Nachtgespenster - Carolin Römer - E-Book

Nachtgespenster E-Book

Carolin Römer

4,8

Beschreibung

Winter in Donegal und Fin O'Malley hat den Weihnachtsblues. Selbst ein Mord kann ihn nicht dazu bewegen, wieder in den Polizeidienst einzutreten. Als er erfährt, dass es sich bei dem Toten um seinen Cousin Raymond handelt, will er sich lieber ganz raushalten: Mit der nordirischen Verwandtschaft hat er schon vor Jahrzehnten gebrochen.Erst eine neue Mitarbeiterin in Caitlins Abteilung kann schließlich seinen Ehrgeiz wecken. Ein weiteres Opfer führt die Ermittler in die Unterwelt von Derry, wo ein längst vergessenes Verbrechen an die Oberfläche schwappt. Aber dann öffnet sich die Tür in Fins Vergangenheit weiter, als ihm lieb ist, und seine Loyalität wird auf eine harte Probe gestellt.

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Ähnliche


Inhalt
Cover
Carolin Römer - Nachtgespenster
Eddie blinzelte …
1. The Fisherman
2. Scarbhach Bay
3. Raymond
4. Tigh Rua
5. Letterkenny
6. Billy
7. Foley
8. Christine
9. Fiona
10. Banríon Sneachta
11. Caitlin
12. Sean
13. London
14. Almería
15. San Ciriaco
16. Fast Eddie
17. Mar y Sol
18. Anna
19. Buster
20. Cranachan
21. Banshee
22. Kavanagh
23. Diarmuid
24. Sanisah
25. Corrach Mór
Fin
Impressum
Die Fin-O’Malley-Krimis

Eddie blinzelte und legte den Kopf schief. Misstrauisch beobachtete er das kleine Mädchen, das langsam näherkam.

Hoppla, wer kommt denn da? Den großen Mann mit den weißen Haaren, den kenn ich ja. Aber wer bist du?

Er überlegte noch, ob er nicht lieber auf Nummer sicher gehen und abhauen sollte. Zu spät. Zwei Schritte schaffte er noch, dann schlossen sich winzige Finger um seine Brust und hoben ihn hoch.

Das Mädchen schien überrascht. »Er ist ganz leicht, Großvater!«

Eddie zappelte, strampelte mit den Füßen, versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden, aber die kleinen Hände ließen nicht locker. Schließlich gab er es auf. Vielleicht ahnte er, dass ihm dieses Kind nicht wehtun wollte.

Na gut. Ausnahmsweise. Aber glaub nicht, dass ich mir das immer gefallen lasse!

Der alte Mann half ihr und schob Eddie behutsam in ihre Armbeuge. »So solltest du ihn halten, das gefällt ihm.«

Kleine Finger kraulten seine weiche Brust.

Oh ja, das ist okay, das mag ich. So kannst du weitermachen.

»Und jetzt musst du ihm noch sein Spezialfutter geben.«

Eddie reckte den Hals, schüttelte sich und hinterließ ein paar weiße Federn auf dem dunklen Pullover der Schuluniform.

Futter! Ja! Super! Her damit!

»Schließlich muss Eddie am Wochenende fit sein. Es steht eine Menge auf dem Spiel dieses Mal.«

Fit? Was für eine Frage? Ich bin in der Form meines Lebens! Und überhaupt – ich heiße gar nicht Eddie! Ich bin Edward. Edward XIV. of Beaufort and Drim! Die schnellste Taube im Norden Irlands! Ach was, die schnellste Taube der ganzen Insel!

»Molly! Wo steckst du? Der Schulbus kommt gleich.«

Eine kräftige Männerstimme bahnte sich ihren Weg durch den Garten bis zur Tür des Taubenschlags.

»Hier bin ich. Bei Großvater. Und Eddie.«

Die Körner rappelten verheißungsvoll in der Blechdose. Eddie gurrte, sein Hals wurde immer länger.

Nun mach schon! Ich hab Hunger!

Auch die anderen Tauben kannten das Geräusch nur zu gut und kamen erwartungsvoll näher. Flatterten, gurrten und drängten sich nach vorne.

»Molly, wir sind spät dran.« Ein Schatten verdunkelte die Tür des Schuppens. »Du weißt, ich hab’ weder Lust noch Zeit, dem Bus hinterherzufahren.« Der Mann hob die Schultasche auf, die im Eingang stehengeblieben war. Er klang nicht ärgerlich, eher wie ein Vater, der seiner kleinen Tochter nur schwer etwas abschlagen konnte, manchmal aber streng sein wollte. Auch wenn es schwer fiel.

Ein vorwurfsvoller Blick traf den Großvater.

»Sie wollte doch nur beim Füttern dabei sein«, meinte der Alte beschwichtigend, »lass der Kleinen doch die Freude.«

Der Vater wandte sich an seine Tochter. »Kommst du?«

»Ja, gleich.«

Aber nicht ohne mein Futter!

Die Explosion zerriss den Taubenschlag. Fensterscheiben in der Nachbarschaft klirrten. Federn stoben, wirbelten in dichten Wolken über den blauen Morgenhimmel. Schwebten sanft zur Erde, wo sie zwischen den grünen Grashalmen hängenblieben.

Weiße Federn.

Es sah aus, als ob mitten im Sommer Schnee vom Himmel fiel.

Blutiger Schnee.

1. The Fisherman

»Das hier, das ist sie! Die rotwangige Adlerwachtel!« Ein knubbeliger Finger mit abgekautem Nagel switchte die Aufnahmen übers Display des Fotoapparats. »Es gibt nur noch rund dreißig Brutpaare in ganz Donegal. Allein hier auf Days Foreland sind es zweiundzwanzig.« Er tippte mit Nachdruck auf das Foto. »Zweiundzwanzig.«

Fin O’Malley stellte dem begeisterten Vogelkundler einen Whisky vor die Nase und betrachtete das Foto mit höflichem Desinteresse. Mit etwas Phantasie ließ sich zwischen Torf und verdorrtem Heidekraut etwas erkennen, das wie ein graubraunes Federknäuel aussah, kaum größer als ein Hurlingball.

