollis …« Sie hatte seinen Namen regelrecht ausgespuckt. »Du hast ihn bestimmt schon gesehen, den Erstgeborenen von Thane, ihrem Stammesältesten. Seit er für die Verhandlungen zuständig ist, da kann ich nicht … ich will nicht mehr …«

Ohne jede Vorwarnung war Larina in Tränen ausgebrochen. Im ersten Moment hatte ich nicht gewusst, wie ich reagieren sollte. Dann hatte ich ihr beruhigend über den Handrücken gestrichen, so wie es meine Mutter früher bei mir gemacht hatte, wenn ich an den strengen Worten meines Vaters beinahe zerbrochen war. Eine der wenigen intensiven Erinnerungen an sie.

»Was willst du nicht mehr?« Ich hatte mir tatsächlich keinen Reim auf ihr Gestotter machen können.

Mittlerweile hatte Larina am ganzen Körper gebebt und die nächsten Worte nur unter Tränen hervorgestoßen. »Er … er will eine Gefälligkeit für unsere Waren von mir.«

Mir war es wie Wasser von den Augen gefallen. Schnell und reißend.

»Pollis!«

Ich hatte Pollis früher nie weiter beachtet, da er drei Lebensjahre jünger war als ich. Andererseits wusste ich, dass ihm schon jetzt der Ruf nachhing, ein Heißsporn und überragender Kämpfer zu sein.

»Ich werde mit Kanoa reden.« Der Gedanke war mir spontan herausgerutscht.

»Nein!«

»Wenn er erfährt, dass du … dass Pollis dich …« Ich hatte gezögert, mir nicht ausmalen wollen, was dieser unverschämte Thuns Larina oder den anderen Frauen angetan haben mochte.

»Fino! Bitte nicht!« In Larinas hübschem Antlitz hatte sich Entsetzen breitgemacht. »Es gehört zu meinen Aufgaben, den Handel zu betreiben. Ich möchte Kanoa und unserem Stamm keinen Anlass geben, unzufrieden mit mir zu sein.«

»Ja, trotzdem …« Ich hatte zu einer weiteren Erwiderung angesetzt, dann allerdings verstanden, dass ich Larinas Wunsch respektieren musste. Trotzdem war mir ein Gedanke gekommen. Ich würde vor Bane eine Andeutung fallen lassen. Wenn er Larina wirklich ein Geschenk machen wollte, das ihr Herz rühren könnte, dann würde ihm gewiss etwas einfallen.

Noch heute ärgere ich mich über meine eigene Naivität! Selbstverständlich hatte ich Larina nach unserer Begegnung bei den Höhlen zurück ins Dorf begleitet und jede Menge fragende Blicke dafür geerntet. Ich, der Krieger ohne Seelenpartnerin, und die zierliche Schönheit an meiner Seite, die sich wieder so weit gefangen hatte, dass man ihr das bloße Entsetzen nicht mehr ansehen konnte. Ich hatte helfen wollen, hatte mich um Larina gesorgt, genau wie um meine Krieger. Ein Krieger hat stets das Wohl des Stammes im Blick, es ist seine Aufgabe, die Bewohner zu beschützen. Ich war nicht dort gewesen, als Larina bei den Thuns gewesen war, aber das Mindeste, das ich hatte tun können, war, ihr meine Unterstützung anzubieten. Gleichwohl sie mich gebeten hatte, Kanoa nichts zu verraten. Es würde nichts ändern.

Warum war ich also nur auf die Idee gekommen, Bane würde auf mich hören? Noch am selben Abend hatte ich im Beisein von Bane und anderen Kriegern von einem Gerücht erzählt, das ich angeblich aufgeschnappt hatte. Bane hatte meine Fürsprache für Larina allerdings in den völlig falschen Hals bekommen. Möglich, dass ihm jemand berichtet hatte, uns zusammen gesehen zu haben. Das Ende vom Lied war, dass er mir damals vorgeworfen hatte, die Frau seines Herzens absichtlich zu umwerben.

»Erst reißt du die Führung an dich, dann nimmst du dir meine Frau«, hatte er mir wütend ins Ohr gezischt, während er so getan hatte, als umarme er mich brüderlich.

Schon die Erinnerung an diesen Zusammenstoß lässt mich jetzt in der Großen Hütte aufseufzen. Ich verschränke die Arme vor meiner Brust. Ein Schutzschild wäre mir lieber. Eines gegen Banes Hass. Ich kann es ihm ansehen. Auf seinen Lippen liegt schon die nächste Beleidigung.

Als ob Inde ahnt, dass ich einen gehörigen Schluck Kräuterwasser brauchen würde, reicht er mir über die Schulter eine der Schalen.

