Dreams of Sand - Marion Hübinger - E-Book

Dreams of Sand E-Book

Marion Hübinger

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Beschreibung

»Das ist kein Traum.« Meine Worte verloren sich in der heranbrechenden Dunkelheit. »Nein.« Ich glaubte das leise Spötteln in Carlos Stimme herauszuhören. »Es ist auch keine Geschichte.« Mateja ist am Boden zerstört. Ihr langjähriger Freund beendet überraschend die Beziehung und schmeißt die gemeinsamen Zukunftspläne nach dem Abitur über Bord. Ein Plan B muss her. Spontan bucht sie eine vierwöchige Sprachreise nach Barcelona. Dort erweist sich ihr Sprachlehrer Carlos als perfekter Stadtführer und bekannter spanischer Autor. Doch was geschieht, wenn du dich in den attraktiven Autor von Liebesromanen verliebst, er jedoch nicht an Happy Ends glaubt? Als Matejas Ex überraschend auftaucht, ist das Chaos vorprogrammiert … Ein Roman über einen folgenreichen Sommer mit Sonne, Meer, Salsa am Strand und ein echtes Gefühlskarussell.

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Die Autorin

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

06/2023 1. Auflage

 

Dreams of Sand – Marion Hübinger

 

© by Marion Hübinger

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

Umschlaggestaltung: © 2022 by Magicalcover

Lektorat: Sabrina Bomke

Korrektorat: Hanna Seiler

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat /Magicalcover

 

 

ISBN 978-3-949640-51-3

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

MARION HÜBINGER

 

 

 

 

Dreams of Sand

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Romance

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Familie

Mit euch werden Träume wahr

 

Kapitel 1

 

 

Ihr Leben machte gerade eine Kehrtwendung um 180 Grad. Als sie ihn sah, japste sie förmlich nach Luft. Ein Mann von einem anderen Stern. Allerdings war sie die Einzige, die ihn anstarrte, als wäre er vom Himmel gefallen. Direkt vor ihre Füße. Oder sollte sie besser sagen, direkt in Zimmer 204 des Physikcampus.

[Auszug aus „Ein letztes Mal au revoir“ von Carlos Miguel Alvaro]

 

Es fühlte sich an wie das Ende. Was es auch war. Das Ende einer Beziehung, von der ich geglaubt hatte, dass sie bis in alle Ewigkeiten halten würde. Zumindest bis zum Abschluss meiner Schullaufbahn am Lorenzgymnasium. Geschlagene drei Jahre und etwas mehr als fünf Monate hatte es Tim und mich nur im Doppelpack gegeben. Was sich unglaublich gut angefühlt hatte. Dazu unsere gemeinsamen Projekte für die Zeit nach dem Abitur, die seit einer Ewigkeit geplant waren. Aus und vorbei.

»Ich bin nicht gekränkt!«

Greta saß mir in unserer Lieblingseisdiele gegenüber und legte ihren Kopf schief. Ich beobachtete, wie ihr Pistazieneis an der Waffel heruntertropfte und bedachte sie mit einem trotzigen Blick.

»Ich an deiner Stelle wäre es.« Hartnäckig sein war eins von vielen Dingen, die Greta bestens konnte. Darum wedelte ich betont beiläufig mit der Hand herum, um ihr klar zu machen, was ich davon hielt. »Es gibt Schlimmeres. Beispielsweise das beängstigend schnelle Tauen der Permafrostböden in der Arktis oder das Schmetterlingssterben in Europa.«

»Lenk nicht ab, Mateja. Tim ist und bleibt ein Idiot.«

»Das hatten wir schon, Greta. Ich bin mit dem Thema durch.«

Meine beste Freundin fischte ein Taschentuch aus ihrem Daypack und wischte sich die eisverschmierten Finger ab. »Und jetzt?«

»Was und jetzt?«

»Na, wie geht es weiter? Die Karibik, du weißt schon ...«

»Das kannst du vergessen!« Ich spürte, wie die Wut in mir hochkochte. Hastig entwirrte ich meinen halbherzigen Dutt und fuhr mir durch mein goldbraunes Haar, das mir in sanften Wellen über die Schulter fiel. Offenbar war ich längst nicht so weit, dass mich ein Gespräch über meinen Exfreund und unsere gemeinsamen Urlaubspläne nicht aus dem Konzept brachte. Dabei hatte ich mir in den letzten Tagen immer nur das eine Mantra vorgesagt: »Er ist es nicht wert, ... er ist es nicht wert ... wegen Tim werde ich keinesfalls zusammenbrechen.« Obgleich er mich überrumpelt hatte, als er sich von mir trennte. Einfach so. Kaum dass wir Ende Juni unsere Abizeugnisse in der Tasche hatten.

»Du hast dich doch so auf die Reise gefreut«, sagte Greta. Sie zog die Knie zu sich und sah mich an, als wäre sie diejenige, die gerade abserviert worden wäre. Feuchte Augen. Schmollmund. So was in der Art.

»Wo denkst du hin, ich werde sie stornieren!«

»Echt jetzt?«

»Wenn du willst ...?« Ich hielt ihr imaginäre Tickets vor das Gesicht. »Du kannst jederzeit für mich einspringen.«

Greta seufzte. »Du weißt, dass ich nichts lieber täte. Raus aus dem Job in der Kanzlei, wo ich seit gefühlten Wochen nur Akten im Keller einordnen muss.«

»Du bist echt arm dran«, sagte ich und tat so, als würde ich ihr eine große Portion Mitleid schenken. Dabei war Greta mit ihren zwanzig Jahren ein wahrer Glückspilz. Schon im zweiten Semester Jura hatte sie einen Studentenjob in einer renommierten Kanzlei ergattert. Von so was konnte ich nur träumen. Nicht nur, dass ich ein Jahr länger als geplant für mein Abi gebraucht hatte, mein Notendurchschnitt gab auch nicht wirklich viel her. Außer den drei Wochen mit Tim in der Dominikanischen Republik waren nicht viele Pläne am Start.

»Wenn es dich tröstet, man hätte die Flüge eh nicht auf jemand anderen umschreiben können.« Ich versuchte es mit einer Portion Zuversicht in der Stimme, um zu überspielen, dass ich wegen dieses Idioten nächtelang durchgeheult hatte.

»Du musst verrückt sein, dir das entgehen zu lassen. Sonne, Meer, weiße Strände, Palmen, mit einem Cocktail im Pool ...«

»Haha, sehr witzig.« Die Reise, die ich mit Tim in akribischer Feinarbeit geplant hatte, allein zu machen, war nie zur Debatte gestanden. Jeder Schritt auf dieser wunderbaren Insel würde mich daran erinnern, wie er mir aus heiterem Himmel erklärt hatte, dass es mit uns aus wäre. Ich kaute auf der Unterlippe herum. Ich sollte sie wirklich absagen, oder wartete ich noch auf ein Wunder?

»Ich meine es ernst, Mateja. Such dir einen heißen Lover, der dich über deinen Ex hinwegtröstet.«

»Im Leben nicht!« Ich steckte den letzten Zipfel meiner Eiswaffel in den Mund.

Typisch Greta. Bei ihren Beziehungen dachte sie nicht in Jahren, sondern in Monaten. Normalerweise kam mir dann die Aufgabe zu, sie zu trösten. Greta hasste es, allein in ihrem Bett zu schlafen. Folglich verbrachte ich so manche Nacht bei ihr. Was mir wiederum gelegen kam, denn so konnte ich der neuen Freundin meines Vaters aus dem Weg gehen. Gerade jetzt, wo Tims Zuhause Sperrzone geworden war.

Nicht, dass ich wirklich etwas gegen Louisa hatte, aber seit sie vor einem halben Jahr bei uns eingezogen war, war das Bad ständig besetzt und meine Schokoladenvorräte schneller aufgebraucht, als ich für Nachschub sorgen konnte. Erklärte sich das von selbst? Louisa könnte meine große Schwester sein. Und mein Vater benahm sich auf einmal wie ein verliebter Gockel. Er zog Klamotten an, die er hätte tragen können, als er gut zehn Jahre jünger war. Beispielsweise schwarze T-Shirts mit Bikerjacke oder grässliche hellblaue Anzüge. Tim hatte sich jedes Mal kaputtgelacht, wenn Dad in sein Sichtfeld gekommen war.