»Das ist ihr Winterkleid. Im Winter sehen Hahn und Henne nämlich gleich aus. Aber im Frühling, zur Balzzeit, da kriegt der Hahn am Kopf diese leuchtendroten Flecken«, erklärte der Experte voller Enthusiasmus, »und dann können Sie übers ganze Moor seinen charakteristischen Balzruf hören. Ti-wupp … ti-wupp … ti-wupp.« Bei jedem Laut wippte er auf den Fußballen auf und ab.

Jeder Mensch sollte ein Hobby haben, das konnte Fin nur unterstützen. Und wenn der Kerl auf der anderen Seite seines Tresens bei Wind und Wetter loszog, um Vögel zu beobachten, so war das seine Sache. Wenn er dabei zum Aufwärmen den Weg in sein Pub fand, konnte ihm das nur recht sein.

Er tippte auf frühpensionierten Verwaltungsbeamten aus Dublin. Southside, das hörte er am Akzent. Er hatte selber lange genug in der Hauptstadt gelebt, er kannte diese schrägen Vögel, die an Sonntagnachmittagen regelmäßig Polizeieinsätze auslösten, weil sie auf irgendwelchen Klippen rumturnten, um in einem Möwennest die Eier zu zählen.

Manche von ihnen schienen im Lauf der Jahre auf rätselhafte Weise eine Physiognomie zu entwickeln, die den Objekten ihrer Begierde durchaus nahekam. Niedliche dunkle Knopfaugen, eine schmale spitze Nase, einen flauschigen Haarschopf, der an Federn erinnerte, und einen leichten, trippelnden Gang. Nicht zu vergessen eine hohe zwitschernde Stimme.

»Wussten Sie, dass sich bei den Adlerwachteln Männchen und Weibchen ein Leben lang treu bleiben?«

Fin schaute angemessen beeindruckt und schüttelte den Kopf.

»Und soll ich Ihnen noch was verraten?«

Warum verspürten manche Menschen diesen unerklärlichen Drang, dem Wirt hinter der Theke all das mitzuteilen, was dieser nicht wissen wollte?

»Das ist sehr selten bei dieser Spezies. Und hier auf Days Foreland kann man das wunderbar beobachten.«

»Faszinierend«, murmelte Fin höflich. Vielleicht lag es daran, dass bei zweiundzwanzig Brutpaaren das Angebot eher überschaubar war?

»Sehr selten«, wiederholte der Vogelkundler, hob das Glas Whisky in die Höhe, als verdiene diese ornithologische Sensation einen Toast, und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. Dann stülpte er sich seine Mütze über die grauen Locken, klappte die Ohrenschützer herunter, ließ seine kleine Kamera in der Innentasche seiner grobgewebten Tweedjacke verschwinden und hievte einen zentnerschweren Rucksack auf seine Schulter. »Zweiundzwanzig«, sagte er noch, klopfte auf die Brusttasche seiner Jacke, als hätte er persönlich alle Brutpaare in seinem Fotoapparat eingefangen, und verließ das Pub.

Fin sah ihm kopfschüttelnd nach, schnappte sich das leere Glas und versenkte es in der Spüle.

»Nett von dir, dass du ihm nicht verraten hast, dass es nur noch einundzwanzig Brutpaare sind.« Die Stimme kam vom anderen Ende des Tresens. Caitlin da Silva legte einen sauber abgenagten Knochen vor sich auf den Teller.

»Ich hab’ es nicht übers Herz gebracht.« Fin nahm den leergeputzten Teller. »Hat geschmeckt, wie ich sehe.«

»Wunderbar. Die Sauce war ein Gedicht. Woher hattest du die Vögel?«

Fin trug das Geschirr in die Küche. »Diarmuid hat mir erzählt, es seien Moorhühner.«

Wenn er ehrlich war, hatte er der Sache von Anfang an nicht getraut. Es war schon erstaunlich, dass dieser Computernerd überhaupt vor die Tür ging, und das bei diesem Wetter. Aber eigentlich war Diarmuid immer vorne dabei, wenn es galt, irgendwo Unheil anzurichten oder Unruhe zu stiften.

»Wahrscheinlich hat er auf dem letzten Level seiner Moorhuhnjagd nach einer neuen Herausforderung gesucht«, hörte er Caitlin sagen, »ich muss allerdings gestehen, mir gefällt der Gedanke nicht, dass dieser Kerl mit ’ner geladenen Flinte durch die Gegend läuft.« Auch wenn sie sich bemühte, es fiel ihr schwer, im Privatleben die Polizistin außen vor zu lassen.

»Ich denke nicht, dass er die Vögel mit Schrot erlegt hat, dann wär nix mehr übrig gewesen, das man hätte in die Pfanne hauen können«, vermutete Fin, »ich nehme an, er hat draußen auf dem Moor Fallen aufgestellt.« Er kam zurück in den Schankraum. »Was willst du als Nachtisch?«

»Was empfiehlst du?«

»Warmen Guinness-Kuchen mit Vanillesauce und Whis­ky-Eiscreme.«

Ja, es stimmte wohl, jeder Mensch brauchte ein Hobby. Und Fin O’Malley hatte das Kochen für sich entdeckt. Anfangs noch von allen Seiten belächelt war er mittlerweile der eifrigste Schüler von Isobel, der Frau von Ronan, dem Wirt. Zugegeben auch ihr einziger. Nach etlichen angebrannten Kartoffeln, übergekochten Suppen und vertrockneten Lammbraten wagte er sich mittlerweile schon an eigene Kreationen, immer ermutigt von den Bewohnern des Dorfes, denen alles recht war, das Brenda O’Shea, die gefürchtete Mutter von Ronan, von der Küche fernhielt.

Ein Tag wie heute, mitten in der Woche, eignete sich perfekt zum Experimentieren. Zur Mittagszeit hatte es nur wenige Gäste in den Fisherman verschlagen. Schuld war auch das Wetter, das niemanden hinter dem Ofen hervorlocken konnte. Es war nass, kalt und neblig. Winter in Donegal.

Einmal hatte es bereits ein paar Schneeschauer gegeben, aber die milde Luft vom Atlantik hatte der weißen Pracht innerhalb weniger Stunden ein Ende bereitet. Geblieben waren nur die mit Reif überzogenen Wiesen und gefährlich glatten Straßen.

