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Wie ich Dingding lieben lernte und ein ganzes Land dazu. Eigentlich wollte Sven Hänke nur für ein Jahr nach China gehen. Sechs wurden es, und schuld daran ist Dingding, seine spätere Ehefrau. Doch es war nicht ganz leicht, Dingdings chinesische Großfamilie für sich zu gewinnen. Vor allem nicht als «Nackter Bräutigam», der einfach aus Liebe heiraten will, ohne über Karrierejob, Auto und Eigentumswohnung zu verfügen. Zunächst musste Sven Hänke im Reich der Mitte überleben lernen und die Seltsamkeiten des Alltags meistern: Warum sind manche chinesischen Handynummern so viel teurer als andere? Haben die Pekinger wirklich keine Brusthaare? Wieso tragen Chinesen so aparte Namen wie Jupiter oder Pünktchen? Und dann erzählt Sven Hänke von den komplexen Ritualen der chinesischen Brautwerbung – von der korrekten Anrede von Onkeln vierten Grades bis zum stilvollen Verspeisen einer Seegurke –, die auch ein Deutscher unbedingt absolvieren muss, bevor das große Hochzeitstheater beginnen kann … Sven Hänke begibt sich auf eine romantische Tour de Force durch ein Land zwischen Hightech und Tradition, zwischen Kaufrausch und Kommunismus. Mit viel Humor und geradezu konfuzianischer Gelassenheit erzählt er vom komischen Clash der Kulturen – und der fast unmöglichen Kunst, in China zu heiraten.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2015
Sven Hänke
Nackte Hochzeit
Wie ich China lieben lernte
Ihr Verlagsname
Wie ich Dingding lieben lernte und ein ganzes Land dazu.
Eigentlich wollte Sven Hänke nur für ein Jahr nach China gehen. Sechs wurden es, und schuld daran ist Dingding, seine spätere Ehefrau. Doch es war nicht ganz leicht, Dingdings chinesische Großfamilie für sich zu gewinnen. Vor allem nicht als «Nackter Bräutigam», der einfach aus Liebe heiraten will, ohne über Karrierejob, Auto und Eigentumswohnung zu verfügen. Zunächst musste Sven Hänke im Reich der Mitte überleben lernen und die Seltsamkeiten des Alltags meistern: Warum sind manche chinesischen Handynummern so viel teurer als andere? Haben die Pekinger wirklich keine Brusthaare? Wieso tragen Chinesen so aparte Namen wie Jupiter oder Pünktchen? Und dann erzählt Sven Hänke von den komplexen Ritualen der chinesischen Brautwerbung – von der korrekten Anrede von Onkeln vierten Grades bis zum stilvollen Verspeisen einer Seegurke –, die auch ein Deutscher unbedingt absolvieren muss, bevor das große Hochzeitstheater beginnen kann …
Sven Hänke begibt sich auf eine romantische Tour de Force durch ein Land zwischen Hightech und Tradition, zwischen Kaufrausch und Kommunismus. Mit viel Humor und geradezu konfuzianischer Gelassenheit erzählt er vom komischen Clash der Kulturen – und der fast unmöglichen Kunst, in China zu heiraten.
Sven Hänke stammt aus Brunsbek in der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium ging er nach China, um dort an der Universität Deutsch zu unterrichten. Hier traf er seine spätere Frau – und blieb fünf Jahre länger als geplant. Als Blogger wurde er bald zu Chinas bekanntestem Deutschlehrer. Fünfzigtausend Abonnenten folgen seinem Weibo-Mikroblog. Heute lebt Sven Hänke mit seiner Frau in Berlin.
Bofu sieht mich streng an. Das sonst so heitere Gesicht unter seinem akkuraten Bürstenhaarschnitt verfinstert sich. Bis vor wenigen Sekunden hatte er meine vorübergehende Sprachlosigkeit wohl noch für einen schlechten Scherz gehalten. Aber jetzt lächelt er nicht mehr.
Auch der Moderator der Feier, der irritierenderweise aussieht wie eine asiatische Variante des jungen Ulli Potofski und der zuvor durch nichts aus der Ruhe zu bringen war, schafft es nur noch mit Mühe, sein professionell eingefrorenes Lächeln weiter aufrechtzuerhalten. Bislang war er sehr souverän. Als ich mich bei dem Versuch, mit einer hölzernen Waage Dingdings Schleier zu lüften, ausgesprochen ungeschickt angestellt hatte, blieb er ruhig. Irgendwie schaffte er es, dass der ganze Saal meine Tollpatschigkeit für einen Teil der Show hielt. Als ich mich seiner Anweisung widersetzte, beim Kotau mit den Knien etwas näher an Bofu heranzurutschen, ignorierte er das einfach. Ich hätte ihm gern den Gefallen getan, aber ich hatte Angst, dass die Hose meines Anzugs dafür nicht die nötige Spannkraft besaß. Bei einer derart kleinflächigen Verbeugung bestand die Gefahr, dass zweihundert geladene Gäste Zeuge wurden, wie die Nähte sich verabschiedeten und die Hose einen ungewollten Blick auf meinen unterbehosten Hintern freigab. Weil ich den Kotau in Richtung meiner Schwiegereltern machen sollte, die auf einer Art Thron saßen, wandte ich den Gästen meinen Allerwertesten zu. Meine Mutter hatte recht: Ich konnte in der kurzen Zeit unmöglich so viel zugenommen haben. Entweder hatte der Schneider in Beijing den Anzug vertauscht, oder aber er verwendete ein Schnittmuster, das man aus frühen John-Travolta-Filmen kennt.
