Nachtigall flieg - Laura Kier - E-Book

Nachtigall flieg E-Book

Laura Kier

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Beschreibung

Bevor die Tür des goldenen Käfigs zuschlägt, lässt Sabrina in letzter Sekunde ihren Verlobten vor dem Altar stehen. An seiner Seite hat sie nicht nur ihre Träume aufgegeben, sondern auch den Glauben an sich selbst verloren. Jetzt zählt nur noch eins: Endlich wieder die Flügel ausbreiten und zu sich selbst finden. Können ein ruheloser Geist und ein charmanter Schriftsteller ihr dabei helfen, ihr Glück zu finden?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Laura Kier

Roman

Impressum

ISBN

Taschenbuch: 978-3-96427-038-2

Hardcover: 978-3-96427-040-5

ePUB: 978-3-96427-039-9

1. Auflage, August 2022

© Laura Kier

www.weltenpfad.net

Laura Kier

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Lektorat: Maren Kempgens, Katja Menner

Korrektorat: Stefanie Szabo

Coverdesign: Laura Kier

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Über die Autorin

Träume verändern die Zukunft.Doch erst wenn wir die Augen öffnen, können wir sie verwirklichen!

Dieser Gedanke begleitet Laura Kier beim Schreiben ihrer Welten. Sie sammelt Inspiration in der Natur und möchte mit ihren Märchen, Dystopien, Fantasy- und Steampunkromanen sowie Kurzgeschichten die Leser:innen dazu einladen, den eigenen Träumen zu folgen.

Mehr über Laura Kier unter www.weltenpfad.net

Kurzgeschichten, kleine Auszeiten, Hintergründe und mehr fliegen mit der Phönixpost in deine Mailbox: www.weltenpfad.net/phoenixpost

1. Teil

Alles auf Anfang

1. Kapitel

Nein

Als ich Max vor dem Altar in die Augen sah und die eine Frage mit »Ja« beantworten sollte, konnte ich nicht. Ein enger Metallkäfig lag um meine Brust, schnürte mich fest ein. Mein Herz raste und es lief mir eiskalt den Rücken hinab, wenn ich nur daran dachte, dass wir gleich verheiratet sein würden.

Seine Augen sagten mir: »Jetzt gehörst du mir. Mein Frauchen in meinem Palast.«

Plötzlich hörte ich das Lachen meiner verstorbenen Schwester Tamara. Glockenhell war ihr Klang. So wie mit sechzehn auf der Wiese unter den Apfelbäumen. Damals hatten wir uns ein Versprechen gegeben, das wir niemals in unserem Leben vergessen wollten. Fröhlich hatte sie gelacht und ganz oben in ihr Notizbuch geschrieben: »Folge deinen Träumen!«

Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. War das, was ich hier gerade tat, mein Traum?

Als würde ein Wirbelsturm durch mich hindurchfahren, drehte sich die Welt um mich herum. Mir wurde schwindelig, die Worte des Pfarrers rauschten an mir vorbei. In dem Moment wurde mir klar: Es war ein Fehler, in der Kirche zu stehen und Max heiraten zu wollen. Ich war nicht seine Nachtigall im goldenen Käfig!

Doch alle Blicke waren auf mich gerichtet. Jeder wartete darauf, dass ich mit ›ja‹ antworte. Aber allein bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Das hier war nicht mein Traum!

Hinter mir tuschelten bereits die Gäste und Max drückte meine Finger fester. Aber ich stand da, sah ihn an und schwieg.

Der Pfarrer räusperte sich und wiederholte: »Willst du, Sabrina Haas, Maximilian Samuel Gottlieb nach Gottes Gebot zum Ehemann nehmen? Ihn als Gottes Gabe lieben, ehren und ihm in Freud und Leid treu bleiben, bis der Tod –«

»Nein.« Weiter ließ ich ihn nicht sprechen. Ich betrachtete das weit ausladende Kleid, unter dem irgendwo meine Beine sein mussten. Mein Blick verschwamm und ich sah nur noch dichten Nebel um mich herum. Das war nicht mein Leben! Das konnte es nicht sein.

Tief atmete ich ein, um mich ein wenig zu beruhigen, dann sagte ich: »Ich kann das nicht.« Ich hob den Blick. »Es tut mir leid, Max. Ich kann dich nicht heiraten.« Mir war egal, dass der Pfarrer mich verdutzt ansah. Aber ich zuckte zusammen, als Max meine Hand nicht losließ, sondern sie fester drückte. Darauf beugte ich mich zu ihm vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Der Kuss schmeckte fahl, wie zu lange in der Sonne gestandenes Wasser. Seine Wange war verschwitzt und sein Aftershave wurde plötzlich zu einem Geruch, den ich hasste. Es widerte mich an. Aber ich würde nur zu ihm durchdringen, wenn ich ruhig blieb und nicht sofort, wie ein Wirbelwind, davonflog.

Ich sah ihn direkt an. Wäre ich eine Katze gewesen, hätte ich die Krallen ausgefahren, um mich freizukämpfen. Es war eine grausame Situation, vor allem für ihn, doch es gab für mich keinen anderen Weg mehr. Ich wollte frei sein und dafür war ich endlich bereit, zu kämpfen.

Max wirkte, als wüsste er nicht, ob er weinen oder mich anschreien sollte. Ich verübelte es ihm nicht. Bis zu diesem Moment hätte ich nicht mit meiner Reaktion gerechnet. Aber jetzt wollte ich endlich den Käfig verlassen, in den ich mich hatte einsperren lassen. Ich war nicht sein dressiertes Vögelchen, das nett sang und tat, was er sich wünschte und darüber hinaus alles andere vergaß.

Als Max mich nicht losließ, raste mein Herz. Ich wollte ihm diese Art der Trennung nicht antun. Aber ich hatte Angst vor einem Leben mit ihm. Er bestimmte, was wir taten, und ich durfte keine Entscheidungen treffen. Doch ich wollte wieder frei sein.

Heftiger als nötig, zog ich an meiner Hand. »Bitte Max. Ich kann es nicht.«

Er schluckte schwer. Dann verfinsterte sich sein Blick. »Was soll das? Unsere Familie und Freunde warten! Wir sind glücklich zusammen!« Seine Stimme zitterte und die Unterlippe bebte. Er verstärkte den Druck auf meine Hand.

So hatte ich ihn bislang nur wenige Male erlebt. Immer dann, wenn er kurz vor einem Wutausbruch stand. In der Öffentlichkeit würde er sich diese Blöße nicht geben, aber ich wollte lieber nicht mit ihm allein sein. Handgreiflich wurde er nie, aber seine Worte waren scharf wie Skalpelle.

Doch in diesem Augenblick fiel mir nichts ein, um ihn zu beruhigen. Viel zu wild klopfte mein Herz und noch immer rauschte das Blut in meinen Ohren.

Zum Glück schob der Pfarrer uns auseinander. Er drehte mich zu sich. »Kommen Sie bitte mit mir mit.« Er sprach im Flüsterton, dennoch hatte ich das Gefühl, als würde seine Stimme durch die gesamte Kirche hallen. Zu Max sagte er: »Lassen Sie bitte Frau Haas mit mir gehen.«

Er reagierte nicht auf die Worte des Pfarrers, sondern starrte mich an, als würde er mir am liebsten das Herz rausreißen, so wie ich es mit seinem getan hatte.