»Es ist sinnlos, sich wegen dem aufzuregen«, flüstert er mir zu. »Und das weißt du genauso gut wie ich. Trink lieber noch einen Schluck und lass dich feiern.«

Mit diesen Worten hebt er die Schale in die Höhe und brüllt über alle Köpfe hinweg: » Auf unseren Kriegeranführer! Auf Fino von den Laxis!«

»Auf Fino von den Laxis!«, schallt es sofort von den Anwesenden zurück.

Ihre Loyalität bringt mich zum Lächeln.

Vergiss Bane! Vergiss Larina! Das ist nicht dein Problem!

Ich drücke die Schultern durch. Denke an die auf mich zukommenden Aufgaben. Schon morgen früh werden die Krieger unter meiner Führung durch unser Tal reiten.

Heute Abend, allein auf ihrem Strohlager, mit einer unbekannten Sehnsucht zwischen ihren Schenkeln, denkt Larina an den Tag zurück, an dem Fino sie vor der Höhle angetroffen hatte. Seit jenem Tag wird ihre heimliche Hoffnung genährt. Von jedem einzelnen Blick auf seine stolze Statur. Von dem Spiel seiner Muskeln, wenn er auf seinem Pferd nach den Zügeln greift. Von den geflüsterten Worten ihrer Freundinnen, welchen Mann sie erwählen würden. Jedes Mal, wenn sie Fino im Dorf begegnet oder ihn von Weitem auf seinem wunderschönen Tier wegreiten sieht, sehnt sie sich nach seiner Nähe. Doch er behandelt sie bis heute nicht anders als zuvor. Höflich, ohne ein Zeichen dessen, dass sie etwas Besonderes verbindet: ein geteiltes Wissen. Und das damit einhergehende Vertrauen. Jetzt, da er ein Kriegeranführer ist, würde sie alles dafür geben, erneut seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Nicht im Traum hatte Larina damals damit gerechnet, Fino allein zu begegnen. Ihm in seine sanften Augen zu sehen, die von einem alles überstrahlenden hellen Blau überzogen sind. Blauer als der Fluss im Licht der untergehenden Sonne. Seine Sorge um sie darin zu lesen, als würde sie ihm etwas bedeuten. Wie hätte sie da nicht am ganzen Körper erzittern sollen? Wäre der Grund, warum er sie vor der Vorratshöhle gefunden hatte, ein anderer gewesen, sie wäre sogleich in die Hütte ihrer Freundinnen geschlichen, hätte ihnen vorgeschwärmt, wie der große Fino sich zu ihr gebückt, die Hände auf ihrem Schoß berührt und sie getröstet hatte. Larinas Herz schlägt schneller, wenn sie nur daran denkt. Ob er sie je verraten hatte? Wäre es nicht Finos Pflicht gewesen, Kanoa von ihrer Beichte zu berichten? Sie stößt einen tiefen Seufzer aus und dreht sich auf die Seite, ihren Blick auf die dünne Holzwand der Hütte gerichtet. Zum Glück kennt niemand das ganze Ausmaß ihrer Qualen.

Alles hatte damit angefangen, dass Pollis ihr Komplimente gemacht hatte. Dann ließ er den Handel zu ihren Gunsten ausfallen. Nur so, dass es niemandem auffiel. Dabei zwinkerte er ihr jedes Mal zu, als teilten sie jetzt ein Geheimnis. Wie hätten ihr seine Aufmerksamkeiten nicht gefallen sollen. Sie ist eine junge Frau, deren Bran nur darauf wartet, für einen Mann zu summen. Natürlich ist sie sich bewusst, dass sie mit ihren langen hellen Haaren, der leicht gebräunten Haut, die ihre Mutter stets mit der Farbe der Rehaugen vergleicht, und der zierlichen Gestalt den jungen Männern in ihrem Dorf gefällt. Dass ausgerechnet der Sohn eines Stammesanführers ihr Beachtung schenkte, hatte ihr geschmeichelt. Sie hatte von Pollis’ Krafttier, dem Wildschwein, gehört. Die Frauen im Dorf flüstern nur darüber, das Wildschwein sei ein Zeichen von großer Manneskraft und einem wilden Trieb. Noch immer schämt sich Larina, dass sie sich davon hat blenden lassen. Dass sie Pollis nicht Einhalt geboten hat, als noch Zeit dazu gewesen war. Denn ihre fehlende Weigerung muss er als ein Zeichen der Zustimmung gedeutet haben. Anders kann sie es sich bis heute nicht erklären, warum er sich ihr mehr und mehr aufdrängte. Bis zu dem Tag, an dem … nein, sie weigert sich, daran zu denken. Lieber ruft sie sich vor Augen, wie stolz Fino heute neben Kanoa gestanden hat, ein wahrlich beeindruckender Kriegeranführer. Und dass es Fino gewesen war, der ihr über den Handrücken gestrichen hatte, ihren Kummer ertragen und sie mit keinem Wort der Verachtung von sich gewiesen hatte. Er, nur er allein, füllt ihre Träume. Heute Nacht wird es schwer sein, Schlaf zu finden. Aber wenn, dann wird sie ihm im Schlaf nah sein.

