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Über Marina lässt sich eine Menge sagen, außer dass sie auf den Mund gefallen wäre. Eines Tages passiert ihr ein Missgeschick: Sie fällt mit Haut und Haar in die Welt Nyx – das Traumland, in dem die Alpträume regieren. Dort trifft sie auf den monströsen Bruno und freundet sich mit ihm an. Unterdessen versucht eine Gruppe abtrünniger Träume, die geheimnisvolle Nachtmähr an sich zu reißen: Ein uraltes Buch, das der Ursprung und das Schicksal von Nyx sein soll. Nur Bruno und Marina können der Spur der Übeltäter folgen und sie aufhalten. Ein mitreißendes Märchen randvoll mit schaurigen Gestalten, kuriosen Ideen und jeder Menge Humor. Lasst euch entführen, in die bizarre Welt der Nachtmähr!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Prolog
1 Das große Krabbeln
2 Von Monstern und Bären
3 Die Stadt und die Sterne
4 Unterwegs im Düsterwald
5 Das Labyrinth der bissigen Bücher
6 Das leere Haus
7 Traumfänger
8 Waidmanns Heil
9 Die Libelle lief davon
10 Der große Informator
11 Ein sonniges Tal
12 Raue See
13 Knochenschiff
14 Insel des Wahnsinns
15 Das grüne Uhrwerk
16 Der Geist in der Dunkelheit
17 Die Tür in mir
18 In der Höhle des Würgers
19 Böser Wolf
20 Womit die Welt begann
21 Nachtmähr
22 Das letzte Problem
Epilog
Impressum
Nachtmähr
von
Torsten Clauß
Copyright © Torsten Clauß 2016 Alle Rechte vorbehalten.
Coverdesign: Saskia Lackner
Herausgeber: Torsten Schädel
Adolf-Amberg-Str. 16
63579 Freigericht
Mail: [email protected]
Nachtmähr
von
Torsten Clauß
»The dragonfly it ran away
But it came back with a story to say.« - Of Monsters and Men, »Dirty Paws«
»Wohin soll denn die Reise gehn? Aufs nächste Riff, aufs nächste Riff! Es weht ein Büschel Haar am Mast vom Knochenschiff, vom Knochenschiff!«
- Subway to Sally, »Knochenschiff«
Ein Wassertropfen platschte leise, als er in eine Pfütze fiel. Er wirbelte roten Schlamm in ihrem Inneren auf, als ob er ein Stein und kein Tropfen wäre. Der rote Schlamm war nicht nur in der Pfütze zu finden, sondern überall in dieser schmuddeligen Gasse, in der ich gerade saß. Auf dem Boden lag er als rote Erde und an den rissigen Häuserwänden war er als roter Staub vertreten. Das hier war schlicht kein Ort für ein charmantes Mädchen wie mich, keine Frage. Eigentlich sollte ich auch gar nicht hier sein, denn eben noch war ich in dem für mein zartes Gemüt viel angemesseneren Ambiente meines Gartenturms.
Ein tolles Ding, dass kann ich euch sagen: Der Gartenturm stand mitten in einem einsamen Tal und war ungefähr einen Kilometer hoch. Er war von oben bis unten mit Efeu behangen und sah daher ziemlich verwunschen aus. Der wilde Garten auf seiner Spitze war überwuchert von hohem Gras, Blumen und dichten Büschen. Ein kleiner Bach floss vom Zentrum zum Rand und stürzte sich dort in die Tiefe. Nicht weit von der Quelle stand eine knorrige Weide, die eine Wurzel um einen großen Stein schlang und sie schließlich ins Wasser führte: Mein Lieblingsplatz im Universum.
Damit kommen wir dann auch zu mir. Gestatten: Marina, fünfzehn Jahre alt und nicht nur bezaubernd hübsch, sondern auch absolut liebenswürdig. Kommt ja nicht auf die Idee, etwas anderes zu behaupten: Ich bin diejenige, die euch nun diese Geschichte voller Abenteuer, Spannung und Dramatik erzählen wird – und wenn ihr nicht spurt, gibt es zum Schluss einen Cliffhanger, der sich gewaschen hat!
Wenn also die Fronten geklärt sind, beginnen wir mit dem Teil der Geschichte, der mir am besten gefällt: Mit mir.
Ich lag auf meinem Stein, hatte den Kopf auf die Wurzel gebettet und ließ mir die Sonne auf den Bauch scheinen. Dabei bewunderte ich einen Falken, der am Himmel kreiste und hoffte sehr, dass er mir nicht auf den Kopf machte.
Der Schlamassel begann, als ich im Augenwinkel einen Schatten im hohen Gras bemerkte. Ich setzte mich auf, strich mir die roten Haare aus dem Gesicht und sah mich einer dunklen Gestalt gegenüber, die einen Steinwurf entfernt auf der Wiese stand und mich musterte. Es war ein Junge, der nur aus Konturen bestehen zu schien – und selbst die verschwammen, wenn man ihn zu lange ansah.
»Wer bist du?«, fragte ich und war echt höflich angesichts der Tatsache, dass dieser Streuner meinen Turm unsicher machte. Anstatt zu antworten drehte der Kerl sich nun aber einfach um und stolzierte davon.
Ich schwang mich von meinem Stein, der kurz darauf von einer lächerlich großen Portion Vogelmist getroffen wurde. Nachdem ich dem Falken halbherzig den Vogel gezeigt hatte, folgte ich der Spur, die der dunkle Junge wie ein Velociraptor im hohen Gras hinterließ.
Ich mochte die wilde Schönheit des Gartens und konnte Stunden zwischen den Pflanzen verbringen. Nun musste ich feststellen, dass einige von ihnen verdorrt waren. Die Schneise, die der Junge im Gras hinterlassen hatte, war ungewöhnlich lang. Ich hätte schwören können, dass sie über den Radius des Turmes hinaus ging. Auch das Gras selbst war höher als vorhin und schien immer weiter zu wachsen. Es wurde auch immer dichter, so dass es mir Stück für Stück die Sicht auf die anderen Pflanzen nahm. Schließlich verwandelte es sich in eine Mauer. Die Grashalme wurden zu brüchigen Ziegeln. Der Himmel zog sich zu und war nun von schweren, dunklen Wolken verhangen. Das grüne Moos wurde zu rotem, staubigen Boden und schließlich war der Garten dieser schäbigen Gasse gewichen.
Ein weiterer Tropfen landete in der Pfütze.
Tja Marina, denkt ihr euch, das kommt davon, wenn man blindlings dem nächsten Jungen nachläuft. Wie recht ihr doch habt – und ich kenne noch eine andere treffende Weisheit: Niemand mag Klugscheißer.
Eine Umkehr war natürlich ausgeschlossen, denn wann immer ich mich umdrehte, endete die Gasse nach wenigen Metern in einer Mauer, die mit einem grinsenden Clown-Graffiti geschmückt war. Freund Pennywise hielt eine giftgrüne Getränkedose in der einen Hand und zeigte mit der anderen das ›Daumen hoch‹-Zeichen. Sein makelloses Haifischgrinsen verkündete in einer Sprechblase: »Wird mir die Müdigkeit zu viel, trinke ich mein Pentosil!«
Ziemlich dreist, oder? Ich ließ den Clown links liegen und folgte, weil mir ja nichts anderes übrig blieb, der Gasse in die andere Richtung.
Nach einer Weile fiel erneut etwas von oben herab und landete direkt vor meinen Füßen. Diesmal war es kein Wassertropfen, sondern ein Finger. Das brachte mich dann doch ein wenig aus der Fassung und ich fragte mich, woher er kam. Es war scheinbar ein ganz normaler Finger und ich wusste nicht einmal ob Ring-, Mittel-, oder Zeigefinger, je nach Besitzer hätte es sogar ein kleiner Finger sein können. Ziemlich gruselig, oder? Nicht nur, weil die Hand dazu fehlte, sondern vor allem weil der Finger, wie ich jetzt erst erkannte, kleine Beine hatte. Es waren acht Stück an der Zahl: Lange dünne Spinnenbeinchen.
Er richtete sich auf die Hinterbeine und schaute mich aus seinem Nagel heraus an. Dann drehte er sich um und trippelte munter die Straße entlang. Ich gestattete mir einen kleinen Schauder, setzte meinen Marsch aber dennoch fort. Folgte ich halt jetzt nicht nur fremden Schatten, sondern auch verwaisten Fingern. Immer wieder tauchte der markante Spinnerich im roten Dreck auf und folgte der langen Gasse beharrlich. Ich fragte mich, woher dieses gezielte Tippeln rühren mochte und wie zur Antwort hörte ich kurze Zeit später die gespenstischen Klänge, denen der Finger offenbar folgte. Eine leise Musik erreichte mich aus der Richtung, in die unsere Reise verlief. Irgendwo am Ende der Gasse spielte jemand auf einer Flöte. Die Weise lockte noch mehr Geziefer hervor. Viel! Mehr!
Sie kamen aus den Rissen und Löchern in den Häuserwänden, krochen unter roten Steinen hervor, tauchten blubbernd aus den Pfützen auf oder fielen wie der erste einfach vom Himmel. Im Nu war ich von einer Schar kleiner Krabbler umgeben; verschiedene Finger, die unterschiedliche Insekten nachahmten. Der Finger mit den Spinnenbeinen war beinahe langweilig im Vergleich zu seinen Artgenossen: Da waren Daumen, die dank ihrer langen Hinterbeine wie Grashüpfer sprangen, windige Tausendfüßler-Zeigefinger und Stinkefinger, die Mistkugeln vor sich herschoben. Ein raupender Ringfinger kam wegen seines hinderlichen Eheringes nur langsam voran – und unter denen, die ihn überholten, fand sich sogar ein vielbeiniger kleiner Finger mit Skorpionschwanz und Scheren. Auch die Luft war vor den lebenden Skurrilitäten nicht sicher: Ein besonders aufdringlicher Daumen flatterte mit Schmetterlingsflügeln direkt vor meinem Gesicht her.