War ich Max weitere Erklärungen schuldig? Aber das würde ich ihm nie erklären können! Trotzdem gab es eine Stimme in meinem Inneren, die laut rief, dass man so keine Menschen behandelte. Wenigstens eine kurze Erklärung wäre höflich und die sollte er bekommen. »Ich kann mich nicht selbst aufgeben, um dir dein Wunschleben zu ermöglichen.« Unschlüssig, wie ich es besser sagen sollte, presste ich die Lippen aufeinander und schwieg. Ich wollte fair zu Max sein, nur wusste ich nicht, wie das gehen sollte.

Endlich ließ Max meine Hand los. Kraftlos fühlten sich seine Finger an, als sie davon glitten. »Sabrina …« Tränen standen in seinen Augen, die Wut war verpufft. Mehr als meinen Namen sagte er nicht.

Hinter uns tuschelten die Gäste. Max wandte sich ab und ging zu seiner Familie in der ersten Reihe. Mit Tränen in den Augen sah ich ihm hinterher.

Es fiel mir nicht leicht, ihn so zu sehen. Mit gesenktem Kopf schritt er auf die Bänke zu. Allein. Als sein Vater zu ihm kam, straffte er die Schultern.

Das Gemurmel wurde lauter und einige von seinen Freunden sowie seine Familie standen auf, kamen auf uns zu. Dabei sahen sie mich wütend an.

Der Pfarrer berührte mich an der Hand und zog mich zur Seite. »Kommen Sie mit«, raunte er mir zu.

Ich hatte nichts dagegen, den entsetzten Gästen zu entkommen, die im Kirchenschiff auf mich warteten.

Die Frau, die meine Schwiegermutter hätte werden sollen, bedachte mich mit wüsten Beschimpfungen, die sicher nicht in einer Kirche ausgesprochen werden sollten. Zum Glück hielten die Messdiener sie fest, sprachen beruhigend auf sie ein.

»Kommen Sie mit«, wiederholte der Pfarrer. Er deutete zur Sakristei neben dem Altarraum. »Lassen Sie uns reden.«

Ich schüttelte den Kopf und wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. Reden war das Letzte, was ich im Moment wollte. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Ich wollte weg und davonfliegen, doch mit jedem Schritt, den wir durch die Kirche liefen, froren meine Gefühle ein.

Was sollte ich jetzt tun?

Der Pfarrer machte einen Schritt auf die Sakristei zu und winkte mir, ihm zu folgen. »Wie geht es Ihnen? Benötigen Sie Unterstützung? Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihren Gästen, was los ist.«

Irritiert blinzelte ich. Meine Gäste? Meine Familie war nicht anwesend.

Ich schüttelte den Kopf und steuerte auf die Seitentür neben der Sakristei zu. »Ich brauche frische Luft«, sagte ich und sah den Pfarrer kurz über die Schulter an, ehe ich die Klinke herabdrückte. Meine Finger zitterten und ich brachte kaum die Kraft auf, um die schwere Metalltür aufzudrücken.

Er nickte und ließ mich gehen. Allerdings kam ich nicht weit.

Ein Mann versperrte den Ausgang. »Na, wohin des Weges?«, fragte er mich und lehnte sich entspannt in den Türrahmen.

Möglichst finster starrte ich ihn an. »Geht Sie nichts an.«

»Sicher? Du sprengst hier gerade die Hochzeit.«

»Und?«

»Ich mein ja nur.« Sein Lächeln wuchs in die Breite.

»Lassen Sie mich bitte durch!« Ich schob mich ein Stück näher an ihn heran. Es war mir unangenehm, aber der Drang nach draußen zu kommen war stärker.

Darauf trat er einen Schritt zur Seite. Für meinen Geschmack war er noch viel zu nah, doch wir berührten einander nicht.

Ich ging hinaus in den Sonnenschein. Der Tag wäre perfekt gewesen. Warm, sonnig und der Duft von Flieder lag in der Luft.

Zwei Schritte weiter stand ich mitten im Kräutergarten neben der Sakristei. Tief atmete ich ein. Ich wusste nicht, ob ich Lachen oder Weinen wollte. In mir wirbelte ein Sturm aus Gefühlen, die ich kaum auseinanderhalten konnte.

Unzählige Fragen rauschten durch meinen Kopf: Wohin nun? Nach Hause? Dorthin, wo Max mich als erstes suchen würde? Allein bei dem Gedanken wurde mir übel.

Wen konnte ich um Hilfe bitten? Als ich in Gedanken die Gäste in der Kirche betrachtete, schüttelte ich den Kopf. Da war niemand. Meine Eltern waren nicht gekommen. Freunde? Ich lachte. Die Menschen um mich herum waren keine Freunde. Als mir das bewusst wurde, schmolz das Eis der Angst in mir weiter und wurde zu Tränen der Einsamkeit. Eiskalt liefen sie mir die Wangen hinab. Ich war allein. Weder Freunde noch meine Familie standen mir zur Seite. Plötzlich fühlte ich mich so einsam wie nie zuvor in meinem Leben.

Ich hob den Reifrock an, um besser laufen zu können, ging zum Straßenrand und sah mich um. Ohne Geld kam ich nicht weit und in der Nähe gab es nichts, wohin ich gehen konnte.

Plötzlich fuhr die Kutsche um die Ecke, die wir angemietet hatten. Perfekt! Das war meine Chance.

Es wäre eine absolute Märchenhochzeit geworden, doch das glückliche Brautpaar fehlte.

Zügig wischte ich mir die Tränen vom Gesicht, trat auf die Straße und stellte mich in den Weg. »Bitte anhalten«, rief ich dem Kutscher zu.

Augenblicklich liefen die mit weißen Schleifen geschmückten Rappen langsamer und blieb stehen. Der Kutscher beugte sich zu mir vor. »Huch? Wo ist der Bräuti–« Die Stimme einer Frau. Doch sie sprach nicht weiter, sondern starrte mich verdutzt an.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Im Frack mit dem Zylinder hatte ich einen männlichen Kutscher erwartet.

»Würden Sie mich bitte mitnehmen?«

Die Kutscherin richtete sich auf und deutete auf die Bank hinter sich. »Hüpf rein, Sabrina.«

Das Du irritierte mich, aber im Augenblick nahm ich alles, was ich bekommen konnte.

