Nayla 1: Die Tochter des Paradieses - Josephine Ausland - E-Book

Nayla 1: Die Tochter des Paradieses E-Book

Josephine Ausland

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Beschreibung

**Nichts ist perfekt. Nicht einmal das Paradies** Nayla lebt umgeben von den leuchtendsten Farben exotischer Blüten an einem Ort, den sie nur als Paradies bezeichnen kann. Aber der Frieden ihrer Insel wird immer wieder von der unbändigen Macht des Meeres zerstört. Als ihre Schwester von einer Flutwelle erfasst und in die Weiten des Ozeans hinausgerissen wird, bricht für Nayla eine Welt zusammen. Der Legende nach kann nur ein fremdartiges Volk hinter den Nebeln für den Verlust ihrer Schwester verantwortlich sein. Sie begibt sich auf die Spur eben dieses Volkes und begegnet einem Krieger, der eigentlich ihr erbitterter Feind sein sollte. Doch Thiens Nähe birgt eine Anziehungskraft, der sie sich nur schwer entziehen kann...    //Alle Bände der paradiesischen Fantasy-Reihe »Nayla«:    -- Nayla. Die Tochter des Paradieses      -- Nayla. Die Erwählte des Ozeans  -- Nayla. Die Hüterin der Wellen//    Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Josephine Ausland

Nayla 1: Die Tochter des Paradieses

**Nichts ist perfekt. Nicht einmal das Paradies** Nayla lebt umgeben von den leuchtendsten Farben exotischer Blüten an einem Ort, den sie nur als Paradies bezeichnen kann. Aber der Frieden ihrer Insel wird immer wieder von der unbändigen Macht des Meeres zerstört. Als ihre Schwester von einer Flutwelle erfasst und in die Weiten des Ozeans hinausgerissen wird, bricht für Nayla eine Welt zusammen. Der Legende nach kann nur ein fremdartiges Volk hinter den Nebeln für den Verlust ihrer Schwester verantwortlich sein. Sie begibt sich auf die Spur eben dieses Volkes und begegnet einem Krieger, der eigentlich ihr erbitterter Feind sein sollte. Doch Thiens Nähe birgt eine Anziehungskraft, der sie sich nur schwer entziehen kann …

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Vita

Glossar

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© privat

In Josephines Gedanken gibt es Welten, die alle Grenzen sprengen. Schon als Kind segelte sie mit Piraten um die Welt und braute mit Hexen Zaubertränke, anstatt im Unterricht zuzuhören. Die Fähigkeit zur unbegrenzten Fantasie bekam sie in die Wiege gelegt und gibt sie nun auch an ihre Kinder weiter. Die Nähe zum Meer und zu den mysteriösen Wäldern der Ostsee inspirierte sie schließlich dazu, eine dieser Welten zu ihrem Debütroman zu küren.

Sich selbst treu sein

Kapitel 1

Dumm! Ich bin so dumm!

Mit zittrigen Fingern rücke ich den korkfarbenen Waffengürtel zurecht, der sich über meine Schultern und meinen Rücken windet. Ärgerlicherweise verrutscht der tiefe Ausschnitt meines sehr aufreizenden Kleides durch ihn immer einige Zentimeter nach unten, was mehr von meiner Oberweite zeigt, als mir lieb ist. Die Kurzklinge und das Breitmesser sind aber meine liebsten Waffen. Sie gehörten beide meinem Vater, weshalb ich sie nicht einmal für so ein schönes Kleid ablegen würde. Die beiden Messer liegen nun locker, aber griffbereit unter den Armen. Sie sind ein Vermächtnis und mein ständiger Begleiter.

Ich atme tief ein, inhaliere den Geruch des Waldes und setze dann die gewohnte Maske auf. Neutrales Gesicht, gestraffter Rücken und ein erhobenes Kinn. Äußerlich kann ich die Ruhe selbst sein, aber tief in mir wütet immer ein Sturm, zu jeder Zeit. So wie jetzt.