In dieser Nacht brennen die Feuer noch lange. Die Luft ist mild, die Sterne stehen so deutlich am Himmel, als müsste ich sie nur anstupsen, damit sie herunterfallen. Nachdem sich Kanoa und die anderen Ältesten zurückgezogen haben, kreist die Schale mit dem Kräuterwasser noch etliche Male. Ich sitze zwischen meinen Kriegern, Banes grimmige Miene ignoriere ich geflissentlich. Ich bin froh, dass er sich mit weiteren Gemeinheiten zurückhält. Trotz allem nehme ich mir vor, ein anderes Mal mit ihm über Larina zu sprechen. Ihre nächste Reise zu den benachbarten Stämmen steht bald bevor. Ich kann und will nicht zulassen, dass irgendwer ihr wehtut. Wenn Bane mich nicht unterstützt, muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Das zumindest kann ich für sie tun.

»Schläfst du schon mit offenen Augen?« Rigo, ein Hüne von Mann und mein bester Speerwerfer, reißt mich aus meinen verirrten Gedanken. »Oder träumst du von einer Frau?«

Ich grinse ihn ein wenig verkrampft an, weil ich mich ertappt fühle.

»Die Nacht hat nur noch wenige Stunden, deine Krieger ziehen sich jetzt zurück«, sagt Rigo und neigt seinen Kopf leicht.

Ob ich mich jemals daran gewöhnen werde?

Bisher habe ich Seite an Seite mit den Männern gelebt und geschlafen. Ab heute steht mir eine eigene Hütte zu.

»Du hast recht, Rigo, zu Sonnenaufgang treffen wir uns bei den Pferden.«

Zusammen mit Inde folge ich den anderen wenig später. Die Gemeinschaftshütten der Krieger befinden sich in der Nähe unserer kostbaren Wildpferde, unmittelbar am Dorfrand. Meine neue Hütte steht etwas abseits, direkt unter dem vorspringenden Fels.

»Ich sage dir jetzt schon, dass dir unser Schnarchen fehlen wird!« Inde boxt mich gegen die Brust. Es gefällt ihm, mich aufzuziehen.

Ich weiß, worauf er anspielt. Seit er das Heim seiner Familie verlassen und zu den Kriegern in die Hütte umgezogen ist, beteuert er zwar nach wie vor, wie froh er ist, sich nicht mehr mit seinen beiden Schwestern herumschlagen zu müssen. Doch manchmal glaube ich, er vermisst sie. Ihr Vergnügen, ihn zu necken, ihr Gelächter, genau wie das stille, umsorgende Wesen seiner Mutter. Aber ich bin zu müde, um mir noch Gedanken zu machen, wie es mir wohl ergehen wird. Darum verabschiede ich mich von meinem Freund und nehme mir vor, ihn bei nächster Gelegenheit nach seiner Familie zu fragen. Inde gibt sich nach außen hin hart, ich weiß jedoch um seine verletzliche Seite. Viel zu früh hat er lernen müssen, Verantwortung zu übernehmen und niemals schwach zu sein. Etwas, das wir beide kennen und uns verbindet.

Gedankenversunken suche ich meine neue und ungewohnte Schlafstätte auf. Auf dem Schlafpodest liegen meine Bastmatte und ein dickes Fell. Am Eingang finden sich meine Speere und Bögen, und auf dem Baumstumpf liegt die Kleidung bereit. Ich lege das neue Gewand zu dem Stapel aus Tierfellen, Beinlingen und meiner Alltagsbekleidung. Den Lederbeutel, den ich genau wie jeder Laxis ständig mit mir trage, lege ich neben mich. Er enthält nur wenige Stücke. Eine gebogene Nadel aus Horn, ein Knochenamulett, das meiner Mutter gehört hat, und eine Schnur, die mir beim Angeln genauso wie beim Aufziehen eines neuen Bogens dient.

