Narben - Caroline Spector - E-Book

Narben E-Book

Caroline Spector

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Alinas Eltern, Ratgeber der Elfenkönigin Alachia, widersetzten sich einst dem höchsten Ratschluss und starben qualvoll durch blitzschnelles Altern. Alina schwört, diesem Schicksal zu entgehen, und schließt einen Pakt mit einem Dämon. Der Preis für ewige Jugend und Unverletzlichkeit ist hoch: sie entsagt der Liebe und empfindet fortan nichts als Gleichmut, Hass, Neid und Trauer. Bis sie Aithne trifft, den Blutelf und zärtlichen Gefährten ihrer Kindheit.

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Caroline Spector

Narben

Sechster Roman desEarthdawn™-Zyklus

Originalausgabe

Feder & SchwertBand 6

Übersetzung: Christian JentzschIllustrationen: Jeff LaubensteinRedaktion & Lektorat: Catherine BeckE-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993—2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623841

Inhaltsverzeichnis
Prolog
Teil 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
Teil 2
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
Teil 3
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.

Für Sam Lewis, der es darauf ankommen ließ.

Prolog

»Sag mir, wer es ist«, verlangte sie.

»Sag mir, warum du das wissen willst«, gab er zurück.

»Wenn ich dir das sagte, hätte ich keine Geheimnisse mehr, und du würdest dich langweilen«, hielt sie dagegen.

Er wälzte sich auf sie. Weiße Haut auf schwarzer. Als er in ihre Augen sah, dunkel wie die Nacht, schwarz wie ein verbittertes Gemüt, schauderte ihm, als wäre er von einem Dämon besessen.

»Du könntest mich nie langweilen«, sagte er in der Gewissheit, dass das die Wahrheit war. Zumindest im Moment.

»Dann sag es mir«, wiederholte sie, während sie seinen Kopf zu sich herunterzog. Er hauchte einen Namen auf ihre Lippen: Javan. »Aha«, sagte sie, »Javan.«

Er erwachte, als sich die ersten blassen Streifen des anbrechenden Tages über den Nachthimmel legten. Das Bett neben ihm war noch warm, doch sie lag nicht mehr darin. Aus den Schatten auf der anderen Seite des Zimmers drang ein schwaches Geräusch. Da sah er sie, ihr weißes Haar ein krasser Gegensatz zu ihrer dunklen Haut. Sie war in ein mit geometrischen Mustern in einer dunkleren Farbe besticktes graues Gewand gehüllt, das er noch nie an ihr gesehen hatte.

»Wohin gehst du?«, fragte er.

»Weg«, sagte sie abwesend, während ihre geschickten Hände fortfuhren, Gegenstände in ihren kleinen Rucksack zu packen.

»Ich komme mit«, sagte er, während er aufstand und nach seiner Kleidung griff.

»Ich glaube nicht.«

Er runzelte die Stirn. Die Kälte in ihrer Stimme, als unterhielte sie sich mit einem Fremden, machte ihn wütend.

»Ich gehe mit dir«, sagte er mit mehr Nachdruck.

»Nein.« Ihr Tonfall war ebenso entschlossen. »Und du wirst mir auch nicht folgen oder versuchen, mich hier festzuhalten, oder irgendeine andere Dummheit begehen, um mich aufzuhalten.«

Er setzte sich wieder, vollkommen überrascht angesichts ihrer plötzlichen Gleichgültigkeit. Als er sie jetzt betrachtete, war es, als sähe er sie zum ersten Mal. Schön war sie, ja, das wusste er, aber da war noch etwas anderes, das er bisher nicht hatte zur Kenntnis nehmen wollen. Oder vielleicht hatte sie es auch vor ihm verborgen. Eine Kälte an ihr, die ihn auf dem Bett erstarren ließ. Ihr Blick vermittelte keine Wärme – weder Leidenschaft noch Verachtung nur das Fehlen jeglichen Gefühls.

»Aber was ist mit uns?«, fragte er, wobei er sich dafür hasste, so schwach und jämmerlich zu klingen.

Da lächelte sie kaum merklich. Hätte er sie nicht so eingehend beobachtet, wäre es ihm vermutlich entgangen. Kein Lächeln des Sieges, sondern ein trauriges, wehmütiges Lächeln.

»Das ist eine Illusion, die du dir aufgebaut hast«, sagte sie.

»Gegen die du nichts unternommen hast.«

»Ja, so war es leichter. So ist es immer leichter.«

»Immer«, begann er. Ein furchtbarer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Es ging nur um diesen Dieb, Javan, stimmt’s? Ich werde ihm erzählen – was du tust ...«

Er hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sie zu ihm trat und die Luft über ihr zu schimmern und zu leuchten begann. In ihrer Hand erschien eine kleine Silbernadel, die sie sich mit einer raschen, geschickten Bewegung über das linke Handgelenk zog. Ein dünnes Blutband quoll aus dem Kratzer und blieb an der Nadel haften wie ein Faden. Dann flüsterte sie eine Beschwörung, während sie gleichzeitig Nähbewegungen vor seinen Lippen machte. Er spürte Mund und Zunge taub werden, als wären beide eingeschlafen.

Mit wachsendem Entsetzen flogen seine Hände an die Lippen. Seine Stimme war sein Kapital. Klatsch zu hören und weiterzugeben, die richtigen Fragen zu stellen, die richtigen Geschichten zu erzählen und dafür gut bezahlt zu werden. Sie hörte auf zu flüstern und sah ihn mit ihren nachtschwarzen Augen an.

»Die Wirkung dieses Zaubers hält mindestens ein Jahr und einen Tag lang an«, sagte sie. »Vermutlich wird Javan danach wenig Verwendung dafür haben, was du ihm erzählen könntest. Warum hast du mich nicht einfach gehen lassen?«

Er wollte schreien, weinen, irgendeinen Laut von sich geben, aber sein Mund war tot, nutzlos. Sie drehte sich um und nahm ihren Rucksack. Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, verließ sie das Zimmer. Er sank auf den Boden, die Hände vor den Mund geschlagen, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und sein Körper im Rhythmus seiner lautlosen Schluchzer erbebte.

Viel später fiel ein Schatten über ihn. Er sah auf in der Hoffnung, sie sei zurückgekehrt. Doch sie war nicht zurückgekehrt. Es war ein in kostbare Samtgewänder gehüllter hochgewachsener Mann. Seine Stimme war sanft und wunderschön, und er sagte, es gebe eine Lösung. Eine Möglichkeit, sich von dem Zauber zu befreien. Dann sah er die glänzende Klinge in der langfingrigen Hand des Mannes. Und dann lag die Klinge in seiner eigenen Hand, und er wusste genau, was er zu tun hatte, als er sie in die dünne Haut seines Handgelenks presste.

Teil 1

1.

»Wie viel gibst du mir dafür?«, fragte Javan.

Misha betrachtete die Juwelen, die Javan vor ihm ausgebreitet hatte. Seine klobigen Finger liebkosten die gefassten Steine, wie ein Blinder eine Katze streicheln würde. Er nahm aufs Geratewohl einen der Steine, hob ihn an die Lippen und biss hinein. Das Metall gab unter dem Druck seiner gelblichen Zähne ein wenig nach. Er grunzte und warf den Stein wieder auf den Haufen.