»Vielleicht magst du mir erzählen, was geschehen ist?«

Aus irgendeinem Grund kam mir die Stimme merkwürdig bekannt vor. Ich konnte nicht sagen, woher. Doch ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Als würde ich unter einem der Apfelbäume aus meiner Jugend in der Sonne liegen und den Nachmittag in der Nähe der grasenden Pferde genießen. Dennoch war ich noch nicht bereit, darüber zu sprechen, was geschehen war. Deshalb sagte ich: »Bitte entschuldigen Sie, aber das ist mir zu persönlich. Im Augenblick möchte ich nur schnell hier weg.«

»Okay, ich bin da, wenn du jemanden zum Reden brauchst.« Sie drehte sich zu mir um und lüftete kurz den Hut. Verschmitzt zwinkerte sie mir zu. »Sag bloß, du erkennst mich nicht?«

»Nicht wirklich.« Bislang hatte ich nur einen flüchtigen Blick auf sie geworfen. Ich war damit beschäftigt, das Kleid zu sortieren. Viel zu viele Lagen Tüll und Reifrock und was wusste ich schon, was da noch alles eingenäht worden war.

Eigentlich viel zu pompös für meinen Geschmack. Aber Max hatte es sich gewünscht. Eine ungezwungene Strandhochzeit – Nordsee, nicht Karibik – hätte mir besser gefallen. Mit wenigen Gästen und nicht diesem Schnickschnack. Mir war es von Anfang an zu viel gewesen. Bei dem Gedanken an die Vorbereitungen, kroch wieder Ärger in mir hoch.

Nicht einmal beim Kleid hatte ich ein Mitspracherecht gehabt. Von seiner Mutter war ich hineingezwängt worden. Es schnürte mir regelrecht die Luft ab. Ich konnte kaum atmen, obwohl das Korsett mir genug Raum ließ. Traurig senkte ich den Kopf und verdrängte weitere Tränen. Ich wollte doch meine Flügel ausbreiten und diesem Käfig entkommen! Warum fühlte ich diesen Wimpernschlag der Freiheit, als ich nein zu Max sagte, nicht mehr?

Zögernd sah ich zur Kutscherin. Sollte ich sie wirklich kennen? Angestrengt überlegte ich und bat: »Könnten Sie bitte einfach fahren? Ich möchte dringend von hier verschwinden.«

»Wohin soll es denn gehen? Der Stadtgarten ist wohl gestrichen oder wartet dort jemand anderes auf dich?« Ein leicht sarkastischer Unterton lag in ihrer Stimme.

Ich schüttelte den Kopf. »Irgendwohin. Hauptsache weg.« Mit jedem Atemzug fiel es mir schwerer, die Tränen zurückzuhalten. All die Ungewissheit krallte sich in mir fest und sorgte dafür, dass meine Finger zitterten. Ich konnte nicht ruhig sitzen und sah mich um, ob Max uns verfolgte.

Schnell verdrängte ich den Gedanken. Max hatte zwar seine eigene Vorstellung vom Leben, aber gewalttätig war er nicht. Gegen meinen Willen würde er mich nicht dazu zwingen, bei ihm zu bleiben. Dennoch hatte ich Angst. Weniger vor Max als vor der Zukunft mit ihm. Was sollte ich jetzt tun?

Ich räusperte mich. »Fahren Sie, wohin sie wollen.«

»Zu deinen Eltern? In den Wald? Ein Hotel?«

»Zu meinen Eltern? Nein. Einfach weg hier.« Ich runzelte die Stirn. »Aber woher kennen Sie mich? Über meine Eltern?«

»Fast. Rate nochmal.« Sie klang fröhlich.

Ich nahm die Herausforderung an. Ablenkung war gut. Es musste lange her sein. Nach dem Studium war ich weggezogen. Max hatte ich immerhin überzeugen können, dass ich in meiner Geburtsstadt heiraten wollte, wenn schon alles andere nach seinem Willen geschah. Ich hatte gehofft, so wenigstens meine Eltern heute zu sehen, aber … Ihre Absage hatte mich schwer getroffen und stimmte mich weiterhin traurig.

Die Kutsche zog an. Durch das Klappern der Hufe kam ich ein wenig zur Ruhe.

Doch die Ruhe kurbelte die Gedankenmaschine in meinem Kopf an. Was hatte ich getan? Nicht einmal mein Smartphone hatte ich bei mir, geschweige denn meinen Ausweis.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich die leere Sitzbank gegenüber an. Mein Leben, wie ich es bislang kannte, stürzte um mich herum ein, und mir stürmte eine ungewisse Zukunft entgegen!

Ich brauchte Geld, einen Ort zum Schlafen und vieles andere. Ein neuer Job außerhalb von Max’ Firma war noch meine geringste Sorge. Marketingprofis wurden überall gebraucht. Das konnte aber warten; noch hatte ich ein paar Urlaubstage.

Ich war so durcheinander. So viele Fragen und im Moment hatte ich auf keine einzige eine Antwort. Ich wusste nur, dass ich weg wollte.

Noch heute Morgen war ich davon überzeugt gewesen, mein Leben mit Max teilen zu wollen. Ja, ich hatte seit Wochen ein mulmiges Gefühl in der Magengegend gehabt, doch erst als der Pfarrer die Frage ausgesprochen hatte …

Ich schüttelte den Kopf.

Plötzlich saß der Mann vom Ausgang der Kirche mir gegenüber auf der Bank.

Perplex starrte ich ihn an. Gehörte er zu der Kutscherin? War er deshalb in der Kirche gewesen und mir völlig unbekannt? Weshalb hatte ich nicht bemerkt, dass er eingestiegen war?

Schweigend saß er da.

Sollte ich die Stille mit einer Vorstellung durchbrechen? Dann entschied ich: Solange er nicht wissen wollte, weshalb ich hier allein saß, war alles erträglich.

»Was für ein Tag.« Der Mann beugte sich zu mir vor.

»Noch ist er nicht vorbei«, flüsterte ich. Mir fiel es schwer, zu reden. Ein dicker Kloß hatte sich in meinem Hals eingenistet.

»Ich kenne deine Situation nur zu gut.« Seine Stimme war ruhig und er lächelte mich an, als würde er mich beruhigen wollen.

»Danke für Ihren Aufmunterungsversuch. Allerdings bezweifle ich, dass Sie meine Situation kennen. Es gibt doch keine zwei gleichen Situationen.« Ich seufzte. »Es tut mir Leid, aber ich möchte gerade nicht reden.« Es missfiel mir, dass mich dieser Mann einfach duzte und sich nicht einmal vorstellte. Aber vor allem wollte ich meine Gedanken sortieren.

»Mit wem sprichst du?«, erklang die Stimme meiner unbekannten Bekannten.

»Gehört er nicht zu dir?« Ich verstummte. »Wer sind Sie?« Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich ihn an.

Doch er hatte nichts anderes zu tun, als versonnen zu lächeln.

»Nun sagen Sie schon.« Es frustrierte mich, gleich bei zwei Personen nicht zu wissen, wer sie waren.

»Das erfährst du früh genug.« Das war keine Antwort, nur ein Ausweichen.

Ich rümpfte die Nase, während Ärger in mir hochkroch. Um mir ein wenig Luft zu verschaffen, sagte ich gereizt: »Wie bitte? Sie glauben, Sie könnten meine Kutsche als Mitfahrgelegenheit nutzen, ohne mich vorher zu fragen?« Ein merkwürdiger Schauer lief über meine Haut. Angst jagte mir der Kerl nicht ein, auch wenn das vielleicht die logischere Reaktion gewesen wäre, so plötzlich wie er vor mir aufgetaucht war.