So aufgewühlt wie ich bin, fällt es mir schwer, den notwendigen Schlaf zu finden. Tatsächlich fehlen mir die Geräusche der anderen Krieger, ihr Schnarchen und Herumwälzen, als hätte Inde genau das heraufbeschworen. Ich stelle mir vor, dass irgendwann eine Frau diesen Platz mit mir teilen wird. Wie intensiv war ich mir heute der Blicke unserer jungen Frauen bewusst gewesen. Auch Larina zählte zu denen, die hinter vorgehaltener Hand mit ihren Freundinnen kicherte und auf mich zeigte. Warum fällt mir die Wahl so schwer? Ist nicht jede auf ihre Art besonders?

Unruhig drehe ich mich auf dem neuen Lager hin und her. Eine von vielen Geschichten, die heute Abend am Feuer erzählt wurden, spukt mir durch den Kopf. Über die Fens, die den Frauen das Recht zusprechen, ihre Lebenspartner selbst zu suchen. Wie es wohl sein würde, von einer Frau auserwählt zu werden und nicht umgekehrt? Ob es sich leichter anfühlen würde? Die Fens sind ein kleiner Stamm, der abgeschieden hinter der höchsten Bergkette der Moragen lebt, mehr als drei beschwerliche Tagesmärsche von uns entfernt. Sie spielen für uns Laxis keine große Rolle. Und dennoch … auf einmal erinnere ich mich, dass ich einmal dort gewesen bin. Einer der wenigen Bildfetzen. Als wäre es gestern gewesen. Wir waren mehrere Tage unterwegs. Nur wir beide, meine Mutter und ich. Den ganzen Weg über hatte sie meine Hand fest in ihrer gehalten und mir Geschichten über die Geister, die auf dem Kamm der Berge wohnen, erzählt. Über eine einsame Fens, die aus purer Verzweiflung ihr Leben in einer Höhle gefristet haben soll, weil ihr Bran für keinen Mann gesummt hat. Ihr Geist soll noch immer dort zu hören sein.

Mich schaudert bei der Vorstellung ein wenig. Ich rolle mich auf die Seite und starre in die Schwärze. Die nächtliche Stille hüllt mich ein, mein Brustkorb hebt und senkt sich schwer, als läge ein ganzer Felsbrocken auf mir. Was ist es, das mich zurückhält? Sollte mich nicht zumindest mein Pflichtgefühl gegenüber dem Stamm dazu führen, endlich eine Frau zu wählen? Worauf warte ich noch? Ich wünschte, ich könnte die Sprache meines klopfenden Herzens verstehen.

Irgendwann muss ich trotz allem eingeschlafen sein. Allerdings werde ich nicht vom ersten Licht des frühen Morgens, sondern von meinem ungestümen Freund geweckt.

2

»Steh auf, du Faulpelz!« Inde strotzt nur so vor Unternehmungsgeist. »Du solltest nicht als Letzter erscheinen.«

Ich kann ein Stöhnen nicht unterdrücken. Wirre Träume haben mich eben noch in ihren Fängen gehabt. Mit dem ersten Augenaufschlag wird mir indes bewusst, dass das frühe Morgenlicht die Zeit zum Aufbruch bedeutet. Eine große Aufgabe wartet auf mich und die Folgen einer langen, unruhigen Nacht sind kein Grund, das Nachtlager länger als nötig zu nutzen.

»Los jetzt«, versucht mich mein Freund zu motivieren. »Noch hängen die fetten Wolken über den Bergen. Es wird Zeit, die Wachen abzulösen. Und unsere Pfade abzureiten, um zu sehen, ob die Wege auch sicher sind.«

»Was soll schon sein, Inde?«, knurre ich, während ich meine Beinlinge anziehe und mir den leichten Umhang überwerfe. »Außer vielleicht einem ausgehungerten Wolf, der unsere Pferde reißen möchte.«

Inde runzelt die Stirn und funkelt mich aus seinen tiefbraunen Augen an. Er mag es nicht, wenn ich ihn nicht ernst nehme. Dabei vertrete ich die Sicht der meisten Krieger. Selbst in den Jahren meiner Ausbildung zum Krieger hat es keinerlei wirkliche Auseinandersetzungen in unseren Tälern gegeben. Wovor also sollen wir uns fürchten?

Die Stämme der Moragen sind lange vor unserer Geburt sesshaft geworden, nutzen das fruchtbare Land rund um den breiten Fluss und tauschen sich mit allem Lebensnotwendigen aus. Schon lange lebt keiner mehr in Angst und Schrecken vor Überfällen oder Raubzügen.

»Ein Feind könnte sehr wohl ausnutzen, dass wir in der vergangenen Nacht gefeiert und wenig Schlaf gefunden haben«, behauptet Inde mit Nachdruck in der Stimme.

Ich verkneife mir ein Grinsen, während ich meinen Speer neben dem Eingang ergreife. »Welcher Feind?«

»Der Feind kann überall lauern«, sagt mein Freund tonlos und folgt mir nach draußen.

