Nadine Gordimer - Jochen Petzold - E-Book

Nadine Gordimer E-Book

Jochen Petzold

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Beschreibung

Nadine Gordimer: Die berühmte Schriftstellerin im Porträt Dem Autor Jochen Petzold kommt das Verdienst zu, eine bedeutende Lücke zu schließen: Er stellt der Leserschaft von Nadine Gordimers zahlreichen Büchern endlich auch Hintergrundwissen zu ihrem Leben und Werk zur Verfügung. Der Kampf gegen Rassismus und die Apartheid in Südafrika war Nadine Gordimers wichtigstes Thema: Ihr politisches Engagement schlug sich in ihrer Literatur nieder. Diese Werke machen sie bis heute zu einer der berühmtesten Personen Südafrikas. - Umfassende Biografie über die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer - Der Autor Jochen Petzold über die Entwicklung von Gordimers politischem Bewusstsein - Booker Prize und Literaturnobelpreis: Wie die südafrikanische Schriftstellerin zu einer Autorin von Weltrang wurde - Literatur und Politik in Südafrika: Einfühlsame Darstellung der Wechselwirkungen zwischen Leben und Werk der Schriftstellerin - Mit zahlreichen detaillierten und sorgfältig recherchierten HintergrundinformationenWie die Rassentrennung in Südafrika sich in Leben und Werk Gordimers widerspiegelt In ihrer Literatur behandelte die Autorin, was das rassistische System aus den Menschen gemacht hatte – auf beiden Seiten der gespaltenen Gesellschaft. Das Buch zeichnet die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Gordimers persönlichem Werdegang, ihrem literarischen Werk und den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Südafrika nach. Eine mit viel Empathie und Sachkenntnis geschriebene Biographie, die dazu einlädt, diese große Autorin wieder oder neu zu entdecken.

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Seitenzahl: 432

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildung: Porträt von Nadine Gordimer. © Isolde Ohlbaum/laif

Umschlaggestaltung: finken & bumiller, Stuttgart

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4612-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4800-5

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4801-2

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Vorwort

Kindheit und Jugend

Europäische Wurzeln

Eine Ehe mit Gegensätzen

Kindheit

Literarisches und Politisches Erwachen

Die 1940er: Gordimer wird flügge

Erwachsen werden in Springs

Studium

Beginn der „Apartheid“

Heirat und erstes Buch

Die 1950er: Familiengründungen und wachsender literarischer Erfolg

Beziehungswirren

Entzauberung

Apartheid und Widerstand

Reinhold Cassirer

Nestbau

Neue Freunde

Fremdling unter Fremden

Liberalismus-Kritik

Die 1960er: Zunehmende politische Radikalisierung

Sharpeville Massaker

Anlaß zu lieben

Private Turbulenzen

Die spätbürgerliche Welt

America Calling

Die 1970er: Wachsender internationaler Erfolg

Der Ehrengast

Große Kinder, große Sorgen

Black Consciousness

Der Besitzer und der Booker Prize

Streit mit Alan Paton

Soweto Aufstand

Burgers Tochter

Reisen als Ausbruch aus der Isolation

Die 1980er: Leben und Schreiben im Ausnahmezustand

July’s Leute

Politische Hoffnung und Enttäuschung

Schizophrenes Leben

Über den Rubikon

Ausflüge in das Filmgeschäft

Kulturarbeit gegen die Apartheid

Ein Spiel der Natur

Die Rushdie-Affäre

Vorzeichen des politischen Wandels

Die Geschichte meines Sohnes

Die 1990er: Politisches Wunder und literarische Krönung

Anfang vom Ende der Apartheid

Politische Verhandlungen

Nobelpreis

Übergangsverfassung

Präsident Mandela

Nachdenken über Literatur

Keiner, der mit mir geht

Die Hauswaffe

Kampf gegen Armut

Doppelte Geburtstagsfreuden

Zwei Blicke zurück

Sorgen zum Milleniumswechsel

Das neue Jahrtausend: Der ‚Regenbogen‘ verblasst

Einsatz gegen HIV/Aids

Eine Provinzposse

Ein Mann von der Straße

Cassirers Tod

Reisen als Trauerbewältigung

Späte Ehrungen

Kritik am ANC

Der Biografie-Skandal

Fang an zu leben

Alltagskriminalität

Beethoven war ein Sechzehntel schwarz

Keine Zeit wie diese

Das „Zensurgesetz“

Die letzten Monate

Nachwort

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Primärliteratur: Texte von Nadine Gordimer

Sekundärliteratur

Danksagung

Register

Vorwort

Eine kleingewachsene, zierliche Frau, gekleidet mit zurückhaltender Eleganz. Ein Hauch von Eitelkeit. Die Haare in jungen Jahren dunkel und akkurat frisiert, später dann grau und legerer getragen. Dunkelbraune Augen. Der Gesichtsausdruck oft eher streng, nur selten sieht man sie lächelnd. So begegnet uns Nadine Gordimer auf Fotos.

Sie war Kind jüdischer Eltern, areligiös erzogen und sagte später von sich, sie sei Jüdin, habe aber keine Religion – und dennoch spielten Menschen jüdischer Abstammung in ihrem Leben eine große Rolle. Diejenigen, die sie kannten, beschreiben sie als scharfsinnig und bisweilen auch scharfzüngig, wenn sie sich oder ihre Ideale angegriffen fühlte. In literarischen Dingen war sie eine penible Kritikerin und bestand auf Perfektion, was sie ihre Verlage oder Mitarbeiter durchaus spüren ließ. Gordimer war eine sehr disziplinierte Person, mit festen Routinen: Der Morgen gehörte dem Schreiben, und niemand durfte sie stören. Auf öffentliche Auftritte bereitete sie sich gründlich vor, kaum eine Rede hielt sie ohne ausformuliertes Manuskript. Sie schätzte Pünktlichkeit. Ein Weggefährte erinnert sich, dass er bei einem Besuch in ihrem Haus einige Minuten später als verabredet am Frühstückstisch erschien – und sofort das Gefühl hatte, sich wortreich entschuldigen zu müssen. Tageszeitungen zog sie dem Fernsehen vor. Hunde und Katzen gehörten seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben, in den letzten Jahren war ein großer Weimaraner ihr treuer Begleiter. Das große Haus in Johannesburg beherbergte oft Freunde, manchmal über Wochen, und es war Treffpunkt für Literaten und Aktivisten. Vielen erschien sie auf den ersten Eindruck unnahbar und distanziert, aber sie unterhielt auch viele tiefe Freundschaften, oft über Jahrzehnte und große Distanzen. Sie war eher nicht der mütterliche Typ, aber doch besorgt um ihre Kinder, die sie oft in deren selbstgewähltem Exil besuchte. Dennoch kann man wohl sagen, ihr Ehemann Reinhold Cassirer war der warmherzigere von beiden.

Früh erkannte sie für sich, dass der übliche Umgang der Weißen mit ihren schwarzen Mitmenschen in Südafrika falsch war. Daher wurde der Kampf gegen Rassismus und die Apartheid ihr wichtigstes Thema. Dabei war ihr plumpe Propaganda zuwider, ihre Texte untersuchen vielmehr, was das rassistische System mit den Menschen macht, die in ihm leben müssen – auf beiden Seiten der Rassengrenze, die die Gesellschaft spaltete.

Angeblich ist es ein afrikanisches Sprichwort, demzufolge man ein Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. Es war nicht nur ein Dorf, es war das ganze Land mit seinem rassistischen Gesellschaftssystem, das Nadine Gordimer formte und ihr literarisches Schaffen prägte – und dem sie sich bei aller Kritik stets verbunden fühlte. Diesen vielfältigen Verbindungen und Verknüpfungen zwischen Gordimers persönlichem Werdegang, ihrem literarischen Werk und den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Südafrika möchten die folgenden Seiten nachspüren.

Kindheit und Jugend

Die am 20. November 1923 geborene Nadine Gordimer wuchs in der Kleinstadt Springs nahe Johannesburg auf. Ihre Eltern waren ein ungleiches Paar, das sich auch nicht sonderlich gut verstand. Bald entdeckte die junge Gordimer das Schreiben für sich, und früh erkannte sie auch die rassistische Ungerechtigkeit des südafrikanischen Gesellschaftssystems.

Europäische Wurzeln

Nadine Gordimers Familiengeschichte ist eine Einwanderergeschichte. Das ist nicht verwunderlich, denn alle Familiengeschichten weißer Südafrikaner beginnen mit der Emigration nach Afrika. Da der koloniale Landraub an der Südspitze des Kontinents aber bereits Mitte des 17. Jahrhunderts begonnen hatte, gibt es weiße Familien – insbesondere unter den Afrikaans sprechenden Nachfahren niederländischer Einwanderer, den Afrikaanern –, die bereits seit vielen Generationen im heutigen Südafrika leben. Nicht so die Gordimers: Nadines Eltern lebten als Kinder noch in Europa. Doch obwohl beide Elternteile jüdischen Familien entstammten, waren ihre Wege nach Südafrika sehr unterschiedlich.