Der Moderator wiederholt seine Aufforderung: «Und nun, da du erfolgreich um die Hand der Tochter angehalten hast, ist es an der Zeit, endgültig den Bund fürs Leben zu schließen. Sprich die Worte!» Er betont jede Silbe, und sein Chinesisch ist klar und deutlich. Dingding steht, einige Meter neben mir, vor meinen Eltern, die ebenso wie Bofu und Bomu auf einem Doppelthron sitzen. Was soll ich sagen? Ich sehe zu Dingding hinüber. Aber sie blickt einfach weiter starr geradeaus.
Verdammt, da war doch was, denke ich. Irgendetwas war da doch.
Ja, Dingding hatte bei der Hochzeitsvorbereitung etwas in der Richtung gesagt. Und jetzt erinnere ich mich auch wieder an ihren eindringlichen Blick. «Vergiss das nicht. Das ist in China wie dein komisches Jawort. Sag es laut und deutlich», hatte sie mich ermahnt.
Langsam begreife ich. Das war wohl wichtig. Vielleicht hätte ich mir besser Notizen machen sollen?
Es wird stiller im Saal. Gerade noch wurde wild durcheinandergeredet, die Schalen der Sonnenblumenkerne flogen durch die Luft, und die vollen Schnapsgläser klirrten aneinander, gemütlich untermalt vom konstanten Hupen ferner Autos. Jetzt legt sich ein gespanntes Schweigen über den rot geschmückten Raum. Der Moderator macht eine einladende Geste, die mir mitteilen soll, dass ich die Spannung nun genug gesteigert habe und es an der Zeit ist, seiner Bitte nachzukommen.
«Und nun, Han Siwen, sprich ruhig aus, was dir seit langem auf dem Herzen liegt. Lass uns Zeuge werden, wie du es zum ersten Mal über die Lippen bringst», fordert er mich in einem feierlichen Singsang-Chinesisch auf, jetzt deutlich lauter als zuvor. Als er meinen chinesischen Namen sagt, hebt er die Augenbrauen wie ein Lehrer.
Langsam bekomme ich Panik.
Was ist es denn nur, das mir auf dem Herzen liegt? Was kann es sein, das ich hier und jetzt unbedingt zu meinem Schwiegervater sagen will? Wenn es so etwas wie «mein komisches Jawort» ist – ich erinnere mich jetzt ganz deutlich, dass Dingding diese Formulierung benutzt hatte –, dann kann es doch nicht so kompliziert sein. Vielleicht war es etwas Ähnliches? Ich überlege. Wenn man beispielsweise gefragt wird, ob man einen Spaziergang machen möchte, sagt man meistens «hao», was so viel bedeutet wie «Gut, können wir machen».
Der Moderator sieht mit seinem eingefrorenen Zahnpastalächeln inzwischen nicht mehr aus wie Ulli Potofski, sondern eher wie eine versteinerte Büste von Dr. Best. Ich gebe ihm mittels Kopfnicken ein Zeichen. Er reicht mir das Mikrophon. Mit beiden Händen halte ich mich daran fest und sage: «Hao.» Ein Raunen geht durch den Saal. Ein junges Mädchen am letzten Tisch schlägt die Hand vor den Mund und stößt einen leisen Schrei aus. Das allgemeine Geraune quittiert Bofu mit einem Gesichtsausdruck, der mir sagt, dass «Gut, können wir machen» nicht die richtige Lösung ist.
Bis auf Fiete, Daniel, Tine, meinen Bruder und meine Eltern scheint jeder im Saal zu wissen, was ich sagen sollte. Was kann ich tun? Die rote Schleife abnehmen, die man mir kurz zuvor umgelegt hatte? Das Mikrophon greifen und sagen: Okay, Leute. Ich kann es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Verurteilt mich, aber mir fällt gerade nicht ein, was mir seit einer Ewigkeit auf dem Herzen liegt. Ich hab es einfach vergessen. Das kann doch jedem mal passieren. Ich bin heute schon über ein Feuer gestiegen, habe aus einem halbierten Kürbis getrunken, meine Mutter hat mir einen roten Gürtel mit eingenähtem Geld umgebunden. Ich habe Schuhe gesucht, rote Scherenschnitte an den Spiegel geheftet und chinesische Lieder gesungen. Hinter mir liegt ein ganzer Marathon der chinesischen Sitten und Gebräuche. Wer soll sich das denn alles merken? Wäre nun bitte irgendjemand so freundlich, mir zu sagen, was ich diesmal tun soll?
Oder soll ich zu Dingding hinübergehen und sie um Rat fragen? Offenbar ist das auch keine gute Idee. Von der Seite kann ich sehen, wie sie langsam, fast in Zeitlupe, ihr hübsches Köpfchen schüttelt. Soll ich Bofu fragen? Lieber nicht. Auch Bomu, die sonst durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist und mir bisher noch jedes Vollbad im interkulturellen Fettnapf verziehen hatte, runzelt inzwischen besorgniserregend die Stirn. Selbst als ich Dayi damals versehentlich «alte Schachtel» genannt habe, hat sie nur gelacht. Bitte, Bomu, gib mir einen Tipp, flehe ich in Gedanken. Aber sie schaut mich weiterhin nur fragend an. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.