Gemeinsam mit all den ungewöhnlichen Insekten folgte ich der Flötenmusik und je näher ich dem Ende des Weges kam, umso lauter wurden die Klänge. Ich glaubte sogar, eine Stimme im Wind säuseln zu hören, blieb stehen und lauschte dem Flüstern.
»Trink Pentosil!«
Augenrollend drehte ich mich um und sah mich einmal mehr mit dem Clown-Graffiti konfrontiert, das sein Grinsen um ein aufmunterndes Zwinkern ergänzt hatte.
»Halt‘ die Klappe«, blaffte ich und setzte meinen Weg fort.
Die Straße entpuppte sich auch in der anderen Richtung als Sackgasse, an deren Ende ein Baumstamm seine Wurzeln fest in die umstehenden Häuser geschlagen hatte. Auf dem Stamm, der selbst nur noch ein Stumpf war, saß der Flötenspieler. Es war der Junge aus dem Gartenturm und er setzte sein Instrument ab, als er mich in der Fingerschar erblickte. Dann lächelte er mir schelmisch zu und fing meinen Blick mit seinen grünen Augen ein, als wolle er ihn nie wieder hergeben. Anders als im Turm sah er nun aus wie ein ganz normaler Junge.
Ich kam ein Stück näher und er streckte die Hand nach mir aus. Bei meinem nächsten Schritt wurde seine Hand schwarz und als ich ihn schließlich erreichte, platzte seine Haut auf. Ein großer, rabenschwarzer Arm mit riesigen Händen kam zum Vorschein. Auch der Rest des Jungen zerfiel und das Monster, das aus seinem Inneren hervorkam, streifte die zerrissene Haut wie ein viel zu leichtes Sommerkleid ab. Das Wesen hatte übermäßig lange Gliedmaßen und überall am Körper schwarze Borsten, die noch glitschig von seiner Geburt waren. Seine nun braunen Augen schauten aus engen Schlitzen finster drein und sein Mund war mit Fangzähnen gespickt.
Es griff mit seiner ausgestreckten Pranke nach mir und zerrte mich zu sich. Dann riss es seinen Mund unnatürlich weit auf und schob mich so tief hinein, dass ich in seinen Rachen schauen konnte.
»Du hast Zungenbelag«, erzählte ich seinem Gaumen.
»‘As?«, nuschelte das Ungeheuer abgehakt mit offenem Mund.
»Mundhygiene mangelhaft«, schloss ich mein Urteil ab. »Der Doktor verordnet eine Zungenbürste und Mundwasser.«
Selbst sein Gaumen schaffte es, einen blöden Gesichtsausdruck aufzusetzen.
»Die Armee der Fingerkäfer war eine gute Idee«, gab ich zu. »Aber du hast zu viel Fantasie an den Tag gelegt, das hat dich verraten. Und jetzt hol mich bitte wieder hier raus.«
Der Monsterich tat wie geheißen, holte mich artig aus seinem Rachen heraus und setzte mich auf dem Boden ab. Dann transformierte er seinen Mund, bis er wieder in sein Gesicht passte.
Mit angemessener Missbilligung nahm ich die Sabberflecken auf meiner Hose zur Kenntnis, setzte mich resigniert in den roten Staub und schaute den schwarzen Mann erwartungsvoll an.
»Beim Alp«, murmelte der. Seine Stimme war tief und dunkel. »Das ist schwerer, als ich gedacht habe.«
»Du machst das wohl zum ersten Mal?«, wollte ich wissen.
»Ja … nein … doch! Ich habe eine gute Ausbildung genossen, aber das hier ist mein erster richtiger Job.« Peinlich druckste er herum, was nun auch den letzten Grusel zunichtemachte.
Dafür war es doch schon ziemlich gut, wollte ich sagen, doch meine Mutter hatte mich zu einer schlechten Lügnerin erzogen. Stattdessen brachte ich nur ein leicht mitleidiges »Oh …« zustande.
Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: Es fühlte sich an, wie ein Bauchklatscher, nur dass hier weit und breit kein Wasser war. Ich schloss die Augen, biss mir auf die Lippe und fühlte mich plötzlich viel realer. Der Biss hatte weh getan. Auch sonst fühlte ich mich anders; so als ob ich zuvor gelähmt gewesen wäre.
Als ich die Augen wieder öffnete, staunte ich nicht schlecht, denn auch die Welt um mich herum war nun viel wirklicher. Die Straße, der Baumstumpf und auch die Häuser hatten an Schärfe gewonnen. Die Fenster und die roten Pfützen spiegelten das Licht mit echten Reflexionen und jedes Objekt warf nun einen richtigen Schatten. Details, die unüblich für einen Traum waren. Auch der monströse Mann vor mir wirkte nun eher tierisch als traumhaft.
»Nein, nein, nein! Ich habe es vermasselt«, heulte er. »Du dummes Mädchen. Du bist reingeplumpst!«
Ich stolperte darüber, dass der Monsterich ein so infantiles Wort wie »reingeplumpst« benutzte, doch das »dumme Mädchen« erforderte umgehend erzieherische Maßnahmen.
»Hey«, rief ich und stand auf. »Ich habe auch einen Namen!«
Das Ungeheuer stöhnte und ließ eine seiner Pranken über sein Gesicht gleiten. »Okay«, sprach es. »Wie heißt du?«
»Marina. Und du?«
»Man nennt mich Bruno.«
Ich war natürlich so rücksichtsvoll, ihn dafür nicht auszulachen. Trotzdem kam er sich aus unerfindlichen Gründen veralbert vor.
»Was ist so lustig?«, fragte Bruno.
»Nichts«, beschwichtigte ich ihn. »Absolut nichts. Du bist also ein Monster in Ausbildung, das obendrein Bruno heißt. Alles super.«
»Ich bin kein Monster. Ich bin ein Nachtmahr.«
Trotz meiner sagenhaften Eloquenz war mir das Wort fremd. Also fragte ich: »Ein was, bitte?«
»Ein Nachtmahr! Ein Alptraum!«
»Also doch ein Monster«, stellte ich fest und dacht mir: Nenn‘ die Kartoffel doch Erdapfel.
»Nein«, beharrte Bruno. »Ich bin ein Nachtmahr. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«
»Und was macht ihr Alpträume so, dass ihr euch von gewöhnlichen Monstern unterscheidet?«, fragte ich in der Hoffnung, dass der Herr Mahr damit mal zum Punkt kam.
»Wir erschrecken die Menschen und sorgen so dafür, dass sie nicht in unsere Welt fallen.«
Womit dann ja alles geklärt wäre, oder? Ich legte den Kopf schräg und gab ein simples »Hä?« zum Besten.
Der Nachtmahr erhob sich von seinem Baumstamm und stieß einen Pfiff aus, worauf hin alle Fingerkäfer zu ihm krabbelten und sich vor ihm am Boden zu einem großen Fleck versammelten.
»Jetzt ist es sowieso zu spät«, sagte er resigniert. » Komm, ich zeige dir meine Welt. Dann wirst du alles verstehen.«
Okay, ich muss zugeben, ich habe ein Faible für unkonventionelle Typen. Mit seinen langen Unterarmen, die sich konsequent dem goldenen Schnitt widersetzten, seinem drahtigen Körperbau, den boshaften Augen und nicht zu vergessen den scharfen Fangzähnen konnte Bruno sicher so manche Herzen brechen. Vermutlich sogar wortwörtlich. Sein Auftreten erinnerte mich an gewisse Vampirgeschichten – nur ohne den homoerotischen Glitzerfaktor. Und dabei würde es hoffentlich auch bleiben!
Trotzdem hatte Mamas Erziehung mich auch auf solche Situationen hinreichend vorbereitet: »Ich soll einfach mit dir mitkommen, Fremder? Hast du hier etwa irgendwo noch einen schmuddeligen Van geparkt?«
Er seufzte inbrünstig, womit er zweifellos seine wachsende Sympathie für mich zum Ausdruck brachte. Dann erklärte er: »Du kannst sowieso nicht zurück, denn du bist ins Traumland gefallen. Das war der Ruck, den du vorhin gespürt hast. Du hast dein Bett verlassen und bist jetzt hier mit Haut und Haar.«
»Das geht nicht«, stellte ich sachlich fest. »Ich muss morgen in die Schule.« Die Aussicht, die anstehende Mathearbeit zu verpassen, machte mich ganz krank vor Sorge – und krank konnte ich sie ja erst recht nicht schreiben.
»Vielleicht finden wir einen Weg, dich wieder zurückzubringen.«
»Ins Traumland gefallen … wie konnte das denn passieren?«
»Komm mit und finde es heraus«, wisperte Bruno. Auf seine Handbewegung hin verwandelte sich der Käferhaufen am Boden in ein schwarzes Loch und bevor ich noch etwas sagen konnte, sprang er hinein.
Wie unhöflich, denkt ihr euch, aber es kann nun einmal nicht jeder meine guten Manieren haben. Ich trat also an das Loch heran, das bis eben noch ein Haufen von Fingern gewesen war, die Käfer imitierten. Alle Fingerkäfer hatten sich für dieses Loch hergegeben. Alle bis auf einer.
Abermals flatterte der Daumen-Schmetterling um meinen Kopf herum und brachte mich zum Schmunzeln. Das sympathische Kerlchen war offenbar nicht so ein Lemming wie seine Artgenossen.