Nadines Vater, Isidore Gordimer, wurde 1887 in Žagarė geboren, einem litauischen Dorf unmittelbar an der Grenze zu Lettland. Der Ort lag im Ansiedlungsrayon, dem westlichen Teil des Russischen Kaiserreichs, in dem Juden eingeschränktes Wohn- und Arbeitsrecht hatten. Isidores Vater arbeitete im etwa 100 Kilometer entfernten Riga, wohl als Angestellter einer Reederei. Viel ist nicht bekannt über Nadine Gordimers Großeltern väterlicherseits, sie selbst hat sie nie gesehen und auch nicht oft mit ihrem Vater über seine Familie gesprochen. Es waren wohl eher einfache Verhältnisse in dem kleinen Dorf, in dem es für die jüdischen Kinder keine weiterführende Schule gab. Dort lernte Isidore das Uhrmacherhandwerk, oder begann zumindest mit einer Lehre, denn ob er diese formal abschließen konnte, ist nicht überliefert. Unstrittig ist, dass die jüdische Bevölkerung im zaristischen Russland und auch im Ansiedlungsrayon unterdrückt und schikaniert wurde. Insbesondere in den Wirren nach dem Attentat auf Zar Alexander II im Jahr 1881, für das fälschlich Juden verantwortlich gemacht wurden, kam es zu ausgedehnten Pogromen, die über die nächsten Jahrzehnte zahlreiche Juden in die Emigration trieben. Die ganze Familie wollte oder konnte nicht auswandern, und so wurde Isidore allein auf die weite Reise nach Südafrika geschickt. Aber war er da wirklich erst 13 Jahre alt, wie Nadine Gordimer in Interviews immer wieder sagte? Zweifel sind angebracht, nicht zuletzt aufgrund der politischen Situation: Seit 1899 herrschte im südlichen Afrika Krieg.

Aus britischer Sicht war es der zweite Burenkrieg (einen ersten Krieg zwischen der britischen Kolonialmacht und einer Kolonie der Buren hatte es 1881 gegeben), aus Sicht der Afrikaaner der zweite Unabhängigkeitskrieg. Eine große Anzahl Afrikaans sprechender Buren (das Wort bedeutet Bauern) hatten die britische Kapkolonie in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Great Trek nach Norden und Osten verlassen, um außerhalb der britischen Einflusssphäre unabhängige Republiken zu gründen. Die so entstandene Republik Natal am Indischen Ozean war bereits 1843 von den Briten annektiert worden, doch der Oranje Freistaat und die Südafrikanische Republik (auch als Transvaal bekannt), nordöstlich der Kapkolonie im Landesinneren gelegen, blieben zunächst unabhängig. Als jedoch in den 1890er-Jahren im Witwatersrand, der Region um Johannesburg in der Südafrikanischen Republik, reiche Goldadern entdeckt wurden, befeuerte dies britische Begehrlichkeiten. Cecil Rhodes, der damalige Premierminister in der britischen Kapkolonie, träumte schon lange von einer Eisenbahnlinie vom Kap bis Kairo, die zur Gänze durch britische Kolonien führen sollte. Diese Pläne vor Augen unterstützte er einen Umsturzversuch im Transvaal, um die Kolonie unter britische Kontrolle zu bringen. Der sogenannte Jameson Raid scheiterte zwar, doch gegen Ende des Jahrhunderts spitzte sich die Lage weiter zu, und um einem Einmarsch britischer Soldaten zuvorzukommen, griffen die Truppen der Afrikaaner die Kapkolonie und Natal an. Nach anfänglichen Erfolgen wurden sie schließlich von der Macht des British Empire überrollt, und Paul Kruger, Präsident der Südafrikanischen Republik, floh ins Exil. Nach gut einem Kriegsjahr, im Dezember 1900, annektierte Großbritannien offiziell die beiden vormals unabhängigen Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Südafrikanische Republik, doch der Krieg war damit noch lange nicht beendet. Die Afrikaaner verlegten sich auf eine Guerilla-Kriegsführung mit kleinen, hochgradig mobilen Kommandos, und die britische Seite reagierte mit einer brutalen Taktik der verbrannten Erde: In den annektierten Burenrepubliken wurden mehr als 30.000 Höfe von Afrikaanern und Schwarzen zerstört und die Felder verwüstet. Die auf den Farmen zurückgebliebenen Afrikaaner – zumeist Alte, Frauen und Kinder – wurden in Konzentrationslagern interniert, und fast 28.000 weiße Zivilisten starben in den Lagern, durch Mangelernährung geschwächt, an verschiedenen Krankheiten. Die Zahl der Opfer innerhalb der schwarzen Bevölkerung wurde nicht dokumentiert, Schätzungen gehen von bis zu 20.000 Toten aus. Erst am 31. Mai 1902 endete der Krieg, der insgesamt annähernd 100.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Die Kriegsgräuel vergifteten noch über Jahrzehnte hinweg das Verhältnis der zwei weißen Bevölkerungsgruppen, den Afrikaanern und den englischsprachigen Südafrikanern.

Es ist nicht unmöglich, dass ein dreizehnjähriger Junge in dieser Zeit in die Gegend von Johannesburg einwanderte, aber ist es wahrscheinlich? Isidore Gordimer selbst hat 1954 der Lokalzeitung Springs and Brakpan Advertiser ein Interview gegeben, von dem Gordimers Biograf Ronald Roberts berichtet. Demnach ist Isidore zwar allein gereist, aber erst im Alter von 18 Jahren, also um 1905, als sich die politische Situation beruhigt hatte. Zudem ist er einem älteren Bruder gefolgt, der sich bereits 1896 in der kleinen Bergarbeiterstadt Springs als Juwelier und Uhrmacher niedergelassen hatte. Wenn diese Variante stimmt, dann musste sich Isidore also nicht ganz allein durchschlagen, und wenn er in den ersten Jahren mit dem Fahrrad unterwegs war, um den Minenarbeitern in den Kohlegruben Uhren zu verkaufen, wie Gordimer berichtet, so tat er dies wohl im Auftrag seines Bruders. Dieser kehrte wenig später in die alte Heimat zurück und überließ Isidore die Geschäfte. Kurz darauf wurde in Springs Gold entdeckt, was den wirtschaftlichen Erfolg des jungen Einwanderers, der bei seiner Ankunft so gut wie kein Englisch und gar kein Afrikaans sprechen konnte, sicher maßgeblich unterstützte. Jedenfalls etablierte sich Isidore als Geschäftsmann und konnte das Fahrrad gegen eine Kutsche tauschen. Diesem äußeren Zeichen seines Erfolgs folgte schon bald die Aufnahme in die örtliche Freimaurerloge.

Auch Nadine Gordimers Mutter, Hannah (genannt Nan) Myers, war nicht in Südafrika geboren worden. Sie musste sich allerdings nicht allein auf die Reise in das unbekannte, ferne Land machen, Hannah kam als neunjähriges Mädchen mit ihren Eltern nach Johannesburg. In Interviews stellt Gordimer ihren Großvater mütterlicherseits als echten Abenteurer dar. Tatsächlich war Mark Myers schon in den 1880er-Jahren, zur Zeit des Diamantenfiebers, zusammen mit zwei Brüdern von England in die Kapkolonie gekommen, um in der Region um das heutige Kimberley nach Diamanten zu graben. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit Nadines Großmutter Phoebe verheiratet, die jedoch zunächst in England zurückblieb. Phoebe hatte als junge Frau zusammen mit ihrer Schwester in London im Buckingham Palace gearbeitet. Dort war sie für das Kämmen der Federn zuständig gewesen – der erste symbolische Kontakt mit ihrer zukünftigen Heimat, denn Straußenfedern aus Südafrika waren in den 1880er-Jahren in England ausgesprochen beliebt und sicher Teil der königlichen Garderobe.

Als Diamantengräber war Mark Myers wohl nicht sonderlich erfolgreich, und es ist unklar, was aus seinen Brüdern wurde. Mark verdiente schließlich sein Geld als Aktienhändler an der Börse in Johannesburg. Auch dieser Teil von Nadine Gordimers Familiengeschichte ist nicht wirklich gut dokumentiert, aber es ist klar, dass Mark Myers zumindest einmal, vielleicht auch mehrmals, zu seiner Ehefrau nach London zurückgekehrt sein muss, denn dort wurde Hannah 1897 geboren. Vielleicht hatte Mark Myers die Kriegsjahre ebenfalls nicht in Südafrika zugebracht, jedenfalls kamen seine Ehefrau und Tochter erst 1906 nach Johannesburg.