Fin hasste den Dezember, der ihm wie kein anderer Monat vor Augen führte, dass sein Leben ziemlich aus den Fugen geraten war. Seit er seinen Job bei der Polizei in Dublin hingeschmissen hatte und die Scheidung von Susan endlich durch war, war nichts mehr wie früher. Geldsorgen oder Streit mit seiner Exfrau hatte er schon gehabt, als er noch in Dublin gelebt hatte. Da hatte er auch noch Lily um sich gehabt, seine Tochter, die er über alles liebte. Aber auch Lily nabelte sich langsam ab, wurde erwachsen und machte sich auf den Weg in ein eigenes Leben. Das wurde ihm in solchen Momenten wie jetzt, so kurz vor Weihnachten, schmerzlich bewusst.

Wäre er jetzt in der Stadt, dann hätte er sich sicher mit ein paar Kumpels auf ein Feierabendbier im Pub getroffen. Er hätte sich durch die hellerleuchtete O’Connell Street treiben lassen oder in den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern von Brown Thomas nach einem Geschenk für Lily Ausschau gehalten.

Aber er war nicht in Dublin. Er war in Foley. Einem gottverlassenen Nest am Rand der Welt, wo der Winter noch dunkler und länger war als im Rest von Irland.

Zumindest kam es Fin so vor.

Nein, ganz so schlimm war es nicht. Isobel hatte einen Plastikweihnachtsbaum in eines der Fenster des Pubs gestellt, der unermüdlich vor sich hinblinkte, ein paar Kerzen auf den Tischen verteilt und eine angestaubte Efeugirlande aus Papier über der Theke aufgehängt. Und über all dem schwebte die Stimme von Willie Nelson, der gerade Joy to the World zum Besten gab. Wenn da mal keine Stimmung aufkam …

Wenigstens hatte Fin eine Aufgabe gefunden. Neben seinem Job als Teilzeitwirt half er Isobel in der Küche. Die Vorbereitungen fürs Weihnachtsmenu standen an, und in Caitlin da Silva hatte er ein williges Versuchskaninchen, um seine Ideen auszuprobieren.

Früher wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, Susan beim Kochen zur Hand zu gehen. So wie er auch sonst im Haushalt keinen Finger gerührt hatte. In seinen Augen gab es Frauenarbeit und Männerarbeit. Und Kochen gehörte ganz eindeutig nicht zu letzterem. Mittlerweile sah er das ein wenig anders. Er hatte Spaß am Kochen gefunden, und vielleicht würde er damit eines Tages bei Lily punkten können. Oder bei Caitlin da Silva.

Die versuchte allerdings immer noch, ihn wieder zur Polizei zurückzulocken. Bisher erfolglos.

»Wir sind zur Zeit so was von knapp mit Personal«, sagte sie wie beiläufig, als er ihr eine Tasse Kaffee hinstellte. Der Kuchen war im Ofen und würde noch eine Weile brauchen. »Jetzt wird demnächst auch noch die Stelle von William, meinem alten Partner, frei. Er hat um Versetzung gebeten. Familie und so.« Sie nippte an ihrem Kaffee und sah Fin an. »Na, keine Lust?«

Nein, Fin hatte keine Lust. Zumindest keine Lust auf Polizeiarbeit. Aber Lust auf eine Partnerschaft? Auf einer anderen Ebene? Da sah die Sache schon etwas anders aus.

Seit über einem Jahr saß er auf dem Trockenen, was das weibliche Geschlecht anging. Er hatte den Frauen keineswegs abgeschworen, aber was die Auswahl in Foley betraf, ging es ihm ein wenig so wie der rotwangigen Adlerwachtel: Sie war übersichtlich und die verfügbaren Weibchen waren allesamt vergeben.

Bis auf Caitlin da Silva.

Aber er wurde nicht so wirklich schlau aus ihr. Sie waren befreundet, ja, mehr aber auch nicht. Oder? Manchmal wunderte er sich schon über ihr Drängen, doch wieder in den Polizeidienst zurückzukehren. War ihr Interesse wirklich nur beruflicher Natur? Oder steckte mehr dahinter?

Er lehnte sich gegen die Theke und sah ihr in die Augen. Sie waren rabenschwarz. Koboldaugen. »Wie stellen Sie sich das vor, Detective Inspector da Silva? Ich als Detective Sergeant unter Ihrer Fuchtel?«

»Hat doch bisher ganz prima funktioniert«, grinste sie.

»Das war aber alles andere als offiziell.«

»Ich finde, wir würden ein prima Team abgeben.«

»Nur auf der Arbeit?« Fin versuchte, ihr noch tiefer in die unergründlichen Augen zu schauen.

Sie hielt seinem Blick stand. Er konnte förmlich sehen, wie sie tief in ihrem Inneren an einer Antwort modellierte. Aber sie schob ihn vor sich her, diesen einen Augenblick, der sie zwingen sollte, Farbe zu bekennen. Sie machte es sich nicht leicht.

Das Klingeln ihres Handys erlöste sie.

Caitlin glitt vom Barhocker, ging ein paar Schritte außer Hörweite und nahm das Gespräch an. Es dauerte nur ein paar Sekunden.

»Ich fürchte, der Nachtisch muss warten.« Sie kam zurück und holte ihre Jacke vom Haken. »Sagt dir der Name Raymond O’Malley etwas?«

»Es gibt viele O’Malleys«, antwortete Fin zurückhaltend.

Es war keine Antwort auf Caitlins Frage, was ihm ein Blick von ihr unmissverständlich klar machte.

»Müsste ich ihn kennen, nur weil er denselben Nachnamen hat?«

»Aus Derry«, ergänzte sie.

»Ich hab’ einen Cousin in Derry.«

»Kennst du ihn näher?«

»Nein. Familie meines Vaters.« Damit war für Fin alles gesagt. »Warum interessiert sich die Polizei für ihn?«

»Er ist tot.«

2. Scarbhach Bay

»Wieso muss ich mitkommen?«, maulte Fin.