»Deine Kutsche?« Die Kutscherin hielt an einer Ampel und drehte sich zu mir um. »Mit wem sprichst du da überhaupt?«

Ein wenig zerknirscht sah ich sie an. »Verrätst du mir wenigstens, wer du bist?« Egal wie sehr ich darüber nachdachte, mir wollte nicht einfallen, woher ich sie kannte.

»Lisa Wiggins. Na, erinnerst du dich?«

Lisa … Ich kannte die eine oder andere. Auch der Nachname sagte mir entfernt etwas. Trotzdem fehlte mir die Verbindung.

»Tamy und ich waren lange Zeit Teampartnerinnen beim Polo.«

Ich schluckte schwer. Langsam dämmerte mir, wer sie war: Eine sehr enge Freundin meiner Schwester Tamara. Früher. Viele Jahre lag diese Freundschaft zurück. Fast jeden Nachmittag hatten die beiden unter den Apfelbäumen auf der großen Weide gesessen und sich Geschichten erzählt. Oft lag ich in der Nähe auf einer Decke und las ein Buch.

Mit dieser Erinnerung kam auch eine andere, bei der sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Ich schaute Lisa an. Sie nickte mir traurig zu.

Bilder von meiner Schwester erschienen vor meinem inneren Auge. Ich dachte an das Foto über dem Kamin meiner Eltern, wo wir als kleine Kinder lachend zusammen auf der Schaukel gesessen hatten. Daneben stand ein älteres Foto, auf dem sie das erste Mal auf einem Pony saß. Auch an den ersten gemeinsamen Reitausflug mit der immer fröhlichen Lisa vor so vielen Jahren erinnerte ich mich.

Lisa war es gewesen, die Tamy von Polo begeisterte und sie ermutigte, mehr aus ihren Geschichten zu machen. Sobald jemand traurig war, fand Lisa ein aufmunterndes Wort.

Tränen rannen mir die Wange hinab. Seit meine Schwester … Ich fühlte mich so schuldig für das, was damals geschehen war. Wäre ich doch nur schneller bei ihr gewesen! Max hatte mir zwar geholfen, den Unfall erfolgreich zu verdrängen, aber vermutlich war das das Problem. Ich hatte Tamaras Tod zur Seite geschoben, ohne ihn zu verarbeiten, und nun hatte ich auch Max fortgeschickt. Genau wie meine Familie. Niemand war gekommen. Doch jetzt war Lisa da. Eine überraschende Verbindung zu meiner Vergangenheit.

Das war zu viel für mich. Ich schluchzte und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Du erinnerst dich?«

Gerade so brachte ich ein Nicken zustande. Noch rechtzeitig, ehe sie wieder auf die Straße sah und die Rappen antrieb.

Weder sie noch ich sagten ein weiteres Wort.

Auch der Mann mir gegenüber schwieg. Mir war es recht. Sollte er doch mitfahren, wenn er unbedingt wollte. Solange ich dafür nicht zahlen brauchte, war es mir egal. Vielleicht kannte er Lisa.

Um den Mann mir gegenüber zu ignorieren, betrachtete ich die Straßen, durch die wir fuhren. Meine alte Heimat. Dennoch sah alles fremd aus. Ich kannte die Wege und ahnte, dass Lisa zum Reitstall unserer Jugend fuhr.

Beklemmung legte sich um mein Herz. Ich hatte gerade meinen Verlobten vor dem Altar stehen gelassen und fuhr nun mitten in meine Vergangenheit. War das besser?

Erschöpft lehnte ich mich zurück. Nach einigen tiefen Atemzügen schloss ich die Augen. Der warme Maiwind strich sanft über meine Haut. Wie ein Geliebter, der mich tröstete und mich zärtlich im Arm hielt. Für einen Moment gab ich mich dem Gefühl hin. Ich brauchte die Ruhe, um zu begreifen, was ich da in der Kirche getan hatte und wie es weitergehen sollte.

2. Kapitel

Tamara

Die Fahrt zog sich hin. Den Innenstadtbereich sowie die direkt angrenzenden Stadtteiche hatten wir hinter uns gelassen und fuhren aufs Land hinaus.

Licht und Schatten wechselten sich ab, als wir durch eine Eichen-Allee fuhren. Mal war es hell um mich herum und alles leuchtete, dann wurde es dunkel. Genau wie in meiner Gefühlswelt. Na klasse. Befand ich mich selbst gerade mehr im Licht oder im Schatten?

Bis gestern hätte ich gesagt, mein Leben sei toll … Pool im Haus, Putzhilfen, Gärtner – oh, es war herrlicher Luxus!

Aber nur, wenn ich alle gegenteiligen Gefühle zur Seite drängte. Vor lauter Dinnerpartys, irgendwelchen Eröffnungsfeiern und Wochenendausflügen nach Mailand, London oder in die Schweiz hatte ich keine freie Minute mehr für mich. Allein wenn ich daran dachte, wurde ich nervös und der Stresspegel stieg.

Auch den Luxus in unserem Haus brauchte ich nicht. Es war zwar nett, aber weder durfte ich den Räumen eine persönliche Note verleihen – Innendesigner hatten alles perfekt arrangiert – noch hätte ich mich am Wochenende in Schlafanzug und Kuschelsocken aufs Sofa lümmeln dürfen. Dabei hatten Tammy und ich solch einen Samstagmorgen geliebt.

Wut stieg in mir hoch. Warum hatte ich es nicht früher bemerkt?

Ich beobachtete die Landschaft. Ein zaghaftes Lächeln huschte über meine Lippen. Endlich hörte ich wieder das Klappern von Hufen! Auch der Geruch der Rappen stieg mir in die Nase. Beinahe konnte ich das Heu riechen, das sie später in ihrer Box futtern würden … Ein Besuch in unserem alten Reitstall war viel zu lange her. Tatsächlich freute ich mich darauf und hoffte, dass Lisa ohne Ortsangabe von mir dorthin fuhr.

Für einen Moment schloss ich die Augen. Früher hatte ich mich frei gefühlt, wenn ich durch den Wald ritt. Auch jetzt fühlte ich mich leichter. Die Enge um meine Brust verschwand.

Als Lisa auf einen Feldweg einbog, von dem ich wusste, dass er zum Reitstall führte, jubelte ich innerlich. Es hatte sich nicht viel verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war.

Damals vor knapp zehn Jahren … Mit Blaulicht war meine Schwester Tamara abgeholt worden.

Ich schluckte schwer.

Noch im Krankenwagen war sie verstorben.

Doch daran mochte ich mich im Augenblick wirklich nicht erinnern.

Was Lisa wohl denken mochte? Vielleicht würde ich sie später danach fragen. Sie erinnerte sich bestimmt wie ich an alles. Es war bedrückend.