Hoffnung und Mut sind keine Dummheit, schalte ich mich selbst gedanklich, als ich mit meinen nackten Füßen die Holztreppe betrete. Bei jedem Schritt über die Stufen raschelt der Stoff des bodenlangen Kleides leise über das Holz. Die pfirsichfarbene Wildseide schmiegt sich eng an meinem Körper und betont meine Kurven. Zudem bringt das Kleid mit seiner außergewöhnlichen Farbe auch noch meine Haut zum Leuchten, die wirkt, als sei sie mit hellem Honig übergossen worden. Der breite Schlitz an der Seite gibt bei jedem Vorsetzen des Fußes mein rechtes Bein frei und gewährt einen Blick auf die drei wulstigen Narben an meiner Wade und auf meinen Oberschenkel, wo ein weiterer Waffengürtel befestigt ist. Ein Zehenring prangt an meinen nackten Zehen. Er ist aus Holz, so wie das meiste hier. Wie die verzierten Griffe meiner Klingen. Meine selbst geschnitzten Ohrstecker, meine Ringe und meine lange Kette. Wie die Stufen unter meinen Füßen und die Waffenattrappen, die hinter mir auf der Lichtung im Training gegeneinanderprallen.

»Ein Kleid wird nicht die Welt verändern«, nuschele ich und achte bei jedem Schritt darauf, nicht über den langen Stoff zu stolpern. Die Treppe führt mich am Stamm des Mammutbaumes spiralförmig nach oben. Er ist der größte auf unserer Insel und der älteste. Zehntausend Jahre, hundertzwanzig Meter hoch und acht Meter breit. Ein paar Jahre bleiben ihm noch, dann wird er von der Last des Banyanbaums zerdrückt werden. Diese Bäume sind einzigartig, man darf sie nicht unterschätzen. Es fängt mit einem einzigen Samenkorn an und endet in einem riesigen Gebiet, auf welches er sich ausbreitet. Er nutzt andere Bäume als Wirt, ankert sich an ihnen fest und stiehlt ihnen das das Licht und die Nährstoffe. Seine Luftwurzeln unterstützen seinen Übergriff. Sie wachsen von oben herunter, bilden während dieser Zeit neue Triebe, die wieder neue bilden. Sobald sie den Boden berühren, schlagen sie oberhalb und unterhalb der Erde Wurzeln. Die Krone und die Triebe weisen irgendwann einiges an Gewicht auf, die Luftwurzeln sind in der Zeit aber so stark angewachsen, dass sie die Last halten können. Somit besitzt der Banyanbaum als einziger Baum auf der Welt dann mehrere Dutzend bis zu Hunderte Stämme. Wenn die Wachstumsbedingungen stimmen, werden sie Hunderte Quadratmeter groß. Es ist einfach faszinierend und zugleich unbegreiflich einen Wald zu durchqueren, welcher nur aus einem einzigen Baum besteht, aus einem einzigen Organismus.

Schon jetzt überragen die Wurzeln den alten Mammutbaum und dessen breiten Stamm. Auch die Treppen ziehen sie in Mitleidenschaft. Sie ranken sich um das Geländer, bohren sich manchmal sogar mitten durch die Stufen. Ein paar Stumpfnasen klettern daran herum. Es ist eine aussterbende Affenart mit grauem Fell und einem kleinen zauberhaftem Gesicht. Kleine und große bunte Vögel flattern zwischen den Ästen hin und her und jagen sich gegenseitig. Sie tschilpen und meckern, jede Gattung auf ihre eigene Art und Weise. Ein grünbraun gescheckter Leguan kauert neben mir auf dem Geländer. Über mir klettert ein Totenkopfaffe am Feenhaar herum, welches zwischen den Ästen und Wurzeln wuchert. Es ist ein Flechtengewächs, welches ausschließlich vom Regen und der Luft lebt. Es ist weit verzweigt, aber ganz fein in seiner Beschaffenheit, fast wie feine kleine Wurzeln, die sich aneinanderklammern. Von Waldboden sieht es so aus wie langes Haar. Einer alten Legende nach wurde eine Feenprinzessin am Tag ihrer Verbindung von Feinden getötet. Ihr trauernder Mann hat es ihr abgeschnitten und über die Äste der Bäume gelegt, damit die Erinnerung an die Prinzessin erhalten bleibt. Sie liebte den Regen und noch heute färbt sich das grüne Gewächs bei Feuchtigkeit grau, wie das Haar der Feenprinzessin. Es ist wunderschön.