Dann sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Jupiter, der eigentlich die ganze Feier mit seiner neuen Spiegelreflexkamera dokumentieren wollte, langsam an den Kellnern vorbeischleicht, die rechts vor der Bühne stehen, und sich unauffällig neben dem Mischpult postiert. Er grinst mich an. Dann öffnet er den Mund. Ich hoffe, er würde damit ein erkennbares Wort formen, aber stattdessen macht er den Mund einfach wieder zu.
Verdammt, Jupi, denke ich, was soll denn das heißen?
Ich sehe hinüber zu meiner Mutter.
Ihr Blick scheint zu sagen: Junge, was ist denn los? Nun sag schon deinen Spruch auf, und wir machen hier weiter.
Dann sehe ich zu meinen Schwiegereltern, ich schaue in die lustigen Augen von Bofu, und – plötzlich fällt mir wieder ein, was ich sagen sollte.
Ich nehme das Mikrophon, stelle mich direkt vor Bofu. Ich sage «Ba» – «Vater». Jetzt ist Bofu nicht mehr mein Bofu, sondern mein Laoba. Er verdrückt eine Träne und umarmt mich. Dann stelle ich mich vor Bomu, sage «Ma» zu ihr, und sie wird zu meiner Laoma. Anschließend sagt Dingding zu meinem Vater «Ba» und zu meiner Mutter «Ma» und wird damit in die Familie aufgenommen. Die Gäste stehen auf und klatschen Beifall, die Schnapsgläser klirren, und es geht weiter, mit den Hochzeitszigaretten, den Hühnerfüßen und dem anderen chinesischen Theater.
In China gibt es ein altes Sprichwort über die Liebe. Wörtlich übersetzt heißt es: «Liebe Haus, liebe Raben.» Wenn man ein Haus liebt, liebt man auch die Raben, die unter seinem Dach wohnen. Laut Dingding bedeutet es, dass man nicht nur seinen Partner liebt, sondern auch den Vogel, den er hat. Aber das ist natürlich Unsinn. Es bedeutet, dass man nicht nur einen Menschen liebt, sondern auch sein Land und seine Familie und alles, was dazugehört. Es hat ein wenig gedauert, bis ich mich an Dingdings Raben gewöhnt habe, aber inzwischen kommen wir ganz gut miteinander aus.
Es ist noch nicht lange her, da hatte ich mit China rein gar nichts am Strohhut. Bevor ich meine etwas zu groß geratenen Füße zum ersten Mal auf volkschinesischen Boden setzte, deutete in meinem Leben nur sehr wenig auf einen intensiveren Kontakt mit dem hinteren Orient hin. Meine familiären Wurzeln liegen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Hamburg. Es heißt Brunsbek, aber als Dingding es zum ersten Mal aussprach, klang es ein bisschen wie «Bumsberg». In Bumsberg schubsen die Jugendlichen nachts die schlafenden Kühe um, und wer nicht im Schützen-, Tennis- oder Fußballverein ist, der ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ansonsten bekäme man auch nicht mit, falls im Dorf wider Erwarten einmal etwas passiert.
Dingding sagt, sie habe nie gedacht, dass derartige Orte überhaupt existieren, so «totgestorben», wie sie sich ausdrückt, fand sie Bumsberg bei ihrem ersten Besuch. Ich würde es ja eher idyllisch nennen, aber sie hat schon recht. Für Chinesen, in deren Heimat manche Fischerdörfer innerhalb weniger Jahre zu stahlbetonierten Zukunftsvisionen mutieren, muss das norddeutsche Flachland wirken, als sei es aus der Zeit gefallen. Im Vergleich zu China verläuft dort das Leben wie ein Schneckenrennen in Superzeitlupe; die Vorgärten mit den Blumenbeeten und den Buchsbaumhecken wirken, als wären sie schon immer da gewesen.
Manchmal ist dann doch etwas los. Wenn zum Beispiel der Knecht Otto nach dem Osterfeuer mit seinem Mofa betrunken gegen einen Schweinestall geknattert ist, dann muss man schon gut vernetzt sein, um all die spannenden Einzelheiten zu erfahren.
Meine Mutter ist in Hamburg aufgewachsen, aber für die Liebe ihres Lebens tauschte sie das bürgerliche Wandsbek gegen die gut und reichlich gedüngten Felder der Stormarner Einöde ein. Meinen Vater hatte es schon immer aufs Land gezogen, je öder, desto besser. Wahrscheinlich hat er deswegen das schöne Bumsberg gewählt und dort ein Grundstück in einer Lage gekauft, in der sich die letzten Anzeichen menschlicher Siedlungstätigkeit im Jauchedunst der Felder verlieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Mutter sich an die neue Umgebung gewöhnt hatte – an die frische Landluft, wie mein Vater den Güllegestank nennt, und die Menschen, die darin herumspazieren. Aber spätestens als sie feststellte, dass mein Bruder und ich zu waschechten Landeiern heranwuchsen, und wir ihr regelmäßig frisch gesammelte Regenwürmer aus dem Garten als Geschenk brachten, gab sie den Widerstand auf. Sie nahm die verkräuselten Wurmklumpen entgegen, bedankte sich bei den braven Kindern und wurde Mitglied im Tennisclub.