»Weißt du, was das Schlimmste daran ist?«

»Was meinst du?«

»Ich ...«, setzte ich leise an, »kann machen, was ich will, aber Tim schleicht sich ständig in meinen Kopf.«

Jetzt beugte sich Greta über den kleinen Aluminiumtisch, auf dem ein hässlicher Aschenbecher stand, und griff nach meiner Hand. »Du hast selbst gesagt, dass es vorbei ist«, sie senkte ihre Stimme, »dann lass es auch vorbei sein. Es liegt ganz bei dir.«

Ich stöhnte. »Du hast ja recht, aber es sagt sich nun mal leichter als ...«

Statt zu antworten, drückte sie meine Hand. »Ich muss jetzt los, die Pause ist um.«

»Na dann ...« Schwungvoll erhob ich mich von meinem Stuhl und schob ihn schabend nach hinten.

Meine Freundin sah mich fragend an.

»Alles gut, geh nur. Ich setze mich in die Bibliothek und recherchiere mal, was ich so in den nächsten Wochen und Monaten anstellen kann.«

»Mein Angebot steht, Mateja, oder besser das meiner Tante, du kannst jederzeit bei ihr im Yogastudio jobben.«

»Ich weiß, danke.«

 

In der Bibliothek war um die Mittagszeit nicht viel los. Später würden die Schüler aus dem benachbarten Gymnasium einfallen und die meisten Tische zum Lernen besetzen. Ich wusste das, weil ich bis vor Kurzem selbst zu ihnen gehört hatte. Inzwischen lagen die Abiturprüfungen über drei Wochen zurück, und ich konnte mir schon jetzt nicht mehr vorstellen, jeden Tag bis in die Nacht hinein lernen zu müssen. Das war zum Glück Schnee von gestern.

Ich setzte mich an einen freien Platz im hinteren Bereich der Bibliothek. Von dort konnte ich auf den kleinen Park, der im Innenhof des mehrstöckigen Gebäudes angelegt worden war, blicken. Vorsichtshalber nahm ich gleich einen ganzen Stapel Bücher über Berufswahl, Studiengänge und Auslandsaufenthalte mit. Mein Vorsatz, dieses Thema ernster anzugehen, stand seit heute Morgen fest. Nicht ganz freiwillig, da mein Dad es mal wieder geschafft hatte, ein Tür-und-Angel-Gespräch mit mir zu führen. Eines, bei dem mir klar wurde, dass es ihm unangenehm war, er aber seinen Vaterpflichten nachkommen wollte. Er hatte schlicht zu wenig Übung in dieser Rolle. Darum behandelte er mich auch nicht wie seine neunzehnjährige Tochter, sondern eher wie das kleine Mädchen, das er einmal gut gekannt hatte – bevor er ausgezogen war. Dass wir wieder zusammenlebten, hatte andere Gründe. Gründe, die zu einer schweren und düsteren Zeit in meinem Leben zählten. Schließlich war ich nicht freiwillig mit sechszehn Halbwaise geworden. Was für eine Zukunft sich wohl meine Mum für mich gewünscht hätte?

Energisch zog ich das erste Buch vom Stapel und seufzte. Berufswahl und Erfolg im Studium – mach den Test. In der Schule hatten wir bereits zwei Berufstests mitgemacht. Jedes Mal war nichts anderes herausgekommen, als dass ich gut in Sprachen war – was ich auch ohne Test längst wusste – und besonders kommunikativ. Brachte mich das jetzt weiter? Gelangweilt blätterte ich in dem Buch, bis ich vor lauter Berufen, von denen ich noch nicht einmal gehört hatte, erschöpft war. Ergebnislos klappte ich das Buch zu und griff nach dem nächsten. Werde das, was zu dir passt – vom Traum zum Beruf. Das klang doch schon besser. Trotzdem verhalf mir der Inhalt nicht unbedingt zu einer Entscheidung. Viel zu verwirrend waren die vielen Möglichkeiten, die sich anboten, wenn man irgendetwas mit Sprache machen wollte: Sprachwissenschaften, Sprachkunst, antike Sprachen, Dolmetscher ... ich prüfte im Handy, ob es tatsächlich wahr sein konnte, dass es allein 605 Studiengänge zum Thema Sprache gab, und studycheck gab mir recht.

Angeödet lehnte ich mich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Wie sollte ich da jemals durchsteigen? Wie machten das die anderen? Daumenkino und blind mit dem Finger auf eine Seite tippen? Spaßeshalber versuchte ich es und landete bei Friesisch. Nicht euer Ernst, Leute, man konnte tatsächlich einen Bachelor in Frisistik machen.

Zwei Stunden später war ich nicht schlauer. Trotzdem beschloss ich, genug Forschung betrieben zu haben, um Dad zufriedenzustellen. Ich vertraute meinem gesunden Optimismus, dass sich irgendetwas auftun würde. Jobs gab es genug. Im schlimmsten Fall würde ich das Angebot von Gretas Tante annehmen, auch wenn sie mir ein bisschen zu abgehoben war mit ihrem Harmonium, auf dem sie Mantragesänge übte, den Engelskarten und der immer guten Laune. So etwas war nicht normal. Definitiv nicht.

Auf dem Weg zu meinem Fahrrad kam ich am Discounter vorbei, ignorierte jedoch meinen knurrenden Magen, da ich darauf spekulierte, dass Dad unseren Sushi-Abend nicht vergessen würde. Jeden Mittwoch brachte er von unterwegs eine Auswahl vom Japaner aus der Stadt mit. Eine kleine Tradition, die uns beiden heilig war und die mir ein Gefühl der Genugtuung gab, denn Louisa mochte kein Sushi. Kaum verwunderlich, dass sie sich ausgerechnet am Mittwoch regelmäßig mit ihren Freundinnen traf. Ich grinste und dachte an einen Spruch, der an der Pinnwand in meinem Zimmer hing. ‚Vorfreude ist wie freuen, nur krasser‘.

Warum musste ich ausgerechnet in dem Moment am Reisebüro vorbeilaufen, als Tim mit seinen beiden Kumpels dieses verließ? Ich hätte die andere Seite des Platzes wählen können, aber nein, ich lief ihm quasi in die Arme.

»Ähm, hey Mateja.«

Mein Herz schlug kräftig gegen die Brust. In Sekundenschnelle erfasste ich, dass Karl und Ernesto etwas in der Hand hielten, das verdächtig nach Reisetickets aussah. Zugegeben, es hätte mich nichts angehen sollen, doch in Kombination mit Tims betretenem Gesicht wurde ich neugierig.

»Hi Tim, was machst du denn hier?«

»Ich ... wir haben ...«, stammelte er.

»Alter, wir gehen dann schon mal vor«, rettete ihn Karl aus dieser peinlichen Nummer. Er klopfte Tim auf die Schulter, riss dabei die Augenbrauen hoch, was alles und nichts heißen konnte. Ernesto folgte ihm wie ein Schatten und nickte mir im Vorbeigehen zu.

Erst als sie weg waren, atmete ich laut aus. In mir brodelte es gefährlich.

»Das Reisebüro, Tim«, knüpfte ich da an, wo wir unterbrochen wurden. »Hast du deinen Flug schon storniert?«

Tim kratzte sich am Hinterkopf. Das tat er nur, wenn er um eine Antwort verlegen war.

»Tim, was ist los?«

An der Stelle hätte ich es gut sein lassen müssen. Dann wäre mein Abend noch immer einer, auf den ich mich freuen würde. Mit Dad Sushi essen und später Zeitung lesen, dazu ein Glas Wein ...

»Ja, also ... ich meine, nein, ich habe den Flug nicht storniert, Mateja. Karl und Ernesto fliegen mit.«

Peng. Der Satz traf mich schneller, als ein Pistolenschuss die Zielscheibe erreichen konnte. Mitten ins Herz. Genau an die Stelle, an der es für Tim geschlagen hatte. Falsch. Immer noch schlug. Einen anderen Grund, warum es mir den Boden förmlich unter den Füßen wegzog, gab es nicht.

»Es ist nicht so, wie du denkst, Mateja«, ergänzte Tim eilig und trat einen Schritt auf mich zu. Groß, hellbrauner Wuschelkopf, grüne Augen, die irritierend schön waren.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Warum konnte Tim nicht in einem anderen Reisebüro ...

»Was denke ich denn?« Die Eiseskälte in meinem Ton gelang mir gut.