Zwanzig Fuß über dem Waldboden breitet sich eine Plattform um den Baum aus, mit dunklen Holzplanken, die solide über der Lichtung ragen. Auch hier machen sich die Luftwurzeln breit, die das Holz mit ihrem Gewicht verformen und in ein seltsames Gebilde verwandeln.

Wie erwartet befindet sich hier der Grund für mein heutiges auffälliges Äußeres. Atréju. Der Anführer der Huna Ke Koa, der begnadetsten Krieger, die es jemals in der Geschichte meines Volkes gegeben hat. Der Junge, von dem ich mir wünsche, dass er mich an der Hand packt und aus der Einsamkeit herauszieht. Dazu muss er mich aber als Frau sehen, nicht als Freundin, nicht als Trainingspartnerin und nicht als den kleinen Raufbold, den ich immer mime. Einfach nur als begehrenswerte und attraktive Frau.

Atréju sieht aus wie ein schwarzer Gepard, so wie er da steht, die Hände gegen das Geländer gestützt, mit hoch erhobenem Haupt und einem aufmerksamen Blick. Seine Haare sind so dunkel wie der Himmel in einer mondlosen Nacht und seine Haut wie unberührtes Ebenholz. Seine Muskeln verwandeln seinen Oberkörper in ein einschüchterndes Kunstwerk, das man unbedingt mit den Fingerspitzen berühren will.

Nicht nur wegen seiner körperlichen Stärke ist er der Anführer unserer Krieger. Er ist auch clever, strategisch begabt, einfallsreich, unnachgiebig, kampfbereit und unbezwingbar. Ein besonnener Krieger, wie aus einer Legende, die man sich nachts so gerne unter dem Sternenhimmel erzählt. Irgendwann wird man auch sicherlich Geschichten über ihn erzählen. Die Geschichten von dem schwarzen Geparden. Von dem Anführer der sagenumwobenen Huna Ke Koa.

Gerade als ich die letzte Treppenstufe erreiche, wendet Atréju mir abrupt den Blick zu. So, als wenn er meine Anwesenheit spüren würde, bevor ein Laut mich verraten kann. So, als wenn das Schicksal es will, dass mein rechtes Bein als erstes auf der Plattform aufkommt und sich der Schlitz rasant an meinem Oberschenkel weitet. So, wie die Reaktionen von Atréjus Körper, die nicht leugnen können, das richtige Kleid ausgewählt zu haben. Das Feuer seines inbrünstig flammenden Herzens brennt nun auch in seinen dunklen Augen. Selbst sein Brustkorb rührt sich nicht mehr, nachdem er überrascht und unbewusst den Atem anhält.

Mein Herz war vorher schon durch die Aufregung aufgeputscht, nun donnert es in meiner Brust. Kalter Schweiß sammelt sich an meinen Handinnenflächen. Ich atme auf. All meine Hoffnungen scheinen Früchte zu tragen, niemals hätte ich mit einer solch heftigen Reaktion gerechnet. Sieht er in mir endlich mehr, so wie ich es mir gewünscht habe? Oder werden sich meine Zweifel bestätigen und all meine Mühen scheitern? Werde ich heute von ihm als Frau anerkannt, oder bleibe ich weiterhin wie eine kleine Schwester?