»Ach, was soll’s«, sagte ich schließlich laut zu mir selbst. »Wenn ich sowieso schon hier gefangen bin, kann ich mich auch an Beast-Boy halten.«
Ich drehte dem Loch den Rücken zu und fragte den Schmetterling: »Kommst du mit?«
Der ließ sich nicht zweimal bitten, flatterte über meinen Kopf hinweg und stürzte sich im Steilflug nagelüber in die Tiefe. Ich schloss die Augen und breitete die Arme aus, weil das vor so einem Sprung ins Ungewisse verdammt cool aussieht. Dann folgte ich Bruno und dem Schmetterling, indem ich mich rückwärts fallen ließ.
Ich landete auf einer großen Wiese voller Gänseblümchen und Löwenzahn. Als ich meine Lieder wieder hob, blickte ich in das Gesicht von Bruno, der sich über mich gebeugt hatte.
»Du hast lange gebraucht«, stellte er fest und half mir auf.
»Entschuldige, dass ich nicht so mutig bin wie du, wenn es darum geht in irgendwelche Abgründe zu springen«, erwiderte ich und ahnte, dass die Predigt von den Zwillingsbrüdern Mut und Dummheit den Nachtmahr nicht beeindrucken würde.
»Wenn du nicht mutig wärst«, erwiderte Bruno, »würdest du nicht in diesem Schlamassel stecken.«
»Was soll das jetzt schon wieder heißen?«
»Komm erst mal mit.« Wieder ein Themawechsel im Streitgespräch. Das war selbst für einen Mann rekordverdächtig. »Hier ist es nicht sicher. Die Molekel haben uns falsch abgesetzt.« Mit diesen Worten trabte der Alptraum los.
Ich musste zügig laufen, um mit ihm Schritt zu halten. »Wer hat uns falsch abgesetzt?«
»Die Molekel. Sie sind die Essenz unserer Welt. Alles hier besteht aus ihnen. Sie haben auch das Loch gemacht, durch das wir hergekommen sind.«
»Du meinst die Fingerkäfer?«
»Die Gestalt habe ich ihnen gegeben, um dich zu erschrecken.«
»Hat nicht geklappt«, erinnerte ich ihn. »Warum haben die Molekel uns falsch abgesetzt?«
Bruno zuckte mit den Achseln, was bei einer Kreatur wie ihm sehr amüsant aussah. »Sie sind sehr eigenwillig und treiben gern Schabernack.«
Der Daumen-Schmetterling flatterte wild vor seinem Gesicht herum und erinnerte ihn daran, dass er noch nicht einmal bereit gewesen war zum schwarzen Loch für ihn zu werden.
»Siehst du? Sie machen, was sie wollen«, sprach der Nachtmahr ärgerlich und pustete den Schmetterling mit einem seiner schweren Atemzüge von sich weg.
»Hmm …«, fiel mir dazu nur ein. Ich streckte die Hand aus, so dass der durch die Luft wirbelnde Daumen darauf landen konnte. Dann flüsterte ich dem Molekel zu: »Dich nenne ich Däumling.«
Dann nutzte ich unsere Wanderung, um mir ein wenig die Landschaft anzusehen. Alles wirkte ruhig und normal, besser noch: Dieser Ort war geradezu harmonisch. Weit und breit gab es hier nichts als sonnenbeschienene Wiesen und Hügel, die mit Blumen übersät waren.
»Warum glaubst du, dass wir hier nicht sicher sind?«, fragte ich meinen Fremdenführer.
»Weil diese Wiesen gefährlich sind«, antwortete Bruno.
Kein Zweifel. Was gab es schon Gefährlicheres als Butterblumen? Da ich meinem Begleiter offenbar alles aus der Nase ziehen musste, fragte ich einmal mehr: »Warum?«
»Sie gehören zu einem anderen Traum. Und der hat nichts Gutes im Sinn.«
»Bist du dir sicher? Hier ist es doch ziemlich idyllisch.«
Der Nachtmahr blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Schau dich doch mal um«, forderte er mich auf. »Was siehst du?«
Ich schickte meinen Blick erneut auf die Reise durch die Wiesen, mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor: Weit und breit gab es hier nichts anderes als einen schönen Traum.
»Wiese, Sonne und Blumen«, antwortete ich in der Gewissheit, dass mein Adlerauge mir nichts vorenthalten hatte.
»Sonst nichts?«
Mit wachsender Ungeduld sah ich mich noch einmal um und hoffte zu finden, was Bruno meinte. Aber zu meinem größten Bedauern hielt die Landschaft auch diesmal keine gefährlichen Überraschungen bereit.
»Nein«, beteuerte ich daher endgültig.
»Also nur Wiese, Blumen und Sonnenschein?«
»Jepp.«
»Bis zum Horizont?«
»Ja!«
»Fällt dir was auf?«
»Nein!«
»Menschenkinder«, seufzte der Alptraum. »Auf der Akademie haben sie uns gelehrt, wie naiv ihr seid. Dann stellst du dich quer, durchschaust meinen Schrecken« – ich strafte seine herablassende Art mit einem Schmunzeln über seinen kleinen Schrecken – »und dafür siehst du jetzt nicht einmal das Offensichtliche.«
»Was ist denn das Offensichtliche?«, bremste ich ihn mit Engelsgeduld. »Erleuchte mich, Sensei.«
»Dieser Traum nennt sich ›Die ewigen Wiesen‹. Eigentlich heißt er Fred, aber das ist so eine Art Künstlername.« Bruno musterte meine versteinerte Miene. »Willst du nicht wieder … lachen oder so?«
Ich schaute ihn ernst an. »Wieso? Wegen dem Namen? Sei nicht kindisch, Fred ist doch ein guter Name.«
Während ich unter übermenschlichen Anstrengungen meine Miene beibehielt, dachte ich mir: Soviel zum naiven Menschenkind, mein Freund.
Zerknirscht fuhr der Nachtmahr fort: »Die ewigen Wiesen nehmen, wie der Name schon sagt, kein Ende. Den normalen Träumer stört das nicht. Er merkt es nicht einmal, denn meistens ist er hier mit ganz anderen Dingen beschäftigt«
»Wir kommen hier also nicht weg«, stellte ich fest.
Bruno nickte. »Es sei denn, wir finden ein paar Molekel, die uns einen Durchgang öffnen.«
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her und ich glaubte allmählich, das Traumland zu verstehen. Die Träume waren die Bewohner dieser Welt und die Molekel die lebendige Materie, aus der alles hier bestand. Elementar, Watson!
Die Molekel ermöglichten es den Träumen, ihre Illusionen mit magischer Flexibilität zu gestalten, waren allerdings sehr eigenwillig. Deshalb verloren die Träume – oder zumindest die weniger fähigen unter ihnen – manchmal die Kontrolle über sie. Aber wie hatte ich es geschafft in diese Welt hineinzufallen? Aus meinem Bett heraus! Bruno hatte versprochen, mir alles zu erklären und daran sollte er sich auch halten. Schließlich war der Schlamassel seine Schuld, so viel stand fest.
Gerade als ich ihn höflich daran erinnern wollte, blieb er stehen und hielt mir die Hand vor den Mund. Böse Zungen würden behaupten, dass die unverhoffte Berührung zu einer ganz und gar peinlichen Rötung meiner Gesichtspartien führte – was klar als Verleumdung einzustufen wäre und entsprechend drakonisch geahndet würde.
Wortlos nahm Bruno die Hand wieder weg und deutete auf einen Apfelbaum, der keine fünfzig Meter von uns entfernt stand.
»Der ist aber eben noch nicht da gewesen«, flüsterte ich, denn ich hatte gut aufgepasst.
»Molekel«, brummte der Nachtmahr zurück. »Ich werde versuchen, ein paar von ihnen zu fangen. Du bleibst hier und bist leise, sonst verscheuchst du sie noch.«
Ich beschloss, ihm das nochmal durchgehen zu lassen, damit er sich endlich mal nützlich machen konnte.
Mit einer Lautlosigkeit, die für ein Wesen seiner Größe mehr als erstaunlich war, glitt er durch das Gras auf den Baum zu. Ich sah, wie sich das Monstrum an die Molekel heranpirschte und fragte mich, wie er den ganzen Baum einfangen wollte. Noch interessanter war die Frage, wie die Molekel überhaupt fliehen sollten. Wahrscheinlich würden sie sich in eine Vogelschar verwandeln und davon fliegen.
Däumling flatterte aufgeregt vor mir herum, als ob er mich auf etwas aufmerksam machen wollte. Gleich darauf hörte ich auch, worauf.
Eine sanfte und ulkig tiefe Stimme ertönte hinter mir und sagte: »Hallo, kleines Mädchen.«
Ich drehte mich um und sah mich einem lebendigen Teddybären gegenüber. Er war nur etwas größer als ich selbst und sehr dick. Seine Arme und Beine waren im Verhältnis zu seinem massigen Körper die reinsten Stummel. Sein Kopf war rund wie sein Bauch. Er hatte eine dreieckige Stupsnase, wohlige Wangen und kleine, schwarze Kulleraugen.
»Hallo, dicker Bär«, antwortete ich ihm und konnte mich nicht beherrschen seinen albernen Tonfall nachzuahmen.