Eine Ehe mit Gegensätzen

Nadine Gordimers Eltern kamen also aus sehr unterschiedlichen Familien und sehr unterschiedlichen Kulturkreisen. Auch wenn beide formal jüdischen Glaubens waren, lieferte das wohl keine gemeinsame Basis. Während Isidore orthodox erzogen worden war, spielte Religion für Hannahs Eltern keine große Rolle, und sie selbst war nach den Worten ihrer Tochter zwar nicht unbedingt eine Atheistin, ging aber nie in die Synagoge. Isidore entstammte eher einfachen Verhältnissen, Hannah dagegen war in einem Haushalt aufgewachsen, der sich der englischen Mittelklasse zurechnen konnte und in Südafrika entsprechend lebte: Hannah erhielt Klavierunterricht und pflegte als erwachsene Frau wohl einen gewissen kulturellen Snobismus. Und während Isidore seine Heimat aus wirtschaftlichen Gründen und vermutlich auf Geheiß seiner Eltern verlassen musste, reiste Hannah gemeinsam mit ihrer Mutter ihrem abenteuerlustigen Vater nach, der sich in Südafrika bereits eine neue Existenz aufgebaut hatte.

Angesichts dieser Unterschiede und der Entfernung von rund 50 Kilometern zwischen Springs und Johannesburg stellt sich die Frage, wie Isidore und Hannah sich kennenlernen konnten. Dafür ist wohl Hannahs Tante Rose verantwortlich. Mark Myers’ Schwester Rose war mit dem ehemaligen Bürgermeister von Windhoek, damals noch Deutsch-Südwestafrika, verheiratet. Während des Ersten Weltkriegs wurde die deutsche Kolonie von südafrikanischen Truppen besetzt, die Eheleute verließen Windhoek, und es verschlug sie nach Springs, wo Rose schon bald eine wichtige gesellschaftliche Rolle in der kleinen Oberschicht einnahm und regelmäßig Salons veranstaltete. Vielleicht war sie ja an der örtlichen Pferderennbahn auf den jungen Juwelier und Uhrenhändler Isidore Gordimer aufmerksam geworden, der Gesangsunterricht nahm und eine schöne Baritonstimme hatte. Jedenfalls lud sie ihn zu ihren Salons ein, und dabei muss er auf Hannah getroffen sein, die bei ihrer Tante zu Besuch war. Isidore verliebte sich in Hannah, die allerdings eigentlich einen britischen Offizier hatte heiraten wollen, der während des Ersten Weltkriegs in Südafrika stationiert gewesen war. Doch nach Kriegsende kehrte dieser nach England zurück und heiratete dort eine andere Frau – und Nan tröstete sich mit dem zehn Jahre älteren Ladenbesitzer, Isidore Gordimer.

Leider wurde es keine liebevolle Ehe, und die Ausgangsbedingungen waren auch nicht optimal. Hannah war vielseitig interessiert und wäre gerne Ärztin geworden, hatte in ihrem Elternhaus aber keine entsprechende Unterstützung erhalten. Die Ehe führte sie aus dem schnell wachsenden, großstädtischen Johannesburg – die weiße Bevölkerung Johannesburgs hatte sich zwischen 1904 und 1919 von rund 84.000 auf etwa 150.000 fast verdoppelt – in das vergleichsweise sehr kleinstädtische Springs. Die Frustration über den nicht erfüllten Lebenstraum muss die Beziehung zunehmend belastet haben. Hannah verachtete die einfache Herkunft ihres Mannes und dessen Arbeit in seinem Laden und sie ließ ihn immer wieder spüren, dass sie unter ihrem gesellschaftlichen und intellektuellen Niveau geheiratet hatte. Auch die Religion ihres Ehemannes – die ja formal auch ihre eigene war – lehnte sie ab, und wenn er darauf bestand, zumindest an Jom Kippur (dem höchsten jüdischen Feiertag) in die Synagoge zu gehen, um Kerzen für seine Eltern anzuzünden, strafte sie dies mit bewusster Missachtung: Der Rest der Familie blieb zu Hause, und wenn sie ihn nach dem Gottesdienst in Alltagskleidung abholten, muss dies für ihn beschämend gewesen sein.

Nadine Gordimer berichtet in einem Interview, ihre Eltern hätten keinerlei Gemeinsamkeiten gehabt, aber die Geschichte vom Mann aus einfachen Verhältnissen, der neben seinem Laden kaum Interessen hat und höchstens die Tageszeitung liest, will nicht so ganz zum Bild des lebenslustigen Junggesellen mit der geschulten Baritonstimme auf Roses Partys passen, das sie ebenfalls zeichnet. Gordimers Sicht auf ihren Vater wurde wohl stark von den Vorurteilen der Mutter geprägt, denn Isidore war tagsüber immer in seinem Laden, Nadine dagegen verbrachte sehr viel Zeit mit ihrer Mutter, die sie für sich vereinnahmte. Der Vater spielte in Nadines Leben keine große Rolle, den jährlichen Urlaub nach Weihnachten (im südafrikanischen Sommer) beispielsweise verbrachte Hannah mit ihren Töchtern am Strand von Natal, während ihr Ehemann in seinem Juweliergeschäft in Springs blieb, rund 500 Kilometer entfernt.

Rein äußerlich war es jedenfalls ein sehr ungleiches Paar: Isidore war eher klein gewachsen – in dieser Hinsicht kam die zierliche Nadine eindeutig nach ihrem Vater –, Hannah dagegen ungewöhnlich groß, und so blickte sie nicht nur metaphorisch auf ihren Ehemann herab. Möglicherweise fühlte er sich seiner Frau auch sprachlich nicht gewachsen, schließlich war sie gebürtige Engländerin, während Englisch für ihn nur eine Fremdsprache war. Allerdings berichtet Gordimer auch, ihr Vater sei sehr sprachbegabt gewesen und habe neben akzentfreiem Englisch auch Afrikaans und Fanagalo, die auf Zulu basierende Verkehrssprache der Goldminenarbeiter, gesprochen. Wie auch immer die genauen Umstände gewesen sein mögen, zwischen Hannah und Isidore entwickelte sich keine große Nähe. Dennoch hielt die Ehe, zumindest formal, und die beiden hatten zwei Töchter: Betty wurde 1920 geboren und Nadine am 20. November 1923.

Kindheit

Die Gordimers wohnten in einem typischen südafrikanischen Haus mit einer großen überdachten Veranda – stoep genannt – in einem erst 1916 erschlossenen Teil der insgesamt sehr jungen Kleinstadt Springs. In den 1880er-Jahren war in der Gegend Kohle entdeckt worden. Eine Bergarbeitersiedlung entstand, die kurz darauf durch eine Bahnlinie mit den Goldminen am Witwatersrand verbunden wurde. Im frühen 20. Jahrhundert wurde auch bei Springs Gold gefunden, und der Goldabbau löste die Kohleförderung ab. Kurz darauf erhielt Springs den Status einer Stadt und wuchs rasant, wobei die Stadt selbst den Weißen vorbehalten war. Die Schwarzen Minenarbeiter lebten in abgegrenzten Baracken auf den Grubengeländen.

Wie das knapp 50 Kilometer westlich gelegene Johannesburg liegt Springs auf einem Hochplateau, dem Highveld, auf einer Höhe von gut 1.600 Metern über dem Meer. Die natürliche Landschaft ist eher karges Grasland, die Umgebung der Stadt war allerdings durch den Bergbau mit seinen aufgeschütteten Abraumhügeln und künstlichen Seen geprägt. Die Minengelände waren natürlich eingezäunt, aber das konnte die waghalsigen Kinder des Ortes nicht aufhalten. Für sie war es ein aufregendes Abenteuer, über diese künstlichen Hügel zu rennen – eine gefährliche Mutprobe, denn im Abraum brannten noch über Jahre Kohlereste. Es kursierten Horrorgeschichten von Kindern, die beim Spielen eingebrochen waren und sich schwerste Verbrennungen zugezogen hatten. Von einem Kind, so hieß es, konnten noch nicht einmal die Knochen geborgen werden.

In dieser Umgebung wuchs Nadine Gordimer also auf. Von der jungen Nadine wird berichtet, dass sie einen besonders großen Drang zum Sprechen hatte. So eilig hatte sie es, dass sich ihre Wörter überschlugen und sie eine leichte Redeflussstörung entwickelte, die man der Beschreibung nach wohl als eine Mischung aus Stottern und Poltern bezeichnen kann: Beim Poltern sprechen Betroffene zu schnell, verschlucken Wortteile oder ziehen Wörter zusammen und werden so phasenweise unverständlich. Fachleute gehen davon aus, dass bei etwa 5 % aller Kinder eine Redeflussstörung auftritt, bei einem Großteil der betroffenen Kinder verschwindet diese aber auch wieder, ohne dass eine Behandlung erforderlich wäre. In der Erinnerung von Nadine Gordimer (oder wohl eher der ihrer Mutter) wurde sie durch die Geduld einer Nachbarin geheilt: Frau Goldberg bremste Nadine in ihrem Redeschwall, ermunterte sie, langsamer zu sprechen – und tat damit intuitiv das Richtige. Ob diese Zuwendung wirklich ursächlich war, lässt sich nicht überprüfen, sicher ist aber, dass die kleine Nadine ihre Sprechstörung vollständig überwinden konnte.