Als wir auf den Hof fuhren, hatte ich das Gefühl, die Zeit wäre dort stehen geblieben. Noch immer wuchsen die Fliederbüsche neben dem Haupthaus. Neben dem Eingang standen wie früher Pflanzkübel mit bunten Stiefmütterchen. Katzen rekelten sich in der Sonne, und auf dem Platz trainierte die Inhaberin eine Gruppe Kinder. Ihre Stimme hallte über den Hof. Ich erkannte sie und die Befehle, die sie gab, sofort wieder. Viele Stunden hatte ich in meiner Jugend hier verbracht. Entweder bei den Pferden oder mit einer Katze unter einem der Apfelbäume, mit einem Buch in der Hand. Bis zu dem Tag, an dem Tamara starb. Danach hatte ich mich von hier ferngehalten.

Lisa bremste die Kutsche ab und wir stiegen aus. Ebenso wie der unbekannte Mann. Er schlenderte davon und sah sich um. Gut, wenn er meinte. Mir war es egal.

Ich wandte mich an Lisa. »Danke, dass du mich mitgenommen hast.«

»Kein Problem. Mein Geld bekomme ich so oder so.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Na dann.« Und jetzt? Was sollte ich tun? Wie kam ich von hier weg? Wieder kamen mir die Tränen. Schnell wischte ich sie aus dem Augenwinkel. Ich wollte stark sein und mir keine Blöße geben. Vor allem nach dem Spruch mit dem Geld.

Aber Lisa überraschte mich. »Hey! Ronja!«, rief sie einer Frau zu, die gerade einen Haflinger putzte. »Kannst du dich kümmern?« Sie deutete zur Kutsche. Dann sah sie mich an. »Ich weiß, was wir jetzt machen. Das wird dir guttun.«

Ronja legte die Bürste in den Putzkasten und kam zu uns. »Du bist ja schon zurü…« Sie verstummte und betrachtete mich. »Oh. Ja. Mach ich.« Sie ging zu den Rappen und übernahm von Lisa die Kutsche.

»Danke«, rief Lisa ihr hinterher. »Nun zu dir.« Sie kam zu mir und stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich habe mir etwas überlegt, aber bevor ich dir meinen Plan verrate: Was ist passiert?«

Wo sollte ich anfangen? Es war so schwer, die passenden Worte zu finden. »Ich konnte ihn nicht heiraten.«

»Möchtest du darüber reden?« Sie sah mich freundlich an.

Ich schüttelte den Kopf. »Gerade nicht.«

»In Ordnung. Falls du reden möchtest, bin ich da. Und wenn nicht, dann finden wir sicher viele andere Themen.« Sie lächelte mich an. »Ich finde schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben. Vielleicht magst du mir das eine oder andere Highlight der vergangenen Jahre verraten? Bist du viel rumgekommen?«

Überrascht sah ich sie an. Ich hatte das Gefühl, als würde sie sich wirklich für mich interessieren und nicht aus mir herausquetschen wollen, was geschehen war. Ganz anders, als ich es inzwischen gewohnt war. Meine sogenannten Freundinnen hätten sich aus Sensationslust wieder und wieder erzählen lassen, was da vorne am Altar passiert war. Nicht, um es zu verstehen. Sie wollten später darüber lachen können und womöglich über mich herziehen. Wie ich es denn wagen konnte, Max zurückzuweisen. So eine gute Partie!

Ich schauderte und senkte den Kopf. »Vielleicht wäre Reden doch gut.« Dennoch war ich unschlüssig. In den vergangenen Wochen hatte ich mich in Max’ Nähe unwohl gefühlt. Ich wollte nicht mehr ständig auf Dinnerpartys, sondern auch Zeit nur mit ihm allein. Tamy, Lisa und auch ich hatten es früher genossen, einfach nichts zu tun, statt ständig auf Partys unterwegs zu sein, wie viele unserer Mitschüler. Ob Lisa heute noch so war? Ich wollte ihr vertrauen können und ihr erzählen, was geschehen war. So wie Tamy früher.

Tamara hatte ihr vertraut und mit ihr so viele Geheimnisse geteilt. Beide hingen oft kichernd und flüsternd zusammen. Aber bei ihnen hatte ich nie das Gefühl, dass sie über andere herziehen würden.

Ein wenig wehmütig verfolgte ich meine Gedanken. Lebte ich ernsthaft seit Tamaras Tod ein Leben, das wir nie führen wollten? Eines voller Partys, ständig unterwegs sein und ohne Zeit für mich selbst? Eine Zeitlang hatte es mir gefallen. Aber in den vergangenen Monaten suchte ich mehr und mehr nach dem Sinn hinter allem. Ganz klar: So sollte es nicht weitergehen. Ich wollte neu anfangen. Jetzt sofort.

»Können wir uns bei den Apfelbäumen noch ungestört unterhalten?«, fragte ich Lisa. Ich erinnerte mich daran, dass die meisten Orte auf dem Hof von vielen Leuten aufgesucht wurden. Das waren mir zu viele Ohren. Aber auf der Weide bei den Apfelbäumen waren früher nur die Pferde. Ein leichtes Kribbeln der Vorfreude breitete sich in meiner Brust aus. Ein vertrauter Ort wäre jetzt schön.

Ich beobachtete Lisa genau. Was ging wohl in ihr vor? Auch sie hatte zahlreiche Erinnerungen an diesen Platz. Zusammen mit Tamara.

»Bist du dir sicher? Dein Kleid?« Ihre Stimme zitterte leicht. War sie womöglich auch zusammengezuckt?

»Das ist in Ordnung. Ich werde es nicht mehr brauchen. Sollte ich jemals wieder vor einem Mann stehen, um mit ihm Ringe zu tauschen, dann in einem anderen Kleid.« Ich rieb mir verlegen über den Hinterkopf, als ich sah, wie sie erstaunt die Augen aufriss. »Gut, zerstören will ich es nicht. Aber ich habe keine Wechselkleidung dabei. Umziehen fällt also aus.«

»Ich kann dir etwas von mir anbieten. Vielleicht passt es.«

Wollte sie nicht zu den Apfelbäumen? Warum sagte sie es dann nicht? Oder sorgte sie sich tatsächlich um den noch halbwegs weißen Saum des Kleides? »Wir können auch woanders hingehen.«

Lisa blinzelte und sah mich nachdenklich an. »Als Erstes holen wir dich aus dem Kleid. Dann kannst du dich freier bewegen. Tamara würde der Gedanke gefallen, dass wir zusammen die Weiden besuchen. Aber sie würde dich wohl nur sehr ungern in diesem Kleid und ohne Lächeln im Gesicht dort sehen wollen.«

»Weil ich es heute unrechtmäßig trage?«

»Nein. Weil du das Kleid nicht tragen möchtest. Sonst wärst du jetzt mit Herrn Gottlieb verheiratet und ihr würdet im Stadtgarten Fotos machen.« Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Komm mit.«

Ich folgte ihr. In dem Kleid fühlte ich mich auf dem Hof tatsächlich fehl am Platz. Jeder hob den Kopf, als ich raschelnd vorbei ging und sogar die Reitschüler auf dem Platz reckten die Köpfe, um zu sehen, was hier los war. Mir lief dabei ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich wollte nicht so auffallen.