Ich trete auf die Plattform und gehe betont langsam auf ihn zu. Der Krieger fängt sich allerdings schneller als erhofft von meinem Anblick und grinst schief, auf vertraute Art und Weise. »Guten Morgen, Koa-Sonnenschein.« Er hebt eine Augenbraue, verfolgt jeden meiner Schritte mit einer intensiven Musterung. »Ein sauberes Kleid, frisch gekämmte Haare. Muss ich mir Gedanken machen?«

Schamgefühl ist etwas, was ich glücklicherweise nicht besitze. Mein Gesicht bleibt deshalb verschmitzt und lässig, als ich weiter auf ihn zugehe. Brennende Wangen und niedergeschlagene Augen stehen einer Kriegerin wie mir einfach nicht. Ich verpasse ihm stattdessen einen Schlag gegen die Schulter, als ich ihn erreiche, und lehne mich dann seitlich an die Brüstung. »N’ae!«, bejahe ich in der alten Sprache meiner Vorfahren, die kaum noch jemand gebraucht. Sie droht zu verschwinden, weil niemand sie mehr lehren will. Nichts ist so weich und gleichzeitig so ausdrucksstark, weswegen ich und einige andere sie erhalten wollen. »Um mich muss man sich immer Gedanken machen«, necke ich Atréju und lege den Kopf schräg, ohne das Grinsen aus meinem Gesicht zu nehmen. Meine langen Haare fallen zur Seite, ein paar Strähnen ragen über die Brüstung herüber, so als besäße auch ich langes Feenhaar. Meines ist aber sandfarben und meistens voller Dreck, Blättern und verfilzten Büscheln. Kein Wunder, da die Natur mein Zuhause ist. Es lohnt sich eigentlich nicht sich so auszustaffieren, wie ich es heute tue. Mein Kleid wird spätestens in ein paar Stunden an einem Astgewirr hängenbleiben und ein paar Löcher mit sich herumtragen. Feuchte Erde wird bei jedem Gang am Saum kleben bleiben. Die verspielten Füchse und Wölfe, mit denen ich so gerne tobe, werden Abdrücke ihrer Pfoten darauf hinterlassen, wenn sie an mir hochspringen. Meine Haare, die mir bis zu den Oberschenkeln reichen, beginnen schon jetzt wieder einen Kampf auszufechten. Strähne gegen Strähne, bis ein riesiges Knäuel entsteht. Ständig verfangen sich Käfer darin und finden keinen Ausweg mehr, wie ein unentwirrbares Spinnennetz.

Atréju ist nun hellhörig und etwas ernster. Seine narbenüberzogenen Finger zucken, als wenn er sich davon abhalten muss, nach irgendwas zu greifen. »Was soll das genau bedeuten? Steckst du wirklich in der Klemme?« Er überlegt einen Moment, dann grinst er wieder frech, sodass der Ansatz seiner strahlend weißen Zähne zu sehen ist. Sein Lächeln ist so wunderschön, dass ich mich kaum auf seine Worte konzentrieren kann. »Mit wem hast du dich schon wieder angelegt?«

Ich fahre mit der Hand über das Geländer und lehne mich weiter zur Seite, um mich lockerer zu geben, als ich es bin. Meine Finger kommen seiner Hand dabei gefährlich nahe, weil er sich mit seinen breiten Armen auf der Brüstung abstützt. Ich will mich mit dir anlegen, du Esel!, denke ich, sage es aber nicht laut. »Ich brauch mich nicht schick zu machen, um jemanden zu verprügeln«, weise ich die Worte mit einem schiefen Grinsen von mir. Ein Schimmer von Sonnenstrahlen, die nur selten einen Weg durch das dichte Blätterwerk finden, flimmert über unsere Gesichter, als eine leichte Brise über die Insel schwebt und die Blätter zum Rascheln bringt. Meiner Stimme entgleitet dann der Schalk und ich werde ernst, klinge viel melancholischer als beabsichtigt. »Ich will einfach nur anders wahrgenommen werden«, erkläre ich und wende den Blick ab. Das Holz unter meinen Fingern ist ungeschliffen, aber von der Zeit abgenutzt, voller Maserungen und Löcher. Unsere Haut sieht nicht besser aus, was auch an den Händen erkennbar ist. Atréjus dunkle Haut ist genauso übersät von Narben wie meine helle. Als wären wir tausend Jahre alte Bäume, an denen Wind und Wetter gezerrt und Insekten geknabbert haben. Der einzige Unterschied ist die Farbe. Er ist die Nacht und ich der Tag. Alles, was an ihm dunkel ist, ist an mir hell. »Ich bin nicht nur das starrköpfige Mädchen und die zweitbeste Kriegerin, weißt du? Ich bin mehr als das.« Nur in Gedanken spreche ich weiter, vollende die Sätze, die ich niemals aussprechen würde. ›Ich will von dir anders wahrgenommen werden, Atréju. Ich bin stark. Kannst du sie sehen, meine Stärke? Meinen Willen? Siehst du in mir etwas, was man bewundern kann?‹