Caitlin schaute nach vorn auf die Straße. »Du könntest ein wichtiger Zeuge sein.«

Er war sich sicher, dass sie das nicht ernst meinte. »Blödsinn.«

»Wir sind knapp an Personal«, bot sie als Alternative an.

Wollte sie ihn wieder auf den Geschmack bringen? »Ich kann mich erinnern, dass du diejenige warst, die mir noch bis vor kurzem vorgehalten hat, ich sei kein Polizist mehr und ich solle mich gefälligst aus deiner Arbeit raushalten.«

»Es juckt dich wirklich nicht mehr?«

»Nein.«

Er hatte mit seiner Arbeit als Polizist abgeschlossen. Vor mehr als einem Jahr hatte er alles hingeschmissen. Seinen Job, den er nie wirklich gewollt hatte. Er hatte einige Zeit gebraucht, um das herauszufinden. Aber er war sich sicher.

»Was ist los mit dir, Fin?« Caitlin bremste an einer Kreuzung, studierte die Straßenschilder und bog links ab. »Sag bloß, es interessiert dich nicht mal, wer deinen Cousin auf dem Gewissen hat?«

»Nein.«

Es war ja noch überhaupt nicht raus, ob der Tote tatsächlich sein Cousin Raymond war.

Fin wandte sich ab. Ließ die winterliche Landschaft Donegals an sich vorüberziehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Die kargen Moore, die zu dieser Jahreszeit noch einsamer schienen. Die fernen Berge, deren Gipfel eine hauchdünne Mütze aus Schnee trugen. Der graue, wolkenverhangene Himmel, der sich in den unzähligen Wasserlöchern spiegelte, die die Regenfälle der letzten Tage zurückgelassen hatten.

Raymond O’Malley. Sein Cousin. Der Sohn von Daniel O’Malley. Sergeant Daniel O’Malley. Von der Royal Ulster Constabulary in Derry. Sein Onkel war Polizist gewesen. Genau wie sein Bruder, Fins Vater. Bis zu jener Nacht vor mehr als vierzig Jahren. Unbekannte hatten Daniel O’Malley erschossen. Verdächtige hatte es genug gegeben, auf Seiten der katholischen Republikaner ebenso wie unter den protestantischen Paramilitärs, aber bis heute war niemand zur Rechenschaft gezogen worden.

Fins Vater hatte Derry kurz nach dem Mord verlassen, seiner nordirischen Heimat den Rücken gekehrt, und war mit seiner Frau und den drei Kindern nach Dublin gegangen. Dorthin, wo Fins Mutter herkam. Dorthin, wo es zumindest den Anschein von Frieden gab. Aber die Sicherheit hatte ihren Preis gehabt. Als Polizist – und Protestant – hatte er keine Arbeit gefunden, er war bei der Zollbehörde im Hafen von Dublin gelandet und hatte mehr schlecht als recht ein Auskommen gehabt.

So seltsam es Fin in diesem Moment erschien – sein Vater war ein Ex-Polizist gewesen, genau wie er heute. Ein Sohn, der seinen Vater hatte beeindrucken wollen, indem er dieselbe Laufbahn einschlug. Der wollte, dass sein Vater stolz auf ihn war. Der es seinem Vater hatte recht machen wollen. Der es ihm aber nie hatte recht machen können.

Der Vater war mittlerweile gestorben, aber Fin hatte noch einige Jahre gebraucht, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass er sein Leben auf einer Lüge aufgebaut hatte.

Fin war nie ein besonders ehrgeiziger Polizist gewesen. In seinen Augen war es ein Job wie jeder andere. Es gab einen Schreibtisch, an dem er jeden Morgen saß, und er bezahlte das Haus und füllte den Kühlschrank.

Vielleicht war es einzig und allein sein Sinn für Gerechtigkeit, der ihn all die Jahre bei der Stange gehalten hatte. Das Gefühl, das Richtige zu tun. Seinen Beitrag zu leisten, um die Straßen ein klein wenig sicherer zu machen, auch wenn er manchmal nur einen kleinen Dealer erwischte und die Hintermänner hatte laufen lassen müssen.

Aber dieses Kapitel in seinem Leben war Vergangenheit.

»Nein, Caitlin«, wiederholte er, »es interessiert mich nicht.«

»Aber du könntest uns bei der Identifizierung helfen«, versuchte sie ihn zu überzeugen.

»Ich glaub’, ich bin ihm zuletzt vor zwanzig Jahren begegnet«, dämpfte Fin ihren Eifer, »bei der Beerdigung meiner Großmutter.«

»Erzähl mir von ihm.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Die Familie ist royalistisch bis aufs Blut. Die laufen bei sämtlichen Oranier-Märschen in der ersten Reihe und ziehen ihre bescheuerten Schärpen wahrscheinlich nicht mal aus, wenn sie ins Bett gehen.«

»Verbindungen zu UDA, UVF oder anderen Paramilitärs?«

»Keine Ahnung. Würd’ mich wundern, wenn nicht. Aber wie gesagt, ich hab’ ihn ’ne halbe Ewigkeit nicht gesehen.« Die Verwandtschaft in Nordirland war ihm immer fremd geblieben. Für sie hatte es an Verrat gegrenzt, als Fins Vater in die Republik übergesiedelt war. Der Kontakt war abgerissen, und Fin hatte nicht vor, daran irgendetwas zu ändern.

Caitlin ließ den Wagen einen Hügel hinabrollen. Vor ihnen lag Scarbhach Bay, eine breite Bucht, die der Fluss Scarva dem Atlantik abgetrotzt hatte. Jetzt bei Ebbe hatte sich das Meer weit zurückgezogen und einen trostlosen Teppich aus Pfützen und Matsch übriggelassen. Auf der schmalen Landstraße am Ende der Bucht stand eine Reihe Einsatzfahrzeuge.

Caitlin fädelte ihren Toyota hinter dem Kombi der Spurensicherung ein. Ein Kollege in Uniform war abgestellt worden, um eventuell auftauchende Schaulustige vom Ort des Geschehens fernzuhalten, aber viel zu tun hatte er nicht. Die Gegend war einsam, in der Ferne lag eine Handvoll Häuser über die Hügel verstreut, von denen man nicht mal mit Sicherheit sagen konnte, ob sie bewohnt waren. Verlassene Farmen. Leerstehende Ferienhäuser.