Hinter der Sattelkammer gab es einen weiteren Raum, an dessen Wänden einige Umkleidebänke standen. Aus einem der Spinde zog Lisa einen Stapel Kleidung. Sie grinste breit und drückte mir diese in die Hand. »Du bist nicht viel größer als ich, könnte also passen.«

Als ich das Bündel auseinanderschlug, hielt ich einen Rock und ein T-Shirt in der Hand. »Kannst du mir bitte aus diesem Chaos heraushelfen?«

Ich hätte gar nicht zu fragen brauchen. Lisa schob bereits die zu kunstvollen Locken drapierten Haare über die Schulter und öffnete den Reißverschluss am Rücken.

»Weißt du, deine Frisur sieht wirklich herrlich aus. Insgesamt bist du eine wunderschöne Braut, nur das glückliche Lächeln fehlt dir. So wie ich es damals von dir kannte.« Ihre Stimme klang wehmütig. »Ich hatte so gehofft, dass du eines Tages wieder so lachen kannst, wie du es früher getan hast. Bevor Tamara …« Sie sprach nicht weiter. Auch so wusste ich, worauf sie hinaus wollte. Vor dem Tod meiner Schwester. Ja, damals war ich glücklich und genoss eine schöne Kindheit und Jugend. Und dann starb sie …

Ich drehte mich zu Lisa um. »Danke dir. Ich habe es mir auch anders gewünscht. Die vergangenen Jahre hätten wir uns als Teenager so nie erträumt.«

»Warum?«

»Nun, es war nicht das, was ich eigentlich möchte.«

»Wie meinst du das? Wie war denn dein Leben?« Sie hob eine Augenbraue und sah mich neugierig an.

»Mit Max konnte ich wieder lachen. Er lud mich in ein Leben ein, dass ich so vorher nicht gekannt hatte. Erst eine Woche auf den Malediven, dann ein Wochenende im Erzgebirge und das nächste schon wieder auf den Skipisten in den Alpen. Vielleicht zwischendurch noch mal ein Trip ins Hinterland von Mallorca oder nach New York. Dazwischen dann arbeiten, Freunde treffen, ein Theaterbesuch in London und vor allem regelmäßig essen gehen. In unseren Gesprächen waren Urlaube, Freunde oder die Arbeit das Thema. Über den Unfall oder unsere Gefühle redeten wir nie. Ich hatte es versucht. Aber Max hatte mir nur sein Beileid gewünscht, betroffen zu Boden geschaut und das war es.« Ich schloss für einen Moment die Augen. Dann sah ich Lisa wieder an. »Ich glaube, dieses Leben mit Max hat mir geholfen, alles zu verdrängen. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken und wollte es auch nicht.«

»Und du hast heute nein gesagt, weil …« Sie runzelte die Stirn.

»Weil ich nicht mein Leben lang vor meinen Gefühlen weglaufen kann. Immer wieder kamen die Erinnerungen an Tamara hoch und jedes Mal habe ich sie verdrängt. Ich mimte die Fröhliche, die Spaß an Partys und Reisen hat. Aber seit meine Eltern die Hochzeitseinladung unbeantwortet ließen … Seitdem träume ich häufiger von meiner Schwester und sie sagte mir immer wieder, dass ich meinen eigenen Weg gehen soll.«

Lisa half mir aus dem Kleid. »Ich ahne, was du meinst. Wir lassen uns viel zu leicht in eine Richtung drängen, die nicht unsere ist. Zumindest war es bei mir so.«

»Was war bei dir los?«

Sie legte den Kopf ein wenig schief. »Es ist vermutlich nicht mit deinem Leben vergleichbar. Aber …« Mit schräg gelegtem Kopf stand sie vor mir, dann schnalzte sie mit der Zunge. »Ich habe mich von meinen Eltern zu einem Studium überreden lassen, das ich nicht wollte. Es war nicht das schlechteste. Trotzdem nicht meine Welt.«

»Hast du es beendet?«

»Ja. Aber jetzt gehe ich einen neuen Weg.«

Interessiert horchte ich auf. »Was machst du stattdessen? Was hast du geändert?«

»Es hat viel Mut gekostet, aber ich habe den Beruf gewechselt. Ich wollte immer mit Kindern arbeiten und mit Pferden. Nun habe ich beides.«

»Wie meinst du das und was hast du studiert?«

»BWL.« Sie verzog das Gesicht. »Ja, der Klassiker. Wer nichts wird … Wie dem auch sei. Jedenfalls habe ich umgesattelt. Jetzt befinde ich mich in der Umschulung zur Therapeutin.« Als sie davon sprach, leuchteten ihre Augen auf. Schon früher hatte sie bei den Reiterfreizeiten die Anfänger unterrichtet und jedem gezeigt, wie man ein Pony putzte oder richtig sattelte.

Nur zu gut konnte ich mir bei ihr vorstellen, dass sie als Reittherapeutin endlich ihren Traum lebte.

Ich schloss kurz die Augen. Auch ich wollte herausfinden, was mich glücklich machte. Aber in Ruhe.

»Woran denkst du?« Lisa musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Den Reifrock stellte sie in eine Ecke vor die Spinde. Dann legte sie das Kleid auf die Bank und versuchte, es zu falten. Allerdings hatte sie damit Probleme: Der Tüll blieb nicht so liegen, wie sie es wollte.

Ich beobachtete sie dabei und schmunzelte. »Falls ich jemals wieder heirate, wird es definitiv ein Kleid mit weniger Lagen.«

»Dabei ist es doch das perfekte Prinzessinnenkleid.« Sie lachte. Dann ging sie hinüber zur Garderobe, um es aufzuhängen.

»Haben wir jemals davon geträumt, eine Prinzessin zu sein?« Ich schüttelte den Kopf.

»Bestimmt nicht. Du wärst lieber der Hofnarr gewesen, Tamara die Chronistin und ich der Stallbursche.« Sie lachte.

»Oh ja! Alle zum Lachen bringen mit einem Sketch fand ich toll.«

Sie grinste mich an. »Vielleicht hätte auch noch ein Zauberstab und ein Paar Flügel zu dir gepasst.«

»Wieso?« Ich hob eine Augenbraue. »Eine Fee zu sein würde mir allerdings gefallen. Dann bräuchte ich nur mit dem Zauberstab wedeln und alles wäre gut.«

»Genau das. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie Tamy total erschüttert war, weil die Schülerzeitung einen ihrer Texte abgelehnt hatte?«

Ich nickte.

Lisa kam zurück zu mir. »Du hast dann dafür gesorgt, dass sie ihn beim Herbstfest hier am Hof vorlesen konnte und das Publikum begeistert war! Allein durch deine Sprecheinlagen mit verstellten Stimmen.«

»Das ist sehr lange her! Damals war ich vielleicht fünfzehn. Aber es hat Spaß gemacht, Tamy zu unterstützen.« Schon als ich es aussprach, merkte ich, wie gut es mir tat, so mit Lisa zu reden. Wir konnten miteinander lachen und nicht übereinander.