Im Alter von etwa fünf oder sechs Jahren folgte Nadine ihrer großen Schwester Betty in eine privat geführte Dame School, eine Art Kindergarten und Vorschule, die nur wenige Schritte vom Haus der Gordimers in der gleichen Straße lag. Für Nadines Mutter hatten Bücher offenbar eine große Rolle gespielt, denn sie hatte ihren Töchtern regelmäßig vorgelesen. Als Nadine mit sechs Jahren lesen lernte, meldete Hannah sie in der örtlichen Leihbibliothek an, und das Mädchen wurde eine begeisterte Leseratte. Sie brachte von den freitäglichen Bibliotheksbesuchen immer einen ganzen Stapel von Büchern mit nach Hause – anfangs war sie von Hugh Loftings Doktor Doolittle Büchern besonders begeistert, aber schon bald erweiterte sie ihren Leseradius. Die Bibliothekarin war eine gute Freundin, die das Kind auch durch die Erwachsenenabteilung stöbern ließ. In unzähligen Interviews sollte Gordimer über die Jahre diese breite Leseerfahrung als die Keimzelle ihres eigenen Schreibens bezeichnen.

Trotz ihrer Zugehörigkeit zum Judentum hatten Nadines Eltern offensichtlich keine Vorbehalte, ihre beiden Töchter nach der Vorschule in eine von Dominikanerinnen geleitete katholische Klosterschule zu schicken. Gordimer beschreibt sich selbst als eine Schulschwänzerin, die sich immer wieder im Schulhaus versteckt hielt, bis alle Schüler und Lehrkräfte beim Morgengebet versammelt waren und sie das Gebäude unbemerkt verlassen konnte, um durch das Grasland zwischen der Stadt und der ärmlichen Siedlung der Schwarzen zu streifen. Ganze Vormittage konnte sie damit verbringen, Schmetterlingen nachzujagen – bis ihr die Schulglocke signalisierte, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Trotz des Schwänzens war sie keine schlechte Schülerin, aber ihre Eltern waren wohl dennoch überzeugt, sie sei einfach nicht der Typ für das Lernen. Sie selbst träumte sich in die idealisierte Welt fiktiver englischer Internate, die sie aus ihren Büchern kannte (heute denken dabei viele sicher an Enid Blyton, doch deren Internatsgeschichten erschienen erst in den 1940er-Jahren; Nadine muss deren Vorläuferinnen gelesen haben, wie beispielsweise Christine Chaundler oder Dorita Fairlie Bruce). Gordimer erinnert sich in einem Essay über ihre Kindheit, dass sie selbst in ein Internat gehen wollte – sie ist sich aber auch sicher, dass ihr das echte Internatsleben nicht gefallen hätte. Allerdings sollte Nadine auch die reale Klosterschule nicht sonderlich lange besuchen.

Schon als junges Mädchen hatte Nadine eine Leidenschaft für das Tanzen entwickelt. Gemeinsam mit einer Freundin und ihrer Schwester inszenierte sie Tanzaufführungen für ihre Eltern, die ihre Mutter am Klavier begleiten musste. Im Alter von etwa acht Jahren trat sie in einer musikalischen Nummernrevue als Stepptänzerin auf, und zu dieser Zeit hatte sie den Berufswunsch, professionelle Tänzerin zu werden. Doch im Dezember 1934 – Nadine war gerade elf Jahre alt geworden – wurde bei ihr, nach zwei unerklärlichen Schwächeanfällen, ein extrem erhöhter Puls festgestellt. Weitere Untersuchungen ergaben als Diagnose eine Schilddrüsenüberfunktion, eine nicht besonders häufige, aber auch nicht ganz seltene Krankheit, die bei Kindern allerdings meist erst in der Pubertät auftritt. Typische Symptome sind Hyperaktivität, Herzrasen und auch Herzrhythmusstörungen, Nadines Mutter deutete die Symptome ihres Kindes aber offenbar als Anzeichen einer gefährlichen Herzerkrankung. Um kein Risiko einzugehen, sollte sich Nadine zunächst für ein halbes Jahr extrem schonen: Sie durfte keinen Sport mehr treiben, keine Ausflüge unternehmen und natürlich auch nicht mehr tanzen. Sogar aus der Schule meldete ihre Mutter sie ab! Die Möglichkeit, nach Herzenslust im Bett zu lesen, kann ihr nur ein schwacher Trost gewesen sein.

Eine Ferndiagnose ohne Zugriff auf die ärztlichen Unterlagen kann nur spekulativ bleiben. In der Rückschau ist sich Gordimer jedenfalls sicher, dass ihre Mutter ihr Herzrasen – unbewusst – instrumentalisierte. Nan sah sich in einer lieblosen, unglücklichen Ehe gefangen und schwärmte wohl für den Hausarzt der Familie, vermutlich ohne es sich selbst einzugestehen. Das kränkelnde Kind lieferte den idealen Vorwand für häufige Hausbesuche des Arztes, die in den 1930er-Jahren noch üblich und in einer noch nicht auf größte Effizienz getrimmten Praxis ausgedehnter waren als heute. Diese Darstellung wirft dennoch einige Fragen auf: Wenn eine Schilddrüsenüberfunktion als Auslöser des Herzrasens diagnostiziert wurde, wie konnte die Mutter die Geschichte vom schwachen Herzen dem Arzt gegenüber aufrechterhalten? Wurde die Überfunktion therapiert, oder war es eine so leichte Erkrankung, dass sie von selbst ausheilte? In beiden Fällen können die Herzrhythmusstörungen eigentlich nicht über mehrere Jahre angehalten haben.

Aber vielleicht war Nadine zu diesem Zeitpunkt ja an die viele Aufmerksamkeit gewöhnt und bereits unbewusst Teil des Spiels? Zumindest rebellierte sie als Kind offenbar nicht dagegen, auch wenn sie in einem 1983 (also nach dem Tod der Mutter) erschienenen Interview beklagt, ihre Mutter habe ihr ganzes Wesen verändert: Aus dem übersprudelnden, extrovertierten Mädchen wurde eine introvertierte „kleine alte Dame“, die ihre Mutter zu deren Freundinnen begleitete.1 Nadine scheint es allerdings auch genossen zu habe, im Mittelpunkt zu stehen. Sie hatte offenbar schon früh eine genaue Beobachtungsgabe und ein Talent, die Eigenheiten und Manierismen von Personen nachzuahmen. Ihre Mutter bestärkte sie darin, und so unterhielt Nadine ihre Mutter und deren Freundinnen immer wieder mit Darbietungen, in denen sie gemeinsame Bekannte lächerlich machte. In der Rückschau spricht Gordimer von einer korrumpierten Kindheit und geht diesbezüglich hart mit sich selbst ins Gericht.

Offenbar wurde Nadine in eine Rolle gedrängt, die sie nicht Kind sein ließ. In ihren Schilderungen wirkt es so, als habe Gordimer diese Situation als Kind nicht sonderlich belastet. Später wurde ihr allerdings die Ungeheuerlichkeit dieser Vereinnahmung durch die Mutter bewusst, und das Verhältnis zwischen den beiden war über Jahre sehr angespannt. Heute würde man Hannahs Verhalten wohl als eine Form des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms beschreiben, also als das Erfinden oder Übertreiben von Krankheiten, um dann die Rolle der aufopferungsvollen Pflegenden zu übernehmen. Gordimer lernte dies später im Kontext der unglücklichen Ehe einzuordnen und damit für sich zu rationalisieren. So konnte sie ihrer Mutter schließlich vergeben und sich mit ihr versöhnen. Aber erst nach dem Tod der Mutter im Jahr 1973 war sie in der Lage, über diesen Teil ihrer Kindheit öffentlich zu sprechen. Die Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass Gordimer ihre eigene Kindheit bis weit ins Erwachsenenalter hinein beschäftigte, da das Verhältnis von Töchtern zu ihren Müttern in ihren Romanen und Erzählungen immer wieder eine entscheidende Rolle spielt.