Caitlin zeigte ihren Ausweis und deutete auf Fin. »Er gehört zu mir.«

Sie holte ein Paar Gummistiefel aus ihrem Kofferraum, wühlte im Durcheinander nach Latexhandschuhen und hielt auch Fin vorsorglich ein Paar hin. Folgsam, wenn auch widerwillig, streifte er sie über.

Ihr Weg führte sie über den schlüpfrigen Morast mitten hinaus in die Bucht, wo eine Gruppe Menschen in weißen Schutzoveralls ihrer Arbeit nachging. Unverständliche Fetzen von Funksprüchen wehten herüber. Ein Fotograf machte Aufnahmen. Ein Anderer markierte eine Spur im nassen Sand mit einer Nummer. Zwei Männer standen bei der Leiche, einer sprach gerade ein paar Anmerkungen in sein Smartphone.

»Hallo Jungs.«

»Hallo Cate.«

»Darren Healy, Spurensicherung. Liam MacKenna, Gerichtsmedizin. Detective Sergeant O’Malley.« Caitlin stellte sie einander vor.

Sie reichten sich die Hand. Die beiden fanden nichts Außergewöhnliches daran, dass Fin denselben Nachnamen trug wie das Mordopfer. Hier im Norden war O’Malley ein weit verbreiteter Name.

»Neu?«

Fin wollte etwas erwidern, aber Caitlin kam ihm zuvor.

»Ja.«

Er schloss den Mund wieder. Frauen wie Caitlin da Silva widersprach man besser nicht.

»Sieht nicht so aus, als wär’ er ertrunken.« Caitlin hatte das Einschussloch am Haaransatz gleich entdeckt.

»Ich glaube kaum, dass Liam bei der Obduktion viel Wasser in seiner Lunge finden wird«, meinte Darren, der jüngere der beiden, der mit seiner Harold Lloyd-Brille eher wie ein Student aussah als wie ein Chef der Spurensicherung.

»Selbstmord kannst du auch ausschließen.« Der Gerichtsmediziner faltete seine zwei Meter Körpergröße zusammen und ging neben der Leiche in die Hocke. In seinem weißen Overall wirkte er wie ein kleiner Eisberg. »Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen.« Er schlug die Knopfleiste des Hemds zurück. Zwei Schusswunden markierten die Brust.

Fin hatte nicht vorgehabt, sich die Leiche näher anzuschauen. Aber es gelang ihm nicht. Verstohlen riskierte er einen Blick, versuchte, in dem Menschen, der da vor ihm lag, seinen Cousin wiederzuerkennen. Versuchte, in den Gesichtszügen irgendetwas Vertrautes auszumachen. Etwas, das eine Emotion auslöste. Aber das Bild, das er aus seiner Vergangenheit heraufbeschworen hatte, war zu verschwommen, um sicher zu sein.

Leichen waren nie ein schöner Anblick, Wasserleichen erst recht nicht. Dieser Tote hatte noch nicht lange im Wasser gelegen. Heimische Meeresbewohner hatten noch keine Gelegenheit gehabt, der Leiche zu Leibe zu rücken. Lediglich an den Wangen gab es eindeutige Fraßspuren. Fin wusste, dass es hier an der Küste Hummer und Krebse gab, und er hatte sogar in Erwägung gezogen, irgendwas mit Hummer ins Weihnachtsmenu einzuplanen. Vielleicht würde er noch mal drüber nachdenken.

Der Mann lag mit dem Rücken auf einer Plastikplane, den Kopf zur Seite geneigt, so dass er nur sein Profil sehen konnte. Dunkle Haare klebten an seinem Schädel, Algenfäden hatten sich in die nassen Strähnen verirrt. Der Körper wirkte blutleer und nur wenig aufgedunsen, das wiederum passte zu dem Bild, das Fin vor Augen hatte. Ein blasser Mann, der zu Lebzeiten ein paar Pfund zu viel mit sich herumgeschleppt hatte. Er war vollständig bekleidet, das ehemals weiße Hemd mit Schlamm und ausgewaschenem Blut verschmiert. Die leichte Freizeithose und die bequemen Slipper deuteten darauf hin, dass er nicht vorgehabt hatte, bei diesem Wetter nach draußen zu gehen. Die Tat war nicht hier passiert. Vielleicht in seiner Wohnung?

Fin merkte, mit welcher Selbstverständlichkeit er noch immer alle Einzelheiten erfasste. Wie er automatisch Schlüsse zog, die nur ein Polizist zog. Er registrierte die dunklen Striemen am Hals ebenso wie die Fesselspuren an den Handgelenken. Gut möglich, dass der Mann letztendlich an seinen Schussverletzungen gestorben war, aber der Tod war nicht völlig unvorbereitet gekommen.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Caitlin.

»Eine Spaziergängerin«, antwortete Darren und schob seine Brille hoch, »oder besser gesagt, ihr Hund. Die alte Dame war ziemlich durch den Wind. Robin hat ihre Aussage zu Protokoll genommen und bringt die Arme gerade nach Hause.«

Fin schaute sich um, sondierte die Umgebung. Die Spuren von Ebbe und Flut. Die Entfernung zur nächsten Straße. Suchte nach Leben in der tristen Einsamkeit. Nur das monotone Pfeifen eines Watvogels mischte sich in die gespenstische Winterruhe.

Er fühlte sich bemüßigt, auch etwas beizutragen. »Ich nehme nicht an, dass es irgendwelche Zeugen gibt …«

»Die könnten hier eine ganze Staffel von Game of Thrones drehen, ohne dass es jemand merkt«, erwiderte Darren, »außerdem – der Fundort ist nicht der Tatort. Davon abgesehen lag die Leiche noch ein ganzes Stück weiter draußen, aber wir mussten sie bergen. Die auflaufende Flut hätte sie sonst mitgenommen.«

»Kann ihn jemand aus einem Boot geworfen haben und er ist hier angespült worden?«

»Halte ich eher für unwahrscheinlich. Er war nicht lange im Wasser«, meldete sich Liam zu Wort.