»Ja, es ist lange her.« Lisa sah zu Boden. Dann betrachtete sie mich wieder. »Verrätst du mir noch, worüber du vorhin nachgedacht hast? Du sahst plötzlich sehr zufrieden aus. So verändert.«

Ich neigte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Auf meine Schultern kehrte eine unangenehme Last zurück. »Momentan denke ich über vieles gleichzeitig nach. Meine Zukunft, meine Vergangenheit … Dazu stehe ich in der Gegenwart und …« Ich runzelte die Stirn. »Vorhin habe ich darüber nachgedacht, dass du als Reittherapeutin deinen Traum lebst. Das wünsche ich mir auch für mich.«

»Du weißt aber nicht wie?«

»Ja.« Ich setzte mich auf die Bank und lehnte den Kopf an die Wand. »Mir gefällt deine Gesellschaft. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich jetzt überhaupt jemanden um mich ertragen würde.«

»Das kann ich nachvollziehen.« Lisa setzte sich neben mich, winkelte ein Knie an und legte den Kopf darauf.

Plötzlich wurde mir etwas anderes bewusst. Die ganze Zeit drehte sich das Gespräch primär um mich und meine aktuelle Situation. Auch Lisa hatte heute sicherlich noch Pläne gehabt. »Sag mal, wenn ich nicht bei dir wäre, was würdest du tun?«

Lisa zog ihr Smartphone aus der Hose und warf einen Blick darauf. »Jetzt würde ich im Stadtgarten darauf warten, dass ihr vermutlich jeden Augenblick fertig mit den Fotos …« Sie stoppte und biss sich auf die Lippe. »Bitte entschuldige.«

Ich winkte ab. »Ich bin es, die sich entschuldigen muss. Ich bringe deinen ganzen Tag durcheinander. Ich muss nämlich gestehen, ich weiß nicht, wohin ich jetzt gehen soll.« Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen. Der Schmerz half mir, die aufsteigende Traurigkeit zu zähmen. Weinen kam mir unpassend vor. Immerhin hatte ich Max am Altar stehen gelassen. Ich war selbst schuld, dass ich nichts mit mir anzufangen wusste. Trotzdem ärgerte ich mich darüber, dass ich weder Geld noch etwas anderes dabei hatte und mir dadurch sehr hilflos vorkam.

Lisa legte mir einen Arm um die Schultern. »Mach dir um mich keine Sorgen. Außerdem habe ich dir eine Idee versprochen, was du heute mit mir machen könntest. Wenn du mitkommen magst, wirfst du auch meinen Tagesplan nicht durcheinander.« Sie steckte das Smartphone zurück in die Hosentasche. »Vorher solltest du dich aber anziehen«, flüsterte sie.

Erst da wurde mir bewusst, dass ich in Unterwäsche neben ihr saß. Feinste Spitze natürlich. Eigentlich hatte ich mich darin besonders sexy gefühlt, doch im Augenblick wünschte ich mir, ich hätte einen meiner bequemen schwarzen Baumwollslips und bunte, kuschelige Socken an. Gemütliches zum Entspannen. Im Moment lagen die Kuschelsachen, die Max so gar nicht mochte, viele Kilometer entfernt. Ob ich sie je wiedersehen würde? Also zog ich den Rock und das T-Shirt von Lisa über. Lisa war ein wenig kleiner und schmaler als ich, sodass der Rock sehr kurz war und das T-Shirt unangenehm eng anlag. Dennoch beschwerte ich mich nicht. Ich ruckelte alles zurecht und sah dann Lisa an. »Was hast du vor?«

»Lass dich überraschen.« Sie legte ihren Zylinder in das oberste Regal des Spinds. »Deine Haare und die Schuhe sind zwar schon ein wenig auffällig, aber das macht nichts. Vielleicht ist das gar nicht mal schlecht.«

Ich wusste nicht, ob ich mich dadurch wohler fühlte. Andere würden sicher auch sehen, dass T-Shirt und Rock zu eng waren. »Wohin willst du mit mir gehen? Doch nicht etwa unter Menschen?«

Lisa verriet nichts. Sie zog mich auf die Beine und deutete zur Tür. »Komm mit. Das wird dir gefallen, wenn noch ein kleiner Funken von deinem früheren Ich in dir wohnt.«

»Du machst mich neugierig.« Trotzdem ließ mich das mulmige Gefühl in der Magengegend nicht los. Lisa klang nicht so, als würde sie mich mit einem witzigen Film, einer Pizza und ganz viel Eis auf ihr Sofa einladen. Doch mir blieb nichts übrig, als mich zu gedulden und mich überraschen zu lassen. Schon früher hatten Tamy und ich es nicht geschafft, ihr etwas zu entlocken, was sie nicht verraten wollte.

Deshalb beschloss ich, ihr eine Chance zu geben.

»Vielleicht magst du mir unterwegs erzählen, was dich zum heutigen Schritt bewegt hat.« Lisa schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Dann verschwand sie durch die Tür zum Hof.

3. Kapitel

Ablenkung

Ohne viele Worte verfrachtete Lisa mich in ihren alten, blauen Polo mit Blümchen-Aufklebern und fuhr mit mir in die Innenstadt. Schon auf dem Weg stellte ich fest, dass sich mehr verändert hatte, als ich bislang hatte wahrhaben wollen.

Neue Gebäude waren errichtet worden, andere dem Erdboden gleich gemacht. Wieder andere sahen verwahrlost aus. Die Fassade einiger Häuser wirkte, als wäre sie seit meiner Jugend nicht ordentlich gestrichen worden. Stattdessen war das Graffiti an der Hauswand zu einem eigenen Anstrich geworden. Dennoch erkannte ich die Straßen wieder, durch die Lisa fuhr.

Neu war für mich ein gewaltiges Gebäude. »Huch? Was wurde denn hier gebaut?«

»Wir haben jetzt eine Fachhochschule. Seit ungefähr fünf Jahren.« Lisa sah mich kurz an. »Wenn du möchtest, mach ich unterwegs eine Stadtführung.«

»Das ist lieb, aber im Augenblick ist mir mehr nach Ruhe.« Ich betrachtete den Neubau im Vorbeifahren. Nie hätte ich damit gerechnet, dass in meiner Heimatstadt mehr als eine normale Ausbildung in einem Betrieb möglich sein würde. Vor allem, da es zahlreiche andere Fachhochschulen und Universitäten in den umliegenden Städten gab.

Erstaunt sagte ich: »Es hat sich einiges getan.«

»So ist es. Hast du keine Kontakte mehr hierhin?«

»Nun ja …« Ich betrachtete meine mit dunkelrotem Lack bedeckten Fingernägel. »Nach dem Studium bin ich weggegangen und nie wiedergekommen. Bis heute.« Es war mir ein wenig peinlich, dass ich alle Brücken in meine Vergangenheit abgebrochen hatte.

»Warum gerade heute?« Lisa hielt an einer Ampel. »Am wichtigsten Tag meines Lebens würde ich an dem Ort heiraten wollen, wo ich mich wohlfühle. Ist das der Grund für …« Sie sprach nicht weiter.