»Ich will sie nicht«, sagte er.

»Was?« Javan griff sich das Stück, das Misha begutachtet hatte, und hielt es dem Händler vor das Gesicht. »Das sind die besten Juwelen, die du je gesehen hast. Sieh dir doch nur die Verarbeitung an – ganz eindeutig aus der Zeit vor der Plage. Die Farben der Steine – sieh nur, wie sie das Licht einfangen.«

Javan hielt das Schmuckstück hoch, so dass es im Lampenschein leuchtete. Obwohl es in Märkteburg helllichter Nachmittag war, drang die Sonne nicht in Mishas Zelt. Die rotweißen Steine fingen das Licht ein und reflektierten es auf die beiden Männer. Javan hörte Misha nach Luft schnappen.

»Der Wert der Juwelen steht außer Frage«, sagte der Händler brüsk. »Du weißt ebenso gut wie ich, dass Juwelen wie diese viel zu teuer sind. Sie können einen Mann leicht das Leben kosten.«

Mishas Finger strichen über die Halskette, dann über den Armreif und den Ring. Bedauern und Habgier flackerten über sein Gesicht, doch nur für einen Augenblick. Er nahm die Schmuckstücke in beide Hände und ließ sie in Javans alten Lederbeutel gleiten.

»Versuch dein Glück anderswo, Javan«, sagte er. »Auch wenn du ein noch so guter Freund bist, ich kann mir den Preis, den du dafür verlangst, einfach nicht leisten.«

Verärgert verließ Javan Mishas Zelt und augenblicklich drang der Lärm Märkteburgs auf ihn ein. Provisorische Verkaufsstände und Zelte säumten die enge Straße, bunte Tücher wetteiferten miteinander um die Aufmerksamkeit des Fußgängerstroms. Der stechende Geruch nach ungewaschenen Leibern und Dung hing in der schwülheißen Nachmittagsluft.

Es dauerte immer ein paar Tage, bis Javan sich an den Lärm und die vielen Menschen gewöhnte. Als einer, der viel Zeit allein verbrachte, entsetzte ihn immer wieder die Erkenntnis, wie laut, übelriechend und ruppig die Leute waren. Er drängte sich durch die Menge, weg vom Marktplatz und zur anderen Seite der Stadt hinüber. Misha war nicht der einzige Händler in Märkteburg. Javan kannte noch einen anderen, der mit Gegenständen handelte, wie er sie zum Verkauf anbot, und der ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

»Ah, Javan, wie schön, dich wiederzusehen«, sagte Kraag mit öliger Stimme, während sich sein lederiges Gesicht zu einem Grinsen verzog. Der Ork, dessen enorme Körperfülle in einen auf den Umfang von Menschen zugeschnittenen Sessel gezwängt war, erhob sich nicht von seinem Platz. Kraag war der einzige fette Ork, den Javan je kennengelernt hatte, aber Javan ließ sich davon keine Sekunde lang täuschen und blieb auf der Hut. Schließlich war der Händler für seine Schnelligkeit und Tödlichkeit im Umgang mit der Garrotte bekannt.

Javan lächelte zur Erwiderung, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht.

»Es war nett von dir, mich zu empfangen, Kraag.« Javan setzte sich an den kleinen runden Tisch im Hinterzimmer des Ladens. Kein Luftzug wehte, es war stickig, was wenig dazu beitrug, Javans starke Abneigung gegen überfüllte enge Räume zu mildern.

Kraags kleiner Laden war etwas Besonderes in Märkteburg, in dem es von provisorischen Geschäften wie dem von Misha wimmelte – kaum mehr als Zelte, die sich in den überfüllten, gewundenen Sträßchen aneinanderdrängten. Es war ein Beleg für Kraags Schlauheit, dass er es geschafft hatte, einen festen Laden zu erwerben und zu behalten.

»Du hast also etwas zu verkaufen«, stellte Kraag fest.

Javan nickte und hob sein Hemd an, um den Beutel loszubinden, der an seiner Hüfte befestigt war. Er nahm den Beutel und ließ die Juwelen wie glitzernde Schlangen auf den Tisch kullern. Kraag seufzte leise, als er eine seiner großen grünlichen Hände ausstreckte, um die Juwelen zu berühren.

»Wunderbar«, sagte er. »Einzigartig. Wo, sagtest du, bist du darüber gestolpert?«

Javan lachte. Die Juwelen mussten ziemlichen Eindruck auf Kraag gemacht haben, dass er so direkt war.

»Ach, hier und da«, sagte Javan lässig abwinkend. »Ich finde eben Sachen. Du weißt ja, wie das ist.«

Kraag hob den Blick von den Juwelen und starrte Javan mit derartiger Bosheit in den gelblich-grünen Augen an, dass Javan erschrak und ihn trotz der Hitze ein kalter Schauer überlief. Dann war die Gefahr so plötzlich vorbei, wie sie gekommen war. Kraag war wieder der wohlgenährte Kaufmann und kein furchterregender Mörder. Doch die Kälte wollte nicht aus Javans Knochen weichen.

»Bist du interessiert?«, fragte Javan, dessen Hals so trocken war, dass die Worte als heiseres Krächzen herauskamen.

Kraag lächelte dünn. »Javan, du weißt, wie sehr mir deine Ware gefällt – die Sachen sind immer einzigartig –, aber ich fürchte, dieser Posten ließe sich zu schwer verkaufen.«

Das Unbehagen, das Javan ohnehin bereits empfand, verstärkte sich. Zuerst Misha und jetzt Kraag. Das war mehr als seltsam. War hier noch etwas anderes im Spiel?

»Ich verstehe das nicht«, sagte er zögernd, kühl. »Ich weiß, dass dir im letzten Jahr nichts auch nur annähernd so Gutes unter die Augen gekommen ist. Weißt du etwas über diese Juwelen?«

Kraag lehnte sich zurück. Seine Augen hatten die trübe Farbe von Eiter angenommen, während Javans Unbehagen plötzlich in etwas Wildes und Unbeherrschbares umzuschlagen drohte.

»Ach, Javan, sicher, du warst wie ein Bruder für mich«, begann Kraag, »aber ich fürchte, du hast dich in ziemliche Schwierigkeiten gebracht.«

»Was meinst du damit?«

»Tatsächlich hast du trotz allem Glück«, fuhr der Ork fort, als hätte Javan nichts gesagt. »Jeder andere wäre mittlerweile längst tot. Diese Klunker sind ziemlich bekannt.«

Kraag hielt einen Augenblick lang inne. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte, aber in der Geste lag keine Freude.