Meine Mutter beschloss bald, dass mein Bruder und ich auch das bunte Stadtleben kennenlernen sollten. Manchmal war es ihr wohl ein wenig peinlich, dass ihre Kinder solche Dorftrottel waren. Das las ich zumindest in ihrem Gesichtsausdruck, als ich beim Einkaufen in Hamburg-Wandsbek alle Leute freundlich grüßte, die uns auf dem Weg vom Parkhaus zu Karstadt entgegenkamen. Menschen auf der Straße grüßt man, so hatte ich es gelernt. Woher sollte ich wissen, dass in der großen Stadt ganz andere Spielregeln galten als bei uns zu Hause, wo man jeden grüßt, auch wenn man ihn nicht kennt? Denn meistens kennt man ihn ja doch, oder man lernt ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bald kennen, ob einem das nun lieb ist oder nicht.
Aus diesem Grund machten wir hin und wieder einen Ausflug in die große Stadt. Und da merkte ich: Hamburg ist eine ganz andere Hausnummer als das gute alte Bumsberg. Ich gewöhnte mich langsam an den Gedanken, dass die Welt da draußen aus deutlich mehr bestand als aus Deutz-Treckern und Melkmaschinen, und verstand, dass man nicht die ganze Zeit in Gummistiefeln herumlaufen konnte.
Später schaffte ich es, immer besser zu verbergen, wo ich eigentlich herkam. Aber selbst nach dem Umzug nach Berlin in den Prenzlauer Berg bin ich im Herzen Dorfkind geblieben – hier ist man mit dieser Eigenschaft aber auch gar nicht so allein. Später, in Beijing, zeigte sich, dass meine dörfliche Herkunft in einer Megacity sogar von Nutzen sein konnte. Meine traumatischen Erinnerungen an das Herzhäuschen auf dem alljährlichen Stoppelfest ermöglichten es mir, bei der einen oder anderen Hutong-Toilette zunächst Ruhe zu bewahren.
Mit Menschen aus anderen Ländern kam ich in meiner Kindheit fast nur in Kontakt, wenn wir Urlaub machten. An meiner Schule gab es zwar einige Kinder von libanesischen Ärzten oder englischen Anwälten, aber sie waren allesamt in Deutschland aufgewachsen und auch äußerlich meist nicht weiter auffallend. Chinesen begegnete ich nur, wenn ich im Restaurant Lotus Garten eine Bestellung abholte. Zumindest dachte ich damals, es seien Chinesen. Sie waren klein und hatten schmale Augen. Ihr dunkles Haar war so glatt und dick, dass selbst die von den libanesischen Arztkindern gestriegelten Pferde neidisch werden konnten. Wie man sich das bei Chinesen eben vorstellt. Aber als ich Jahre später versuchte, Fiete in jenem Restaurant die hart erarbeiteten Chinesischkenntnisse vorzuführen, erfuhr ich, dass dort gar keine Chinesen arbeiteten, sondern Vietnamesen und Pakistaner, wie in fast allen deutschen Chinarestaurants.
Die meiste Zeit meines Lebens spielte China schlicht und einfach keine Rolle. Und dann, eines Tages, saß ich im Büro von Professor Mandé. Ich hatte an vier verschiedenen Universitäten studiert und einen Abschluss in Germanistischer Linguistik, Philosophie und Publizistik in der Tasche. Ich war nicht der schnellste Student, aber die Noten waren gut – und als mein Professor sagte, er könne sich vorstellen, dass ich bei ihm promovieren würde, begann ich mit einer Arbeit über metaphorische Konzepte. Eines Tages saß ich also in der Sprechstunde meines Professors – er war in den Jahren an der Universität der Einzige, den ich mit einem Possesivpronomen bedachte – und sah seine Augen blitzen. Er erzählte von Indien, von Paris und vor allem von Griechenland. Er hatte dort als DAAD-Lektor gearbeitet.
«DAAD-Lektor?», fragte ich. «Entschuldigen Sie mein Unwissen, aber was ist denn das?
«Ich glaube, das wäre etwas für Sie. Über den Deutschen Akademischen Austausdienst im Ausland Deutsch zu unterrichten. Erkundigen Sie sich mal nach einer DAAD-Stelle in Spanien. Sie können doch Spanisch.»
Ich erkundigte mich, aber irgendwie wurde daraus nichts.
Einige Zeit später war ich wieder in seiner Sprechstunde. Professor Mandé saß auf seiner Ledercouch und zog an einer Pfeife. Vor den Regalen stand ein Flipchart, an dem eine Kalligraphie seines Namens angebracht war, und vor mir auf dem Couchtisch lag ein Schlüsselanhänger, eine Kugel, in der ein Plastikauge schwamm.
«Wie wäre es denn mit China?», fragte er.
«Was wäre wie mit China?», fragte ich.
«Wollen Sie nicht vielleicht nach China?»
«Kommt darauf an.»
«Ich habe gestern die Ausschreibung einer chinesischen Universität hereinbekommen.»
«Aha», sagte ich.
«Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen vielleicht ganz guttun würde. Fernost. Warten Sie, ich glaube, der Zettel liegt noch im Sekretariat.»
Er stand auf und verließ das Büro. Ich saß da. Das Auge auf dem Tisch beobachtete mich. Vielleicht war es an der Zeit, etwas ganz anderes zu machen. Ich war gerade Single. Beziehungen lagen hinter mir, und der Gedanke, mich für die nächsten Jahre hinter Bücherstapeln vor der Welt zu verstecken, gefiel mir ganz und gar nicht. Aber deswegen arbeitet man doch nicht gleich für einen Unrechtsstaat! Oder doch?
Eines meiner Lieblingsbücher ist die Autobiographie von Felix Graf von Luckner, jenem Mann, der als Jugendlicher im Hamburger Hafen auf einen Frachter gestiegen war, einfach um nachzusehen, wie weit die Welt da draußen wirklich ist. Er war weder zur Berufsberatung gegangen, noch hatte er eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen. Er hatte es einfach gemacht.
Außerdem stand über die Globalisierung ja auch viel Positives in der Zeitung. Vielleicht war das eine gute Gelegenheit, da selbst ein bisschen mitzumachen. Erst recht in China: Mandarin-Kenntnisse – auch das stand in der Zeitung – wurden immer wichtiger. Das alles ging mir durch den Kopf, als mein Professor zurückkam.
«Es tut mir leid. Die Sekretärin muss die Stellenausschreibung versehentlich entsorgt haben. Nichts zu machen.»
«Oh!», sagte ich.
«Das wäre vielleicht etwas für Sie gewesen», sagte er, setzte sich auf die Ledercouch und zündete die Pfeife wieder an. Dann sagte er lange nichts.
«Warten Sie. Ich seh noch mal nach.» Er stand wieder auf und verließ das Büro.
Minuten vergingen, Minuten, in denen ich durch Reisfelder watete und im Morgengrauen elegante Kung-Fu-Bewegungen ausführte. Als mein Professor dann zum zweiten Mal in der Tür stand, hielt er einen Zettel in der Hand. Bis heute liegt dieser Zettel in meiner Schreibtischschublade neben dem Hochzeitsausweis der Volksrepublik China.
«Sehen Sie», sagte er, «bei uns kommt nichts weg.»
Es war die Ausschreibung für eine Stelle als Universitätsdozent in einer chinesischen Zehn-Millionen-Stadt namens Tianjin, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte. Vier Monate später saß ich im Flugzeug und trank Jasmintee aus einem Plastikbecher, serviert von einer chinesischen Stewardess mit entzückenden Segelohren. Sie lächelte mich an, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass mich dort in diesem fernen Land tatsächlich irgendetwas erwartete.
Kurz vor meiner Abreise hatte mir mein Kumpel Fiete zum Abschied noch ein dünnes Büchlein mit dem Titel «Das Denken der Chinesen» geschenkt. Das Buch hatte er in einer Kiste im Keller gefunden. Es war total vergilbt, und ich ging davon aus, dass man damit genauso wenig anfangen konnte wie mit all den anderen Dingen, die er anschleppte. Und so war es auch. Die kulturellen Eigenheiten wurden in diesem Buch mit der akuten Wasserknappheit und dem Bau komplexer Kanälsysteme erklärt. Die Chinesen bauten Kanäle, stritten sich mit ihren Vorarbeitern, planten neue Projekte, und zack! hatten sie den Salat, den man als chinesische Kultur bezeichnet.
Interessant, dachte ich, was man nicht alles von Bewässerungssystemen ableiten kann! – und warf das Buch umgehend in die runde Ablage unter meinem Schreibtisch. Stattdessen kaufte ich einen Marco-Polo-Reiseführer, ein T-Shirt mit der Aufschrift «Just Looking» und ein chemisches Mittel zur Keimbekämpfung im Trinkwasser. Außerdem wusste ich, dass man Visitenkarten unbedingt mit beiden Händen übergibt. Das sollte erst einmal reichen, um mit den Chinesen fertigzuwerden. Um alles Weitere würde ich mich vor Ort kümmern.
Im Grunde war ich bis dahin in meinem Leben nur einem einzigen Chinesen wirklich begegnet: dem alten Wong. Wenn mein Bruder und ich auf den langen Autofahrten von Bumsberg nach Italien auf der Rückbank unseres VW Passats um das Captain-Future-Malbuch stritten, versuchte mein Vater immer, uns abzulenken. Er legte dann eine der zwei Hörspielkassetten ein, die wir mitgenommen hatten. Weil mein Bruder und ich uns sehr oft stritten, kann meine Familie die beiden Kassetten noch heute fast vollständig mitsprechen. Besonders bei meinem Vater haben diese Autofahrten dauerhafte Schäden hinterlassen. Die Dialoge von «Drei Fragezeichen und der grüne Geist» haben sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, dass er sie noch heute mit erschreckender Sicherheit zu zitieren beginnt, wenn man den alten Wong auch nur erwähnt. Der fiese Chinesengreis spricht mit quietschender Stimme und lacht in einer Tonlage, die an den Klang von Fingernägeln auf einer Schiefertafel erinnert. Mein Vater trifft bei seiner Interpretation diese Tonlage so gut, dass mir jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken läuft.
Der alte Wong: «Kommt!»