Einen Moment atmete ich tief ein und aus. Dann hob ich den Kopf und betrachtete ihr Profil. »Ich hatte gehofft, meine Eltern würden die Einladung annehmen, wenn wir in unserer Kirche heiraten. Sie waren nicht da.«

»Was? Deine Eltern waren nicht da?« Kurz sah sie mich an, um direkt wieder auf die Ampel zu blicken. »Wieso das? Vor allem deine Mutter hat doch früher nie etwas von euch verpasst. Weder ein Reitturnier noch ein Polospiel.« Sie fuhr an und bog kurz darauf in eine Seitenstraße ein.

»Wir haben den Kontakt verloren. Es gab einen heftigen Streit zwischen meinem Vater und Max und dann bin ich weggezogen …«

»Autsch. Das ist schade. Manchmal sind Eltern schwierig. Ich verstehe meine häufig genug auch nicht. Ihre Meinungen … Na ja, reden wir lieber nicht darüber.« Lisa zuckte die Schultern. »Deine Eltern waren gegen Max, nehme ich an? Müssten sie dann nicht froh sein, dass du …«

»Dass ich ihn stehen gelassen habe? Vielleicht. Sie wissen noch nichts davon.«

»Ah, ich verstehe. Möchtest du sie anrufen? Oder soll ich dich hinfahren?« Sie fuhr auf den Parkplatz der Stadtbücherei. »Ich meine, na ja …« Mit der Hand klopfte sie auf das Lenkrad. »Also …«

»Du darfst ruhig aussprechen, dass ich mich vielleicht bei meinen Eltern melden sollte. Ja, auch ich habe Mist gebaut! Beim Streit habe ich mich auf Max Seite geschlagen und schlimmer noch: Ich habe sie danach absichtlich ignoriert. Weder habe ich ihnen zum Geburtstag gratuliert noch mich zu Weihnachten gemeldet oder …Deshalb befürchte ich, dass sie trotzdem nichts mit mir zu tun haben wollen.« Ich schluckte. Diese Fehler wogen schwer auf meinen Schultern.

Lisa schwieg und suchte nach einer Parklücke. Als sie eine gefunden hatte und das Auto stand, wartete sie noch einen Moment, ehe sie den Motor ausschaltete. Langsam drehte sie den Zündschlüssel und zog ihn ab. »Weißt du, du solltest es versuchen. Es wird sicher nicht leicht, aber willst du sie ganz aus deinem Leben aussperren? Vielleicht freuen sie sich ja darüber, wenn du einen Schritt auf sie zu machst.«

»Das kann ich nicht. Noch nicht. Ich weiß nicht einmal, was ich will. Alles ist durcheinander.« Ich sah aus dem Fenster. Der Parkplatz war voll. Hier und da liefen Menschen zwischen den Autos hindurch. Einige vollbepackt mit Einkaufstüten, andere mit Kinderwagen oder Hunden. Alle wirkten, als hätten sie ein klares Ziel vor Augen. Niemand schlenderte durch die Gegend und sah sich suchend um, wie ich es tun würde. Ich wusste nicht einmal, wohin ich heute Abend gehen sollte. Für ein Hotel hatte ich kein Geld, und meine Eltern … Nein, noch nicht. Dafür zog sich mein Magen zu sehr zusammen, wenn ich an sie dachte. Ob aus Angst oder unterschwelliger Wut, dass sie meinen ersten Schritt der Annäherung ausgeschlagen hatten, wusste ich noch nicht. Immerhin hatte es mich auch einige Überwindung gekostet, ihnen überhaupt die Einladung zu schicken. Und dann hatte ich nicht einmal eine Antwort erhalten … Andererseits hatte ich es in den vergangenen Jahren genauso gemacht. Auf Weihnachtskarten reagierte ich nicht und Anrufe ignorierte ich.

Es tat weh, diese Realität so zu spüren. Alles in mir verkrampfte sich und ich war kurz davor, wieder zu weinen. Um die Tränen zu verdrängen, sah ich Lisa an und fragte: »Was ist dein Plan? Ich würde gern auf andere Gedanken kommen. Vielleicht verstehe ich dann, wie es jetzt weiter geht, da ich nicht die Hochzeitstorte anschneide.« Versuchsweise hob ich meine Lippen zu einem Lächeln. Es gelang mir nicht wirklich. Alles in mir verzog sich dabei.

»Komm, das wird dir gefallen.« Lisa stieg aus. »Dadurch kommst du sicher auf andere Gedanken.« Sie wartete, bis ich ausstieg und verschloss hinter uns das Auto. In ihrem Frack bildete sie einen interessanten Kontrast zu den anderen Passanten. Aber ihr Outfit passte zu meiner Frisur. Gelockt mit eingearbeiteten Perlen und Strasssteinen. Alles andere als alltäglich für einen Stadtbummel.

Schnell bemerkte ich, dass die Stadt nicht ihr Ziel war. Statt abzubiegen, wandte sie sich zur Bücherei. »Willst du einen Leseabend mit mir veranstalten?«

»So in die Richtung.« Sie warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Du liest doch immer noch gern, oder?«

»Ja, schon …« Nur nicht unbedingt das, was ich gerne lesen würde, ergänzte ich in Gedanken. Wie lange war es her, seit ich einen düsteren Thriller oder einen kitschigen Liebesroman in der Hand gehabt hatte?

Ich schob es auf Max, aber viel eher war der Grund, dass ich nicht von ihm belächelt werden wollte, weil meine Ansprüche an Bücher andere waren als seine. Ich liebte es, in fantasievolle Abenteuer abzutauchen oder romantische Komödien zu verschlingen. Ganz besonders faszinierten mich die Geschichten meiner Schwester … Es schnürte mir die Kehle zu, sobald ich an sie dachte. Deshalb sagte ich zu Lisa: »Manchmal wünschte ich, dass ich mir wieder mehr Zeit zum Lesen nehmen würde.«

Lisa nickte mir wissend zu. »Wer einmal Blut geleckt hat und weiß, was Bücher einem bieten können, wird davon nie wegkommen. Auch wenn uns die Zeit häufig davonläuft. Oder wohl besser: wir uns die Zeit dafür nicht nehmen.« Sie führte mich zum Eingang der Bücherei.

Im Inneren warteten vor der Ausleihe mehr Menschen, als ich in der Bücherei zu sehen gewohnt war. Sie standen hintereinander im Sonnenlicht, das durch die Oberlichter fiel. Lisa stellte sich an. Dabei hatte sie weder Bücher mitgebracht noch welche aus den Regalen geholt.

Ich blinzelte. »Was hast du vor?«

»Wirst du schon sehen.« Sie strich eine Haarsträhne hinters Ohr und grinste mich verschmitzt an.

Da entdeckte ich neben einem Pflanzkübel mit Farnen ein Plakat: »Tabeus Frost liest: Rattenfang.« Ein Thriller. Dunkel, verheißungsvoll.

»Eine Lesung?« Ich kannte den Autor nicht, aber das Genre mochte ich.

»Ja, wir brauchen nur noch eine zweite Karte.« Lisa schmunzelte. »Ich hoffe, du magst Pageturner. Der Autor ist genial. Genau die richtige Mischung aus Nervenkitzel und Dahinschmelzen.«

»Soll das heißen, er verbindet Liebesromane und Thriller?« Ich war irritiert.

---ENDE DER LESEPROBE---