»Du bist in unsere Welt geplumpst«, stellte der Bär fest. »Mit Haut und Haar.«
Schon wieder diese Ausdrucksweise. Anscheinend war das ein geflügelter Begriff. Noch mehr erstaunte mich, dass der Kerl wusste, was mir passiert war. »Sieht man mir das etwa an?«
»Wenn ihr Menschen nachts unsere Welt besucht, seid ihr nur durchsichtige Gespenster. Aber wenn ihr zu uns hereinfallt, dann seid ihr echt.«
»Bist du auch ein Traum?«
»Ja. Ich bin dieser Traum. Die ewigen Wiesen.«
»Dann bist du also dieser Fred«, schlussfolgerte ich. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Ein so hübsches Kind wie du darf mich alles fragen«, erwiderte Fred treffend mit liebenswerter Stimme. Er schien sich nicht darüber zu wundern, dass ich seinen richtigen Namen kannte.
»Warum die endlosen Wiesen? Warum dieses Blumenmeer?«
»Damit unsere Besucher sich wohl fühlen und wiederkommen.«
»Also bist du einfach nur ein schöner Traum, der die Menschen dazu animiert eure Welt zu besuchen?«
»Jaaa, genau«, strahlte Fred. »Damit sie jede Nacht wieder kommen. Einige von ihnen möchten dann sogar gerne bleiben. Möchtest du gerne bei uns bleiben, kleines Mädchen?«
Langsam wurde der Kerl mir unheimlich. Davon abgesehen hatte ich mir nun schon die Adjektive »dumm«, »naiv« und »klein« hinsichtlich meiner Person anhören dürfen, was definitiv Disziplinarmaßnahmen erforderte.
Bevor ich aber etwas erwidern konnte, hörte ich einen lauten Pfiff vom Apfelbaum her. Ich schaute mich nach dem Urheber um und wandte Fred den Rücken zu.
»Was bist du nur für ein bildhübsches Ding«, schnarrte der – überhaupt nicht gruselig!
Der Apfelbaum hatte sein Blattwerk und sein Obst verloren und stand nun kahl und unheimlich auf einem ausgedorrten Fleckchen Erde.
»So ein süßes Mädchen«, raunte der Bär hinter mir.
Der Himmel färbte sich in unheilvolles rostrot und schwere, gelbe Wolken zogen auf. Das Gras wellte sich unter fauligem Wind, der einen Gestank nach Verwesung mit sich trug.
»So ein LECKERES Kind!«, keifte Fred.
Ich fuhr erschrocken herum und sah, wie der pummelige Bär mit einem gierigen Gesichtsausdruck auf mich zu watschelte und sich mit seiner großen, rosafarbenen Zunge über die Lippen leckte.
»Verzieh dich, Fred«, bellte der zornige Himmel.
Die Windböen nahmen zu und der Gestank wurde so extrem, dass Fred stehen blieb und sich einen seiner Teddyarme vor Mund und Nase hielt. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. Auch ich musste mir, obwohl ich Rückenwind hatte, Mund und Nase zuhalten, um den bestialischen Gestank zu ertragen. Nichts macht die Nase so frei wie Ammoniak!
Der arme Däumling wurde unterdessen von dem heftigen Wind durch die Luft gewirbelt. Der Luftveränderung zum Trotz versuchte der Bär, mir dennoch näher zu kommen, was verständlich aber keineswegs angenehm war.
»Lass! Sie! In! Ruhe!«, donnerten die Wolken. Die Blumen, die die ewigen Wiesen übersät hatten, verdorrten und an ihrer Stelle wucherten nun giftige Dornenranken.
Doch Fred kämpfte weiter gegen den Wind an und streckte den freien Arm gierig nach mir aus. Ich selbst hatte inzwischen alle Mühe, mich bei den Orkanböen überhaupt noch auf den Beinen zu halten.
»ICH HABE GESAGT, DU SOLLST VERSCHWINDEN!«
Einer von Brunos langen, schwarzen Armen wuchs in riesiger Form aus der Wolkenwand hervor und traf den Teddy mit einem wuchtigen Schlag, der ihn weit wegschleuderte und anschließend über die Wiesen rollen ließ.
»Auauauauauauauauauauauauaua«, jaulte Fred, während er davon rollte und dabei durch die frisch gewachsenen Dornen mähte.
Bruno stieg mit Beinen, die vom Himmel zur Erde reichten, aus den Wolken herab und landete neben mir. Während der Bewegung schrumpfte er fließend wieder zu normaler Größe, was zugegeben ziemlich beeindruckend aussah. Obwohl er nun nicht mehr so groß, laut und furchterregend war, wie noch vor ein paar Augenblicken, blieb seine Umgestaltung der Landschaft erhalten. Die ewigen Wiesen waren nun ein Alptraum. Einzig und allein der Wind war inzwischen zu einem schwachen, aber immer noch miefenden Lüftchen abgeflaut.
Fern am Horizont erklang immer noch die Stimme des rollenden Teddys. »Auauauauauauauauauauaua!«
Unverblümt stellte ich die naheliegende Frage: »Wird er jemals wieder zum Stillstand kommen?«
»Vielleicht in zwei oder drei Monaten«, erwiderte Bruno gleichgültig. »Runde Bären können sehr lange rollen.«
»Was wollte er von mir?« Ich wandte mich Bruno zu und dabei fiel mir auf, dass er den linken Arm voller knallroter Äpfel hatte. Also hatte er doch ein paar Molekel fangen können!
»Das ist eine lange Geschichte. Ich habe dir ja sowieso versprochen, dir alles zu erklären und wenn wir im Wartezimmer sitzen, habe ich auch die Zeit dafür.«
Ich ließ ihm seine kryptische Halberklärung ausnahmsweise mal durchgehen und Bruno ließ die Äpfel zu Boden fallen.
»Molekel!«, rief er ihnen dann zu. »Bringt uns zum uralten Alp.«
Das Obst kicherte ein paar Sekunden lang, dann wuchs ein gnomenhafter Arm aus einem der Äpfel und zeigte ihm den Stinkefinger.
Brunos strenger, an meine Person adressierter Blick war mir unbegreiflich. Die Geste des Molekels war absolut inakzeptabel und das darauf folgende Kichern war bestimmt nicht von mir gekommen. Allerdings muss ich einräumen, dass ich anstelle der Äpfel ähnlich gehandelt hätte. Selbstverständlich, ohne eine so obszöne Geste zu bemühen. Ich glaubte zu verstehen, wie die Molekel tickten und wieso sie nicht auf Bruno hörten. Mit seinem ungehobelten Befehlston hätte er nicht einmal einen Hamster dressieren können.
»Hast du es jemals mit Freundlichkeit versucht?«, fragte ich ihn.
»Freundlichkeit?«, wiederholte der Alptraum verblüfft. »Das soll funktionieren?«
Da er ein Mann war, wunderte mich seine Ignoranz kein Stück. Jedes Problem, das er nicht mit dem Hammer lösen konnte, war von Natur aus zu komplex für ihn.
»Du würdest staunen«, erwiderte ich und rief nach Däumling.
Der Schmetterling war vom stinkenden Orkan weggeblasen worden und brauchte daher eine Weile, um zu mir zurückzukommen. Schließlich erschien er aber fröhlich flatternd neben mir. Bruno bezeugte das Auftauchen des frechen Molekels mit einem finsteren Knurren.
»Ihr lieben Molekel«, sagte ich zu den Äpfeln und deutete dann auf Däumling, der sich über die allgemeine Aufmerksamkeit sehr freute. »Wie euer Freund hier bezeugen kann, habe ich nichts Böses im Sinn. Ich will euch nicht ärgern oder herumkommandieren. Ich möchte nur gerne zurück nach Hause. Könnt ihr mir bitte dabei helfen?«
Mit dem Tonfall hatte ich bislang noch jede Taschengelderhöhung durchgedrückt.
Der Apfel, der Bruno den Finger gezeigt hatte, rieb sich grübelnd dort, wo man bei ihm das Kinn vermuten mochte. Dann machte er mit Daumen und Zeigefinger das »Okay«-Zeichen.
»Wunderbar«, freute ich mich. »Also könnt ihr uns zum …« Ich sah Bruno hilfesuchend an.
»Uralten Alp«, knurrte der.
»… zum uralten Alp bringen?« Den Namen hatte ich mir natürlich gemerkt. Ich war aber so rücksichtsvoll, Bruno das Gefühl zu geben, einen wertvollen Beitrag zu leisten.
Die Molekel verwandelten sich mit einem lauten »Plopp« in kleine, runzelige Männer mit Hakennasen und salutierten zackig.
»Allemannattacke!«, schrie der offensichtliche Anführer der Gruppe und auf dieses Kommando hin rannten die Molekel wie kleine Teufel los. Sie rannten im Kreis umeinander herum. Ihre Drehung wurde immer schneller und schon bald wurden ganze Klumpen aus Gras und Erde von ihrem Kreisel herausgerissen. Dann begann auch die Luft ihrem Wirbel zu folgen und es bildete sich ein Tornado über den Molekel, die nun genau auf Bruno und mich zukamen.
So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Mit wachsender Angst wandte ich mich an meinen Begleiter. »Bruno …«
Doch der Nachtmahr winkte ab. »Lass gut sein … jetzt ist es sowieso zu spät.«
Der Tornado erfasste uns und ich spürte wie ich in die Luft gerissen und in Spiralbewegungen durch den Wirbelsturm nach oben geschleudert wurde.
Liebe Leser, wie ihr selbst garantiert auch, bin ich ein Riesenfan von Achterbahnen und Jahrmarktsfahrten aller Art. Bis vor wenigen Jahren wurde meine Begeisterung leider zu oft durch diverse Witzfiguren ausgebremst, die mir mit Hilfe einer manipulierten Messlatte erzählten, ich sei zu klein für die Fahrt. Inzwischen konnte ich diese Verschwörung aber aufdecken und bin bei jedem Rummel am Start.