»Du weißt wirklich nicht, was das für Juwelen sind?«, fragte Kraag, während er die Halskette aus roten und weißen Steinen nahm. »Die Kette hier«, sagte er, die Juwelen hochhaltend, sodass sich das trübe Licht darin fing, »gehörte einem wohlhabenden throalischen Kaufmann, der sie zur Hochzeit seiner Tochter anfertigen ließ. Die Hochzeit fand nicht statt und das arme Mädchen verzweifelte. Wurde regelrecht verrückt – eigentlich nicht das, was man von Zwergen erwartet, möchte ich hinzufügen. Jedenfalls fielen die Kette und diese anderen Juwelen schließlich in die Hände eines der Neffen von König Varulus, dem du sie auch gestohlen hast. Und ich kann dir sagen, dass er nicht sehr erfreut darüber ist.«

Javan riss Kraag die Kette aus der Hand und stopfte sie in seinen Lederbeutel. Mit raschen Bewegungen schaufelte er die anderen Schmuckstücke ebenfalls wieder in den Beutel. Kraag erhob sich, schob den Tisch dabei vorwärts und nagelte den Dieb damit gegen die Wand. Er bleckte seine spitzen Zähne zu einem Knurren.

»Sei nicht dumm, Javan«, sagte er. »Gib mir den Beutel. Varulus’ Neffe sucht dich überall. Bis jetzt sind Misha und ich die Einzigen, die wissen, dass du die Juwelen hast. Misha ist dein Freund, er wird es nicht weitererzählen. Gib sie mir und ich sorge dafür, dass du am Leben bleibst. Aber nur, wenn du mir keinen Ärger machst ...«

Javan stieß den Tisch gegen Kraag und rannte zur Hintertür des Ladens hinaus. Er lief die Gasse entlang, wobei ihm die heiseren Schreie des Orks in den Ohren hallten. Die Nacht war hereingebrochen und Javan stieß im Laufen gegen die Zelte zu beiden Seiten der engen Gasse. Schreie erhoben sich aus den Zelten, da einige von ihnen umstürzten. Javan rannte einfach weiter, da er wusste, dass ihm Kraag auf den Fersen war. Rechts vor ihm tat sich ein schmaler Durchgang auf und er tauchte hinein.

Javan sammelte die Dunkelheit um sich wie ein paar Freunde und verschmolz mit ihr. Er zog seinen Dolch und hielt dann den Atem an, um sein krampfhaftes Keuchen zu unterdrücken. Einen Augenblick später hörte er Kraags Schritte. Der Ork versuchte sich lautlos anzuschleichen, hatte jedoch keinen Erfolg damit. Stattdessen klangen seine Bewegungen mehr wie das Poltern eines Bären in der Gasse. Javan ließ Kraag vorbei und trat dann rasch hinter ihn.

Er schlang den linken Arm um den Hals des Orks und riss den Kopf nach hinten. Kraag griff nach Javans Arm, doch der Dieb war zu schnell für ihn und schlitzte dem Ork mit einer flüssigen Bewegung den Hals von einem Ohr zum anderen auf. Warmes Blut spritzte durch die Nacht, tintenschwarz und süßlich. Kraag gurgelte, dann sank er auf die Knie und tastete mit den Händen nach der durchschnittenen Kehle. Scheußliche, gurgelnde Laute drangen aus der Wunde, als versuche es der Ork mit einer letzten flehentlichen Bitte. Dann griffen seine klobigen dicken Hände nach Javan, wobei sie sich krampfhaft zuckend zu Fäusten ballten. Einen Augenblick später fiel er mit einem jämmerlichen Keuchen vornüber und rührte sich nicht mehr.

Javan betrachtete leidenschaftslos Kraags Leiche. Die Diebesmagie wallte jetzt heiß in ihm auf. Der Ork war ihm gleichgültig, alles war ihm gleichgültig, außer die Juwelen zu behalten und zu entkommen.

Nachdem er das Blut an den Händen so gut wie möglich an dem Gewand des Orks abgewischt hatte, durchsuchte er rasch und gründlich die Taschen des Orks. Doch er fand lediglich einen Beutel mit Münzen, von denen keine besonders wertvoll war. Die Frage lautete jetzt, wohin er sich wenden sollte. Es würde nicht lange dauern, bis Kraags Abwesenheit auffiele, und Javan war beim Betreten von Kraags Geschäft gesehen worden. Selbst der Rat der Kaufleute, eines zerstrittenen Haufens, würde nicht zögern, den Beschluss zur Verfolgung zu fassen. Glücklicherweise war die Stadtwache unterbesetzt, was Javan genug Zeit ließ, aus Märkteburg zu verschwinden.

Die Nacht war mondlos und dunkel, nur die Sterne schienen am Himmel. Javan konnte immer mehr von ihnen sehen, während er sich dem Stadtrand näherte. Die Wachen waren unterwegs, doch sie waren unbeholfen und laut, und so konnte er ihnen mühelos ausweichen. Lautlos und allein glitt er mit einem Gefühl der Verachtung für jene, die im Licht lebten, von Schatten zu Schatten. Die Straßen waren jetzt breiter und Javan dankte im Stillen dem Mond dafür, dass er sein Gesicht verborgen und ihm dadurch geholfen hatte.

Während Javan durch das Gewirr von Märkteburgs Straßen schlich, stahl er, was er konnte. Er hatte die Absicht gehabt, den Erlös der Juwelen dazu zu benutzen, seine Laufbahn als Dieb zu beenden und sich zur Ruhe zu setzen, aber offenbar war die Magie noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Und hier war er nun, mitten in der Nacht, und stahl, was er konnte, wie ein gewöhnlicher Dieb. Doch der Magie war das gleichgültig, sie wollte nur nehmen.

In der Stille der Nacht fand Javan einen abgeschiedenen Fleck, weit von der aus Märkteburg hinausführenden Hauptstraße entfernt. Er wickelte sich in eine gestohlene Decke, aß sein ebenso gestohlenes Mahl und legte sich dann schlafen.

Als er erwachte, stand die Sonne noch nicht hoch am Himmel. Javan lag da, starrte in das Blätterdach und versuchte sich zu erinnern, wie er hergekommen war. Es dauerte einen Augenblick, aber dann fiel ihm alles wieder ein. Er schlug die Decke zurück und wollte aufspringen, als ihn eine Stimme erstarren ließ.

»Ich halte es für besser, wenn du einstweilen bleibst, wo du bist.«

Javan setzte sich auf und betrachtete die Besitzerin der Stimme, eine Elfe, die nur ein paar Ellen entfernt vor ihm stand. Sie trug ein graues Gewand, dessen Stoff von erlesener Güte war und über dessen Säume und Manschetten sich Muster schlängelten, die immer mehr zu verschwimmen schienen, je länger er sie anstarrte.

Als sein Blick zu ihrem Gesicht wanderte, stellte er fest, dass sie sein Starren erwiderte, ohne mit der Wimper zu zucken. Zwar war Javan jetzt seit fast fünfundzwanzig Jahren ein Dieb und hatte in dieser Zeit viel begehrt, aber noch nie hatte er sich so nach einer Person gesehnt, wie er sich nach Gold und Juwelen gesehnt hatte – wie er sie begehrte. Dann erwachte der Adept in ihm und erinnerte ihn daran, dass er niemanden brauchte – dass er sich nahm, was er wollte. Dennoch verließ ihn das Verlangen nicht.