Jeder andere hätte über Indes Wahnvorstellung gelacht, doch ich bin sein Freund. Ich weiß, dass er unablässig darunter leidet, dass sein Großvater und sein Vater bei einem Hinterhalt ums Leben gekommen waren. Das war kurz bevor der Große Thane von den Thuns für den bis heute anhaltenden Frieden gesorgt hat. Ein Segen für uns und unsere Stämme. Für Inde dagegen ein Fluch, denn er musste schon als kleiner Junge die Lücke ausfüllen, die die Männer in seiner Familie hinterlassen hatten. Er wusste um die Verantwortung, die fortan auf seinen Schultern lasten würde, da er der Erstgeborene war. Seit ich zurückdenken kann, wollte Inde Krieger werden. Um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Für welchen Feind auch immer.

»Wir werden bereit sein, mein Freund.« Mit dem Versuch, Inde zu besänftigen, erreiche ich genau das Gegenteil.

»Hohle Worte!« Er spuckt auf den Boden und beschleunigt seine Schritte.

Ich atme tief durch. Mit Inde ist es wie mit dem Lauf unseres Flusses. Mal zeigt er sich als sanft dahinfließendes Wasser, nach einem starken Regenguss kann er allerdings schnell zu einem reißenden Strom werden.

Wir nähern uns den Umzäunungen, hinter denen die Pferde stehen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dränge ich mich zwischen die Tiere, klopfe dem einen oder anderen auf die Flanke und spreche leise auf sie ein. Meine Gescheckte begrüßt mich mit einem leisen Schnauben.

Während ein Krieger nach dem anderen zu uns stößt, nimmt der Tag die Farbe von Ziegenmilch an, viel zu hell und gleißend. Ich nicke meinen Leuten zu, kümmere mich dabei weiter um die lange Mähne meines Pferdes.

Plötzlich taucht einer unserer Kundschafter auf. Sein Gang wirkt schleppend. Und seine Haare sehen so zerzaust aus, als hätte er sie sich die halbe Nacht gerauft.

»Was gibt es, Ande?« Ich bin nicht der Einzige, der ihm erwartungsvoll entgegentritt.

Rigo reicht dem Mann eine Schale mit Wasser, damit er sich erfrischen kann, und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Bist die Nacht durchgelaufen, stimmt’s? Ist es so dringlich?«

Ande nickt, er sieht weniger müde als vielmehr bedrückt aus.

»Ist Kanoa schon wach?«, fragt er nervös und scharrt dabei mit den Füßen wie ein Pferd mit seinen Hufen. »Die Thuns kündigen ihren Besuch an«, fährt er fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Am Tag des neuen Mondes wünscht der junge Thuns eine Frau aus unserem Stamm zu erwählen.«

»Pollis!« Der Name entfährt mir in einer Lautstärke, die alle anderen Krieger, die sich mittlerweile um Ande geschart haben, aufsehen lässt. Einer bösen Vorahnung gleich habe ich plötzlich Larinas gequälte Worte im Ohr.

»Aus Thanes Erstgeborenem soll ein guter Krieger geworden sein, auch wenn er noch jung und unerfahren ist«, behauptet Rigo in respektvollem Ton.

»Haben sie nicht genug eigene Frauen?« Inde spricht aus, was ich selbst auch denke.

Ein paar der Männer nicken zustimmend. »Ja, was soll das überhaupt?«, flucht einer von ihnen laut.

»Der hält sich wohl für was Besonderes, dieser Pollis! Ich werde zu meinem Vater gehen.« Banes gereizter Tonfall missfällt mir, auch wenn ich ihm in dem Fall beipflichten muss.

Der erschöpfte Kundschafter zuckt lediglich mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass ich Kanoa die Botschaft übermitteln soll.«

»Na der wird auch nicht gerade erfreut sein!«

Ich sehe die unausgesprochenen Zweifel in Banes Miene. »Dann geh besser mit ihm, Bane. Der Tag ist noch frisch, dennoch wird ihm Kanoa sicher gleich Gehör schenken. Dazu ist die Botschaft zu wichtig.«

Nachdenklich schicke ich die beiden weg. Bane hat zum Glück keine Sekunde gezögert, meinem Vorschlag nachzukommen.

Die Männer stimmen ein lautes Gemurmel an. Sie alle fragen sich genau wie ich, was das zu bedeuten hat. Der letzte Besuch der Thuns ist viele Sonnenläufe her und war rein freundschaftlich gewesen. Dagegen kommen sie jetzt mit einer Forderung. Mein leerer Bauch zieht sich bei dem Gedanken an Pollis zusammen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn näher kennenlernen möchte.