Die Auswirkungen der vermeintlichen Herzschwäche auf Gordimers Entwicklung ist jedenfalls kaum zu überschätzen. Gut neun Monate lang erhielt sie gar keine formalisierte Bildung, erst ab September 1935 gab ihr eine Lehrerin im Ruhestand für einige Stunden täglich Privatunterricht. Aber auch dort war sie die einzige Schülerin, zu Gleichaltrigen hatte sie praktisch keinen Kontakt. Diesen Mangel an externen Stimuli kompensierte sie durch zügelloses Lesen. Neben den Beständen der vergleichsweise gut ausgestatteten Leihbibliothek von Springs, in der Nadine nach Herzenslust stöbern durfte, konnte sie sich gelegentlich auch Bücher kaufen. Beispielsweise gewann sie im Alter von zwölf Jahren in einem Schreibwettbewerb einen Büchergutschein, den sie für Margaret Mitchells gerade neu erschienenen Roman Vom Winde verweht und für die Tagebücher von Samuel Pepys verwendete. Die Tagebücher hatte der in London lebende Pepys in den Jahren 1660 bis 1669 geführt, und sie sind schon allein sprachlich kaum altersangemessen für eine Zwölfjährige, aber die Auswahl zeigt, welche Breite Gordimers Lektüre bereits erreicht hatte. Vermutlich wäre sie auch ohne die erzwungene Isolation Schriftstellerin geworden, aber es steht außer Frage, dass die umfangreiche Lektüre dieser Jahre sie prägte und ihr Schreiben beeinflusste – sie selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass man nicht erfolgreich schreiben kann, ohne viel zu lesen. Als frühe Einflüsse nennt Gordimer D.H. Lawrence, Henry James, Ernest Hemingway, E.M. Forster, William Butler Yeats, Virginia Woolf, André Gide und insbesondere Marcel Proust; später kamen dann Rainer Maria Rilke, Joseph Conrad und Albert Camus hinzu. Es ist auffällig, dass diese Liste ausschließlich Namen der europäischen und US-amerikanischen Literatur enthält, eine eigenständige südafrikanische Literatur existierte in den 1930er-Jahren erst in Ansätzen.

Jedenfalls ließ das viele Lesen die junge Nadine auch über mögliche Lebensentwürfe nachdenken: In einem Interview erzählt Gordimer, sie habe Journalistin werden wollen, nachdem sie im Alter von etwa elf Jahren Evelyn Waughs Scoop gelesen hatte. An anderer Stelle beschreibt sie, wie sie als Kind ganze Zeitungen gestaltet habe, mit erfundenen Nachrichten und von Hand gezeichneten Bildern, und das passt durchaus zu der Erzählung von dem Kind, das Journalistin werden möchte. Die Lektüre von Waughs Scoop kann allerdings nicht der Auslöser gewesen sein, denn der Roman ist erst 1938 erschienen, als Gordimer bereits 15 war.

Literarisches und Politisches Erwachen

Tatsächlich begann Nadine schon deutlich vorher, Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben. Zunächst natürlich mit der Hand, aber das Schreiben machte ihr schnell so viel Spaß, dass sie sich von ihrem Geburtstagsgeld eine kleine mechanische Schreibmaschine kaufte, eine Hermes Baby aus der Schweiz. Die Investition sollte sich bald bezahlt machen, wenn zunächst auch nur im übertragenen Sinn: Im Juni 1937, Nadine war noch keine 14 Jahre alt, erschien ihre erste Kurzgeschichte auf der Kinderseite des Sunday Express, und im nächsten Jahr veröffentlichte sie drei weitere Geschichten für Kinder in dieser Wochenzeitung. Kurz darauf begann sie, für ein erwachsenes Publikum zu schreiben, und im November 1939, zwei Tage vor ihrem 16. Geburtstag, konnte sie ihre erste richtige Kurzgeschichte in Händen halten. “Come Again Tomorrow” wurde in der Zeitschrift The Forum publiziert, nachdem die Autorin die Herausgeber über ihr wahres Alter getäuscht hatte. Über sechzig Jahre später sollte Gordimer in einem Interview sagen: „Diese Geschichte gedruckt zu sehen war das größte Erlebnis in meiner Schriftstellerkarriere, nichts danach kam diesem Gefühl nahe“, und ergänzen, „damit hatte ich Zugang zu einer anderen Welt, danach war ich irgendwie kein Kind mehr.“2

Die Geschichte “Come Again Tomorrow” ist eine Variante der Erzählung vom verlorenen Sohn, die allerdings auf den Vater fokussiert. Sie ist auch ein erster, noch etwas unbeholfener Versuch, die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und eigenem Erleben zu gestalten, ein Thema, das Gordimer immer wieder bearbeiten sollte. Die Hauptfigur ist Vater von vier erwachsenen Söhnen und wird von allen für deren Cleverness und seinen Reichtum beneidet, doch er selbst ist unglücklich, allein in seinem schönen Haus, das er für seine inzwischen verstorbene Frau gebaut hatte. Seine Söhne sind unabhängige, erfolgreiche Geschäftsleute und an einer Beziehung zum Vater offenbar nicht besonders interessiert, woran dieser still leidet. Als der jüngste Sohn in einen Finanzskandal verwickelt wird, ist sein Vater daher sofort bereit, ihm zu helfen. Seine größte Freude ist es, als ihn seine Schwiegertochter nach einem Gespräch bittet, am nächsten Tag wieder zu kommen – ihre Aufforderung, “Come again tomorrow“, ist zugleich der Titel der Kurzgeschichte. Am Ende schläft der Vater in seinem Sessel ein, glücklich in dem Bewusstsein, doch noch gebraucht zu werden. Die Erzählung feiert also nicht etwa den Erfolg der Söhne, das Augenmerk der Geschichte liegt vielmehr auf dem Vater, der sich von seinen Söhnen entfremdet, unnütz und vereinsamt fühlt. Es liegt nahe, hinter dem fiktiven Vater Gordimers Mutter zu sehen, die ihre Tochter gerade nicht in eine erfolgreiche Unabhängigkeit entlassen wollte und die sie über die erfundene Krankheit an sich band. Gordimer hatte diese Haltung offenbar so verinnerlicht, dass sie sie in der Kurzgeschichte über die vermeintlich undankbaren Kinder gewissermaßen rechtfertigt.

Es ist sicher nur ein Zufall, dass etwa zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Kurzgeschichte im Forum auch Nadines Privatunterricht endete, aber es wirkt, als wäre sie als publizierte Autorin der Schulzeit entwachsen. Sie begleitete weiterhin ihre Mutter zu Treffen mit deren Freundinnen und Bekannten, doch die endlosen Gespräche über banale Themen begannen sie zu langweilen. Über Politik wurde weder bei den Gordimers zu Hause, noch bei Nans Freundinnen gesprochen. Intellektuelle Anregung fand Gordimer daher ausschließlich in Büchern, und neben der Stadtbibliothek war in dieser Zeit auch die private Bibliothek von Bert Goldberg von großer Bedeutung. Goldbergs Ehefrau war die Nachbarin, die Nadine in frühen Jahren über ihre Sprechflussstörung hinweggeholfen hatte, er selbst war Anwalt und engagierte sich für die Arbeiterklasse, meinte damit jedoch vor allem weiße Arbeiter. Gordimers Eltern trafen sich gelegentlich abends mit den Goldbergs zum Kartenspielen, und Nadine sollte sich in der Bibliothek die Zeit vertreiben. Dort stieß sie auf Upton Sinclairs Roman Der Dschungel (1906), einen Klassiker der sozialkritischen Literatur im Stil einer Reportage, der die harschen Arbeitsbedingungen in der fleischverarbeitenden Industrie in den USA zum Thema hat. Im frühen 20. Jahrhundert arbeiteten dort vor allem osteuropäische Immigranten für Hungerlöhne und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Ausbeutung schwarzer Arbeiter in den USA spielt in dem Buch keine Rolle, vielmehr werden diese als dumme und kriminelle Streikbrecher diffamiert. Dennoch sah Gordimer die Parallelen zwischen weißen Immigranten in Amerika und den schwarzen Wanderarbeitern in den Goldminen ihrer Heimatstadt. Sie erkannte, dass die Rollenverteilung zwischen Weißen und Schwarzen kein Naturgesetz, sondern menschengemacht war – und dass sie eine große Ungerechtigkeit bedeutete. In der Rückschau bezeichnete sie die Lektüre von Der Dschungel als den Beginn eines autodidaktischen Kurses zur Herausbildung ihres politischen Bewusstseins, den sie in den folgenden Jahren durch ihr breites Lesen fortsetzte.