Ihre Haut war schwarz – nicht dunkelbraun, sondern wie aus Ebenholz gemeißelt. Ihr weißes Haar stand dazu in scharfem, fast erschreckendem Gegensatz. Sie trug es lang und auf dem Rücken zu einem dicken Knoten zusammengebunden. Ihre Augen – kalt und so schwarz wie ihre Haut – hielten seinem Blick stand.

»Wer bist du?«, fragte er.

»Aina«, antwortete sie.

»Was tust du hier?«

»Ich brauche deine Hilfe.«

2.

Javan lachte, aber es war weder Vergnügen noch Humor, was ihn dazu bewegte. Die Elfe sagte nichts, sondern starrte ihn nur weiter mit dieser unergründlichen Miene an.

»Du willst meine Hilfe«, sagte er schließlich. »Warum?«

»Das ist unwichtig«, erwiderte sie. »Die Frage ist, bist du bereit dazu?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst.«

»Natürlich, wie dumm von mir«, sagte die Elfe, obwohl Javan den Verdacht hatte, dass sie alles andere als dumm war. »Es gibt einen Gegenstand, der mir wichtig ist und sich augenblicklich im Blutwald befindet. Du sollst ihn mir wiederbeschaffen.«

Javan versuchte seine Überraschung zu verbergen, indem er ein abgefallenes Blatt aufhob und es mit raschen Bewegungen zerpflückte. »Warum gehst du nicht einfach selbst in den Blutwald und holst ihn dir zurück?«, fragte er. »Seid ihr Elfen nicht alle eine große Familie?«

Mit nicht geringer Befriedigung sah Javan, wie sich bei seinen Worten ihre Lippen spannten. Es war immer von Vorteil, die Schwächen von Leuten auszuloten. Man wusste nie, wann sich daraus Kapital schlagen ließ.

»Wenn ich ihn selbst holen könnte«, sagte sie, »hätte ich wohl kaum Bedarf für deine Dienste, oder? Aber ich kann dir verraten, wo sich der Gegenstand befindet, und dir dabei helfen, zu ihm zu gelangen.«

»Und wenn ich diesen Gegenstand für dich hole, was bekomme ich dafür?«

»So viel Gold, dass du dich zur Ruhe setzen kannst. Ich hörte, das sei dein Motiv gewesen, als du dem Neffen des Zwergenkönigs diese Juwelen gestohlen hast.«

Javans Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Woher weißt du das?«

Aina lächelte. »Wenn ich dir das verriete, hätte ich keine Geheimnisse mehr, und du würdest dich langweilen. Es reicht, wenn ich sage, dass du nicht immer so vorsichtig bist, wie du glaubst. Kraag zu töten, war ungeschickt. Seine Leiche nicht verschwinden zu lassen, sodass sie gefunden werden konnte, war noch schlimmer.«

»Was weißt du darüber?«

Die Elfe lehnte sich gegen einen Baum und verschränkte die Arme, während ihr Lächeln selbstgefälliger und wissender wurde.

»Es ist das Blut«, sagte sie. »Das ist immer verräterisch. Wirst du mir jetzt helfen?«

Javan stand auf und wischte sich verwelkte Blätter von der Hose. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Du hast zu viele Geheimnisse für meinen Geschmack.«

»Und du nicht? Überleg dir, was ich dir anbiete. Die Gelegenheit, deine glänzende Laufbahn beeindruckend zu Ende zu bringen.«

»Du vergisst, dass ich ein Dieb bin – uns liegt nicht das Geringste daran, den Leuten zu erzählen, was wir im Leben erreicht haben.«

»Du wirst es zu schätzen wissen.«

»Was ist so beeindruckend daran, etwas aus dem Blutwald zu stehlen?«

»Das macht es ja so aufregend. Weißt du, der Gegenstand, den ich haben will, befindet sich gegenwärtig im Besitz von Königin Alachia und in ihrem Palast.«

Javan hörte auf, seine Habseligkeiten aufzusammeln, und starrte Aina fassungslos an. »Ich soll in den Palast der Elfenkönigin einbrechen? Bist du verrückt? Oder vielleicht von einem Dämon besessen?«

Die Augen der Elfe verengten sich und ihre Miene wurde abweisend.

»Ich bin weder verrückt noch besessen«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, als könnte sie sie kaum noch beherrschen.

In diesem Augenblick ertönte irgendwo im Süden ein Schrei, und sowohl Aina als auch Javan drehten sich danach um. Dann hörten sie Geräusche, als bahne sich jemand einen Weg durch das dichte Unterholz des Waldes.

»Ich glaube, sie sind hinter dir her«, sagte sie.

Die Elfe hatte sich lautlos bewegt und stand jetzt dicht hinter Javan, so nahe, dass er sie berühren konnte, wenn er die Hand ausstreckte. Sie strahlte eine ungeheure Hitze aus, die ihn wärmte und das Begehren wieder in ihm anfachte. Er wollte sie berühren. Doch die Geräusche der Männer, die durch den Wald stürmten, kamen immer näher und so gewann die Magie die Oberhand. Lauf, sagte sie. Lass sie zurück.

Aina lächelte, als könnte sie seine Gedanken lesen.

»Wegzulaufen würde uns nichts nützen. Sie sind fast da.« Sie drückte ihn nieder, dann bückte sie sich und hob eine Handvoll brauner Erde auf. Die Luft in ihrer Umgebung fing an zu schimmern, als sie ihm ein wenig davon auf die Brust rieb. Sie stieß seltsame kehlige Laute aus.

»Beweg dich nicht, sonst durchbrichst du den Zauber«, sagte sie, dann bestreute sie ihn mit ein paar Blättern. Ein Augenblick verstrich, in dem sie sich neben ihn auf den Boden legte, sich mit Blättern bedeckte und die Gesten des Zaubers wiederholte. Javan starrte sie ungläubig an, als ihre Gestalt zu verblassen schien und dann mit dem Boden verschmolz.

Er hörte einen gemurmelten Fluch, dann stürmte eine Gruppe von vier Zwergen auf die Lichtung, die sowohl gut bewaffnet als auch sehr zornig aussahen. Javan glaubte, einen der vier zu kennen. Dann erinnerte er sich: Tiber Flammenbart. Wie hatte er das vergessen können? Aber es war schon so lange her, als sie beide noch viel jünger gewesen waren.

»Hier ist er nicht«, knurrte einer der Zwerge. Sein Haar war grellrot und stand wie ein Gebüsch von seinem Kopf ab. »So dicht bei der Stadt hätte er nicht gerastet. Wahrscheinlich ist er inzwischen schon auf halbem Weg nach Travar.«

»Warum gehen wir dann in Richtung Fluss?«, fragte ein anderer Zwerg. Dieser hatte eine rosaweiße Hautfarbe und hellblondes Haar. Seine Augen waren milchig blau.