»Was hältst du von der Sache?«, fragt mich Inde, kaum dass wir auf unseren Pferden sitzen und mit den anderen Kriegern Richtung Fluss reiten.

»Du meinst Pollis?«

»Ja.« Inde rümpft die Nase. »Meinst du, es ist der einzige Grund, warum sie ihren Besuch ankündigen?«

Skeptisch schüttle ich den Kopf. »Als ob sie nicht genug eigene Frauen hätten! Und was soll das überhaupt von wegen, er erhebt Anspruch auf eine Laxis? Was versprechen sich die Thuns davon?«

»Keine Ahnung, für mich klingt es nach einem kleinen Machtspielchen. Wer ist jemals auf die Idee gekommen, Forderungen an uns Laxis zu stellen?«

Meine Gescheckte spürt die plötzliche Anspannung. Ich kraule ihren Mähnenkamm, um ihr zu signalisieren, dass es keinen Grund gibt, sich aufzuregen. Inde sieht das allerdings anders.

»Wehe, er will eine meiner Schwestern!«

Seine plötzliche Wut geht einher mit dem Vorwärtsdrang seines Pferdes und er treibt es umso schneller an. Der Wind zerrt an seinen langen hellbraunen Locken, die gerade genauso störrisch aussehen wie das Gemüt meines Freundes.

Nachdem ich ihn im schnellen Galopp eingeholt habe, werfe ich ihm einen mahnenden Blick zu. Ich will lieber einen Krieger mit klarem Verstand an meiner Seite haben als einen Hitzkopf.

»Wir sollten abwarten, was Kanoa dazu sagt. Und uns bis dahin auf unsere Aufgaben konzentrieren.«

Inde reagiert nicht darauf. Sein Schweigen ist lauter als der Wüstenwind. Ich kenne ihn. Er sieht in allem eine Bedrohung. Erst als wir am Fluss von unseren Pferden steigen, wendet er sich mir wieder zu.

»Erinnerst du dich noch an die Geschichte, als ein Fremdling sich mit einer Fens gepaart hat? Er soll es nicht lange bei dem Stamm ausgehalten, die Frau geschwängert und mit einem Mädchen allein zurückgelassen haben. Sie müsste jetzt in unserem Alter sein.«

»Hm, worauf willst du hinaus?«

»Das kann nicht gut gehen, Fino, glaub’s mir. Unsere Stämme sollten sich nicht mischen. Wir werden in unseren Stamm hineingeboren. Und wir sollten in unseren eigenen Dörfern sterben dürfen.« Mein Freund klingt zerknirscht. So als wäre schon längst entschieden, dass eine unserer jungen Frauen ihr Leben bei den Thuns fortsetzen würde.

»Der Mann war von jenseits der Moragen gekommen«, gebe ich zu bedenken. »Vielleicht hat er es darum nicht ausgehalten. Oder die Fens haben ihn verjagt, wer weiß.«

»Träum weiter, Fino!«

Nur kurz erhasche ich einen Blick in Indes feurige Augen, bevor er seinen Hengst in den Fluss treibt. Die Krieger schließen gerade zu uns auf, darum erspare ich mir eine angemessene Erwiderung und führe mein Pferd ebenfalls ins Wasser. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, um auf den glitschigen Steinen nicht auszurutschen. Meine Gescheckte schnaubt und sträubt sich dagegen, den Hang wieder hinaufzugehen. Geradeso wie ich mich sträube, Indes Gedanken weiterzuspinnen. Mein Pferd und ich, wir sind aufeinander eingestimmt wie Donner und Blitz.

Der Tag macht es mir nicht leicht, mich über meine neue Rolle als Kriegeranführer zu freuen. Die kurze Nacht, das viele Kräuterwasser, die seltsame Ankündigung der Thuns, selbst meine Krieger sind schweigsamer als sonst. Und Indes Miene bleibt verkniffen. Sogar, als ich nach langem Zögern seinem Drängen nachgebe und mit den Männern Angriffstaktiken trainiere. Auch wenn ich dieses Vorhaben für überflüssig halte.

Meine Krieger und ich kehren erst zurück, als die Nacht sich mit dunklen Wolkengebilden am Horizont ankündigt. Ich mag diese Zeit des Übergangs, wenn sich das Licht verändert. Denn dann verändert sich alles Leben. Blüten schließen sich, die Winde, die oft durch unser Tal jagen, beruhigen sich, die Tiere werden träger und die Menschen rücken automatisch näher zusammen. Ich überlasse es den anderen, mein Pferd zu versorgen, und schreite mit eiligen Schritten an den vielen Hütten vorbei, vor denen die Frauen sitzen und in ihren Töpfen rühren.