Durch ihre Kurzgeschichten, Romane und Essays wurde Nadine Gordimer als dezidierte Kritikerin des Apartheid-Systems der Rassentrennung und Diskriminierung bekannt, doch diese kritische Haltung war ihr nicht in die Wiege gelegt worden, im Gegenteil. Bei Nadines Großeltern mütterlicherseits ist ein koloniales Überlegenheitsgefühl den Schwarzen gegenüber wenig verwunderlich, denn beide wurden durch die in Großbritannien weit verbreitete Begeisterung für das British Empire geprägt. Ihre Tochter Hannah, Nadines Mutter, war als junges Mädchen nach Südafrika gekommen und dort in der durch Rassismus geprägten Kolonialgesellschaft aufgewachsen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie das weiße Überlegenheitsgefühl verinnerlicht hatte, wobei sie sich freilich auch in wohltätigen Vereinigungen für Schwarze engagierte – beispielsweise half sie bei der Einrichtung einer Vorschule für schwarze Kinder im Schwarzenghetto nahe Springs, ohne jedoch die eigentliche Ungerechtigkeit hinter den unterschiedlichen Lebensumständen zu hinterfragen. Bei Nadines Vater ist diese Haltung auf den ersten Blick vielleicht etwas erstaunlicher, hatte er doch selbst als Jude im zaristischen Russland Ausgrenzung und systematische Benachteiligung erlebt. In Südafrika angekommen sah er jedoch keine Parallelen zur Diskriminierung der Schwarzen, oder er wollte sie nicht sehen. Jedenfalls hatte er offenbar sehr schnell die üblichen Vorurteile der Weißen gegenüber den schwarzen Minenarbeitern übernommen. Tatsächlich ging der weiße Standesdünkel im Hause Gordimer in gewisser Weise sogar noch über das übliche Maß hinaus: Die Gordimers beschäftigten zunächst ein weißes Kindermädchen, da Nan Schwarze generell für zu dreckig hielt, um ihre Kinder zu betreuen. Auf Madelaine folgte mit Lettie dann aber eine schwarze Hausangestellte, die mit ihrem Ehemann zusammen in einem kleinen Anbau auf dem Grundstück der Gordimers lebte – solche ausgelagerten Angestelltenquartiere waren in den Häusern der weißen Mittelklasse in Südafrika üblich. Die Ungerechtigkeit dieses Arrangements war der jungen Nadine, die zu Lettie ein sehr enges Verhältnis hatte, allerdings nicht bewusst. Sie war in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Diskriminierung normal war und hatte dies zunächst nicht hinterfragt. Erst der Umweg über Sinclairs Dschungel öffnete ihr die Augen.

Etwas später wurde Gordimers politisches Erwachen durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs gefördert. Gordimers Mutter war schon vor dem Krieg im Roten Kreuz aktiv gewesen. Als in den Kriegsjahren viele Krankenschwestern in den Militärdienst wechselten, leistete sie in Springs Freiwilligendienst, und Nadine begleitete sie. Als Hilfskrankenschwester wurde ihr drastisch vor Augen geführt, dass sich Weiße und Schwarze nur äußerlich unterscheiden: „Bei den Schnittwunden sah ich, dass unter der schwarzen Haut das Fleisch genauso aussah wie meines, weich und rot.“3 Aber neben diesen praktischen Erfahrungen war es vor allem ihre Lektüre und später der intellektuelle Austausch mit Gleichgesinnten, der Gordimers zweite Geburt herbeiführte, wie sie es ausdrückte: „Menschen wie ich haben zwei Geburten. Die zweite kommt, wenn man die ‚Farbgrenze‘ überwindet. Es ist eine echte Wiedergeburt, wenn du aus deinem Milieu ausbrichst, wenn du die Tabus deines Milieus hinter dir lässt.“4

Ein weiterer Geburtshelfer in diesem Sinne war der politisch linke Buchladen The Vanguard in Johannesburg (der Name bedeutet Vorreiter oder Avantgarde), den Gordimer als junge Frau für sich entdeckte, und dem sie über viele Jahre als Kundin treu bleiben sollte. Der Buchladen führte auch indirekt zu einer wichtigen Begegnung, die Gordimers Entwicklung zur Schriftstellerin vorantreiben sollte. Eine Kundin erzählte Philip Stein, einem Mitarbeiter im Vanguard, von einer jungen Autorin, die zur Geburtstagsparty ihres Bruders kommen werde. Dort lernte Gordimer den etwa gleichaltrigen Stein dann kennen, der ihr vielfältige intellektuelle Anregungen liefern sollte. Der junge Mann durchforstete regelmäßig die Rezensionen von Neuerscheinungen, er war sehr belesen, und mit ihm konnte die angehende Autorin endlos über Literatur diskutieren. Er war es auch, der der siebzehnjährigen Nadine den Dichter Rainer Maria Rilke nahebrachte, dessen Empfindsamkeit sie beeindruckte. Die Bewunderung für Rilkes Dichtung begleitete Gordimer ihr weiteres Leben, und für sie zählte Rilkes (vergleichsweise unbekanntes) Gedicht „Dies überstanden haben, auch das Glück“ zur Pflichtlektüre für kulturell interessierte Menschen. Das Gedicht handelt vom Überstehen im Sinne von aufrecht stehen bleiben, dem Bestehen trotz aller Widrigkeiten – gerade auch als Künstler – und Gordimers Vorliebe für dieses Gedicht lässt sich mit ihrer Bereitschaft, sich auf das Schreiben zu konzentrieren und andere Belange auszublenden, in Verbindung bringen.

Das Verhältnis zu Philip war offenbar intensiv, aber zunächst intellektuell und nur platonisch. Allerdings machte Nadine in dieser Zeit auch ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Mit sechzehn hatte sie ihren ersten richtigen Freund, den zehn Jahre älteren Louis Jourdan, dessen Mutter eine Freundin von Nadines Großmutter Phoebe war. Allerdings führte der Zweite Weltkrieg dazu, dass sich die Liebenden aus den Augen verloren.

Die 1940er:Gordimer wird flügge

Von Journalisten wurde Gordimer immer wieder mit einem elegant und zerbrechlich wirkenden Vogel verglichen. Dieses Bild aufgreifend kann man davon sprechen, dass sie in den 1940er-Jahren flügge wurde: Sie verließ das elterliche Nest, erst zeitweise, dann dauerhaft, und ihr Freundeskreis wuchs deutlich an. Kurz studierte sie an der Witwatersrand Universität, was ihren geistigen Horizont deutlich erweiterte; sie schloss ihre erste Ehe und publizierte ihr erstes Buch.

Erwachsen werden in Springs

Als junge Frau spielte Gordimer in einer Theatergruppe, die ebenfalls zu ihrem politischen Erwachen beitrug. Ihre Bühnenpremiere hatte sie als Gwendolyn, eine der Hauptfiguren in Oscar Wildes Ernst sein ist alles, und die Gruppe beschloss, das Stück als einen vermeintlichen Akt der kulturellen Mildtätigkeit auch im Schwarzenghetto aufzuführen. Für Gordimer war es das erste Mal, dass sie in das abgegrenzte Wohngebiet der Schwarzen fuhr, und sie erinnerte sich Jahrzehnte später, dass das Publikum zunächst sehr still war, dann aber merklich auftaute und laut zu lachen begann. Die Gruppe wertete das als großen Erfolg, und erst deutlich später wurde Gordimer klar, dass das Lachen wohl weniger dem Stück als vielmehr der Theatergruppe selbst gegolten hatte. Die meisten Zuschauer hatten vermutlich noch nie zuvor eine Theateraufführung besucht, Wildes beißende Satire über die spätviktorianische Gesellschaft hatte keinerlei Berührungspunkte mit ihrem Leben, und die auf Wortwitz abzielende Sprache konnte sich ihnen nur bruchstückhaft erschließen, da Englisch bestenfalls ihre Zweitsprache war, die zudem vornehmlich als Verkehrssprache diente. Über die weiße Anmaßung, dem schwarzen Publikum auf diese Weise etwas Gutes tun zu wollen, konnte dieses nur lachen – Gordimer verarbeitete das Erlebnis später in einer Kurzgeschichte, „Die Amateure“, die 1948 erstmals erscheinen sollte. Ihre frühe Begeisterung für das Schauspiel führte etwas später auch dazu, dass Gordimer für die Bühne schrieb. Der Einakter “The First Circle“ (1949) sollte aber ihr einziger publizierter Ausflug in diese Gattung bleiben; ob er je aufgeführt wurde, ist leider nicht überliefert.

In der Theatergruppe war auch der Apotheker Eric Ash aktiv, und der Klatsch der Kleinstadt dichtete Gordimer ein Verhältnis mit dem fünfzehn Jahre älteren Mann an. Tatsächlich war die Beziehung aber nur vorgetäuscht und diente Ash dazu, seine Homosexualität zu verbergen. Sie hätten gemeinsam viel Spaß mit den „RAF boys“ gehabt, erinnert sich Gordimer in einem Interview – und tatsächlich brachte der Krieg Nadine ihren zweiten Freund. Nach Kriegsausbruch schickte die britische Royal Air Force Pilotenanwärter zum Training nach Südafrika – eben jene „RAF boys“, von denen sie sprach – und Gordimer lernte so im Dezember 1942 Brian Taylor kennen. Allerdings missfiel ihrer Mutter diese Beziehung. Vielleicht trauerte Nan ja noch immer ihrem britischen Offizier nach und wollte ihrer Tochter eine ähnliche Enttäuschung ersparen? Oder wollte sie nur ihren Einfluss auf die inzwischen Neunzehnjährige nicht verlieren? Jedenfalls versuchte Nan – erfolglos –, den jungen Mann auf Distanz zu halten. Allerdings war dessen Aufenthalt in Südafrika ja der Pilotenausbildung geschuldet und daher nicht von langer Dauer, und so verschwand auch er, wie Louis Jourdan zuvor, wieder aus Gordimers Leben. Anders als ihre Mutter stürzte sie sich daraufhin aber nicht direkt in eine unglückliche Ehe – auch wenn sie ihren zukünftigen ersten Ehemann, Gerald Gavronsky, im Dezember 1943 während des Strandurlaubs in Margate am Indischen Ozean kennen lernte, als auch Brian Taylor noch eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte.