»Weil«, sagte der rothaarige Zwerg, »Kender uns hierher geschickt hat, du Narr. Und wir setzen die Verfolgung fort, bis wir den Dieb gefunden oder das Ende der Welt erreicht haben.«

Die beiden Zwerge, die geschwiegen hatten, sahen einander an und schnitten eine Grimasse. Sie waren braun. Braune Haare, braune Augen, braune Hautfarbe. Als seien sie aus Walnussschalen geschnitzt worden. Die Zwerge stritten sich noch ein paar Minuten lang, dann stampften sie in nördlicher Richtung davon. Javan stieß einen tiefen Seufzer aus.

Die Elfe richtete sich auf, und jetzt sah er sie wieder deutlich. Sie wischte sich die Blätter vom Gewand. Eines steckte in ihrem Haar und Javan streckte den Arm aus, um es herauszuziehen. Die Bewegung lockerte den Knoten in ihrem Haar, sodass seine Hand einen Augenblick lang in die weiche Fülle einsank, bevor sie sich ihm entzog und sich die Haare neu zusammenband.

»Diese Zwerge stehen im Sold von Kender, König Varulus’ Neffen«, sagte sie. »Er ist ziemlich gierig. Es geht ihm gar nicht so sehr darum, was er hat, Hauptsache, er hat es. In seinen Augen hast du ihm nicht nur etwas gestohlen, woran ihm etwas liegt, sondern du hast ihn auch der Anwesenheit der Juwelen beraubt. Aber ich bin sicher, du weißt selbst alles über Gier.«

Javan zuckte die Achseln, da er nicht antworten wollte. Er fegte den Haufen Blätter von seinem Rucksack, der einen erbärmlichen Anblick bot. Das Einzige, was er auf der ganzen Welt besaß, waren die paar Sachen, die er letzte Nacht gestohlen hatte. Es machte ihn nur noch wütender, als er daran dachte, dass um seine Taille ein Vermögen in Juwelen geschnallt war, die er vielleicht nie würde verkaufen können.

Aina überquerte die Lichtung und betrat den Wald. Javan beobachtete sie, wie sie zu einem Gebüsch ging und ihren mittelgroßen Rucksack hervorholte. Als sie ihr Gewand ein wenig anhob, um wieder zur Lichtung zurückzukehren, sah Javan ihre Beine. Elfenbeine, lang und muskulös, als hätte sie viel Zeit mit Laufen verbracht. Er fragte sich, ob sie sie ihm absichtlich zeigte.

»Wenn ich dir bei der Beschaffung dieses Gegenstands helfe, wie viel würdest du mir dafür bezahlen?«, fragte er.

Sie lächelte dünn. »Die Juwelen, die du um deine Taille geschnallt hast«, begann sie. »Ich kenne jemanden, der sie mit Freuden kaufen würde. Und ich könnte dafür sorgen, dass Kenders Interesse an ihnen nachlässt.«

»Und wie willst du das schaffen?«

»Das ist mein Geheimnis«, sagte sie. »Aber hast du eine andere Wahl?«

Javan betrachtete sie eine Weile, wobei er seine Möglichkeiten abwog. Dann sagte er: »Welchen Gegenstand soll ich dir wiederbeschaffen?«

3.

Aina zögerte mit der Antwort. Sie wusste, dass sie Javan jetzt hatte. Die Habgier, die sie in seinen Augen gesehen hatte, war so stark wie erwartet. Und da war auch noch eine andere Gier, die sie ausnutzen konnte, wenn er ihr Schwierigkeiten machte. Obwohl Aina hoffte, dass es dazu nicht käme. Die losen Enden in derartigen Verknüpfungen waren unausweichlich lästig und unschön.

Ihr Gesicht verzog sich zu einem raubtierhaften Grinsen. »Ich wusste, du wirst mir helfen«, sagte sie. »Der Gegenstand, den du beschaffen sollst, ist ein Medaillon aus kostbarem Holz und Silber. Im Innern des Medaillons sind zwei Porträts, eines von einem Elfenmann, das andere von einer Frau. Sie ist so hell wie ein Sommertag. Er ist ihr genaues Gegenteil ... dunkel wie eine Winternacht.«

Ainas Stimme wurde weicher, als sie das Medaillon beschrieb. Offenbar war ihr nicht bewusst, dass sie Gefühle zeigte. Doch Javan stellte die Tatsache fest und hortete sie wie ein Geizhals.

»Waren sie wichtig für dich?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie, als rede sie von Fremden.

»Warum interessierst du dich dann so für dieses Medaillon?«, hakte er nach. »Du machst dir diese Umstände, nur um etwas zu bekommen, das unwichtig sein soll. Das ergibt keinen Sinn.«

Ainas Augen verengten sich. »Mein Interesse an dem Gegenstand geht dich nichts an. Du wirst für deine Hilfe gut bezahlt. Ich schulde dir keine Erklärungen.«

Dann wandte sie sich ab und marschierte los. Javan schüttelte die Blätter von seiner Decke, rollte sie zusammen und folgte ihr. Im Kielwasser der Zwerge, die Kender ihnen nachgesandt hatte, kamen sie an diesem Tag gut voran. Aina runzelte die Stirn beim Anblick der Kerben, welche die Zwerge in Bäume und Büsche gehackt hatten, während sie sich einen Weg durch den Wald bahnten. An einigen Stellen hatten sie sogar große Stücke aus der Rinde herausgehauen, an denen sie sich offenbar zu orientieren hofften, falls sie sich im Wald verirrten, sodass sie zumindest den Rückweg fanden.

»Zwerge haben nicht viel für Wälder übrig«, sagte Javan. Er folgte immer noch Aina, deren Schritt länger war als seiner.

Ihre Antwort bestand aus einem nichtssagenden Laut, was Javan noch mehr verwirrte als ihr Schweigen. Sie war wie ein Schloss, dessen Geheimnisse ihn lockten und herausforderten, den richtigen Schlüssel zu finden und sie zu öffnen. Waren in jenem Schweigen Schätze verborgen? Oder nur eine verstaubte Leere? So oder so, er war fest entschlossen, es herauszufinden.

»Wurdest du im Blutwald geboren?«, fragte Javan. Der Himmel hatte eine fahle blaugraue Farbe angenommen und die Dämmerung brach herein. Aina und er machten sich inmitten der Äste eines großen Baumes zu schaffen, da sie sich auf die Nacht vorbereiteten. Im Augenblick spiegelten sich auf Javans Miene ernste Zweifel wider, während er die Hängematte begutachtete, die sie dadurch hergestellt hatte, dass sie seine Decke zwischen zwei Ästen befestigte.

Seit Stunden bedrängte er sie mit dieser Art von Fragen und er hatte nicht mehr aus ihr herausbekommen als ihren Namen. Aina wich den Fragen immer wieder geschickt aus, aber er war hartnäckig. Doch es waren weniger die Fragen, die sie störten, sondern die Gefühle, die sie aufrührten. Gefühle, die ein Unbehagen in ihr wachriefen, das wie ein schweres Gewicht auf ihrem Gemüt lastete.

»Nein«, sagte sie schließlich, »ich wurde nicht im Blutwald geboren.«

»Wo wurdest du dann geboren?«

Da überfiel sie die Erinnerung und sie war ihr wehrlos ausgeliefert.