Doch nichts aus meinem Repertoire, nicht einmal der dreifache Looping mit Katapultstart, war mit dieser Fahrt im Mixer vergleichbar. Der Tornado hatte Bruno und mich verschluckt. Die Welt drehte sich mit Übelkeit erregender Geschwindigkeit um mich herum und ich sah ganze Kontinente vorbeirasen, so hoch waren wir inzwischen.
Dann war der Sturm urplötzlich vorbei und unsere Reise endete unsanft auf einem glatten Marmorboden. Lediglich Däumling blieb von dem Aufprall verschont und schwirrte über unseren Köpfen, um seine davonziehenden Artgenossen zu verabschieden.
Ich machte eine kurze Bestandsaufnahme aller Körperteile und beendete den Diagnosemodus mit dem Fazit: »Aua!«
Dann stand ich auf und fragte laut: »Was war denn das?«
Auch Bruno sprang auf die Beine. »So viel zum Thema Freundlichkeit.«
»Was?! War?! Das?!«, wiederholte ich.
»Was glaubst du?«, lachte der Alptraum. »Du hast ihnen gesagt, wo sie uns hinbringen sollen, aber nicht wie.«
»Aber … ich habe sie doch gebeten …«
»… uns zum uralten Alp zu bringen. Genau das haben sie getan, wenn auch nicht auf die bequemste Art und Weise.«
Okay, vielleicht hatte ich die Molekel doch noch nicht so gut verstanden, wie ich dachte.
Ich versuchte mir, meinen schmerzenden Hintern nicht anmerken zu lassen und nahm Brunos Worte zum Anlass, mich umzuschauen. Bei dem Ort, an dem wir gelandet waren, handelte es sich um einen lichtgefluteten Saal von beeindruckender Größe. Wir standen am Eingang, der aus einer Reihe von Säulen gebildet wurde. Draußen waren mehrere Gebäude in den unterschiedlichsten Baustilen zu sehen. Egal ob aus Holz, Lehm oder Stein; sie waren dabei allesamt so schief gebaut, dass sie zusammenbrechen mussten, sollten sie eines Tages den Gesetzen der Statik begegnen. Auch die Straßen waren so unausgeglichen gepflastert, dass das Laufen darauf ein Abenteuer sein musste.
Wir waren inmitten einer Stadt gelandet, die ein kritischer Beobachter als ›schlampig gebaut‹ bezeichnen mochte. Ich bevorzugte den Ausdruck ›verspielt‹.
»Komm«, sagte Bruno und führte mich weg von den schiefen Häusern und weiter in den Saal.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich, während unsere Schritte durch den riesigen Raum hallten.
»In der Halle des Ahnengeflüsters. Ein Tempel im Herzen der Stadt Drud und seit Jahrtausenden das Heim des uralten Alp.«
»Und diese Stadt Drud ist die Heimat von euch Träumen?«
»Mehr als das. Sie ist die Wiege unserer Zivilisation und das Zentrum unserer Gesellschaft. Nicht nur wegen dem Tempel; auch die Akademie, an der wir ausgebildet werden, befindet sich hier. Außerdem noch die Quelle: Die Geburtsstätte eines jeden Traumes. Drud ist viel mehr als eine Heimat für uns.«
Ich schwieg – und ja, ich bin dazu fähig! Die Hingabe, mit der Bruno von dieser Stadt sprach, ließ darauf schließen, dass sie ihm sehr viel bedeutete. Ich fragte mich zum ersten Mal, wie weit die Gefühle der Träume reichen mochten. War es einfach nur eine enge Bindung zu diesem Ort, die Bruno so sprechen ließ oder kannten Traumländer sogar so starke Gefühle wie Liebe?
Wie es wohl aussah, wenn Träume verliebt waren?
»Sag mal Bruno, hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte ich beiläufig.
Der Alptraum blieb abrupt stehen und lief feuerrot an. »Was … ist denn das für eine Frage?«
Also nicht, hehe. Ich zuckte mit den Schultern und lief weiter. Der verdatterte Nachtmahr tapste mir hinterher.
»Ich habe mich nur gefragt, ob ihr Träume Zuneigung füreinander empfinden könnt und ob ihr euch ineinander verliebt und Familien gründet.«
»Typisch Mensch«, schnaubte Bruno. »Ihr glaubt, dass jedes andere intelligente Lebewesen sich genauso wie ihr verhalten müsste.«
Ich zuckte zusammen. Offenbar hatte meine Frage ihn gekränkt. Ich Tollpatsch! Das rechtfertigte zwar nicht sein ungehobeltes Verhalten, impfte mir aber doch genügend Schuldgefühle ein, um ein Wort in den Mund zu nehmen, das ich sonst nur selten benutzte.
»Entschuldigung«, flüsterte ich.
»Schon gut«, seufzte der Nachtmahr. »Die einzigen dummen Fragen sind die, die wir nicht stellen. Und nun sage mir: Hast du schon mal etwas von Alptrauminnen gehört?«
Ich durchstöberte mein enzyklopädisches Gedächtnis und sagte schließlich: »Nein.«
»Weil es keine gibt! Drud ist unsere Mutter. Die Quelle gebärt unseren Nachwuchs.«
Das war erstaunlich! Und sicher schrecklich öde. Da musste ich noch etwas nachbohren: »Also lebt ihr ohne Gefühle? Du warst noch nie in deinem Leben verliebt?«
»Psssst«, machte Bruno und blieb stehen.
Ich tat es ihm gleich und noch während ich mich darüber ärgerte, dass er sich wieder einmal feige aus so einem interessanten Thema zurückgezogen hatte, tauchte plötzlich ein großes Monster vor uns auf.
Es hing kopfüber von der Decke und hatte drei sehr lange, haarige Beine, von denen es zwei in einen Schneidersitz geschlagen hatte. Mit dem Dritten hielt es sich an einer Art Vogelstange in der Decke fest. Sein Körper war im Vergleich zu den Beinen winzig und obwohl es verkehrt herum hing, war sein Kopf so verdreht, dass sein schmaler Bürokratenmund unten war und die sechs Augen oben. In den Armen hielt es ein dickes Buch und eine Feder in einem Tintenfass.
»Ein Mensch«, stellte es bei meinem Anblick fest.
»Ein Spinner«, wollte ich erwidern, doch irgendein Rohling stieß mir schmerzhaft in die Seite.
»Guten Tag Herr Weberknecht«, grüßte Bruno. »Wir möchten gerne zum uralten Alp.«
»Nicht schön, nicht schön«, grummelte der Weberknecht geistesabwesend. »Es gehört sich nicht, die Halle des Ahnengeflüsters mit einem Wirbelsturm zu bereisen.«
»Das war ein Streich der Molekel. Lässt du uns jetzt zum uralten Alp?«
Der Weberknecht reichte ihm widerwillig das Buch und die Tintenfeder. Dann sagte er schlicht: »Eintragen.«
Bruno schrieb sich ein und gab beides an mich weiter. Ich schrieb meinen Namen in viel schönerer Handschrift unter seinen und gab die Sachen an den Weberknecht zurück.
»Ich hole ihn«, sagte der und stakste unter Einsatz all seiner Beine über weitere Deckenvogelstangen davon.
»Er ist etwas griesgrämig und sucht nach Gründen, die Leute nicht zum uralten Alp zu lassen. Doch für die Audienz gibt es nur eine einzige Bedingung.«
»Das man sich in das Gästebuch einträgt«, tippte ich.
Der Nachtmahr nickte. »Komm.«
Er führte mich zu einer der tragenden Säulen, in deren Sockel Sitzbänke eingelassen waren und wir nahmen nebeneinander Platz. Auch Däumling ließ sich auf meinem Schoß nieder.
»Haben wir jetzt Zeit?«, fragte ich.
»Ja.«
»Dann leg mal los«, bat ich.
Bruno fing mit der Geschichte an: »Vor langer Zeit, als die menschliche Rasse gerade erst geboren war, schaute sie eines Nachts vor dem Einschlafen hinauf zu den Sternen. Der funkelnde Himmel beflügelte ihre Fantasie und sie begannen, das erste Mal zu träumen. Dies war die Geburtsstunde des uralten Alps, dem ersten Traum der Menschheit. Wenn Menschen träumen, öffnen sie ein Fenster von ihrer Welt in unsere und steigen mit ihrem Geist herein. Der Alp, Urvater der Träume, freute sich über den Besuch und weil er ein guter Gastgeber war, machte er sich hübsch. So hatten die Menschen ihren ersten schönen Traum. Schon bald wurden neue Träume geboren und eine Zeit lang war alles gut so.
Doch wenn einem Menschen ein Traum zu gut gefällt, wenn er zulange in unserer Welt verweilt oder er sich in seiner Eigenen nicht wohl fühlt, kann es passieren, dass das Fenster zu groß wird und sein Körper ihm ins Traumland folgt.
Das führte schon bald zu vielen Problemen und Konflikten: Die Träume standen den Menschen unterschiedlich gegenüber. Manche hatten die Menschen sehr gerne gewonnen und wollten sie als Haustiere behalten, andere hatten Gefallen am Geschmack von Menschenfleisch gefunden und wieder andere entwickelten aus Hass eine sadistische Ader. Doch der uralte Alp und seine Getreuen, die sich selbst »Alps Träume« oder eben auch »Alpträume« nannten, wollten die Menschen vor ihren Artgenossen schützen. Es kam zu Kämpfen und Kriegen und auch die Menschen selbst vertrugen sich aufgrund unterschiedlicher Religionen oder Hautfarben nur selten miteinander. Zu unserem und ihrem Wohl entschied der uralte Alp, dass es besser war, die Menschen aus dem Traumland zu verjagen und sie bei ihren nächtlichen Besuchen so zu verschrecken, dass sie nicht mehr durch das Fenster fallen konnten. Er gründete die Akademie und brachte den Bürgern von Drud bei, wie man die Menschen mit ihren Ängsten verjagen konnte. Auf diese Weise gründete er den Orden der Nachtmahre.