»Na ja, du weißt, wie sehr ich dorthin wollte. Es ist ein Traum von mir und ...«

»Den ich mit dir gemeinsam verwirklichen wollte, schon vergessen?«

»Nein, Mateja. Ich habe dir gesagt, dass es mir leidtut. Das war ernst gemeint. Es ist nur so, dass ich einfach das Gefühl habe, erst mal was ausprobieren zu müssen. Und unabhängig sein möchte.«

Ich schüttelte mich, als könnte ich so seine Worte ungesagt machen. »Die große Freiheit – hat dir das Karl eingeredet?«

»Nein, er hat damit nichts zu tun!«

Die Heftigkeit, mit der Tim glaubte, sich verteidigen zu müssen, war mir Antwort genug. Tatsächlich kannte ich Karl besser, als mir lieb war. Darum wusste ich auch, dass er durchaus Einfluss auf Tim ausüben konnte. Wenn auch derart subtil, dass es erst in der Summe des Ganzen – was alles geschehen war, seit er zu unserem Freundeskreis gestoßen war – Sinn machte. Von Anfang an war Karl ein Typ, der keine wirklichen Grenzen kannte. Zumindest nicht von zu Hause. Einem Zuhause, in dem der Vater mehr trank, als gut für ihn war und aus seinen Söhnen harte Kerle machen wollte. Wie Ernesto ins Bild passte, hatte ich bis heute nicht begriffen. Letztlich sollte es mir herzlich egal sein, mit wem Tim jetzt abhing. Dass er allerdings die beiden - ohne mit der Wimper zu zucken - gegen mich austauschte, setzte sich wie ein Geschwür in meinem Kopf fest. Freiheit! Ich hatte meinen Freund also in seiner Unabhängigkeit gebremst.

»Weißt du was, du kannst mich mal!« Ohne Tim eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ ich ihn stehen und stapfte entschlossen davon. Offensichtlich hatte er uns beide wie auf Knopfdruck abgehakt. Darum würde ich es ihm gleichtun. Gleich heute Abend würde ich den erstbesten Urlaub buchen und – das nahm ich mir fest vor – diesem Mistkerl keine müde Träne mehr nachweinen.

 

Kapitel 2

 

 

Die Tür schlug gegen die Wand. Annelie zuckte zusammen. In dem Raum standen etwa ein Dutzend Studenten. Dazu dieser überaus attraktive, wenn nicht sogar überirdisch schöne Mann, der lässig an einem großen Schreibtisch lehnte. Zu seinen Füßen lag ein großer Hund mit glattem, rötlichem Fell.

»Ah, mit wem haben wir das Vergnügen?«

Sie errötete. Derart im Mittelpunkt zu stehen, machte sie nervös.

»Annelie Ferber, bitte entschuldigen Sie, ich bin davon ausgegangen ... in den Unterlagen stand, dass ...«

»Alles bestens, du kommst genau richtig. Ich bin übrigens Jean Collier, Professor Leithens Assistent. Bitte nenn mich einfach Jean. Wir duzen uns alle, wenn es dir recht ist, Annelie?«

Auf dem Gesicht des Mannes tauchte ein Lächeln auf, eines, das eher unkontrolliert aussah. Der Mund zu weit geöffnet, die Gesichtsmuskeln noch immer locker. Niemand lachte so. Niemand außer ... Jean.

[Auszug aus „Ein letztes Mal au revoir“ von Carlos Miguel Alvaro]

 

Meine Finger schwebten über der Okay-Taste. Sollte ich einfach so ...? Ich nahm einen tiefen Atemzug und dann noch einen. Warum nicht? Warum sollte ich mich nicht in einen Flieger nach Barcelona setzen und dort an einem vierwöchigen Sprachkurs teilnehmen? Dad würde es gefallen. Er hatte sich beim Sushi-Essen sichtlich zurückgehalten, aber es wäre in seinen Augen wahrscheinlich besser als keine Pläne haben. Das Angebot klang verlockend. Ich müsste mich um nichts kümmern. Ein absolutes last minute Paket. Vielleicht, weil jemand kurzfristig abgesprungen war. Tatsächlich sah ich es als ein Zeichen an, dass ausgerechnet diese Anzeige aufgepoppt war, als ich vor dem Schlafengehen noch mit Greta gechattet hatte. Normalerweise achtete ich nie auf die Werbung. An mir gingen Millionen Ausgaben für die Verführung potenzieller Kunden verloren, weil ich jegliche Werbeanzeigen ignorieren konnte. Fast so, als wären sie blinde Flecken.

In dem Moment, als ich auf Buchen drückte, schnaufte ich einmal kräftig durch. Wann in den letzten Jahren war ich schon unvernünftig gewesen? Wann hatte ich nur an mich selbst gedacht? Viel zu selten, würde jetzt Greta sagen, wenn sie mich hören könnte. In ihren Augen hatte ich mich sowieso zu früh auf Tim oder besser gesagt, auf die enge Beziehung mit Tim eingelassen. Du hast dir deine Federn stutzen lassen, ehrlich Mateja. Die Stimme meiner Freundin klang immer noch in meinen Ohren. Wenn sie nicht gewesen wäre und mich ab und zu herausgerissen hätte, wäre ich bald ohne eigene Freunde dagestanden.

Freunde? Meine Freunde waren auch Tims Freunde gewesen. Im Großen und Ganzen zumindest. Nur Greta konnte Tim nie wirklich leiden. Sobald die beiden in einem Raum zusammengekommen waren, hatte die Luft vor Spannung geknistert. So heftig, dass ich es kaum ausgehalten hatte. Jedes Wort hatte das Falsche sein können, das eine wilde Diskussion auslöste. Eine, die ich am liebsten nie mit anhören wollte. Meine Hoffnung, Greta und Tim würden sich wenigstens mir zuliebe zusammenreißen, musste ich irgendwann aufgeben. Ich und meine Harmoniesucht, sie machte mir das Leben nicht unbedingt leichter. In den meisten Fällen rollte Greta mit den Augen, wenn sie sah, wie ich darunter litt und am Ende einen Rückzieher machte. Tim hingegen beharrte auf seiner Meinung – Greta wäre streitsüchtig und dass sie es immer darauf ankommen ließe, ihn zu reizen. Damit war für ihn alles gesagt. Idiot!

Ich seufzte. Noch immer zeigte der Bildschirm die Seite an, die mir freundlicherweise mitteilte, dass die Buchung erfolgreich gewesen war. Vier Wochen Sprachkurs, Barcelona, weit weg von allem, was an Tim erinnerte. Was den nächsten Seufzer bei mir hervorrief.

Am besten, ich stornierte gleich noch den Flug in die Karibik. Damit auch das erledigt war. In ein paar Tagen würde ich schließlich schon weg sein. Dann sollte mir endlich auch egal sein, ob Tim zusammen mit Karl und Ernesto den Trip seines Lebens machte. Dann wäre ich längst in meinem eigenen kleinen Abenteuer.

Wenige Klicks später war der Inhalt meines bisherigen Lebens umgestülpt, Tim gedanklich in die Tonne geworfen und ich war bereit, mich neu zu erfinden. Greta wäre stolz auf mich. Neugierig rief ich ein paar Bilder von Barcelona auf, surfte auf einigen Seiten über Highlights der Stadt und den besten Tipps für das spanische Nachtleben.

Ein Reiseblog gefiel mir auf den ersten Blick gut, weshalb ich spontan ein Lesezeichen setzte. Auf einmal war ich zu müde, um die Beiträge zu lesen. Oder besser gesagt erschöpft von der heutigen Gefühlsachterbahn. Darum stellte ich den Laptop auf den Boden neben den halb ausgetrunkenen Tee in der rosa XXL-Tasse, die mir Louisa zu Weihnachten geschenkt hatte. ‚Manchmal bin ich eine Fee‘, ich wusste bis heute nicht, ob sie mich mit dem Spruch ärgern wollte oder einfach keinen Geschmack besaß.

Kraftlos ließ ich mich in meine Kissen fallen und lockerte meine Kiefer. Erst jetzt merkte ich, wie angespannt ich die ganze Zeit war.

Das musste sich auf jeden Fall ändern! Wenn ich erst in Spanien wäre ...

 

 

***

 

 

»Dass du mir ja nicht vergisst, mich jeden Abend anzurufen!«

»Ja, Greta.«

»Und ich will Fotos sehen, jede Menge Fotos! Ach, ...« Greta schloss mich ein weiteres Mal in ihre Arme, »... du machst eindeutig das Richtige!«

Tat ich das wirklich? In den vergangenen fünf Tagen stellte ich mir diese Frage mehr als ein Dutzend Mal. Ich allein. Ich, ohne Tim. Schon der bloße Gedanke raubte mir den Atem. Noch bis heute Früh kämpfte ich mit meinen Zweifeln, genährt von der Panik über meinen eigenen Mut. Der Surfurlaub auf Fuerteventura, Inselhopping in Griechenland, die Tour nach Amsterdam zu meinem achtzehnten Geburtstag, die im wahrsten Sinne ins Wasser gefallen war, weil es zehn Tage geregnet und gestürmt hatte. So viele interessante Museen gab es selbst in Amsterdam nicht, um sich die Zeit zu vertreiben. Statt der romantischen Grachtenfahrt und dem Plan, die Stadt mit dem Rad zu erobern, hatten Tim und ich uns gegenseitig genervt. Trotzdem, wir waren immer zu zweit.