»Meine Vermutung ist, dass er von der Brücke da drüben in den Fluss geworfen wurde«, ergänzte sein Kollege, »wir haben relativ frische Reifenspuren gefunden.«

Caitlin und Fin drehten sich um. Im Hintergrund sahen sie eine alte Steinbrücke, die den Scarva überspannte. Zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen machten sich bereits an der Mauer zu schaffen.

»Vielleicht hat der Mörder gehofft, dass die Strömung die Leiche aufs Meer hinaustreibt«, dachte Caitlin laut nach.

»Der Fluss ist nicht tief und die Strömung nicht besonders stark.«

»Na, dann wissen wir immerhin, dass sich der Täter hier in der Gegend nicht besonders gut auskennt«, folgerte sie.

Sie beugte sich über den Leichnam und inspizierte die Schussverletzungen. »Sieht mir nach ’nem eher kleinen Kaliber aus.«

»Hat ihn aber ’ne Menge Blut gekostet«, erwiderte Liam.

»Abwehrspuren?«

»Auf den ersten Blick nicht. Dafür aber das hier.« Er deutete auf die Hautabschürfungen an den Handgelenken. »Möglicherweise hatte er keine Gelegenheit mehr, sich zu wehren.«

»Kannst du schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Da musst du dich bis –«

»– zur Obduktion gedulden, ja, ich weiß, Liam«, reagierte Caitlin ungeduldig, »aber eine erste Einschätzung hast du doch, oder?«

Der Gerichtsmediziner seufzte ergeben. »Mit Sicherheit kann ich dir lediglich sagen, dass er noch keine vierundzwanzig Stunden tot ist.«

»Geht’s nicht etwas präziser?«

»Vielleicht gestern Abend, wahrscheinlich vor Mitternacht. Aber das ist eine reine Vermutung«, schränkte er sofort wieder ein, »das hängt von so vielen Faktoren ab. Körpertemperatur, Außentemperatur …«

»Ja, ich weiß«, fiel Caitlin ein, »Papiere?«

»Nope.«

»Wie habt ihr ihn dann so schnell identifiziert?«

»Wir haben ihm als erstes einen Satz Fingerabdrücke abgenommen«, antwortete Darren und deutete auf seinen Laptop, den er auf einem Metallkoffer aufgebaut hatte, »das hat trotz der aufgequollenen Haut super funktioniert. Diese neue Software ist echt der Hammer.« Dann ergänzte er wie beiläufig, als ob es seine Leistung und die des Computers schmälerte: »Außerdem hatte er eine Kreditkarte in der Hosentasche.«

Fin wunderte sich und sah Caitlin an. »Läufst du zu Hause rum und hast deine Kreditkarte bei dir?«

»Man kann mit einer Kreditkarte noch ganz andere Dinge machen als Geld abheben.«

Er begriff, worauf sie hinauswollte. Kleine dünne Linien aus Koks ziehen. »Oder sein Mörder wollte vielleicht, dass wir ihn identifizieren.«

Caitlin speicherte seinen Gedanken ab. »Wir haben ihn also in unsrer Kartei?«

Darren rief eine Datei auf und las vor. »Raymond O’Malley, geboren 1966 in Derry. Ein paar kleinere Vergehen. Unerlaubter Waffenbesitz, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.«

»Derry«, knurrte Caitlin, »da kommt Freude auf …« Sie hatte schlechte Erfahrungen gemacht mit grenzübergreifenden Mordfällen.

»Als letzten Wohnsitz hatte er allerdings eine Adresse hier in Donegal angegeben.«

Caitlins Miene hellte sich unmerklich auf. »Na, wenigstens etwas.«

»Die Identifizierung ist allerdings nur vorläufig, das weißt du ja«, entgegnete Darren.

Fin spürte, dass Caitlin ihn ansah. Er schaute auf.

»Und? Ist er’s?«

»Möglich.« Er zuckte mit den Achseln. Versuchte, sich an die Beerdigung zu erinnern, den Tag, an dem er Raymond zum letzten Mal gesehen hatte. Aber er musste noch tiefer in seiner Vergangenheit graben. »Ich weiß, dass er als kleiner Junge von einem Hund angefallen wurde. Der Köter hat ihm damals das halbe Ohr abgebissen.«

»Welches?«, fragte Liam.

»Links.«

Der Gerichtsmediziner neigte den Kopf des Toten und strich vorsichtig die nassen Haarsträhnen zur Seite. Das Ohrläppchen und ein Teil der Ohrmuschel fehlten.

»Hatte er Familie? Frau? Kinder?«, fragte Caitlin.

Fin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wie gesagt, ich bin ihm das letzte Mal vor fast zwanzig Jahren begegnet.«

»Wie war die Adresse?«

»Corrach Mór«, gab Darren Auskunft.

»Das ist nicht weit von hier.«

3. Raymond

Corrach Mór war kein Ort im eigentlichen Sinne. Es war eine Ansammlung von kleinen Farmen, die sich weit verstreut unter einem düster werdenden Himmel duckten.

Caitlin musste an einer Tankstelle nach der Adresse fragen. Endlich angekommen, ließ sie den Wagen am Straßenrand stehen, um mögliche Spuren nicht zu zerstören. Hinter einem verrosteten Tor lag ein unbefestigter Weg zwischen Ginsterbüschen, die Wind und Raureif zu bizarren Skulpturen geformt hatten.

Corrach Mór bedeutete so viel wie »Großer Sumpf«, und zu jeder anderen Jahreszeit machte die Umgebung ihrem Namen alle Ehre, aber jetzt im Winter war der Boden zu Eis erstarrt. Das Knistern gefrorener Grashalme, die unter ihren Schritten brachen, schien das einzige Geräusch weit und breit.

Ein altes Farmhaus tauchte vor ihnen auf.

Wie er so neben Caitlin herstapfte, konnte sich Fin nicht vorstellen, dass Raymond unter die Farmer gegangen war. Auf den ersten Blick machte das Anwesen einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck. Baufällige Schuppen, niedergerissene Zäune, ein Durcheinander von rostigen Gerätschaften. Nirgends Spuren einer Bewirtschaftung.