Es gab aber auch Träume, die nicht wollten, dass die Menschen verschwanden. Sie zogen aus Drud aus und wurden zu Wilderern, die weiter versuchten, Menschen in unsere Welt zu locken.«
»Dann wollte Fred mich also …«, ich musste unwillkürlich schlucken.
»Junge Mädchen sind seine Leibspeise«, sagte Bruno.
»Trotzdem sind Träume wichtig für die Menschen«, warf ich ein. »Wenn ihr uns aus eurer Welt verjagt, wachen wir auf. Manche Menschen können wegen euch Alpträumen nicht mehr richtig schlafen – und wer nicht schläft, kann verrückt werden oder sogar sterben.«
›Du bist so schlau, Marina‹, höre ich euch sagen – und Recht habt ihr!
»Dann solltet ihr vielleicht aufhören, unsere Welt heimzusuchen«, erwiderte Bruno finster und uneinsichtig. »So könntet ihr in Ruhe schlafen und in unserer Welt kehrt endlich wieder Frieden ein.«
»Du würdest den Menschen ernsthaft das Träumen verbieten wollen?«, fragte ich, entsetzt über seine Schuftigkeit.
»Ihr seid in unserer Welt nur Besucher, die geduldet werden – und trotzdem bringt ihr uns und euch in Gefahr. Also ja: Bleibt doch am besten einfach in eurer eigenen Welt.«
Däumling schreckte von meinem Schoß auf, als ich von der Bank aufstand und dabei mit den Füßen auf den Boden aufstampfte. Der Kerl machte mich wütend. Er hatte mir seine Welt gezeigt und mir obendrein noch das Leben gerettet – und jetzt schwang er solche Reden?
Wie konnte er es wagen?
Der Alptraum wusste bereits, dass er sich falsch verhalten hatte. Reue trat in sein nachtschwarzes Gesicht.
Gerade als ich ihn mit einem Blitz zu Asche verbrennen wollte, sagte er: »Entschuldige bitte. Die Situation ist schwierig.«
»Bruno«, entgegnete ich ihm mit eisiger Kälte. »Du hast doch gesagt, dass ihr keine Frauen habt und die Quelle eure Kinder gebärt.«
Er nickte mit gesenktem Haupt.
»Die Quelle sind wir, nicht wahr? Die Menschheit ist eure Mutter. Wir erschaffen euch durch unsere Fantasie. So wie die ersten Menschen auch euren uralten Alp geschaffen haben.«
»Ja«, flüsterte Bruno. »Die Quelle ist unsere Nabelschnur zu eurer Fantasie und die eigentliche Verbindung zwischen unseren Welten. Die Fenster, durch die ihr uns besucht, sind nur ihre Ausläufer.«
»Und trotzdem wollt ihr uns verjagen?«
Ein schwerer Seufzer entwich dem Nachtmahr. »Der uralte Alp gelangte zu derselben Erkenntnis. Aus diesem Grund kann man an der Akademie aus zwei Ausbildungen wählen: Jeder von Alps Träumen wird entweder ein Nachtmahr oder ein Wächter. Die Wächter lernen Mäßigung; Sie lassen euch schön träumen, doch wenn ihr Gefahr lauft, in unsere Welt zu fallen, greifen die Wächter auf uns Nachtmahre zurück.«
»Und ihr verjagt uns dann wie räudige Hunde«, beendete ich immer noch verärgert die Geschichte.
»Ja«, gab Bruno zu.
»Du bist also ein Nachtmahr geworden, weil du uns Menschen nicht leiden kannst?« Damit war er in meiner Gunst ziemlich tief gesunken.
»Ist doch egal«, winkte der Nachtmahr ab. »Ich habe mich eben so entschieden.«
»Vielleicht war das falsch«, überlegte ich laut und fügte etwas provokant hinzu: »Immerhin bin ich hier. Wie kommt es eigentlich, dass ich bisher noch nie in eure Welt gefallen bin, bei so halbherzigen Versuchen, mich zu vertreiben?«
Noch während ich die Worte aussprach, kapierte ich es und mein Zorn auf Bruno verpuffte.
Der rechtfertigte sich gewohnt unbeholfen: »Ich habe dir doch vorhin schon gesagt, dass ich gerade erst meine Ausbildung abgeschlossen habe. Du warst mein erster Job und ich hab es vermasselt.«
»Laber Rhabarber!«, fuhr ich ihm über den Mund, denn ich kannte nun die Wahrheit. Sein Schreckversuch war halbherzig! Er hatte mich nicht vertrieben, weil er es eigentlich gar nicht wollte. »Du magst mich, gib es doch zu!«
Natürlich gab er gar nichts zu. Stattdessen schaute er mich irritiert an und tat so, als wüsste er gar nicht, was ich meine.
Um ihm die Verlegenheit zu ersparen war ich es, die diesmal das Thema wechselte: »Wer hat mich denn sonst immer vertrieben?«
»Kurt. Er ist ein spezialisierter Traum, so wie Fred.«
Ich würde mich mit dem uralten Alp dringend über die Namensgebung seiner Träume unterhalten müssen. Abermals gelang es mir, nicht zu schmunzeln, als ich fragte: »Also hat er auch einen Künstlernamen?«
»Ja.«
»Welchen?«
Bruno hüstelte verlegen.
»Was?«
Er murmelte leise den Namen.
»Ich hab’s nicht verstanden.«
»Der ›Nackt in der Schule‹-Traum!«, platzte Bruno heraus und sein Gesicht nahm puterrote Töne an.
»Ja«, gestand ich lachend, »der Traum ist echt schlimm. Davon wache ich garantiert auf.«
Sofort schlug sich Bruno mit der Hand gegen die Stirn. »›Jugendliche in der Pubertät fürchten in erster Linie soziale Herabstufung in der Schulgemeinde. Man konfrontiert sie am besten mit peinlichen Situationen in Alltagsimitationen.‹ – Lehrbuch der Nachtmahre, Kapitel vier. Ich bin so doof!«
»Ich käme im Traum nicht darauf, dir zu widersprechen«, lachte ich. Trotzdem freute ich mich, dass er seine eigene Fantasie den Lehren der Nachtmahrfibel vorgezogen hatte.
Auch Bruno musste nun lächeln. Er verzog sein mit Fangzähnen bewehrtes Maul zu einem Grinsen.
»Ich mag es, wenn du lachst. Das ist schöner, als wenn du sauer bist«, beschrieb er seine Gefühle.
So klang der erste Schritt auf dem Weg zur größten Weisheit, die ein Mann erlangen kann.
Als ich mich gerade wieder auf die Bank setzen wollte, hallte die Stimme des Weberknechts durch den Saal: »Der uralte Alp empfängt euch nun!«
Bruno nahm diese Ankündigung zum Anlass, sich neben mir aufzustellen. Gleich darauf wurde es in dem Saal dunkel und die Säule samt Sitzbank wurde von der Finsternis geschluckt. Auch der schwarze Bruno verschmolz mit der Dunkelheit und schließlich verschwand auch der umherfliegende Däumling.
»Bruno?«, rief ich in die Schwärze.
»Ich bin hier«, erklang es direkt neben mir. »Hab keine Angst.«
Ich erklärte ihm, dass ich keine Angst hatte, sondern nur vor Kälte zitterte und dass das mein gutes Recht sei als Frau. Dann fügte ich hinzu: »Ich kann nicht einmal mehr meine eigene Nasenspitze sehen. Ist das normal?«
»Ja, aber das wird gleich besser. Nun schweige ehrfürchtig.«
Gleich darauf ging ein Stern auf und ihm folgten weitere Myriaden. Meine Augen schmerzten vom Licht und mein Geist wurde überwältigt, als Däumling, Bruno und ich in das Licht des Sternenmeeres getaucht wurden. So viele Sterne hatte ich selbst am Nachthimmel nie gesehen, wahrscheinlich hatte das niemand den ich kannte. Die Menschen erzeugten nachts so viel künstliches Licht, dass es die meisten Sterne überstrahlte.
Dies war der uralte Alp: Der Traum vom Himmel und den Sternen.
»Seid Willkommen, Kinder«, tönte die schwere Stimme des ersten Traumes.
»Ehrenwerter Urvater«, sagte Bruno und verneigte sich.
Ich tat es ihm gleich, war jedoch zu ergriffen, um etwas zu sagen.
»Ich sehe einen Menschen in unserem Reich«, stellte der Alp fest.
»Das ist meine Schuld, Urvater«, beteuerte Bruno. »Ich konnte sie nicht verjagen und nun ist sie hier mit Haut und Haar.«
Der Ahne der Träume beachtete sein Geständnis nicht und sprach mich direkt an. »Du weißt, dass du nicht hierbleiben kannst, Kind.«
»Das möchte ich gar nicht«, versicherte ich so höflich und vorsichtig es mir möglich war.
»Bist du dir da sicher?«
Mal ehrlich: Wer will denn schon in einer fantastischen Welt voller Wunder und Abenteuer bleiben, wenn zuhause eine Mathearbeit wartet? Juchei!
»Menschen fallen in die Traumwelt, weil sie das Fenster zu weit aufstoßen. Menschen stoßen das Fenster zu weit auf, weil es ihnen hier besser gefällt als in der Menschenwelt«, erklärte der uralte Alp. »Ich frage dich noch einmal, Kind. Willst du wirklich zurück in deine Welt?«
Der Traumvater hatte recht. Mir war schon mulmig bei dem Gedanken, nicht mehr zurück nach Hause zu können, aber nur am Anfang. Inzwischen gefiel es mir hier ganz gut. Trotzdem konnte ich nicht bleiben. Ich würde Ärger provozieren.