Greta und ich erreichten die Absperrung zur Personen- und Handgepäckkontrolle. Nervös nestelte ich an meiner Tasche herum. Hatte ich auch wirklich alles eingepackt? Dass Greta es sich nicht hatte nehmen lassen, mich zum Flughafen zu begleiten – was immerhin eine einstündige Fahrt mit dem Zug bedeutete – machte es so kurz vor den Glastüren nicht leichter. Den entscheidenden Schritt musste ich allein gehen.

»Auf dich, Mateja!« Greta hob ihre Wasserflasche und prostete mir zu.

Zügig trank ich meine leer und stopfte sie in meine liebste Umhängetasche im Patchwork Stil. Sie stammte von einem Basar auf einem Festival und begleitete mich überall hin.

»Besser, ich geh dann mal, vielleicht verlegen sie noch das Gate oder das Boarden beginnt schon früher.« Ich hielt die Riemen der Tasche krampfhaft fest.

»Quatsch! Hast du schon mal was davon gehört, dass ein Flugzeug früher abfliegt? Das Gegenteil ist wohl eher der Fall.«

»Hast ja recht«, gestand ich kleinlaut. »Mir wird nur immer flauer im Magen. So langsam werde ich echt nervös.«

»Das wird schon«, sagte Greta und strich mir über den Arm.

»Ich weiß.«

»Du schreibst mir gleich, sobald du gelandet bist, versprochen?«

Jetzt musste ich grinsen. »Du klingst wie mein Vater!«

»Ist mir egal, ich meine es ernst.« Greta gab mir einen Schubs Richtung Absperrband. »Und jetzt ab mit dir!«

»Bis in vier Wochen.«

»Ich bin schon gespannt auf viele tolle Bilder. Und denk daran ...«

Abwehrend hob ich die Hand. »Ja klar! Jeden Abend anrufen!«

Nach einer letzten Umarmung schloss ich mich den Wartenden in der Schlange an, fischte nach meinem Ausweis und winkte Greta mit einem zuversichtlichen Lachen zu. Mein Herz klopfte dagegen wie wild. Außer einem Motorschaden am Flugzeug konnte mich jetzt nichts mehr aufhalten.

 

 

***

 

 

Barcelona überwältigte mich vom ersten Augenblick an. Die Stadt war bunt, lebendig und irgendwie wild. Als ich den Aerobus vom Flughafen an der Plaça de Catalunya verließ, kam es mir so vor, als würden sämtliche Einwohner der Stadt auf den Straßen unterwegs sein. Ob zu Fuß, in Autos, Bussen, Taxis oder auf Rollern – um mich herum pulsierte das pure Leben. Unverkennbar waren die Scharen an Touristen, die hinter ihren Reiseführern herliefen oder auf die Hop On Hop Off Busse warteten. In den ersten Minuten hörte ich derart viele unterschiedliche Sprachen, dass ich mit dem Grinsen gar nicht aufhören konnte. Ich liebte nun mal Sprachen und machte mir gern einen Spaß daraus, andere Leute zu belauschen. Eine Frauengruppe, wahrscheinlich Amerikanerinnen, debattierte laut in meiner Nähe, wohin sie heute Abend essen gehen sollten. Eltern zogen mit ihren in Französisch quengelnden Kindern an mir vorbei. Jugendliche, vornehmlich blond und irgendetwas wie Schwedisch oder Finnisch sprechend, hockten in Grüppchen auf dem Boden. Mittendrin liefen die gut angezogenen Spanier herum, als würde sie all das nichts angehen. Staunend drehte ich mich einmal um meine Achse und nahm die verschiedenen Eindrücke auf.

Wie riesig die Plaça war! Gefühlt so groß wie mehrere Fußballfelder. Ich lief an Denkmälern vorbei, an von Rasen und Blumen umgebenen Wasserspielen und an Straßenhändlern, die sich um einen großen Kreis im Zentrum des Platzes aneinanderreihten. Zwischenzeitlich suchte ich den kurzen Schatten der Bäume auf und ließ den Blick über die Häuserfassaden schweifen, die den gesamten Kreis einbetteten. Ein Mix aus modernen und alten Gebäuden, jedes auf seine Weise imposant. Ich wusste, ich würde in Barcelona auf Spuren von Gaudí treffen. Darauf freute ich mich besonders.

Die Clase Barcelona Language School - kurz CBLS - die mein erstes Ziel nach der Ankunft sein sollte, müsste ich von hier aus laut Reiseinformationen in wenigen Gehminuten erreichen. Meinen Koffer hinter mir herziehend scheuchte ich die Tauben auf, während ich über die rot gepflasterten Steine bis zu dem Stern in der Mitte der Plaça lief. Ich besah den mageren Plan, den ich mir ausgedruckt hatte, um zu prüfen, in welche Straße ich gehen musste, und atmete tief durch, als ich den Passeig de Gràcia endlich erreichte. In den schmucken Häusern, an denen ich vorbei lief, reihten sich Bars, Banken, irgendein Konsulat und Bekleidungsgeschäfte aneinander. Beim Anblick von Bershka ließ ich einen kleinen Schrei los. Ich kannte bisher nur deren Onlineshop und sah mich in Gedanken schon ausgiebig shoppen gehen.

Der Schweiß sammelte sich zwischen meinen Brüsten. An die Hitze musste ich mich erst noch gewöhnen. Zu Hause hatte sich der Sommer bisher eher sporadisch gezeigt, obwohl es bereits Ende Juli war. Seufzend schob ich mir eine Strähne, die sich aus meinem Dutt gelöst hatte, aus dem Gesicht. Jetzt ärgerte ich mich, auf dem Flughafen keine Wasserflasche gekauft zu haben. Ein Lebensmittelgeschäft konnte ich bisher noch nicht entdecken.

»Merde«, fluchte ich, um im nächsten Moment den Kopf zu schütteln. Die längeren Besuche bei Dads Verwandtschaft in der Nähe von Nizza trugen dazu bei, dass mir Französisch beinahe so vertraut wie Deutsch war. Es kam vor, dass ich sogar in der Sprache träumte. Aber wie man auf Spanisch fluchte, wusste ich nicht. Viva España. Es lebe Spanien.

Als ich eine breite Straße mit dem hübschen Namen Gran Via de les Corts Catalanes, also irgendwas von wegen, katalanische Herzen, überquerte, war ich fast am Ziel. Auch die nächste Straße glich den anderen, sie war ein wenig schmaler, doch das Bild veränderte sich kaum. Im Vorbeigehen bestaunte ich die Auslage im Schaufenster eines Juweliergeschäftes und lief prompt in eine Touristengruppe.

»Perdona ... Bitte verzeihen Sie«, setzte ich an, um mich bei der Frau mit dem gelben Schirm – augenscheinlich die Reiseführerin – zu entschuldigen. Doch sie schob mich lediglich zur Seite, als wäre ich ein lästiges Insekt und rief den Leuten ein lautes ‚viene‘ zu.

Genau so hatte ich mir die Spanierinnen vorgestellt. Groß, schlank, schwarze lange Haare und voller Dynamik. Nur schade, dass diese Frau in einem eintönigen grauen Kostüm steckte, das der einer Stewardess glich.

»Mira! Este edificio es ...«

Zu gern hätte ich erfahren, was die Frau über das Gebäude, vor dem sie stehen geblieben war, zu berichten hatte. Mehr als Gaudí verstand ich leider nicht mehr, denn sie sprach in einem Tempo, dem ich kaum folgen konnte. Selbst ohne Reiseführer wusste ich, dass der spanische Architekt in Barcelona lange gewirkt hatte. Insbesondere den Bau der Sagrada Familia, eine der berühmtesten Kirchen Europas, hatte er als Leiter übernommen. Auf deren Besuch war ich jetzt schon gespannt.