Nadine machte dort mit ihrer Mutter Urlaub, Gerald mit seinen Eltern. Die beide Familien wohnten zufällig im selben Hotel, und der familiäre und gesellschaftliche Hintergrund war sehr ähnlich: Auch die Gavronskys waren Juden, Geralds Mutter war aus Liverpool nach Südafrika emigriert, sein Vater aus Litauen, und die Gavronskys wohnten in Germiston, wie Springs eine provinzielle Bergarbeiterstadt im Umland von Johannesburg.1 Gerald war knapp ein halbes Jahr jünger als Nadine und studierte Zahnmedizin an der Witwatersrand Universität in Johannesburg. Die Beziehung war offensichtlich mehr als ein Urlaubsflirt, denn Nadine und Gerald trafen sich auch nach ihrer Rückkehr von der Küste. Allerdings meldete sich Gerald bald darauf freiwillig als Militärfotograf und verließ Südafrika – wie auch sein Nebenbuhler Brian. Im Gegensatz zu diesem sollte Gerald jedoch nach dem Krieg zurückkehren.

In vielen Interviews blieb Gordimer über all die Jahre recht vage bezüglich ihrer Zeit als junge Erwachsene und schwieg über die Beziehung zu ihren Eltern. Waren diese über das scheinbar ziellose Leben ihrer jüngeren Tochter unglücklich, oder war Nan froh, sie weiter um sich zu haben? Ihre Schwester Betty jedenfalls besuchte in Johannesburg ein College, um Lehrerin zu werden, aber obwohl Nadine ihre große Schwester damals bewunderte, wollte sie ihr darin nicht nacheifern – der fehlende Schulabschluss hätte das auch schwierig gemacht. Für junge Frauen in Springs wäre es aber durchaus üblich gewesen, beispielsweise das Maschinenschreiben zu lernen und dann als Schreibkraft bei einer Minengesellschaft zu arbeiten. Auch ohne formalen Schulabschluss wäre Nadine dieser Weg offen gestanden, aber das wollte sie offensichtlich nicht. Für kurze Zeit arbeitete sie in der Lokalzeitung Springsand Brakpan Advertiser – die Ehefrau des Chefredakteurs war eine Freundin ihrer Mutter, und diese hatte wohl ein gutes Wort eingelegt –, aber die Redaktionskollegen führten ihr die Provinzialität der Kleinstadt nur noch deutlicher vor Augen. Gordimer hatte kein Interesse daran, den spießigen Erwartungen der Kleinstadt zu entsprechen, aber ihr Aufbegehren gegen die geistige Enge des Elternhauses war eine stille, innere Rebellion. Auch wenn sie das Leben ihrer Eltern ablehnte, so hatte sie doch offenbar keine Gewissensbisse, bei ihnen zu wohnen und sich ihr Leben finanzieren zu lassen, was sie in der Rückschau auch durchaus selbstkritisch erkennt.

Als Kind hatte sie sich in ihre Bücher geflüchtet, als junge Erwachsene widmete sich Gordimer mehr und mehr dem Schreiben. Nach dem frühen Veröffentlichungserfolg Ende der 30er-Jahre ging allerdings einige Zeit ins Land, bevor sie wieder eine ihrer Kurzgeschichten im Druck sah: Erst 1943 erschienen zwei Geschichten in der südafrikanischen Monatszeitschrift P.S., und in der Folge publizierte Gordimer über Jahrzehnte fast jedes Jahr mindestens eine Kurzgeschichte, häufig drei oder vier. In diesen frühen Kurzgeschichten deutet sich bereits ein Bewusstsein für und eine Kritik an der diskriminierenden Behandlung der Schwarzen an, die später eine zentrale Rolle in Gordimers Werk einnehmen sollte. Die Scheinheiligkeit und moralische Verwerflichkeit der Weißen im Umgang mit den Schwarzen kritisiert Gordimer erstmals in der Kurzgeschichte “No Luck Tonight“ („Kein Glück heute Nacht“), die 1944 in der Zeitschrift South African Opinion erschien – und die im nächsten Jahr mit dem Kurzgeschichtenpreis der Zeitschrift ausgezeichnet wurde.

Die Geschichte wird von einem namenlosen, weißen Mann erzählt, dessen gemütlicher Abend mit seiner Ehefrau vor dem Kamin durch zwei Polizisten unterbrochen wird, die bei den Hausangestellten nach illegal gebrautem Bier suchen. Die Eheleute wissen von diesen Aktivitäten, haben jedoch keinerlei Interesse an einer Verhaftung ihrer Angestellten, da sie dann Ersatz finden und diesen anlernen müssten. Der Ich-Erzähler ist kein weißer Aktivist und verwendet die üblichen, herabwürdigenden Begriffe „boy“ (Junge) und „girl“ (Mädchen) für die erwachsenen schwarzen Angestellten, wird aber von dem überheblichen und aggressiven Verhalten der Polizisten den Schwarzen gegenüber abgestoßen. Es ärgert ihn, als er erkennt, dass der einfache Streifenpolizist sich den Schwarzen allein aufgrund seiner weißen Hautfarbe überlegen fühlt. Diese als natürlich empfundene Alltagsdiskriminierung deckt Gordimer in ihren späteren Geschichten immer wieder auf. In dieser Geschichte bleibt die Suche der Polizisten ergebnislos, sie haben, wie der Titel sagt, „kein Glück heute Nacht“.

Die Kurzgeschichte geht auf einen Vorfall zurück, den Gordimer als Kind miterlebt hatte. Eines Nachts wachte die Familie von Lärm und Geschrei im Hinterhof ihres Hauses auf: Die Polizei durchwühlte die Sachen der Hausangestellten, auf der (ebenfalls erfolglosen) Suche nach selbstgebrautem Bier. Gordimer war zwar erst zwölf Jahre alt, war sich dank ihrer Leseerfahrung aber recht sicher, dass die Polizisten das Grundstück ihrer Eltern nicht einfach so betreten durften. Natürlich hätte sie selbst damals nicht eingreifen können, aber es enttäuschte sie, dass auch ihre Eltern einfach nur danebenstanden und die Polizei nicht daran hinderten, ihre Angestellten zu demütigen. Diese Erfahrung löste in Gordimer einen Denkprozess aus. Sie begann, die Auswirkungen des Alltagsrassismus einerseits und ihre privilegierte Position andererseits zu erkennen, und in einem Interview berichtete sie Jahrzehnte später, dieses Unbehagen sei der Beginn ihres politischen Erwachens gewesen – was etwa ein Jahr später durch die Lektüre von Der Dschungel verstärkt werden sollte.

Interessant ist, dass Gordimer auch in der Fiktionalisierung gerade keinen weißen Idealisten, keinen Kämpfer gegen die Rassendiskriminierung zeichnet. Die Wortwahl des Ich-Erzählers ist abwertend, wenn auch nicht so offensichtlich beleidigend wie die Schimpfwörter der Polizisten, und auch er ist ganz bestimmt nicht frei von negativen Vorurteilen: Beispielsweise vergleicht er seine schwarze Bedienstete indirekt mit einem Affen. Zudem legt das Ende nahe, dass die Bedienstete sein Schweigen – er hatte das Bierversteck erkannt – wohl mit der Übernahme einer zusätzlichen Aufgabe wird bezahlen müssen. Auch das Handeln des Erzählers ist also eigennützig, aber dennoch erscheint er im Vergleich mit den Polizisten als aufgeschlossen. In dieser frühen Kurzgeschichte spricht der Ich-Erzähler die rassistische Überheblichkeit der Polizisten an einigen Stellen direkt an, aber schon hier lässt Gordimer die Figuren ihren Rassismus auch selbst entlarven, was in späteren Erzählungen typisch für ihren Stil wird. So offenbaren die Polizisten selbst die Scheinheiligkeit des Systems, denn es wird deutlich, dass es gar nicht darum geht, das illegale Bierbrauen wirksam zu unterbinden – vielmehr wolle man an den Geldstrafen verdienen.