Wind, der durch die Bäume pfeift und dabei seufzt wie ein kleines Kind, das langsam einschläft. Der Himmel war strahlend blau, wenn sie ihn durch das dichte Blätterdach sah. Wie die Augen ihrer Mutter. Aina hatte seit Jahren nicht an ihre Mutter gedacht. Doch hier lächelte sie das Gesicht ihrer Mutter an, kristallklar und so strahlend wie der Tag. Die Zeit hatte den Bildern nichts von ihrer Schärfe genommen. Aina versuchte zu vergessen, doch das Bild ihrer Mutter ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Ich will nicht darüber reden, wo ich geboren wurde«, sagte sie, und die Bewegungen, mit denen sie die Hängematte für sich selbst einrichtete, wurden schroff und ungeduldig. Sie zwang sich zur Ruhe, zur Entspannung, doch ihre Hände zitterten.

Javan bedachte sie mit einem Lächeln, doch sie erwiderte es nicht. Er wusste, dass ihr seine Fragen unangenehm waren, und das beunruhigte sie. Sie brauchte den Dieb, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass er sich ihr so stark zuwandte. Bisher hatte sie diese Dinge immer im Griff gehabt. Plötzlich hatte es den Anschein, als könnte ihr die Angelegenheit aus der Hand gleiten.

Und vergiss nicht, wohin du unterwegs bist, sagte eine innere Stimme zu ihr. Als könnte sie je vergessen, was an einem Ort geschehen war, der nur ein paar Tagesreisen östlich von ihnen lag. Sie hatte alles versucht, niemals dorthin zurückzukehren, aber irgendetwas schien sie unwiderstehlich anzuziehen. Dann verdrängte sie diese Erinnerung ebenfalls.

Aina zwang sich, Javan zuzulächeln. Es war ein verführerisches Lächeln, das ihn ablenken sollte. Und das tat es. Mit unerwarteter Schüchternheit wich er ihrem Blick aus. Aina band die Seile fest, die ihre Decke zwischen den Ästen des Baumes hielten, auf dem sie fünf Schritt über dem Boden die Nacht in diesen improvisierten Hängematten verbringen würden.

Der Waldgeruch spülte noch mehr Erinnerungen an die Oberfläche. Der warme, erdige, mit einer Spur Fäulnis durchsetzte Duft erinnerte sie nur allzu lebhaft an Orte, die sie vergessen wollte. Gleichzeitig spürte sie eine Sehnsucht in sich – doch wonach? Sie war nicht sicher, ob sie es wissen wollte.

In ihm spürte sie ebenfalls eine Sehnsucht, gierig und verzehrend. Was er wollte, nahm er sich. Wäre es doch für sie auch so einfach gewesen.

Sie war nicht so dumm, sich in der Vergangenheit zu verstricken – eine Falle, die sie, wenn möglich, umsichtig mied. Für sie war die Vergangenheit ein Gefängnis für den Geist, und sobald sie es betrat, würden sich die Gitter für immer um sie schließen.

Die Hängematte umfing sie, und ihr sanftes Schaukeln beruhigte sie. Aina trieb zu jenem schattenhaften Ort zwischen Traum und Wirklichkeit. Und da überfielen sie wie immer die Bilder.

Sie stand allein auf einem kahlen Feld. Die Plage war vorbei, aber die Welt war immer noch mehr tot als lebendig. Im Kaer hinter ihr lagen die Leichen aller, die sie von früher her kannte. Sie war bei ihnen im Kaer geblieben, nachdem sie schon lange tot waren, bis ihr Fleisch geschrumpft und von den Knochen abgefallen war. Bis die Knochen auseinanderfielen und sie sich nicht einmal mehr an die Gesichter erinnern konnte. Was blieb, waren die Erinnerungen an ihr verwesendes Fleisch und an ihre glatten weißen Knochen.

Als sie die Einsamkeit schließlich aus dem Kaer trieb, war die Welt, die sie draußen vorfand, unfruchtbar, ausgedörrt und riesig. So offen nach der langen Zeit unter der Erde. Das ängstigte sie fast ebenso sehr wie das, was im Kaer geschehen war, aber sie nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken. Sie würde es aus ihrem Bewusstsein verdrängen.

Dann war er da wie immer. Sie nahm ihn nur aus dem Augenwinkel wahr. Doch seine Anwesenheit war wie der süßliche Verwesungsgeruch, den ihre Freunde verströmt hatten. Er erfüllte sie, hielt sie und durchdrang sie, bis sie nicht mehr wusste, wo sie begann und er endete.

»Hattest du wirklich gedacht, wir seien miteinander fertig?«, fragte er.

Aina schloss die Augen und gab vor, ihn nicht zu hören. Er lachte, als sei dies ein Trick, an den er sich längst gewöhnt hatte. Dann erklang seine Stimme in ihrem Verstand und war wirklicher als ihre eigenen Gedanken.

»Es war nett von dir, zu bleiben und über ihre sterblichen Überreste zu wachen, obwohl ich glaube, dass es ihnen jetzt ziemlich gleichgültig sein dürfte«, sagte er.

»Sei still«, bat sie. Oder glaubte es zu sagen. Die Stimme in ihrem Verstand streichelte, bohrte und berührte sie auf eine Art und Weise, die sie hasste. Sie drang in sie ein und sie konnte sich nicht dagegen wehren.

»Wie war deiner Meinung nach das Sterben für sie?«, fragte er.

»Jeder stirbt irgendwann«, schnappte sie.

»Nein«, sagte er, »nicht jeder.«

Aina schreckte auf. Das Gewand klebte ihr am Rücken und ihr war unerträglich heiß. Durch die Blätter sah sie den fahlen Himmel. Es war kurz vor Morgengrauen. Der Wald war still und ruhig, als gäbe es dort keinerlei Leben. Sie spürte ihr Herz klopfen und glaubte, der Traum werde sie ewig heimsuchen. Leise glitt sie aus der Hängematte und kletterte auf einen tieferen Ast. Ein Blick auf den Boden ließ sie erstarren. Dort unten stand eine Gestalt neben dem Stamm des Baumes. Sie wusste, wer es war. Offenbar hatte er sie wieder eingeholt. Ihre Beine fühlten sich schwach an, während der übrige Körper plötzlich bleischwer wurde. Ein entsetztes Stöhnen entrang sich ihren Lippen und sie schloss die Augen.

»Was ist los?«

Das war der Dieb. Ihr Stöhnen hatte ihn aufgeweckt. Sie zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Niemand stand unten auf dem Boden. Die Erleichterung, die sie daraufhin überflutete, machte sie schwach und zittrig.

»Fehlt dir etwas?«

Aina starrte auf die Stelle, wo die Gestalt gestanden hatte, und wandte sich dann an den Dieb.

»Nein, es ist nichts«, sagte sie. »Mir fehlt nichts ... Nichts.«

4.

»Lass mich reden«, sagte Aina in scharfem, abgehacktem Tonfall.

Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und näherten sich jetzt einem kleinen Dorf, wobei die Anspannung in Aina offenbar mit jedem Schritt zunahm. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Furcht, als hielte sogar der Boden, auf dem sie gingen, Schrecken bereit. Sie spähte in den dichten Wald zu beiden Seiten der Straße, als erwarte sie jeden Augenblick, dass daraus etwas hervorbrach und über sie herfiel.

Javan zuckte die Achseln und schwieg. In den vergangenen Tagen hatte Aina allen seinen Bemühungen widerstanden, sie auszuhorchen, und seine Fragen entweder mit unzusammenhängendem Gemurmel oder Schweigen beantwortet. Je weiter sie marschierten, desto schweigsamer wurde sie, als würden ihre Worte von der Straße verschluckt.

Sie waren anfangs schnell vorangekommen, doch jetzt, da sie fast die Hälfte des Weges zu ihrem Ziel geschafft hatten, verlangsamten sich Ainas Schritte. Javan, dessen Beine nicht so lang wie ihre waren, hatte die meiste Zeit der neun Tage ihrer Reise Mühe gehabt, ihr zu folgen. Doch jetzt konnte er mühelos mit ihr Schritt halten und ging manchmal sogar voraus.

Es war neblig und die Kleider klebten feucht und schwer an ihnen. Ainas Haare waren ebenfalls nass und lagen dicht an ihrem Kopf an, wodurch ihr Schädel plötzlich sehr zerbrechlich wirkte.

Als sie das kleine Dorf erreichten, sah Javan, dass es sich dabei um kaum mehr als eine Handvoll baufälliger Hütten handelte, die aussahen, als würden sie beim nächsten Windstoß einstürzen. Mitten durch das Dorf verlief eine Straße, die kaum mehr war als ein schlammiger Trampelpfad.

Nach so vielen Tagen des Marschierens und Schlafens auf dem Boden sehnte sich Javan nach einem Bad. Ein Stück weiter die Straße entlang befand sich das einzige zweistöckige Haus, vor dem ein verblichenes Schild mit der Aufschrift Felions Taverne hing. Die weißgraue Farbe des Hauses war gebleicht, wobei an einigen Stellen verwaschene blaue und rote Flecken durchschienen. In den Rissen im Mauerwerk wuchs Unkraut und ein Fensterladen hing schief an nur noch einer verrosteten Angel.

Aina zog sich die Kapuze ihres Gewands über den Kopf, dann öffnete sie die Tür. Javan folgte ihr dichtauf. Er blinzelte kurz. Das Feuer im Kamin erzeugte nur wenig Licht und tauchte die Ecken des Raumes in Schatten. Der stechende Geruch nach verbranntem Fett hing in der Luft.

Als das Paar zu einem freien Tisch ging, wurde es in dem Raum völlig still, da aller Augen auf sie gerichtet waren. Javan mühte sich, ruhig zu bleiben, aber die vielen Blicke waren ihm unangenehm und er hatte ein Gefühl, als kröchen ihm Spinnen über die Haut.

Aina blickte gleichgültig drein. Als sie die Kapuze ihres Gewands zurückschlug, ging ein Murmeln durch den Raum. Herrscht zwischen diesen Leuten und den Elfen böses Blut?, fragte sich Javan. Dann zog sie einen kleinen Beutel aus ihrem Rucksack. Vor ein paar Nächten hatte Javan versucht, Ainas Rucksack zu durchsuchen, doch als er die Hand hineingesteckt hatte, war er von einem rattenähnlichen kleinen Wesen darin angegriffen worden. Es hatte wie ein Affe gekreischt und solch einen Höllenlärm gemacht, dass man es wahrscheinlich noch in Märkteburg hören konnte. Javan hatte die Hand aus dem Rucksack gerissen und war erschrocken aufgesprungen.

Aina war durch den Lärm aufgewacht. Sie wälzte sich herum und griff mit einer Hand in den Rucksack, während sie leise vor sich hin murmelte. Das Wesen beruhigte sich augenblicklich, während Javan dastand und eine heiße Röte ihm ins Gesicht schoss. In diesem Augenblick war er mehr als dankbar, dass sie ihn im schwachen Sternenlicht nicht richtig sehen konnte. Ainas Gesichtsausdruck war für ihn ebenso wenig zu erkennen, als sie ihn ansah, dann seine Hand nahm und ihn zu sich hinunterzog.

Javan zitterte. Es geschah alles zu plötzlich. Er war verwirrt. Dieses Verhalten hatte er nicht erwartet. Zorn, Kälte, aber nicht diese Hitze und Leidenschaft. Sie zog sich das Gewand über den Kopf und entblößte ihren langen schlanken Körper. Ihre Haut, die Javan für kalt gehalten hatte, war warm, dann heiß – und er spürte die bekannte Woge der Erregung durch seinen Körper strömen.

Sie zog ihn langsam aus, dann legte er sich auf sie. Seine Haut berührte die ihre, wurde von ihrem Fleisch gewärmt. Sie küsste ihn und ließ ihre Hände langsam, fast träge über seinen Körper gleiten. Mit zitternden Händen erwiderte er ihre Zärtlichkeiten, und plötzlich erfüllten Javan die Gier und das Bedürfnis zu nehmen. Er glitt in sie hinein und vergaß alles außer diesem Bedürfnis.

Hinterher zog sie das Gewand wieder an und legte sich schlafen. Javan verbrachte den Rest der Nacht damit, ihre reglose Gestalt anzustarren. Als der Morgen graute und der Himmel hell wurde, fielen ihm ihre Arme auf, die bisher immer unter den Ärmeln des Gewands verborgen gewesen waren. Jetzt lagen sie ausgestreckt hinter ihrem Kopf. Die Ärmel waren hochgerutscht und enthüllten die Haut. Beide Arme waren vollständig von schrecklichem Narbengewebe bedeckt. Als seien ihnen Hunderte von Schnitten beigebracht worden. Er berührte die Narben in dem Glauben, dass sie hart wären, doch sie fühlten sich weich und glatt wie Kinderhaut an.

Sein Blick fiel auf Ainas Gesicht und er sah, dass sie wach war und ihn beobachtete. Er wünschte, er hätte ihrer Miene ebenso viel entnehmen können, wie sie anscheinend seiner entnahm. Aber sie enthielt sich jeglicher Bemerkung, setzte sich nur auf und streifte die Ärmel hinunter.

Javan wollte wissen, was diese schrecklichen Verletzungen hervorgerufen hatte, aber er brachte es einfach nicht über sich zu fragen. Ein Teil von ihm wollte es gar nicht wissen. Was es auch war, es musste etwas Furchtbares sein, dessen war er sich sicher. Und jetzt wollte er nur, was er von ihr bekommen konnte. Er zog sie an sich, berührte und streichelte sie. Sie unternahm nichts, um seine Zärtlichkeiten abzuwehren, doch als er aufhörte, fühlte er sich leerer und einsamer als zuvor.