Als ich die Aufmerksamkeit wieder meiner Suche widmete, stellte ich fest, dass ich nur noch zwei Häuser weiter gehen musste. Froh darüber, endlich meinen schweren Koffer abstellen zu können, trat ich durch die Gitter in die Kühle des Hauses. Im selben Moment schoss ein Mann an mir vorbei und stolperte fast über den Koffer. Im Normalfall hätte ich ihm keine große Bedeutung geschenkt, mich allerhöchstens darüber aufgeregt, dass er sprichwörtlich keine Augen im Kopf hatte. Sein cremefarbener Anzug im Kontrast zu dem dunkelbraunen Teint und Vollbart war schuld daran, dass ich ihm hinterher starrte. Fast bedauerte ich, keinen weiteren Blick auf ihn zu erhaschen, denn die Tür fiel bereits hinter ihm ins Schloss.

In Spanien gab es jede Menge attraktive Männer. Hörte ich da gerade Greta in meinem Kopf? Um meine Mundwinkel zuckte es. Wer sonst als meine liebe Freundin hatte mir diesen Floh ins Ohr gesetzt. Schnell schrieb ich ihr eine Nachricht, ich sei gut angekommen. Mit extra vielen Herzen. Erst dann nahm ich all meinen Mut zusammen und betrat die Sprachschule.

Kapitel 3

 

 

»Nur fürs Protokoll: Ich werde die kommenden Wochen dieses Seminar leiten. Ich vertrete den Professor, da er kurzfristig krankheitsbedingt ausfällt. Ich bin hochqualifiziert, stehe kurz vor meinem Doktorabschluss, aber wer mit einem blinden Assistenten ein Problem hat, sollte sich bitteschön noch heute an das Sekretariat wenden und einen anderen Kurs wählen. Ich habe volles Verständnis dafür.«

Annelie schluckte. Einmal. Mehrmals. Blind? Darum also der Hund, dem sie bei ihrem Eintreten nur einen flüchtigen Blick gegönnt hatte. Ein blinder Kursleiter? Wie sollte das funktionieren? Ausgerechnet im Grundlagenseminar für Ozeanographie? Andererseits … Sie nahm ihren langen blonden Zopf in die Hand und zupfte daran. In seinen Shorts und dem lässigen schwarzen Hemd hatte sie Jean auf den ersten Blick für einen Studenten gehalten. Darum beeindruckte Annelie sein souveränes Auftreten. Der Mann machte sie neugierig. Nichts, rein gar nichts ließ darauf schließen, dass er ihnen gegenüber im Nachteil sein könnte.

Auf ihr klopfendes Herz und die kribbelnde Wärme in ihrem Bauch, sobald er erneut das Wort ergriff, war sie allerdings nicht vorbereitet.

[Auszug aus „Ein letztes Mal au revoir“ von Carlos Miguel Alvaro]

 

Ein Typ namens Antonio öffnete mir die Tür mit einer Miene, die so viel sagte wie ‚ich-hab-nicht-ewig-Zeit‘. Unversehens schnappte er etwas Klimperndes von einem Regal und drückte mir die Schlüssel in die Hand, ehe ich überhaupt über ein freundliches ‚hola‘ nachdenken konnte.

»Vamos«, sagte er nur und meinte damit wohl, dass er mir im Eilverfahren mein Zimmer, das Bad und die Küche zeigte. Gerade wollte ich zu einer Frage ansetzen, als er ungewöhnlich viel Aufhebens um die Schränke mit Lebensmitteln machte.

»¡Que mierda!« Er murmelte noch mehr in einem viel zu schnellen Spanisch vor sich hin, während er in aller Hektik ein Fach im Kühlschrank freiräumte, indem er Dosen und Essen aufeinanderstapelte und mit aller Gewalt eine Flasche dazwischenschob. Mein Mund blieb offen stehen, als er sich danach verdrückte und mich ratlos zurückließ. Kurze Zeit später hörte ich die Haustür zufallen.

Na super, was für ein Start! Von der Wohngemeinschaft in einer Studenten-WG erhoffte ich mir wahrlich mehr. Zumal im Programm explizit darauf hingewiesen wurde, dass der Kontakt mit Einheimischen den Spracherwerb fördere.

In Wirklichkeit war nichts so, wie ich es mir vorstellte. Die Schule entpuppte sich als große Wohnung. Die Räume waren zu Lernzimmern umfunktioniert, helles Mobiliar, Zimmerpflanzen in den Ecken, fast schon Wohnzimmeratmosphäre. Um uns willkommen zu heißen, hatte man uns neuen Schülern ein kleines Buffet voller süßer einheimischer Leckereien angeboten. Unsere Gruppe bestand aus zwölf Frauen und drei Männern schätzungsweise zwischen zwanzig und achtundzwanzig Jahre. Unter ihnen fand sich nur eine weitere Deutsche, dafür waren andere sogar aus Australien und Schweden angereist. Etliche besuchten die Sprachenschule im Zuge Ihres Studiums, das nach dem Sommer starten würde. Ich begriff schnell, dass ich mit meiner Motivation, einfach nur wegzukommen, reichlich allein dastand.

Zwei Dozentinnen übernahmen die Begrüßung, teilten uns aber direkt mit, dass Carlos leider wegen eines Notfalles überraschend weg musste. Man ließ uns den morgigen Vormittag zur Eingewöhnung, oder besser gesagt zum Ausschlafen, dafür würde unser Dozent uns nach den ersten Kursstunden am Abend zu einer kleinen Tour durch das nächtliche Barcelona einladen.

Ich war noch dabei, das alles zu verdauen, als mein Handy klingelte. Ein Blick auf das Display kündigte Dad an. Wenigstens ein kleiner Lichtblick, dachte ich bei mir.

»Ist alles in Ordnung? Bist du gut untergekommen?«

»Ja, Dad, alles bestens.«

»Louisa lässt dich grüßen. Sie fragt, ob du den Reiseführer schon studiert hast?«

Der Reiseführer! Ich stöhnte innerlich auf. Louisa hatte ihn mir kurz vor meinem Aufbruch mit leuchtenden Augen in die Hand gedrückt. Ich beneide dich so sehr, hatte sie behauptet. Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich das auch machen. Tatsächlich hätte ich mich beinahe verschluckt, als ich versuchte, mein Lachen zu unterdrücken. Die Freundin meines Vaters war gerade mal sieben Jahre älter als ich, also sechsundzwanzig.

»Richte ihr aus, dass ich morgen mehr Zeit habe, die Stadt zu erkunden, und den Führer sicher bestens brauchen kann.«

Genaugenommen war ich viel zu erschöpft von den vielen ersten Eindrücken. So müde, dass ich nicht einmal die Kraft hatte, mich aufzuregen.

»Wenn du was brauchst, dann melde dich einfach, Mateja.«

»Mach ich, Dad, danke.«

Ich bemühte mich um einen überzeugenden Tonfall. Keineswegs würde ich ihm erzählen, wie ernüchternd meine Ankunft in der WG gewesen war.

Mit gemischten Gefühlen lief ich durch die leere WG. In meinem Bauch zwickte es. Ich hätte mich gern souveräner gefühlt, nicht so allein in der Fremde. Die Wohnung war funktional eingerichtet, ein abgewetztes hellbraunes Sofa stand in dem breiten Flur, der scheinbar zugleich als Gemeinschaftsort genutzt wurde, denn gegenüber hing ein großer Flachbildschirm an der Wand. Der große Holztisch, der vor der schlichten, weißen Küchenzeile stand, war sogar aufgeräumt, und in der Spüle befand sich kein dreckiges Geschirr. Ich hatte wirklich schon katastrophale WGs gesehen und war froh, eine gewisse Ordnung vorzufinden.

Schnell machte ich ein paar Fotos und schickte sie Greta. Wo ich schon mal beim Telefonieren war, rief ich sie gleich danach an. Mir war nach mehr vertrauten Stimmen, um die Stille in der fremden Wohnung zu füllen. Davon, dass ich mich einsam fühlte, kam jedoch kein Wort über meine Lippen, stattdessen schwärmte ich ihr von Barcelona vor und behauptete, die Stadt wäre noch fantastischer als Nizza oder Paris. Und das, obwohl ich bisher gerade mal einen Miniausschnitt kannte. Zum Glück lag die WG nur etwa zehn Gehminuten von der Sprachschule entfernt. Zumindest würde ich morgen ausschlafen und in Ruhe ein paar Lebensmittel einkaufen können.