Bob: «Wohin?»
Der alte Wong: «Flagt eine Maus, wohin es geht, wenn Adlelklauen sie elgleifen?»
Diese Metapher habe ich als Kind nie ganz verstanden. Warum auch sollte die Maus den Adler nicht zumindest nach dem Zielort fragen dürfen, wenn es denn schon auf diese voraussichtlich letzte Reise ihres Lebens geht? Wenn man verschleppt wird, möchte man doch üblicherweise wissen, wohin. Oder ist es besser, sich seinem Schicksal zu ergeben? War das eine chinesische Weisheit? Wenn ja, dann konnte ich mich in China auf einiges gefasst machen. Oder sollte es einfach bedeuten, dass Mäuse nicht sprechen können, und wenn doch, dass der Adler höchstwahrscheinlich kein Mäusisch versteht, erst recht nicht im Flug? Schon als Kind ahnte ich, dass bei der uralten Weisheit der Chinesen immer ein Rest an Unerklärlichem mitschwingt, über den man sich lieber nicht zu lange den Kopf zerbricht. Der alte Wong jedenfalls hatte noch mehr chinesische Kuriositäten auf Lager. Er war hundertsieben Jahre alt, weil er regelmäßig von einer Schnur «unendlich kostbarer Perlen» naschte.
Was ich damals nicht wusste, ist, dass das literarische Motiv der lebensverlängernden Perlen einer alten chinesischen Sage entstammt. Offensichtlich haben sich die Hörspielmacher hemmungslos am Kulturgut der Chinesen bedient. Im Orignal endet das Ganze schließlich, typisch chinesisch, in einem furiosen Finale: Der Raub der Zauberpillen wird mit der Verbannung auf den Mond bestraft, wo die einzige Abwechslung in der tristen Kraterlandschaft ein irrlichternder Hase ist. Dieses Schicksal blieb dem alten Wong erspart, und auch mir sollte es in China deutlich besser ergehen.
Die ältere chinesische Dame, die im Flugzeug neben mir saß, fing ungefähr über der Ukraine an zu schnarchen und legte dabei ihren Kopf auf meine Schulter. Wir landeten in Beijing. Nachdem ich die Sicherheitskontrollen passiert hatte, war der Speichelfleck auf meiner Schulter durch die staubig-heiße Luft schon fast getrocknet. Das war auch gut so, denn ich hatte gerade meinen Koffer geholt, da sah ich auch schon, dass direkt hinter der Absperrung ein junger, sehr schlanker Chinese stand und allen weißen Männern unter sechzig aufgeregt ein Schild mit meinem Namen unter die Nase hielt. Auch ihm machte die Hitze zu schaffen. Er trug einen schwarzen Anzug, der zwei Nummern zu groß war, und nahm seine Aufgabe ohne Frage sehr ernst. Als ich ihm zu verstehen gab, dass ich derjenige war, nach dem er suchte, stürmte er mir hektisch entgegen.
«Lehrer Hänke. Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen. Ich bin Jupiter. Ich komme von Nankai-Universität, zweites Semester Germanistik. Ich heiße Sie herrlich willkommen in Volksrepublik China. Ich bin gekommen, Sie zu holen.»
Er sprach in einem etwas eigensinnigen Singsang, klar und deutlich, aber mit einer ungewohnten Tonlagenvariation.
«Das ist aber sehr freundlich von Ihnen.» Ich ignorierte den bedrohlichen Beiklang seiner Worte.
«Herr Lehrer, ich helfe mit der Koffer. Ich ziehe das Koffer.»
«Ach, das geht schon», sagte ich.
Aber Jupiter hatte sich in Windeseile meinen dreißig Kilo schweren Rollkoffer geschnappt und schleppte ihn wortlos von dannen. Dann blieb er stehen, drehte sich zu mir um und zog sein Jackett aus.
«Entschuldigen, dass ich mich entkleide. Heute ist es zu heiß. Verzeihung Sie meine Unhof.»
«Das ist doch nicht unhöflich. Warten Sie, ich nehme den Koffer.»
Aber Jupiter machte eine abwehrende Geste.
«Sie sind Chinas Gast. Und ich bin eine Chinese. Sie sind ein wichtiger Lehrer. Normalerweise bin ich dabei noch anzüglicher.»
«Noch anzüglicher?», fragte ich.
«Ja. Noch anzüglicher», sagte er, ächzte unter der Last meiner Habseligkeiten und zog weiter. «Folgen Sie mir!»
Mit dem Handgepäck trottete ich ihm hinterher.
«Da hinten vor der Haupthalle auf der Parkplatz steht ein Volkwagen bereit», er wandte sich lächelnd zu mir. «Das Auto hat Klimagerät, und der Fahrer hat Führerschein. Alles für Sie.»
Tianjin liegt etwa hundertzwanzig Kilometer südöstlich von Beijing, und wir fuhren zwei Stunden an Feldern und Wiesen vorbei. Während der Fahrt versuchte ich herauszufinden, warum der Student sich mir mit einem so eigenartigen Namen vorgestellt hatte. Für mich hießen Chinesen normalerweise Wang Dong oder irgendetwas mit ganz vielen Y und X drin. Von einem «Jupiter» in einer schwarzen Limousine samt Fahrer am Flughafen abgeholt zu werden war zwar sehr stilvoll – ich kam mir vor wie in einem James-Bond-Film –, aber etwas seltsam war es doch.