»Javan«, sagte Aina und riss ihn damit in die Gegenwart zurück – zur Taverne und zu den feindseligen Dörflern. Während er vor sich hin träumte, hatte sie Nadel und Faden herausgeholt und war mittlerweile dabei, ein feingewobenes Stück Stoff mit einem vielgestaltigen Muster zu besticken. Die anderen Gäste hatten ihre normalen Gespräche und Tätigkeiten wieder aufgenommen.

Ein paar Augenblicke später kam ein hagerer Mann zu ihnen an den Tisch. Seine Schürze war mit einer bunten Vielfalt von Flecken übersät, von denen manche neu und andere alt waren.

»Was kann ich für euch tun, Leute?«, fragte der Wirt.

»Essen und zwei Krüge Ale«, sagte Javan. Er erwartete nicht viel von der Mahlzeit und hoffte nur, dass das Ale nicht zu sauer war. Als das Essen eintraf, war es noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte, und das Ale war nicht sauer, sondern bitter. Doch nach der spärlichen Verpflegung der letzten Tage war es gut genug.

Sie hatten ihre Mahlzeit gerade beendet, als sich die Tür öffnete und ein Schwall regennasser eiskalter Luft von draußen eindrang. Aus dem Nebel war offenbar ein Wolkenbruch geworden. Javan hörte das Getrampel von Stiefeln und vereinzeltes Niesen.

»Dreh dich nicht um«, sagte Aina.

»Warum nicht?«

»Deine Freunde sind wieder da.«

Javan runzelte die Stirn. »Die Zwerge?«

»Leibhaftig.«

Javan blieb reglos sitzen und versuchte sich an möglichst viele Einzelheiten hinsichtlich der räumlichen Verhältnisse in der Taverne zu erinnern. War ihm eine Hintertür aufgefallen, als Aina und er hereingekommen waren? Er konnte sich nicht erinnern. Wie dumm von ihm. Hunger und Müdigkeit waren keine Entschuldigung für Nachlässigkeit.

In der Taverne war es wieder still geworden. Aina packte Nadel und Faden ein und beugte sich dann zu Javan vor.

»Gleich wird es spannend«, sagte sie.

»Kann ich euch helfen?«, fragte der hagere Wirt, während er sich nervös die Hände rieb. Zwei Gruppen von Fremden an einem Abend konnten nur Ärger bedeuten.

»Wir suchen einen Dieb«, sagte der rothaarige Zwerg. »Er ist klein und hört auf den Namen Javan. Sein Gesicht ist glatt rasiert, obwohl er mittlerweile einen Bart haben könnte. Er hat braune Haare und braune Augen.«

»Diese Beschreibung passt auf die Hälfte aller Menschen in Barsaive«, sagte der Wirt. »Außerdem kommen nicht mehr viele Reisende durch unser Dorf. Tatsächlich sitzen die beiden einzigen Fremden, die wir seit über einem Monat zu Gesicht bekommen haben, an dem Tisch dort drüben.«

Javan stöhnte innerlich bei den Worten des Wirts auf. Mit einem bunten Schild um den Hals wären sie kaum auffälliger gewesen. Als er sah, wie Aina den Zwergen zunickte, hätte Javan sie am liebsten erwürgt. Lauf, sagte der Teil von ihm, der ihn in den letzten vierzig Jahren am Leben erhalten hatte. Aber er konnte nirgendwohin laufen.

Dann hörte er das leise Klirren von Stahl, der aus einer Scheide gezogen wurde. Auf dem Rücken brach ihm der Schweiß aus.

»Deine Flucht ist zu Ende, Javan«, sagte der rotbärtige Zwerg.

Javan drehte sich langsam um und starrte ihn an. »Tiber Flammenbart«, sagte er. »Hast du das freie Leben aufgegeben, um Kenders Sklave zu werden?«

Der Zwerg runzelte die Stirn. »Die Zeiten sind längst vorbei«, erwiderte er. »Besser, sie ruhen zu lassen. Ich habe meine Befehle.«

»Welch netten Schoßhund du abgibst. Machst du auch Männchen, wenn er es von dir verlangt?«

»Überlass ihn mir«, fauchte der blondhaarige Zwerg. Seine Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt und seine Hand umklammerte krampfhaft den Knauf des Schwertes.

Aus dem Augenwinkel nahm Javan wahr, wie die anderen Gäste der Taverne sich von ihren Stühlen erhoben und in die Ecken des Schankraums zurückwichen. Sie schienen mit den dunklen Schatten zu verschmelzen.

»Ich glaube, wir gehen jetzt besser«, sagte Aina.

Javan fuhr herum und betrachtete sie ungläubig. »Bist du verrückt geworden?«

Aina hob ihren Rucksack vom Boden auf und berührte die Tischplatte mit einer seltsamen Geste. Augenblicklich legte sich Finsternis über den Raum. Es war, als sei alles Licht aufgesogen und nur Schwärze zurückgelassen worden. Dann spürte er ihre Hand, die nach seiner griff und zog. Er stand auf, warf dabei jedoch den Tisch um. Sie fluchte, ließ seine Hand einen Moment lang los, um sie dann wieder zu nehmen und an ihm zu zerren. Vorwärtstaumelnd wedelte Javan mit der freien Hand vor sich herum, da er befürchtete, er könne gegen eine Wand laufen.

»Lass dich von mir führen«, zischte sie ihm zu. »Ich kann sehen, wohin wir gehen.«

In der Taverne mischten sich die Angstschreie der Gäste mit den Rufen der Zwerge. Javan stieß gegen jemanden und erkannte, dass es sich um einen der Zwerge handelte. Er riss sich von Aina los und packte den Zwerg, während er mit der anderen Hand sein Messer zog. Der Zwerg wehrte sich, indem er mit dem Schwert um sich schlug. Als die Schwertspitze Javans Bein traf, schrie dieser vor Schmerz auf, ließ jedoch nicht los.

Er packte den stämmigen Nacken des Zwerges und erkannte, dass es sich um einen der braunen Zwerge mit den langen Zöpfen handelte. Das erregte Javan noch mehr. Er riss an dem Zopf und damit den Kopf des Zwerges nach hinten. Dann zog er dem Zwerg das Messer über die Kehle und aus dem langen sauberen Schnitt sprudelte ihm das Blut über die Hand.

Der Zwerg gab einen gurgelnden Laut von sich, dann glitt er zu Boden. Javan hörte seinen Todesseufzer kaum, da ihm das Gebrüll der anderen in den Ohren hallte. Dann ergriff Aina wieder seine Hand. Er fragte sich, wie sie in dieser Finsternis sehen konnte, die sich wie ein Gewicht auf seine Augen legte. Doch seine anderen Sinne schienen jetzt rasiermesserscharf zu sein. Er konnte das Blut an seiner Hand ebenso riechen wie den Geruch der Angst, der von den Tavernengästen ausging, und den schwach moschusartigen Duft Ainas, die ihn mit sich zog.

Dann waren sie draußen in der Nacht. Er konnte endlich wieder sehen, doch es regnete und sie glitten aus und fielen in den Schlamm.

»Komm weiter«, raunte Aina aufgeregt. »Wir dürfen nicht stehen bleiben. Sie werden uns verfolgen.«