Es wäre übertrieben zu behaupten, ich wolle mich euphorisch in die nächsten Tage stürzen. Zu viele Fragezeichen, zu viele unbekannte Variablen kamen ins Spiel, kaum, dass sich die erste Aufregung des Ankommens legte. Und damit setzte auch schon das gewohnte Grübeln bei mir ein. Würde mir der Kurs taugen? Was, wenn ich die ganze Zeit allein abhing? Selbst, wenn die Leute in der WG okay wären, hieß das nicht, dass sie Bock hatten, mich auf Partys mitzuschleppen oder den persönlichen Stadtführer für mich zu spielen. Allein mit mir zu sein, brachte eine unsichere Seite zum Vorschein, die ich mit Tim so nicht kannte. Wie auch, wo ich die vergangenen dreieinhalb Jahre nur in ‚wir‘ gedacht hatte. Dementsprechend nahm ich mir jetzt vor, unbedingt etwas dagegen zu unternehmen. Immerhin war ich nach Barcelona gekommen, um Spaß zu haben und eine neue Seite an mir zu entdecken.

Stöhnend ließ ich mich auf die Matratze fallen. Das Bett war mir fremd, der Duft der Bettwäsche eine Spur zu blumig. Mein Zimmer, das ich in den nächsten vier Wochen bewohnen würde, gehörte eindeutig einem Mädchen. Ihre persönlichen Dinge hatte sie in dem großen Spiegelschrank eingeschlossen. Für meine Klamotten stand dafür eine leere Kleiderstange zur Verfügung. In der Ecke unter dem hohen Fenster befand sich eine riesige Palme und an der Wand hingen Fotos von Surfern, was mir die Bewohnerin trotz ihrer Abwesenheit sofort sympathisch machte. Ich schnappte mir mein kleines Kissen, das ich für den Flug dabei gehabt hatte. Wenigstens etwas Vertrautes. Dann startete ich eine Folge Cursed auf dem Handy. Meine Liebe zu allem, was mit der Artussage zu tun hatte, zog nach sich, dass ich der Serie mit Haut und Haaren verfallen war. Die Müdigkeit kam von ganz allein.

 

 

***

 

 

Voller Elan fegte unser Dozent in den Raum, sodass ich aus meinen Träumereien gerissen wurde. Sinnlosen Träumereien. Von Tim, von Tim und mir, wie wir in Barcelona die Boulevards Hand in Hand entlang liefen und den Straßenkünstlern zusahen. Mir waren heute Morgen eindeutig zu viele verliebte Pärchen über den Weg gelaufen. Jedes Einzelne versetzte mir einen Stich. In gewisser Weise war ich zwar stolz darauf, mich bis zu den Rambles, der berühmten Promenade in Barcelona, durchgefragt und mich den unfassbaren Touristenströmen ausgesetzt zu haben. Trotzdem gab es diese Momente, in denen ich mich allein fühlte. Zu allein. Sonst hätte ich nicht an Tim gedacht!

»¡Hola! ¡Bienvenido à este curso!« Hallo, willkommen in diesem Kurs! »Ich bin Carlos, euer Dozent. Ich komme aus der Nähe von Girona und arbeite seit zwei Jahren für die Clase Barcelona. Ich bin Autor und spreche außerdem fünf Sprachen, am liebsten Französisch.«

Spätestens jetzt hatte der Mann meine volle Aufmerksamkeit. Wer meine zweite Muttersprache liebte, der hatte bereits jede Menge Sympathiepunkte. Wobei er die überhaupt nicht nötig hatte! Nicht bei dem Aussehen! Groß, braun gebrannt und kein Gramm Fett zu viel. Ich atmete hörbar aus.

»Stellt euch bitte mit eurem Namen vor, woher ihr kommt ...«

Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, begann mein linker Sitznachbar mit seiner Vorstellung. Beiläufig warf ich ihm einen Blick von der Seite zu. Ein kräftig gebauter Mann, markante Nase, zu blondes Haar, als dass es seine echte Farbe sein konnte, die Hand mit dem Stift ständig in Bewegung. In meinen Ohren klang sein Spanisch allerdings sehr gut, wenn nicht sogar perfekt. Automatisch fiel ich ein wenig in mich zusammen. Inmitten einer bunt zusammengewürfelten Gruppe aus Leuten, von denen ich seit gestern wusste, dass sie größtenteils ihr Spanisch intensivieren wollten, um in Barcelona zu studieren, kam ich mir auf einmal unbedeutend vor. Verloren wie ein Insekt, das sinnlos um eine beleuchtete Lampe schwirrte und dennoch nie das Licht erreichte. Welchen Grund hatte ich, hier zu sein? Wollte ich überhaupt etwas von mir preisgeben? Mein Herz klopfte zunehmend lauter.

Unser Lehrer bedachte meinen Nachbarn mit einem interessierten Blick. Er nickte zeitweise bei dessen Ausführungen, die gar nicht mehr aufhören wollten. Dann schoss sein Blick pfeilgerade auf mich. Ich schluckte mehrfach. Auf einmal fielen mir nicht einmal die einfachsten spanischen Worte ein. Diese Augen! Mit einer Leuchtkraft, einer Intensität, die mich alles vergessen ließ – dass ich in diesem Raum saß, dass alle mich erwartungsvoll ansahen, dass ich seit gestern in Barcelona war, ja sogar, dass ich eben erst noch an Tim gedacht hatte. Jetzt hatte ich nur Augen für Carlos.

»Äh, hola, mi ... nombre es Mateja ...«

Ich geriet ins Stocken. In meinem Kopf lief gerade ein völlig anderer Film ab. Mit ordentlich aus der Stirn gegelten Haaren, Löckchen, die sich am Hals kringelten und Vollbart war er das genaue Gegenteil meines Ex. Seine aufrechte Haltung hatte etwas von einem Aristokraten. Verrückt. Mit Sicherheit wusste Carlos, dass er gut aussah. Seine Zähne blitzten auf, als er mich verschmitzt anlächelte.

»No e morderé, nur keine Angst, ich beiße nicht.«

Allgemeines Gelächter setzte ein. Ich biss mir auf die Lippe. Hatte er etwas von Ermorden gesagt? Wenn ich mich doch nur nicht hätte ablenken lassen! Mit einer energischen Handbewegung strich ich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht und führte meine Vorstellung fort.

»Ich bin Mateja, ich komme aus Süddeutschland, ich wohne am Bodensee. Mein Vater kommt aus Frankreich, darum spreche ich auch Französisch. Ich habe gerade die Schule beendet, mein ...«, ich suchte nach dem richtigen Begriff für Abitur.

»Tu examen final?«, fiel mir Carlos ins Wort, und ich nickte dankbar.

»Sí, sí ...«, ich hatte den Faden komplett verloren, darum blickte ich auffordernd zu der blond gelockten Schönheit, die über Eck saß.

Zum Glück war Berit – mit dem Namen stellte sich die Holländerin vor – eifrig darauf bedacht, Eindruck bei unserem Dozenten zu schinden. Sie warf ihre Lockenmähne nach hinten, lachte für meinen Geschmack einmal zu laut bei ihrer Vorstellung, und beinahe wäre ihr Busen aus dem knappen Shirt gefallen, als sie sich ein Stück nach vorn beugte. Trotzdem war ich ihr für die Aufmerksamkeit, die sie in dem Moment auf sich zog, dankbar.

Ob man mir meine Gedanken von der Stirn ablesen konnte? Ich schnappte förmlich nach Luft, als mein Blick einmal mehr auf Carlos fiel und er mir zuzwinkerte. Schnell senkte ich den Blick und nestelte an den Seiten meines Collegeblocks herum.

Die Vorstellrunde wollte irgendwie kein Ende nehmen. Bald brachte ich Namen und Herkunftsländer so durcheinander, dass ich mich ärgerte, mir nichts notiert zu haben. Ich litt schon immer an einem chronisch schlechten Namensgedächtnis. Als unser Dozent uns anschließend dazu aufforderte, ein paar Sätze über unseren Sitznachbarn zur Linken aufzuschreiben, war ich froh, mir immerhin Denis Namen gemerkt zu haben. Denis, der Australier. Auf den ersten Blick ein Typ, wie ich ihn mir an einem australischen Surferstrand vorstellte. Vielleicht lag es an der hellgrauen Bermuda und dem enganliegenden weißen Shirt, das seine Muskeln an den Oberarmen zur Schau stellte. Dazu die lässige Frisur, die wirkte, als wäre er nach dem Aufstehen lediglich mit den Fingern durch das Haar gefahren. Die Sonnenbrille parkte Denis auf dem Kopf, zum Schreiben fischte er allerdings eine andere Brille aus seiner Tasche. Ich überraschte ihn dabei, wie er auf mein Blatt starrte und grinste. Na gut, viel stand da noch nicht, sollte er doch seine Neugier befriedigen.