Ich muss zu Kanoa!

Der Gedanke an Pollis’ Besuch hat mich den ganzen Tag nicht ruhen lassen. Schon von Weitem erkenne ich, dass sich zahlreiche Männer am Steinernen Kreis versammelt haben. Kanoa ist leider nicht unter ihnen. Ich zügle meine Unruhe und schöpfe mir eine Schale Getreidesuppe aus dem großen Topf, der über dem Feuer hängt. Ein paar Jungs kichern, als sie mich sehen. Sie strahlen mich mit ihren großen Knopfaugen an, sobald ich ein paar Worte an sie richte. Für sie bin ich ein wichtiges Vorbild. Die jungen Frauen, die das Feuer schüren, zupfen an ihren Umhängen oder schütteln ihre langen Haare, damit ich ihnen meine Aufmerksamkeit schenke. All das bemerke ich, während ich meine Suppe im Stehen schlürfe und mein Bran in Aufruhr ist. Ich finde weder Ruhe noch die Zeit, mich auf einen der Steine zu setzen.

»Ich kann es nicht leiden, wenn sie so tun, als wäre ich nicht anwesend!« Mit diesen Worten stellt sich Inde neben mich. »Du ziehst ihre Blicke auf dich wie das Licht die geflügelten Tiere.«

Auch er hält die verdiente Schale Suppe in der Hand. Rigo und drei andere Krieger gesellen sich ebenfalls zu uns.

»Inde hat recht, wann wirst du endlich die Frauen von ihrem Schmachten erlösen?«, lacht Rigo frech. »Keiner von uns hat eine Chance, solange du dich nicht endlich entscheidest!«

Genau im richtigen Moment werden wir umringt von den Dorfbewohnern, sodass ich eine mögliche Antwort herunterschlucke. Jetzt ist nicht die Zeit für ihre Sticheleien. Die Unruhe unter den Männern ist genau wie meine fast mit den Händen greifbar.

»Wo ist Kanoa?« Ich blicke in die Runde.

»Er berät sich noch immer mit den Ältesten«, erklärt mir einer der Jäger, der neben mir steht. »Ich denke, sie werden gleich kommen. Gut, dass ihr zurück seid.«

Nachdenklich fahre ich mir durch meinen Haarkamm. »Wir haben von der Botschaft gehört, kurz bevor wir losgeritten sind.«

»Hier sind alle in großer Aufruhr«, informiert mich der Jäger weiter. »Die Frauen haben sofort angefangen, neue Stoffe zu weben, und die Jungen haben als Erstes überprüft, ob genügend Kräuterwasser für diesen Anlass da ist.«

»Das sprengt entschieden das Gastrecht«, schimpft jemand aus den hinteren Reihen. »Wann gab es das schon, dass man einen Besuch mit Forderungen verknüpft?«

Mit schwirrt der Kopf von all den Fragen, die auch ich mir den ganzen Tag über gestellt habe und auf die ich keine Antworten finden konnte.

Auf einmal verstummen die Leute um uns herum, Männer wie Frauen. Die Ältesten verlassen die Große Hütte und schreiten hoheitsvoll auf ihre Plätze im Dorfrund. Sämtliche Augen richten sich auf Kanoa, der ihnen mit müden Schritten folgt. Es erschüttert mich zu sehen, dass er trotzdem die Hilfe seines Sohnes ablehnt. Ich war nicht unglücklich darüber, dass uns Bane heute nicht begleitet hat. Die Botschaft über die Ankunft der Thuns erfordert seine Anwesenheit im Dorf. Als Erstgeborener gebührt ihm die Ehre, bei den Beratungen der Ältesten zugegen zu sein. Leider hilft auch das nicht, die Stimmung zwischen Vater und Sohn zu verbessern. Im Moment sieht Bane aus, als würde er am liebsten den Nächstbesten zum Kampf herausfordern. Als er und Kanoa ihren Platz im Steinernen Kreis eingenommen haben, räuspert sich sein Vater.

»Männer und Frauen der Laxis«, beginnt unser Stammesführer mit entschlossener Miene. »Hört, was wir entschieden haben: Wir werden dem Wunsch des Pollis, Sohn des Thane, nicht im Wege stehen. Einen Stammesstreit heraufzubeschwören ist nicht förderlich für den so lange anhaltenden Frieden in den Moragen. Pollis ist ein kräftiger junger Krieger, man berichtete mir sogar, dass er der beste im ganzen Tal sei. Warum sollten wir ihm eine Frau unseres Stammes verwehren? Wir denken, dass dies auch der Beginn einer neuen Beziehung unter allen Stämmen sein kann. Starke Männer und fruchtbare Frauen sichern den Fortbestand aller Bewohner Arasiens.«