»Spielt das denn eine Rolle?«, fragte ich also. »Ist doch egal ob ich hierbleiben oder gehen will. Ich muss so oder so nach Hause zurück.«
Die Sterne funkelten kurz auf, was Däumling veranlasste, ein Tänzchen mit ihnen zu wagen. Seine Annäherungsversuche wurden nicht beachtet.
»Es spielt eine sehr große Rolle«, entgegnete der uralte Alp. »Für dich! Ein jeder muss wissen wohin er gehört, um sein Leben zu ertragen.«
Na schönen Dank auch, Yoda! Ich schaute flehentlich zu Bruno, doch der hob nur hilflos die Schultern.
»Denk darüber nach, Kind«, riet mir der Alp. »Und nun zu dir, Bruno.«
Der Nachtmahr stellte sich sofort wieder gerade hin, als die Sterne ihre Aufmerksamkeit auf ihn richteten. »Ja, Urvater?«
»Dein Scheitern freut mich.«
»Wie bitte?«
»Dein Verhalten hat mich in letzter Zeit etwas beunruhigt«, gestand der uralte Alp. »Daher bin ich sehr glücklich darüber, dass du dieses Kind nicht vertreiben konntest. Dies ist eine einmalige Gelegenheit für dich.«
»Urvater … ich verstehe nicht.«
»Ich habe dich an der Akademie beobachtet. Ich weiß, weshalb du den Weg des Nachtmahres eingeschlagen hast.«
Bruno starrte ertappt zu Boden.
»Genug der langen Worte. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Er sah wieder auf. »Eine Aufgabe?«
»Eine Mission. Bring das Mädchen zur Hütte des Schrats und gib ihm dies hier von mir.«
Einer der Sterne verschreckte Däumling, indem er sich vom Himmel löste und herunter in Brunos Hand flog. Dort blieb er dann als kleiner, bunt leuchtender Kristall zurück.
»Ein Stern?«, fragte der Nachtmahr verwundert.
»Eine Aufzeichnung. Eine Essenz von mir, die eine Bitte an den Schrat enthält.«
»Du willst ihn doch nicht bitten … ihr etwas anzutun, oder?«, fragte Bruno mit besorgter Stimme nach.
Süß, nicht wahr? Ich wusste ja gleich, dass er mich mochte.
»Was kümmert dich das?«, sprach der uralte Alp. »Du bist ein großer, böser Nachtmahr. Du kannst Menschen nicht ausstehen, schon vergessen?«
Der Alptraum blickte einmal mehr verschämt zu Boden, während sich sein Ahne wieder mir widmete. Zweifellos eine bessere Investition seiner Zeit.
»Keine Angst, Kind. Der Schrat ist in der Lage, dir bei deinem kleinen Problemchen zu helfen und außerdem …«, der Traumvater stockte kurz.
»Bruno«, sagte er dann. »Wenn du die Güte hättest, zu gehen.«
Bruno schaute die Sterne verdutzt an. »Was?«
»Du sollst raus gehen. Ich schicke das Mädchen gleich nach.«
»Aber …«
»Nun mach schon!«
Bruno warf mir einen Blick zu, dessen Inhalt ich nicht deuten konnte – vermutlich Bewunderung – und verließ die Halle des Ahnengeflüsters.
»Du musst ihn entschuldigen«, sagte der Alp, als er weg war. »Er ist zur Zeit sehr verwirrt.«
Ich winkte ab. Das hatte ich auch schon gemerkt.
»Er nennt dich Vater«, sagte ich. »Aber ich dachte, Träume gründen keine Familien und haben keine Eltern.«
»Die Quelle bringt uns zur Welt«, bestätigte der Traumvater. »Doch wie auch die Kinder der Menschen, brauchen auch die jungen Träume jemanden, der sie erzieht. Sonst werden sie zu Wilderern. Leider kommt es bei so vielen Kindern vor, dass ich nicht immer alle vor diesem Schicksal bewahren kann.«
»Und Bruno läuft Gefahr, so zu enden?«
»Nein. Jetzt nicht mehr.«
»Wegen mir?«
»Dank dir.«
Ein weiterer Stern flog aus dem Firmament und landete in meiner Hand. Ihm folgte der aufgebrachte Däumling, der nun endgültig den Nagel voll von den Sternen hatte.
»Wenn die Zeit gekommen ist«, sagte der Alp, »gib dies dem Schrat.«
Ich wog den Kristall in der Hand. Irgendwie hatte ich erwartet, dass er heiß oder zumindest warm war, doch stattdessen war er angenehm kühl.
Meine nächsten Worte wog ich gut ab. »Urvater Alp. Du bist sehr alt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Was passiert mit den Träumen, wenn du stirbst?«
»Ich sterbe erst, wenn auch der letzte Mensch aufhört, von den Sternen zu träumen«, erwiderte er sanft.
Nennt mich Weichei, aber seine Worte rührten mich fast zu Tränen.
»Nun geh. Bruno wartet sicher schon ungeduldig.«
Ich wandte mich zum Gehen. »Danke, Urvater Alp«, sagte ich über die Schulter hinweg und verließ mit Däumling an meiner Seite die Halle.
Draußen vor den Stufen des Eingangs wartete Bruno auf mich und kaum war ich aus dem Schatten des Alps getreten, steckte ich geistesgegenwärtig den Kristall unter den Träger meines Tops.
»Worüber habt ihr geredet?«, fragte der Nachtmahr sofort.
Ich lächelte nur, als ich ihn erreichte. Das Verhör konnte er sich in die Haare schmieren, genug davon hatte er ja.
»Lass uns gehen«, sagte ich, ohne auf seine Frage einzugehen. Dann nahm ich ihn bei der Hand und zog ihn sanft in die einladenden Straßen von Drud.
»Ich meine es ernst!«, gab Bruno hilflos von sich. »Worüber habt ihr geredet? Ich will es wissen!«
Ich ließ mich nicht erweichen. Stattdessen antwortete ich: »Und ich will mir gerne noch die Stadt ansehen, bevor ich gehen muss.«
»Marina!«
Ich grinste ihn über die Schulter hinweg an. »Bruno!«
»Das machst du nur, um mich zu ärgern!«
»Ach Quatsch.« Ich deutete auf ein großes Gemäuer in Form einer Halbkugel, an der wir gerade vorbei gingen und fragte: »Was ist das?«
»Einer von Druds Öfen: Unsere Energieversorgung«, stammelte er, charmant unbeholfen wie immer. »Sagst du mir jetzt endlich …«
»Was ist das dort drüben?«, unterbrach ich ihn und zeigte auf ein großes und vor allem sehr langes Gebäude am Ende der holprigen Straße, der wir gerade folgten.
»Der Kontinental-Bahnhof.«
»Hast du nicht erzählt, dass außerhalb von Drud nur Wilderer leben? Ich dachte, ihr wäret im Krieg mit den ausgewanderten Träumen? Wo wollt ihr denn hinreisen, dass ihr einen Bahnhof braucht?«
»In andere Stadtteile.«
»Warum heißt die Bahn denn dann bitteschön Kontinental-Bahn?«
»Weil die Stadtteile über die gesamte Welt verstreut sind«, erklärte Bruno.
Umständlicher hatten sie es wohl nicht hinbekommen. Ich nickte verstehend und sagte: »Ihr macht Filialen auf.«
Ohne den Nachtmahr zu Wort kommen zu lassen, deutete ich auf ein hohes Gebäude in der Ferne, das über den vielen schiefen Dächern mit den krummen Schornsteinen hervorragte. »Und das? Was ist das dort?«
»Die Akademie.«
»Oh … sehen wir vielleicht auch noch die Quelle?«
»Nicht, wenn wir in die falsche Richtung gehen.«
»Aha«, machte ich und schlug einen anderen Weg ein. Ich wollte die Quelle doch gar nicht sehen, sondern Bruno nur von seinen lächerlichen Fragen abhalten. Was sollte schon sehenswert sein, an einer Mutter, die ihre Kinder vernachlässigte?
Den Rest der Stadt wollte ich jedoch gerne sehen, leider musste ich meinen Fremdenführer wieder einmal alles aus der Nase ziehen.
»Was ist das dort?«
»Das Gefängnis für Wilderer.«
»Und das daneben?«
»Die Ehrensäule.«
»Du behaupte mir noch einmal, dass ihr Träume anders als wir Menschen seid. Ihr fallt in genauso dummen Kriegen und nennt das dann Ehre!«
»Ein Krieger weiß, wofür er stirbt!«
»Ach papperlapapp. Ein Krieger weiß nicht einmal, wofür er kämpft«, winkte ich ab und deutete stattdessen auf ein kleines, grünes Häuschen. »Was haben wir denn dort?«
»Die Post.«
»Und das große Ding da vorne?«
»Die Halle des Ahnengeflüsters.«
»Ups …«
»Hör mal, Marina«, seufzte Bruno. »Ich kapiere es ja: Du willst mir nicht verraten, worüber du mit dem Urvater gesprochen hast. Ist okay. Aber könntest du mit dieser Dummfragerei aufhören? Das macht mich noch verrückt.«
Dabei war ich gerade so schön warm geworden. Trotzdem war es angenehm, dass er seine Lektion gelernt hatte. Zufrieden sagte ich: »Schön. Dann können wir ja jetzt unsere Besichtigungstour genießen.«
Die Bewohner von Drud waren so bizarr und verschieden, wie man es von Traumländern nur erwarten konnte. Bei einigen Träumen fiel es mir sehr schwer, zu erkennen, welche Aufgabe sie erfüllten, bei anderen lag der Fall klar. So beispielsweise die monströseren Nachtmahre, die die offensichtlichsten Ängste der Menschen widerspiegelten und auch die ansehnlichen Wächter, die neben ihren unheimlichen Kollegen eine richtige Freude für die Augen waren.