»Die Fenster scheinen neu zu sein«, stellte Caitlin fest. Sie war stehengeblieben, schaute sich um, suchte mit wachsamen Augen nach Bewegungen hinter den Gardinen, nach Anzeichen von Bewohnern, denen ihre Ankunft nicht verborgen geblieben war. Hinter einem der Fenster brannte Licht.

Neben dem Haus türmte sich ein Berg aus Bauschutt auf. Alte herausgebrochene Mauersteine, wurmstichige Holzrahmen, Scherben von rosafarbenen Kacheln.

Entlang einer provisorischen Auffahrt, die zu einer halbfertigen Garage führte, waren sogar schon neue Pflanzen gesetzt. Der obligatorische Rhododendron und undefinierbare Sträucher, deren kahle Äste jetzt im Winter noch wenig hermachten.

»Da hat sich offenbar jemand was vorgenommen«, vermutete Fin.

Auch die Haustür war neu. Zwei hochmoderne Sicherheitsschlösser. Aber einen Schlüssel brauchten sie nicht. Die Tür war nur angelehnt.

Caitlin holte ihre Pistole heraus und bedeutete Fin wortlos, hinter ihr zu bleiben, eine Aufforderung, der er liebend gerne nachkam. Auch wenn ihm die Polizistin gerade mal bis zum Kinn reichte.

»Hallo? Jemand zu Hause?«

Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf, bis sie halb offen stand.

»An Garda!«

Drinnen regte sich noch immer nichts.

»Wir kommen jetzt rein!«

Mit der Schulter schob sie die Tür auf, Zentimeter um Zentimeter. Die Pistole schussbereit, trat sie langsam ein.

Wärme schlug ihnen entgegen. Die Bewohner geizten nicht mit Heizkosten.

Ein kleiner Vorraum führte direkt in einen großzügigen Wohnbereich mit offener Küche. Große mattschwarze Steinfliesen, weißgetünchte Wände, freigelegte Holzbalken, wo Mauern gefallen waren. Ein offener Kamin, davor eine bequeme Sitzlandschaft.

Hier hatte sich jemand viel Mühe gegeben, ein altes, bescheidenes Cottage in eine noble Bleibe zu verwandeln.

In einer Ecke brannte eine Stehlampe. Die Digitalanzeige einer Hi-Fi-Anlage warf ihr blinkendes bläuliches Licht an die Decke. Aus unsichtbaren Lautsprechern tönte leise die warme verführerische Stimme von Frank Sinatra. Eine Endlosschleife.

»Hallo?« Caitlin gab nicht auf, aber wieder bekam sie keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie eine weitere Tür.

»Whirlpool. Nicht schlecht«, hörte Fin sie sagen, während er sich umschaute. Vorsichtig nahm er einen Latexhandschuh und schaltete den CD-Player aus. Die Asche im Kamin war noch warm. In einer Ecke ein gedeckter Tisch. Ein Kerzenhalter, die Kerze heruntergebrannt und verloschen. Ein benutztes Gedeck, ein halbvolles Glas. Essensreste.

»Kannst du dir vorstellen, dass er das alleine verputzt hat? Steak, Austern«, er schnupperte am Glas, »Champagner?« Es war eine rhetorische Frage.

Caitlin kam hinzu, bedachte die spärlich gedeckte Tafel mit einem zweifelnden Blick und deutete auf die Krümel, die vor dem gegenüberliegenden Sitzplatz die Tischdecke zierten. »Jede Wette, ich weiß, wo das zweite Gedeck ist.«

Sie zog ihre Handschuhe über und ging in die Küche.

Der Traum jeder Hausfrau. Moderne Elektrogeräte in Augenhöhe. Edelstahloberflächen. In der Mitte eine Kochinsel.

Caitlin öffnete die Tür der Geschirrspülmaschine. Eine kleine Wolke Wasserdampf entwich. Hier war er. Der fehlende Teller. Der zweite Satz Besteck. Ein weiteres Glas.

»Darren wird es lieben …«

Ihr prüfender Blick streifte die saubergewischte Arbeitsplatte aus dunklem Granit und inspizierte wider besseren Wissens auch den Mülleimer. Leer.

Fin hatte eine weitere Tür entdeckt.

»Vorsicht«, warnte Caitlin.

Er ließ ihr bereitwillig den Vortritt. Mit der Pistole im Anschlag stieß sie die angelehnte Tür behutsam auf.

Das Schlafzimmer.

Ein zerwühltes Bett. Ein umgekippter Stuhl. Und überall Blut.

»Okay.« Caitlin stieß einen Seufzer aus und zückte ihr Handy.

Fin sah sich um und passte auf, dass er dabei nicht in das eingetrocknete Blut trat. Um den Stuhl herum verstreut die Überreste eines Stricks. Durchgeschnitten. Daneben ein zusammengedrehtes Stück Stoff, das vielleicht als Knebel gedient hatte. Blutverschmiert.

»Darren, wenn ihr in Scarbhach Bay fertig seid, könnt ihr hier weitermachen. Wir haben vermutlich den Tatort gefunden.« Sie beendete das Gespräch. »Hier ist etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen.«

»Zumindest einer der beiden hat sich den Verlauf des Abends anders vorgestellt«, stimmte Fin zu und zeigte auf die Packung Kondome, die neben einem halbvollen Whiskyglas auf dem Nachttisch lagen.

»Ein netter Abend am Kamin, leise Musik, ein Dinner bei Kerzenlicht … Aber was ist dann passiert?«

Fin hob vorsichtig ein Stück Seil auf. »Nicht jeder steht auf diese Art von Spielchen.«

Caitlin folgte der Blutspur, die über den Teppich zu einer Hintertür führte. Mit dem Griff ihrer Pistole drückte sie die Klinke nach unten, darauf bedacht, keine Fingerabdrücke zu zerstören. Auch wenn sie wie Fin zu ahnen schien, dass die Spurensicherung nur wenig Verwertbares finden würde.

Die Tür öffnete sich in einen Hinterhof. Sie trat hinaus. Fin folgte ihr. Hinterm Haus bot sich ein desolater Anblick. Überall Gerümpel, ausrangierte Möbel, dazwischen Handwerkszeug und noch mehr Bauschutt. Ein baufällig wirkender Unterstand aus Wellblech beherbergte einen Stapel von gebrauchten Futtermitteltüten, alle vollgestopft mit getrockneten Torfsoden. Der Vorrat für den Winter.