Ich sehe, wie Bane bei jedem seiner Worte zusammenzuckt, als wären sie so scharf wie Messerstiche. Warum hebt Kanoa seinen eigenen Sohn niemals auf solch ein Podest und lobt ihn? Warum zählen stets die anderen Krieger zu denjenigen, die die Trophäen erhalten? Wenn ich nur wüsste, was zwischen den beiden geschehen ist, dass Bane sich wie ein räudiger Hund vorkommen muss. Fast könnte er mir leidtun. Du bist zu gut für diese Welt!, höre ich die Stimme meines Freundes im Ohr, obwohl er ein ganzes Stück von mir entfernt sitzt.

Wegen meiner Grübeleien bemerke ich erst jetzt, dass immer mehr Männer nicken und zur Zustimmung ihre Faust auf die Brust schlagen. Ja, Kanoa hat weise gesprochen. Selbst mich hat er beinahe überzeugt. Wäre da nicht dieser leise Zweifel gegenüber Pollis, den Larina ungeahnt in mir gesät hat. Allein wenn ich an das Zittern denke, das durch ihren zierlichen Körper gegangen war, die Qual in ihren Augen, als sie seinen Namen ausgesprochen hatte. Ich kann nur hoffen, dass Pollis sich für eine andere Frau entscheiden wird. Um ihrer willen, aber, und dabei richte ich meinen Blick erneut auf Bane, auch um Banes willen. Aus einem mir nicht erklärbaren Grund wünsche ich ihm einen Funken Glück.

3

Das Halblicht lichtet sich. Nur was sie sieht, lässt sie schaudern. Hat der neue Kriegeranführer bereits seine größte Herausforderung vor sich, kaum dass er gewählt wurde? Mit Schrecken erkennt sie, was die Seherin verkündet hat: Die Zeit des Großen Friedens bröckelt wie loses Gestein vom Gipfel. Kaino, der Kriegsgott, wendet sich gegen die Stämme Arasiens. Und es scheint, dass er sein Werkzeug bereits auserkoren hat. Männlich und kraftvoll ist der Sohn des Thane. Mit Sorge beobachtet sie ihn durch den Schleier. Was führt er im Schilde? Sie erkennt auf seiner Brust das Wildschwein, ein ungestümes Kriegszeichen. Ja, er ist leidenschaftlich in dem, was er kann, der Krieger der Thuns. Trotzdem ist er nicht der, den zu sehen sie sich sehnt. Ihr Bran rauscht auf den Schwingen eines Vogels über die Bergketten, sucht nach dem neuen Anführer, sie muss ihn warnen … ihr Herz bangt um die Völker hinter den Moragen, sie sieht Blut, das vergossen wird, hört die Schreie der Menschen, der Blick verschleiert sich … mögen die Thuns nur niemals das Land für sich allein beanspruchen, denn wehe dem, der sich ihnen und dem Sohn des Thane in den Weg stellt.

In dieser Nacht wache ich schweißgebadet auf. Obwohl ich die Augen weit aufreiße und mir sicher bin, wach zu sein, sehe ich Larina in einem blutgetränkten Hochzeitsgewand vor mir. Ich schlage die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.

Verwirrt und müde quäle ich mich von meinem Lager. In Momenten wie diesem würde ich alles dafür geben, um nicht allein in meiner Hütte sein zu müssen. Ich würde liebend gern das nächtliche Geschnarche meiner mit Kräuterwasser abgefüllten Krieger dafür eintauschen. Stattdessen bleibt mir nichts anderes übrig, als am Eingang zu sitzen, zu dem dunklen Zelt voller winziger heller Punkte über mir zu blicken und das Ende der Nacht herbeizusehnen. Viel zu sehr fürchte ich mich vor der Wiederkehr des Traumes, als dass ich mich noch einmal auf meine Matte legen würde. Mit gekreuzten Beinen und in meinen Fellumhang gehüllt denke ich darüber nach, welche Aufgaben mir bevorstehen, um die Wege im Tal zu sichern, damit die Thuns ohne Zwischenfälle zu uns reiten können. Das Gastrecht erwartet von uns einen sicheren Empfang, gut gefüllte Kräuterwasserkelche und ausreichend Fleisch von frisch erlegtem Wild, das über dem Feuer aufgespießt ist.

Der letzte Besuch der Thuns fand zu Ehren von Kanoas Vater Brom statt, dem größten Seher ganz Arasiens, der in zahlreichen Liedern und Geschichten weiterlebt. Er war es auch, der kurz vor seinem Tod den Frieden vorhergesehen hat. Einen Frieden, den Thane von den Thuns herbeigeführt hat.