Dort lief ein Nachtmahr für Arachnophobiker als riesige, haarige Spinne neben einem Wächter in der Gestalt einer wohlgeformten jungen Frau, der zweifellos für feuchte Männerträume sorgte. In einem Café am Straßenrand saßen ein Einhorn und ein langhalsiger Giraffenmensch bei einer Tasse Cappuccino zusammen und unterhielten sich. Am Tisch nebenan saß ein Mutant, dessen Haut so dünn war, dass man darunter Fleisch und Organe sehen konnte.
Eine Gruppe kleiner Pelzkugeln mit Zähnen, von denen einige Basecaps und Sonnenbrillen trugen, lungerte verschwörerisch an einer Straßenecke herum. Ein luxuriöser Sportwagen holperte neben einem anmutigen Hirsch über die unebene Straße und ein dicker Clown mit lockigen Haaren und riesigen Füßen watschelte mit deprimiertem Gesichtsausdruck in den nächsten Schnapsladen. Ich hoffte für ihn, dass sie dort Pentosil führten.
»Wo kommen eigentlich die sinnlosen Träume her?«, fragte ich. »Also ich meine die, die einem weder gefallen noch Angst machen, sondern einfach nur seltsam sind.«
In diesem Moment ritt ein Mensch mit Pferdekopf auf einem Pferd mit Menschenkopf an uns vorbei und ich ergänzte: »Extrem! Seltsam!«
»Das sind Träume, die es auf der Akademie nicht geschafft haben«, erklärte Bruno. »Sie konnten keine der beiden Ausbildungen absolvieren und haben stattdessen ganz normale Berufe wie Bäcker oder Verkäufer hier in der Stadt. Es gibt auch Wilderer, die niemals die Akademie besucht haben, und die trotz ihrer mangelnden Kenntnisse tatsächlich versuchen, die Menschen in Gestalt eines dreiköpfigen, buckligen, alten Mannes anzulocken.«
»Habt ihr unter den Läden auch einen, der Kameras verkauft?«
»Weshalb willst du eine Kamera?«
Verdutzt über seine Naivität erklärte ich ihm das Offensichtliche: »Ich würde die schrägen Vögel hier unheimlich gerne mal fotografieren …«
Unerklärlicherweise warf mir ein vorbeilaufender Mann mit Tentakelbart einen bösen Blick zu.
Ich belohnte ihn mit einer Grimasse.
»Zügele deine freche Zunge ein wenig«, ermahnte Bruno mich. »Das hier ist keine Jahrmarkt-Freakshow. Die Leute nehmen dir solche Sprüche schnell übel.«
»Okay, okay, ich bin still«, beschwichtigte ich ihn. Ich wollte schließlich nicht riskieren, dass Herr Ungehobelt mir Benimmuntericht gab. Der Schaden wäre kaum auszudenken.
Ich lernte eine Menge über Drud und dafür musste ich zunächst aufhören, sie mir als Stadt im menschlichen Sinne vorzustellen. Es war vielmehr ein Verbund oder besser noch: Eine Idee. Hierzu musste man zunächst die Träume verstehen, die ja aus den Gedanken der Menschen geboren waren. Jeder Traum hatte zwei Aspekte. Zum einen gab es da die sogenannte ›anthropomorphe Personifizierung‹, die auch ›Inkarnation‹ genannt wurde. Darunter fiel Brunos Auftreten als langgliedrige, schwarzborstige Schreckfigur, ebenso wie der Teddy Fred. Darüber hinaus hatte jeder Traum noch eine natürliche Gestalt, die jedoch etwas abstrakter war. Diese Gestalt spiegelte die Idee wieder, die dem Traum zugrunde lag, wie zum Beispiel die ewigen Wiesen. Diese Naturgestalten waren letztendlich immer ein Verbund von Molekel und konnten daher verschiedene Formen annehmen. Außerhalb ihrer eigenen Naturgestalt fiel es den Inkarnationen schwerer, Molekel zu kontrollieren. Damit begründete Bruno übrigens seine Schwierigkeiten mit den Molekeln in den ewigen Wiesen. Ich glaube, er wollte auch ein bisschen Anerkennung von mir, weil er Fred trotz dieses Handycaps in seiner eigenen Naturgestalt geschlagen hatte.
Nun kommt der Clou: Alle Orte im Traumland, das übrigens Nyx hieß, waren ausnahmslos Naturgestalten ihrer Bewohner. Dies galt daher auch für Drud, die einfach nur der Zusammenschluss aller dem Urvater treu ergebenen Träume war. Genau aus diesem Grund war das Stadtbild von Drud mehr als ungewöhnlich und ihre Ausmaße sprengten jede Vorstellungskraft. Einzelne Stadtgebiete, oft sogar einzelne Straßen oder Gebäude waren eigene Träume. Es gab sogar zahlreiche Gebäude, die aus verschiedenen Träumen bestanden – manchmal bis hin zu den Nieten der Dachbalken. Davon abgesehen gab es auch so manchen extravaganten Traum, der sich dann als Vulkan, Dschungel oder Ozean in das grenzenlose Stadtbild einfügte. Womit auch schon erklärt war, wie die Stadt sich über mehrere Kontinente ausdehnen konnte. Einer dieser ausgefalleneren Träume, den man den Schrat nannte, war nun unser Ziel.
Die Naturgestalt des Schrats, oder auch Waldschrats, wie Bruno ihn gelegentlich nannte, war ein ausgesprochen dichter und finsterer Wald. Er befand sich einige Wegstunden von der Halle des Ahnengeflüsters entfernt in einem Gebiet, das nur wenige Häuser beherbergte. Ohne Brunos vorherige Erklärung hätte ich gedacht, dass wir Drud schon längst verlassen hätten.
Da standen wir nun am Waldrand, der wie eine scharfe Grenze gezogen war. Wir standen auf einer sonnigen Wiese, während vor uns die ersten Bäume im Zwielicht hingen. Die knorrigen, alten Bäume waren von üppigem Dickicht umgeben. Das Unterholz lag in permanentem Nebel, der über die Waldgrenze hinaus bis über die Wiese waberte. Er brachte eine beklemmende Kälte mit sich.
»Sieht gemütlich aus«, teilte ich Bruno meine Einschätzung mit.
»Lass dich davon nicht täuschen.« Ihm schien mein Sarkasmus entgangen zu sein. Als Nachtmahr entsprach dieser Gruselwald wahrscheinlich wirklich seinen Vorstellungen von ›gemütlich‹.
»Der Schrat ist etwas … exzentrisch«, ergänzte Bruno. »Du solltest lieber nicht vom Weg abkommen.«
Ich blickte in das dichte Unterholz und die Bäume schauten fratzenschneidend zurück. »Da ist kein Weg«, stellte ich fest.
»Das macht es schwierig, nicht wahr?« Mit diesen Worten trat Bruno einen Schritt vor. Um ihn herum wich das Holz beiseite und bildete eine Nische für ihn. »Bleib dicht bei …«
Bruno unterbrach sich selbst, als er bemerkte, dass ich mich bereits geistesgegenwärtig an seinen Arm geklammert hatte. Ich weiß nicht genau, warum er dabei schmunzelte. Wahrscheinlich imponierte ihm meine Auffassungsgabe.
Gemeinsam betraten wir den finsteren Wald. Bereits nach dem ersten Schritt über den Waldrand hinweg verschlang uns die Dunkelheit. Ich hörte, wie das Astwerk sich hinter uns wieder knarrend schloss. Bei jedem Tritt, den wir taten, bogen sich vor uns einige Äste beiseite und schlossen sich hinter uns wieder. Der kalte Nebel saugte an meinen Beinen und brachte mir eine gehörige Gänsehaut ein.
»Woher wissen wir, dass wir noch auf dem Weg sind?«, fragte ich nach einer Weile leise.
»Wir leben noch«, antwortete Bruno unverblümt.
Ich knuffte ihn dafür selbstverständlich heftig in die Seite.
»Keine Angst«, sagte er darauf hin leicht amüsiert. »Ich kenne den Weg.«
Ich begann nun doch, ihm zu erklären, dass Angst etwas vollkommen Normales und Gesundes war, dessen man sich nicht schämen musste. Davon abgesehen hatte ich selbstverständlich keine Angst!
Zum Dank für diese Erleuchtung bremste er mich im nächsten Moment grob mit seinem Arm aus. Noch bevor ich protestieren konnte, zischte er: »Bleib! Stehen!«
Auf einen Pfiff von Bruno hin flackerte plötzlich ein kleines Licht über uns in der Dunkelheit auf und erhellte den Wald vor uns spärlich. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinab.
Der Wald vor uns war zwar etwas lichter, aber dennoch gespenstisch und nebelverhangen. Moosbewachsene Felsen und verwitterte Grabsteine brachen durch das Unterholz. Die meisten von ihnen waren von den starken Wurzeln der Bäume umschlungen und bröckelten unter ihrer Umarmung. Dicke Nebelschwaden zogen durch das knarrende Geäst, das ganz besondere Früchte trug: An den Bäumen vor uns hingen hunderte Stricke, die zu Galgenschlingen geknüpft waren.
Geschockt und fasziniert wollte ich mich an Bruno wenden, doch der hielt mich abermals zurück.
»Halt still!« Die Ernsthaftigkeit seiner Ermahnung ließ mich jedes Widerwort vergessen.