«Herr Jupiter», fragte ich ihn, «wie kommt es, dass Sie einen so schönen Namen tragen? Ist das in China nicht ein wenig ungewöhnlich?»
«Der Name habe ich selbst gesucht», antwortete Jupiter, ohne weitere umständliche Erklärungen hinzuzufügen. «Das ist eine schöner Name, oder? Es ist eine Gott.»
Er lächelte stolz, und ich überlegte lange, warum Chinesen sich denn ihre Namen selbst aussuchen. War es ein Künstlername? Ein selbst gewählter Spitzname? Oder ließen die chinesischen Eltern ihre Kinder einfach unbenannt, bis sie alt genug waren, sich für einen passenden Namen zu entscheiden? Konnte das sein?
Damals wusste ich noch nicht, dass viele Chinesen sich westliche Namen geben, weil sie keine Lust haben, dass sich ihre langnasigen europäischen Freunde jedes Mal einen dreifachen Knoten in die Zunge machen, wenn sie versuchen, die chinesischen Namen richtig auszusprechen. Ich habe im Laufe der Jahre viel Seltsames gehört. Gegen «Ark», «Langsam», «Aluminium» oder gar «Satan» war «Jupiter» eine ziemlich gute Wahl. Manche übersetzen auch einfach ihre chinesischen Namen. Eine junge Dame hieß «Sommerregen», eine andere «kleiner Schnee». Ein Germanistikstudent hatte sich sogar den schönen Namen «Sven» ausgesucht. Um Verwechslungen zu vermeiden, taufte ich ihn kurzerhand in «Wilhelm» um. Das klingt ja auch gleich viel deutscher.
Später während der Fahrt versuchte Jupiter im Gegenzug herauszufinden, was ich über Schienenverkehr wusste. Er interessierte sich brennend für Technik. Eisenbahnen waren sein Spezialgebiet. Er hatte sich Prospekte aus Deutschland schicken lassen, die er mir aufgeregt zeigte. Er schwärmte von den technischen Details des ICE und von alten deutschen Lokomotiven, und am Ende wusste ich deutlich mehr über Schnellbahnen, als mir lieb war.
Nach zwei Stunden tauchten am Horizont die ersten schäbigen Hochhäuser von Tianjin auf. Ich hatte mich vor meiner Abreise etwas über die Kolonialgeschichte der Stadt informiert: Deutsche, Engländer, Franzosen und Italiener haben hier ihre Spuren hinterlassen. In einigen Reiseführern wird Tianjin sogar als das «Shanghai des Nordens» bezeichnet. Als unsere Limousine die Autobahn verließ, war davon nicht viel zu sehen. Tianjin war eine Baustelle. Die Luft war staubig, und während ich zum ersten Mal durch die vierspurigen Straßen fuhr und die scheinbar endlosen Reihen liebloser Wolkenkratzerplattenbauten an mir vorüberzogen, dachte ich nur eins: «Wie soll ich das hier aushalten?»
Unter «Shanghai des Nordens» hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. Das Tianjin von damals steckte mitten in einer radikalen Phase des Baubooms und des ungezügelten Wachstums. Wenn man heute nach Tianjin hineinfährt, aus dem Hochgeschwindigkeitszug aussteigt, der den ICE aussehen lässt wie eine Dampflokomotive aus Jupiters Prospekten, und am Horizont wieder ein neuer, verglaster Wolkenkratzer schimmert, dann erkennt man die Parallelen zu Shanghai. Damals aber war Tianjin ein Wimmelbild mit Stahlskeletten.
Auch der Verkehr war sehr gewöhnungsbedürftig. Rote Ampeln hielten weder Autos noch Fußgänger davon ab, ihren Weg fortzusetzen. Es galt größtenteils das Recht des Stärkeren. Fußgänger rotteten sich zusammen, um dann gemeinsam eine Schneise in die Blechkolonnen zu schlagen. Und überall Fahrräder. Laut Katie Melua soll es in Beijing ja eine ganze Menge Fahrräder geben – neun Millionen hat sie gezählt –, aber gegen Tianjin ist Beijing wie die Fahrradtour des Tennisvereins meiner Eltern gegen die Tour de France. Ich kann mir kaum vorstellen, wie noch mehr Fahrräder in eine Stadt passen sollen.
Das Chaos wurde begleitet vom schrillen Quietschen der Fahrradbremsen und von einem kakophonischen Hupkonzert. Wie ein klebriger Brei wälzten sich Fahrräder, staubige Autos, Busse und Lastwagen durch die Straßen. Das sollte nun für die nächste Zeit mein Zuhause sein?
Als ich in Tianjin ankam, hatte ich erst einmal Ferien. Um den 1. Mai machte das ganze Land eine Woche Kollektivurlaub. Die Formalitäten für das Visum, die Arbeitsgenehmigung, den Arbeitsvertrag der Universität und das vom chinesischen Staat verlangte Gesundheitszeugnis samt aktuellem HIV-Test hatten so lange gedauert, dass ich erst viel später als geplant und mitten im Semester den Job antreten konnte. Die Zeiten, in denen man einfach auf einen Frachter springen konnte, um die Welt zu entdecken, waren wohl vorbei. Wenn es etwas gibt, das die Chinesen und die Deutschen eint, dann ist es die hemmungslose Liebe zur Bürokratie. Eine Besonderheit des typisch chinesischen Formalitätenfetischismus ist der rote Stempel. Unbedingt rot muss er sein. Bis man einen bekommt, kann es dauern.