Mit dem Text beschäftigte ich mich nicht lange, dafür umso mehr mit unserem jungen Kursleiter. Immer wieder musste ich mich zusammenreißen, ihn nicht zu intensiv anzustarren. Er lief vor dem großen Fenster auf und ab. Seine Bewegungen waren geschmeidig, trotzdem wirkte er auf eine stumme Art nervös. Zumindest in den unbeobachteten Momenten. Na ja, nicht ganz unbeobachtet, wenn ich es genau nahm. Ich grübelte. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass er derjenige gewesen sein musste, der gestern beinahe über mich und meinen Koffer gestolpert war. Es würde passen. Nach dem, was die Dozentin erzählt hatte, war er überraschend zu einem Notfall gerufen worden.

»Perfecto.«Carlos klatschte in die Hände und riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn jeder fertig ist, schlage ich vor, dass ihr das Blatt eurem Nachbarn zum Lesen gebt und euch austauscht. Wer möchte, kann es mir anschließend zeigen, damit ich es korrigiere. Außerdem rege ich an, dass ihr euch für die Zeit, die wir miteinander verbringen werden, daran gewöhnt, auch untereinander Spanisch zu sprechen.«

»Okay, let´s do this!«, Denis streckte den Arm hoch und ließ seine Muskeln spielen. Anscheinend machte er gern einen auf Klassenclown.

Leises Stimmengemurmel und Gelächter vermischten sich. Die drei Frauen aus Holland, die gemeinsam angereist waren, schienen nicht glücklich über den Vorschlag zu sein. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, aber gewiss nicht auf Spanisch. Ich für meine Person hatte keinerlei Probleme mit Carlos Vorschlag. Im Gegenteil, ich hatte nichts anderes erwartet.

»Du schreibst, ich bin ein Surfer?« Grinsend suchte Denis meine Aufmerksamkeit. »Nicht jeder Australier surft. Ich wohne mitten im Busch. Auf einer ... how do you say ... on a farm?«

Ich nickte wissend. »Du meinst eine hacienda. In Deutschland sagen wir auch Farm dazu. «

»Right, that’s what I mean. Und du? Wohnst du auf dem Land?« Denis wechselte mühelos wieder ins Spanisch zurück.

»Nein«, ich rief in meinem Handy eine Karte auf und zeigte ihm Bilder von Konstanz. »Hier, das liegt am Bodensee.Ist ein großer See. Wobei ... im Vergleich zu Australien ist der sicher miniklein.«

Während Denis in mein Lachen einfiel, rief er sich noch mehr Fotos in meinem Handy auf. Ich liebte meine Heimatstadt, trotz der vielen Touristen, die vor allem die Uferpromenade und die Altstadt im Sommer bevölkerten. Zusammen mit meiner Mutter hatte ich in einem kleinen Vorort mit bäuerlicher Struktur oberhalb des Sees gewohnt. Nachdem sie gestorben war, musste ich zu Dad ziehen. Die Gegend bestand hauptsächlich aus protzigen Einfamilienhäusern mit großen Gärten. Von meinem Zimmerfenster aus konnte ich fast auf den See spucken. Trotzdem war ich nie so richtig angekommen. Und mit Louisas Einzug war es nicht gerade besser geworden.

»Lovely, really lovely!« Denis lauter Ausruf riss mich aus meinen Gedanken. Ein begeistertes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Ausgerechnet in dem Moment bemerkte ich aus den Augenwinkeln Carlos’ musternden Blick. Prompt fühlte ich mich an die Zeit erinnert, als ich noch die Schulbank drückte – irgendwie ertappt und zugleich sauer, dass ausgerechnet ich dabei erwischt wurde, mich nicht wirklich auf die Arbeit zu konzentrieren. Irgendwen hatten die Lehrer doch immer im Visier. Dabei lag mir daran, nicht gleich von Carlos in eine Schublade gesteckt zu werden. Eine, die womöglich besagte, dass Denis und ich die Unmotivierten waren, diejenigen, die nicht wirklich was lernen wollten. Damit kannte ich mich nämlich aus. Tim und ich hatten lange den Ruf weg, wir würden uns mehr füreinander interessieren als für unsere Noten.

Das war Schnee von gestern. Ich riss ein vollgekritzeltes Papierblatt aus meinem Block und knüllte es fest zusammen. Fast so, als könnte ich meine Gedanken an Tim zerquetschen. Zehnmal lieber alberte ich mit Denis herum! Ich war froh, neben ihm zu sitzen. Am Ende des Kurstages fühlte ich mich auf jeden Fall nicht mehr so allein wie gestern.

 

Kapitel 4

 

 

Jeans tiefe, sanfte Stimme ließ Annelie nach jedem seiner Sätze innerlich aufseufzen. Sie wusste nicht, wohin mit sich, mit ihren Blicken ... Dabei sah er sie nicht einmal.

[Auszug aus „Ein letztes Mal au revoir“ von Carlos Miguel Alvaro]

 

Barcelona bei Nacht. Das bedeutete gutes Essen, leere Strände, Salsamusik aus der Ferne, ein Blick auf die würdevolle Sagrada Familia im Abendlicht, die man laut Carlos mindestens zweimal ansehen musste – einmal tagsüber und einmal am Abend, wenn sie von Scheinwerfern angestrahlt wurde. Und natürlich von Autos, Straßenlaternen und Lichtern, die hell und zugleich warm aus den Wohnungen leuchteten.

Carlos erwies sich als großartiger Führer. Mir taten zwar schnell die Füße in meinen Flip-Flops weh, weil wir Kilometer um Kilometer liefen, aber jeder einzelne lohnte sich.

»Tienes de caminar. Ihr müsst zu Fuß gehen, wenn ihr Barcelona richtig kennenlernen wollt.«

Irgendetwas an der Art, wie sein Blick ausgerechnet mich dabei streifte, ließ ein Kribbeln an meinen Armen hochlaufen. Es war beinahe so, als erriete Carlos meine Gedanken.

Am Ende der Tour landeten wir in einer Bar unweit des Strandes und bestellten Cocktails. Unsere Gruppe lachte ausgelassen, oft über unsere eigenen Fehler im Spanischen, oder wenn einer von uns wieder in seine Heimatsprache verfiel, ohne es zu merken. Den ganzen Abend hatte sich Denis an meine Fersen gehängt, so als erhob er einen Anspruch auf mich, weil wir Sitznachbarn waren. Im Grunde störte ich mich nicht daran, er war witzig, charmant und redete viel und laut. Außerdem hatte ich mir genau das vorgenommen: offen zu sein und neue Leute kennenzulernen. Meine stille Hoffnung, in der Bar einen Platz in Carlos’ Nähe zu ergattern, war leider nicht erfüllt worden. Stattdessen fand ich mich eingekeilt zwischen Denis und Berit, die irgendwann dazu überging, mit ihm zu flirten. Dass sie das eiskalt über mich hinweg tat, machte mich eher verlegen, als dass es nervte.

»Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«

Ich schreckte hoch. Einen kurzen Moment konnte ich Carlos nur anstarren, bis bei mir ankam, dass er mit mir sprach. Sein Kopf wies in Richtung Ausgang. Ich musste mehrmals tief durchatmen, um meine Aufregung zu verbergen. Das Herz schlug mir trotzdem bis zum Hals. Was hatte Carlos vor? Wusste er, dass er gerade dabei war, mich aus einer unangenehmen Situation zu retten? Eilig erhob ich mich von meinem Sitz, konnte mir allerdings nicht verkneifen, Berit ein bedeutsames Lächeln zu schenken. Eines, das ihr zeigen sollte, für wie peinlich ich es hielt, sich bereits am ersten Tag an den erstbesten Mann heranzuschmeißen. Zweifellos hatte sie keine Antennen für meine Botschaft, denn sie rückte augenblicklich so nah an Denis, dass mir der arme Kerl beinahe leidtat. Und ich? Ich folgte Carlos, als wäre es ganz selbstverständlich.

»Sie wird keinen Erfolg haben«, sagte Carlos schmunzelnd, während er mich vom Tisch wegführte. Mit einem Augenzwinkern deutete er in Berits Richtung.

»Was meinst du?«, fragte ich erstaunt.