Nachdem sie in den Jahren 1943 und 1944 insgesamt fünf Kurzgeschichten veröffentlicht hatte, beschloss Gordimer während des jährlichen Sommerurlaubs am Meer, endlich mit ihrem ersten Roman zu beginnen. Doch der Versuch, den Schreibprozess durch Selbstisolation am Ferienort zu erzwingen, misslang. Sie erkannte, dass sie mit Anfang 20 noch nicht genug Lebenserfahrung für die erzählerische Langform gesammelt hatte, dass ihr bisheriges Leben zu beengt gewesen war. Mit dieser Erkenntnis, so berichtet Gordimer, beendete sie den Schreibversuch und genoss stattdessen den Strandurlaub. Doch das Jahr 1945 sollte ihr eine weitere Horizonterweiterung bringen. Ihr platonischer Freund Philip Stein hatte ihr immer wieder gesagt, sie brauche mehr intellektuelle Anregung und müsse studieren, aber Nadines Eltern waren zunächst sehr skeptisch: Warum sollte man Geld für ein Studium bezahlen, wenn die Tochter vermutlich ohnehin demnächst heiraten würde? Schließlich gaben die Eltern jedoch klein bei.

Studium

Da Gordimer keinen Schulabschluss vorweisen konnte, kam ein reguläres Studium nicht in Frage, sie konnte sich aber an der Witwatersrand Universität (kurz Wits) in Johannesburg für eine Art Studium Generale im Bereich englischer Literatur einschreiben. Falls sie durch die Immatrikulation der geistigen Enge der Kleinstadt entfliehen wollte, so war es allerdings bestenfalls eine halbherzige Flucht, denn Gordimer wohnte weiterhin bei ihren Eltern und pendelte mit dem Zug nach Johannesburg. Gegenüber ihrem Biografen Roberts bewertete sie das Studium – rund 50 Jahre später – akademisch als Enttäuschung. Mit 22 Jahren sei sie deutlich älter als ihre Kommilitoninnen gewesen und habe dennoch ungleich mehr Leseerfahrung gehabt. Dennoch spielt Gordimer in dem Gespräch mit Roberts die Bedeutung dieser Phase wohl herunter, ob bewusst oder unbewusst. Die akademische Auseinandersetzung mit Literatur muss ihre Beobachtungsgabe geschärft und geschult haben, und Kurse in kreativem Schreiben müssen ihren Interessen entgegengekommen sein. Tatsächlich hatte sie der Cape Times im Jahr 1972 gesagt, sie habe an der Universität gelernt, die Texte anderer Autoren mit neuen Augen zu sehen und deren Struktur zu analysieren. Als Autor müsse man an den Punkt kommen, auch seine eigenen Texte kritisch zu hinterfragen, und ein Studium könne einem dabei helfen.

Zweifelsfrei hat die Zeit an der Universität Gordimer persönlich sehr geprägt, denn sie knüpfte viele wichtige neue Bekanntschaften im studentischen Milieu und auf den zahllosen Partys. So lernte sie den Dichter, Romancier, Dramatiker, Übersetzer und Herausgeber Uys Krige kennen, in dessen Zeitschrift eine ihrer Kurzgeschichten erschienen war. Krige hatte mehrere Jahre in Europa gelebt und zeitweise als Rugbytrainer, Schwimmlehrer und Kriegsreporter gearbeitet, und erschien Gordimer wie ein Idealbild des weltgewandten Künstlers, auf das es hinzuarbeiten galt. Stein hatte sie gewarnt, ein Treffen mit Krige werde sie komplett verändern. Der unmittelbare Effekt war dann wohl weniger dramatisch, aber die Begegnung bestärkte Gordimer offenbar sowohl in ihrer Abneigung gegen das kleinstädtische Milieu ihres Wohnorts, als auch in ihrem Ziel, Schriftstellerin zu werden.

Auch die Bekanntschaft mit Ruth Weiss – damals noch Ruth Löwenthal – geht auf diese Zeit zurück. Ruths Vater war bereits 1933 von Nürnberg nach Johannesburg emigriert, der Rest der Familie war ihm 1936 nachgefolgt, kurz bevor Südafrika die organisierte Immigration von Juden aus dem Deutschen Reich unterband. Ab 1944 arbeitete die damals zwanzigjährige Ruth in dem Buchladen Selected Books, den ihr späterer Ehemann Hans Weiss in Johannesburg betrieb. Gordimer gehörte zu dessen Kundinnen, und schon dort müssen sich die beiden Frauen begegnet sein. Viel miteinander gesprochen haben sie in dieser Zeit allerdings noch nicht, da Ruth bei den ersten Begegnungen noch völlig im Schatten des deutlich älteren, dominanten Hans Weiss stand, mit dem sie jahrelang in wilder Ehe lebte. Doch später sollte Ruth Weiss eine von Gordimers engsten Freundinnen werden.

Als Studentin traf Gordimer auch erstmals auf etwa gleichaltrige Schwarze, die nicht als Hausangestellte oder Bergleute arbeiteten, sondern gebildet und kulturell interessiert waren. Schon seit dem frühen 20. Jahrhundert gab es in Alice, einer Kleinstadt knapp 1.000 Kilometer südlich von Johannesburg, eine Universität nur für Schwarze, doch auch einige englischsprachige Universitäten erlaubten Schwarzen in dieser Zeit noch, zu studieren. So verfolgten die Universität von Kapstadt und die Witwatersrand Universität in den 1940er- und 1950er-Jahren eine relativ liberale Zulassungspolitik: Entsprechend qualifizierte Schwarze durften sich immatrikulieren, aber weder in den Studentenwohnheimen wohnen, noch am universitären Sozialleben – etwa Sport- oder Kulturveranstaltungen – teilnehmen. Dennoch war Wits auch vor 1959, als ein Gesetz die Rassentrennung an Universitäten verpflichtend vorschrieb, keine wirklich offene Universität, und schwarze Studierende stellten eine verschwindend kleine Minderheit dar. Beispielsweise war Nelson Mandela, der spätere Präsident Südafrikas, während seines Jurastudiums in Wits der einzige schwarze Student seiner Fakultät, und litt unter der alltäglichen Diskriminierung durch rassistische Kommilitonen. Somit war die Universität auch für Mandela akademisch eher eine Enttäuschung, persönlich aber ungemein wertvoll. In seiner Autobiografie Der lange Weg zur Freiheit erinnert er sich: „‚Wits‘ eröffnete mir eine neue Welt, eine Welt voll Ideen, politischer Überzeugungen und Debatten, eine Welt, in der Menschen leidenschaftlich an Politik interessiert waren. […] Ich traf zum erstenmal auf Menschen meines Alters, die sich dem Freiheitskampf fest verbunden hatten.“2 Auch Gordimer berichtet von linken Diskussionsgruppen, aber ganz so weit wie Mandela war sie in ihrer politischen Selbstfindung zu diesem Zeitpunkt noch nicht, und die beiden können sich an der Universität auch nicht begegnet sein, da Mandela Wits 1945 bereits wieder verlassen hatte.

Eine für Gordimer besonders wichtige Bekanntschaft war die mit dem vier Jahre älteren Ezekiel (später Es’kia) Mphahlele. Die beiden lernten sich durch eine gemeinsame Bekannte kennen, Nora Taylor, die den jungen Schwarzen während seiner Ausbildung zum Lehrer finanziell unterstützt hatte und ihn weiter förderte. Mitte der 40er-Jahre arbeitete Mphahlele bereits als Lehrer an der High School von Orlando, einem Ghetto für Schwarze am Rand von Johannesburg, das später Teil der Verwaltungseinheit South Western Townships, Soweto, werden sollte. Zusätzlich absolvierte er ein Fernstudium an der Universität von Südafrika in Pretoria, an der vor ihm auch Mandela seinen BA erworben hatte. Wie Gordimer hatte Mphahlele schon einige Kurzgeschichten veröffentlicht, seine Sammlung Man Must Live and Other Stories erschien 1946 in einem kleinen Verlag in Kapstadt, aber die Voraussetzungen und das Umfeld konnten unterschiedlicher nicht sein. Gordimer hatte dank der Unterstützung ihres Elternhauses die Muße, zu schreiben und nur zur persönlichen Horizonterweiterung zu studieren – und sie hatte immer freien Zugang zu Bibliotheken gehabt. Dagegen war Mphahleles Leben durch die Zwänge seines Berufs, durch die Enge der Wohnverhältnisse in Orlando, durch die Zusatzbelastung eines Fernstudiums und natürlich durch die ständige Diskriminierung aufgrund seiner Hautfarbe geprägt. Jahrzehnte später sollte Gordimer in ihrem Nachruf auf Mphahlele schreiben: „Er war der erste Schwarze den ich traf, mit dem ich etwas teilen konnte, was für uns beide fürchterlich wichtig war: unsere Begeisterung für das Schreiben.“3