Caitlin suchte am Boden nach weiteren Blutspuren, aber Fin war schneller. Um die Ecke parkten zwei Autos. Ein ausgeschlachteter VW Golf ohne Nummernschild und ein neuer silberfarbener Mercedes Kombi. An der Heckklappe klebte Blut.

Der Wagen war nicht abgeschlossen. Vorsichtig ließ Caitlin die Klappe nach oben gleiten. Im Inneren gab es weniger Blut als erwartet, aber genug für eine klare Feststellung. »Schätze, die Reifenspuren auf der Brücke passen zu diesem Wagen.«

Fin war um das Auto herumgegangen. »Hier sind noch mehr. Andere.« Im gefrorenen Schlamm waren die Spuren gut zu erkennen. Tiefe Spuren. »Muss ein großes Fahrzeug gewesen sein. Oder ein schweres. Und daneben Fußabdrücke.«

Caitlin kam herüber und warf einen Blick auf seine Entdeckung. »Grobes Profil, grobes Schuhwerk, vielleicht Gummistiefel.« Sie stellte ihren Fuß daneben. »Wenn der Schuh zu ’ner Frau gehört, dann lebt sie aber auf ziemlich großem Fuß.«

Fin blickte zurück und deutete auf die Schleifspur. »Ich tippe auf einen einzelnen Täter. Oder Täterin. Wenn sie zu zweit gewesen wären, hätten sie die Leiche getragen, um Spuren zu vermeiden.«

Caitlin ging in die Hocke und ließ ihren Finger prüfend über das gefrorene Relief gleiten, das der Stiefel hinterlassen hatte. »Der Abdruck ist nicht tief. Da war eher ein Leichtgewicht unterwegs.«

»Du meinst, da will uns jemand weismachen, dass ein Mann die Leiche entsorgt hat?«

»Jemand, der so sorgfältig seine Fingerabdrücke beseitigt, hinterlässt keine derart auffälligen Fußabdrücke. Es sei denn, eine Frau will die Polizei auf eine falsche Fährte locken«, folgerte Caitlin.

»Vielleicht war es ja tatsächlich keine Frau.«

»Du meinst …?«

Fin hob abwehrend die Hände. »Ich meine gar nichts. Ich kenne Rays Vorlieben nicht.«

»Vielleicht war die Dame ja tatsächlich nicht alleine.«

»Wenn sie ihn ohne Hilfe in den Wagen bugsiert hat, dann muss sie schon ziemlich kräftig gewesen sein.«

»Manche Frauen wachsen in Extremsituationen über sich hinaus.«

»Wenn es wirklich eine Frau war, dann keine, die in Extremsituationen leicht in Panik gerät«, vermutete Fin, »sie hat sich genug Zeit genommen, ihre Spuren zu beseitigen.«

»Aber nicht alle.« Caitlin klang nicht ganz hoffnungslos.

»Vielleicht hatte sie die Tat geplant?«

»Vielleicht.« Sie sträubte sich. »Es ist noch zu früh für Spekulationen.«

Sie knallte die Heckklappe des Mercedes zu. In der Ferne schlug ein Hund an.

Fin schlenderte ein paar Schritte über den Hof bis zu einem niedergedrückten Stacheldrahtzaun. Eine ausgediente Badewanne, zur Viehtränke degradiert, duckte sich in die verdorrten Brombeerhecken, auf dem schlammigen Wasser hatte sich eine dünne Eiskruste gebildet. Dahinter erstreckte sich Brachland, von Unkraut und kahlem Gestrüpp überwuchert. Ehemaliges Weideland.

Seine Schuhe traten auf Glasscherben. Er stand vor einem ganzen Haufen zerdepperter Flaschen. Bier, Wein, Wodka, Whisky. Zeugen feuchtfröhlicher Partys.

Wer war Raymond O’Malley gewesen?

Fin hatte keine echte Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen. Wenn sein Vater in Derry geblieben wäre, hätten sie Kumpels werden können. Vielleicht war er gar kein übler Kerl gewesen. Trotz kleiner Sündenfälle. Fin hielt sich selber nicht gerade für einen Unschuldsengel. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, Raymond O’Malley war ein Teil seiner Familie, ein Teil seines eigenen Lebens gewesen. Wenn auch nur ein winzig kleiner Teil.

Aber er hatte mehr Gefühle erwartet. War ihm der Tote gleichgültig? Der blutleere, fast schon saubere Leichnam in der Bucht hatte nichts in ihm bewegt. Auch das Blut da drinnen hatte ihn seltsam kalt gelassen.

Für Fin machte es keinen Unterschied, ob er das Opfer kannte. Raymond O’Malley war ein Fremder für ihn.

Aber war es ihm auch gleichgültig, wer der Mörder war? Steckte noch genug Polizist in ihm, um dabei zu bleiben? Genug Neugier?

Er wusste, wie so oft würde es jemanden geben, der ihm die Antworten auf diese Fragen abnahm.

Von Osten zog die Nacht ins Land. Dunkle Wolken schrammten lautlos über die Berge, als hätten sie den göttlichen Auftrag, alle Gipfel glattzuschleifen.

In einiger Entfernung brannte ein einsames Licht. Eine dünne Rauchsäule löste sich in der hereinbrechenden Abenddämmerung auf. Der Hund bellte noch immer.

Caitlin trat neben ihn und folgte seinem Blick.

»Die Haus-zu-Haus-Befragung wird übersichtlich …«

4. Tigh Rua

Tigh Rua stand auf dem verwitterten Holzschild. Die Schrift blätterte ebenso ab wie die rote Farbe, die dem Haus einst seinen Namen gegeben hatte. Es war schwer zu sagen, ob das Schild an der Mauer hing oder die Mauer an dem Schild, das dazugehörige Haus jedenfalls war eine Ruine. Das Dach wenig vertrauenerweckend, die Fensterhöhlen zugemauert, zum Lagerschuppen degradiert, war es dem Verfall preisgegeben, während das neue Wohnhaus dahinter stand, größer als das alte, aber genauso einfach und zweckmäßig.