Die Uni war also geschlossen, und ich hatte viel Zeit, mich mit der neuen Umgebung zu beschäftigen. Die Tianjiner Nankai-Universität ist eine traditionsreiche Elite-Universität. Nicht so die Deutschabteilung. In China gibt es seit der Jahrtausendwende einen wahren Germanistik-Boom, und auch die Germanistik an der Nankai-Universität wurde erst im Jahr 2002 gegründet. Ich gehörte zu den ersten muttersprachlichen deutschen Lehrkräften in der langen und ruhmreichen Geschichte dieser Hochschule. Ganz allein war ich allerdings nicht. Der andere deutsche Dozent der Universität war Winfried Schwarzer, ein promovierter Philosoph aus Süddeutschland, der Literaturwissenschaft und Landeskunde unterrichtete. Er erzählte mir, dass er nach einer Phase der beruflichen Orientierung von der deutschen Arbeitsagentur auf diesen Posten vermittelt worden war, und manchmal hatte ich das Gefühl, dass er auch auf einer Bohrinsel im Südpazifik anheuern würde, wenn der Job nur genug Zeit für die Philosophie ließe. Für Land und Leute schien er sich eher am Rande zu interessieren. Als ich anfing, hatte er bereits genug von China gesehen und verließ den Campus nur noch sporadisch. Ich wollte vor allem eins: So schnell wie möglich runter von der Bohrinsel und so tief wie möglich ins chinesische Alltagsleben eintauchen.
Es gab eine Menge zu entdecken. Der Campus, der fast so groß war wie mein Heimatdorf, konnte entweder durch das östliche oder das westliche Tor betreten werden. Sobald man den Campus verließ, stand man im Gewimmel der Straßenhändler und Garküchen. Noch morgens um fünf gab es dort gegrillte Kriechtiere. Ich stellte ziemlich schnell fest, dass Weichknochen essbar sind und Seidenraupenlarven eigentlich ganz gut schmecken, wenn man es schafft, zu vergessen, dass es Seidenraupenlarven sind. An den stinkenden Tofu, der an vielen Straßenecken fritiert wurde, traute ich mich hingegen nicht näher als zehn Meter heran, denn auch in dieser Entfernung trieb der Geruch einem noch die Tränen in die Augen. Als wäre es den Chinesen irgendwie gelungen, ein Extrakt aus getragenen Sportsocken herzustellen und mit dem Duft von glimmenden Tischtennisbällen zu verfeinern.
Bei den Straßenhändlern kaufte ich allen möglichen Unfug. Diese Stände waren wie ein Outlet-Store für Spielzeug, das Prenzlberger Mütter ihren Kindern aufgrund nicht unberechtigter Gesundheitsbedenken aus der Hand schlagen würden: aufziehbare Affen, die Saltos schlagen konnten; mit Netzen werfende Spiderman-Figuren; Streichhölzer, die nie abbrannten; elektrische Zigaretten, die es damals im Westen noch nicht gab. Ich kam mir vor wie Harry Potter bei seinem ersten Besuch in der Winkelgasse.
Nicht alle kulturellen Eigenheiten der Chinesen ließen sich auf Anhieb aufklären. Auch nicht vor dem Hintergrund antiker Bewässerungstechniken. Denn welchen Grund konnte es dafür geben, dass man sich den Nagel des rechten kleinen Fingers lang wachsen ließ, wie man es bei Taxifahrern des Öfteren sah? Warum trugen die Babys Hosen, die in der Mitte einfach offen waren, sodass man das Geschlecht sehen konnte? Warum gingen einige alte Menschen rückwärts durch den Park? Und warum bloß sperrten einige Herren zirpende Grillen in einen kleinen Holzkäfig und nahmen sie zum Essen mit ins Restaurant? Verwirrend.
Sehr irritierend aber waren auch die authentischen chinesischen Rotzgeräusche. Jedes Mal, wenn jemand erst grunzende Laute von sich gab, um danach ein glibberiges Etwas auf die Straße zu flatschen, wurde mir ganz anders. Am dritten Tag wurde diese ohnehin unschöne Erscheinung noch um einiges übertroffen. Wang Hui, der Dekan, hatte mich zum Schwimmtraining mitgenommen. Während wir im Becken unsere Bahnen zogen, schwamm eine ältere Frau neben mir. Plötzlich begann sie sich im wahrsten Sinne des Wortes lauthals zu räuspern. Anschließend rotzte sie direkt aus dem Wasser an den Beckenrand. Das war einerseits sehr widerlich. Andererseits erklärte es aber auch, warum niemand ohne Badelatschen herumlief oder gar am Beckenrand saß.
In der ersten Woche lag ich nachts viele Stunden wach. In der Ferne flackerte auf dem Dach eines Hochhauses die Leuchtreklame einer Lebensversicherung, und ich sehnte mich ein wenig nach den jauchegetränkten Feldern meiner Jugend. War das jetzt der berüchtigte Kulturschock, von dem man so viel hört?