»Su amigo ... Sein Freund wird in ein paar Tagen nach Barcelona kommen.«

»Sein Freund? Ich verstehe nicht ...? Ähm, du meinst nicht etwa su amigo, also ... seinen Freund?«

Mein Gestammel war nicht besonders einfallsreich, aber bis es endlich bei mir ‚klick‘ gemacht hatte, lachte Carlos bereits herzhaft. Dabei blitzten seine Zähne auf und selbst in den Augen saß der kleine Schalk und verursachte mir weiche Knie.

»Das ist nicht lustig!« Ich bemühte mich um einen empörten Ausdruck, dabei konnte ich mir selbst fast das Lachen nicht verkneifen. Die Vorstellung, Berit machte sich an einen schwulen Denis heran, war ein zu komisches Bild.

»Ven, Mateja.«

Als Carlos nach meiner Hand griff, um mich zwischen eine Touristengruppe am Ausgang durchzulotsen, durchfuhr mich ein wahrer Stromschlag.

Erst stolperte mein Herz, dann meine Füße.

Als wäre es selbstverständlich, meine Hand zu halten, ließ Carlos auch nicht davon ab, nachdem wir längst auf der Straße standen.

»Was willst du mir eigentlich zeigen?«

»Warte es ab.«

»Okay?« Ich hob die Stimme am Ende bewusst an.

Wir liefen nicht weit. Trotzdem hätte ich niemals wieder zurückgefunden. Eine Gasse ähnelte der anderen. Besonders im Dunkeln. Mitten in dem beengten Gassengewirr des Viertels tauchte plötzlich wie aus dem Nichts eine Kirche auf. So nah zu den benachbarten Häusern, dass schlicht kein freier Blick auf die gesamte Kirche möglich war. Zu meiner Überraschung steuerte Carlos genau dorthin. Zahlreiche Leute standen davor, in kleinen und größeren Gruppen, und ehe ich mich umsah, gehörten wir auch dazu.

»Te gusta leer?«

Und ob ich gern las! Bevor ich allerdings etwas auf Carlos ungewöhnliche Frage erwidern konnte, verließen zwei Frauen die Kirche und Musikfetzen drangen nach draußen.

Ich zog die Stirn in Falten. »Du nimmst mich mit in die Kirche?«

»Das ist die Santa Maria del Mar. Sie hat eine wunderschöne Akustik. Heute findet eine Lesung mit Musik statt. Es ist ein Freund, der gleich liest. Ich wollte ihm gern zuhören.«

Nur mit Mühe folgte ich seinem unerwarteten Redeschwall und lächelte trotzdem. Von mir aus könnte er mich überallhin entführen.

»Was ist mit den anderen?« Ich hätte mir auf die Zunge beißen können! Was gingen mich die anderen an!

Offenbar würde ich keine Antwort bekommen. Dafür senkte sich eine knisternde Stille über uns. Alles um uns herum geschah gefühlt in Slow Motion. Als hielte die Welt mit mir den Atem an. Carlos Augen wanderten langsam über mein Gesicht. Seine Miene ließ nicht darauf schließen, was er dabei dachte. Sein unerwartet warmes Lächeln brachte allerdings meinen ganzen Körper zum Vibrieren. Noch vor zwei Tagen hätte ich mir nicht träumen lassen, ein anderer Mann könnte mich aus dem Gleichgewicht bringen. Schon gar nicht so bald nach der Trennung von Tim. Seufzend stieß ich die Luft aus.

Wie von Zauberhand tauchten in Carlos’ Händen zwei Tickets auf. Ich drehte mich zu einem alten Mann mit tief gebeugtem Rücken, der die Hand danach ausstreckte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass wir bereits vor dem Eingang zur Kirche standen.

»¡Hola, Alessandro!« Carlos tauschte ein paar Worte mit dem Kartenkontrolleur aus, somit blieb mir Zeit, mich wieder zu fangen.

Auf der alten Kirchenpforte prangten zwei gebeugte Männer, die irgendwelche Lasten auf ihren Schultern trugen. Ehe ich sie genauer ansehen konnte, drückte Carlos gegen die schwere Tür.

In dem Moment, als wir den Kirchenraum betraten, hörte ich seine Stimme ganz nah an meinem Ohr. »Ich denke, es wird dir gefallen.«

Mein Nacken kribbelte. Ich erstarrte förmlich. Seine Worte klangen wie eine Liebeserklärung. An die Kirche, an die Musik, was auch immer. Schließlich hob ich den Kopf und brachte gerade mal ein gehauchtes ‚wow‘ zustande. Die unermesslichen Ausmaße des hohen Raumes, die gotisch geschwungenen Bögen, die riesigen Fensterrosen – alles zusammen stürmte auf mich ein, und ich hatte Mühe, nicht vor Ehrfurcht zu erzittern.

Kirchen nahmen mich immer schon gefangen. Die Vorstellung, wie sie in mühsamer Arbeit von Hand erbaut, und das Wissen um die Kriege, die im Namen der Kirche geführt worden waren und zum Teil dazu geführt hatten, dass ganze Kirchen abgerissen und wieder neu aufgebaut worden waren, faszinierte mich schlichtweg. Mich schauderte es bei dem Gedanken, Carlos könne etwas von meiner Begeisterung ahnen.

Die klare Stimme nahm ich eigentlich erst im zweiten Anlauf wahr. Zu sehr lenkte mich die kühle Schönheit des Gotteshauses ab. Und natürlich Carlos Nähe. Genaugenommen verschmolzen die Worte mit dem dumpfen Schlag meines eigenen Herzens. Weiche Worte auf Französisch, untermalt von sanften Harfenklängen. Ergriffen lehnte ich mich an einen Pfeiler und lächelte stumm vor mich hin.

»Und? Was sagst du?«

Was sollte ich darauf antworten? Ein schlichtes ‚schön‘ wäre viel zu wenig. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Überwältigt schlang ich die Arme um mich.

»Das ist ... magisch.«

Wie hätte es mir nicht gefallen sollen? Zusammen mit Carlos hierher zu kommen, das ganze Ambiente, dazu seine unerwartete Nähe. Wir suchten nach einem freien Platz in den Kirchenbänken, während ich den Mann vor dem Altar nicht mehr aus den Augen ließ. Er saß auf einem Hocker und hielt beinahe andächtig ein Buch in der Hand. Seine hellgrauen Haare hingen ihm bis über die Schultern. Jedes Mal, wenn er aufsah, seine Augen einen Moment den Text verließen und das Publikum suchten, strich er sich immer dieselbe Strähne hinter das Ohr.

Ich lauschte seinem poetischen Epos über eine Frau, die ihre große Liebe im Krieg verloren und sich dann der Résistance angeschlossen hatte. Dem Französischen konnte ich problemlos folgen, darum lehnte ich mich entspannt zurück und hörte mit geschlossenen Augen zu. Natürlich kannte ich weder den Autor noch das Buch, doch die Geschichte berührte mich zutiefst. Jedes Mal, wenn die Harfenistin ihre Saiten anschlug, ging ein zartes Zittern durch meinen Körper. Vergessen war die neue Stadt, die vielen Menschen, das anstrengende Reden auf Spanisch ... Jetzt gerade fühlte ich mich beschenkt. Beschenkt von dieser Nacht. Von Carlos, den ich im Grunde kaum kannte und der mich bedenkenlos an diesen Ort mitgenommen hatte. Mein Herz, es sprengte meine Brust beinahe vor Glück.

 

 

***

 

 

»Nun sag schon, wie sieht er aus, dein Carlos?«

»Er ist nicht mein Carlos ...«

»So, wie du seinen Namen sagst und von ihm sprichst, hat es dich auf Anhieb erwischt.«

»Greta, lass das!« Ich stellte auf laut und legte das Handy vor mich auf den Küchentisch. Meine Freundin befand sich gerade im Bad, darum sah ich nur ausschnittsweise, wie sie sich am Waschbecken die Haare richtete und schminkte. »Was denn? Ich will doch nur, dass es dir gut geht.«

»Mir geht es bestens.« Ein heißer Schluck café con leche, den ich mir an diesem Morgen gönnte, nachdem ich endlich kapiert hatte, wie die Kaffeemaschine funktionierte, tat sein Bestes, um diese Aussage zu unterstreichen. Ja, mir ging es wirklich gut. So gut wie noch nie. Die Idee mit der Sprachenschule war die genialste seit Langem gewesen. Schneller als gedacht fand ich Abstand von dem Mist, der zu Hause gelaufen war.

»Und wer ist dafür zuständig, dass du dich schlappe achthundertneunzig Kilometer von deinem Zuhause entfernt so prima fühlst?

---ENDE DER LESEPROBE---