Ich hoffe es, denn ich bin nur berüchtigt dafür, das Mädchen zu sein, das eine ausgereift große Klappe besitzt und es im Kampf mit jedem aufnehmen kann. Nicht das Mädchen, welchem man beeindruckte Blicke nachwirft, weil man es nicht mehr aus dem Kopf kriegt.

Atréju hat mir den Blick zugewandt, beugt sich aber vor und stützt sich mit den Unterarmen auf das Geländer. Mit zusammengekniffen Augen verarbeitet er meine Worte und beobachtet jeden meiner Gesichtszüge. »Du wirst so wahrgenommen, wie du bist«, antwortet er mir schließlich bedeutungsvoll mit seiner kraftvollen Stimme. Mein Blick wandert über sein Gesicht, über die scharfen Wangenknochen und das ausgeprägte Kinn. Zu seinen dunklen Augen, in denen nie Kälte herrscht. Seine Haut ist so dunkel, dass man das Zeichen unserer Krieger gar nicht erkennen kann. Auf meiner hellen Haut kann man die schwarze Umrandung meiner Augen hingegen zu deutlich sehen und ich bin unsagbar stolz darauf. Nicht nur darauf … auch auf jede Narbe, auf jeden Muskel, der meinen Körper definiert. »Das ist nichts Schlechtes, denn du bist gut so, wie du bist«, redet er weiter. Der Krieger stupst mit seiner Schulter gegen meine. Schon diese Berührung ruft nach mehr und zeigt mir, dies ist nicht genug. Das war es niemals, wird es auch niemals sein. »Hörst du? Du bist gut so, wie du bist!«

Ich zwinge mich dazu mein Gesicht wieder erstrahlen zu lassen, aber ich bezweifle, dass der Ausdruck meiner Augen genauso fröhlich wirkt wie mein Lächeln. »Das weiß ich doch! Deswegen stürze ich Norbu bald vom Thron und werde die Anführerin der sagenumwobenen Ho’oulu.« Mein Sarkasmus gilt hierfür mir selbst, denn Atréjus Worte sind kein Balsam für meine Seele. Seine Worte sind hohl, denn egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich erreiche einfach nichts. Nicht nur von ihm erhoffe ich mir, anders wahrgenommen zu werden, auch von meinem restlichen Volk. Wir leben zwar in Freiheit und nicht in einer Monarchie, in der Könige auf Throne gesetzt werden, aber unser Anführer ist nicht weniger ein arroganter machtsüchtiger Kerl, der versucht alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Seit Jahren arbeite ich daran, ihn zu ersetzen. Ich will eine Anführerin werden, die den Titel verdient hat, aber wie ich schon eben zu Atréju gesagt habe: Ich will anders wahrgenommen werden. Ich muss es sogar, wenn ich endlich Veränderungen in der Welt sehen will.

Trotz meiner Bemühungen und meines Strebens verfällt mein Volk nämlich immer noch in die gewohnte Routine, die keinerlei Veränderung vorsieht. Ich erhebe die Stimme für Andere, aber niemand spricht für mich. Ich setze mich für Andere ein, aber keiner stärkt mir den Rücken. Ich verteidige ihre Freiheit, aber sie nicht die meine. Ich kämpfe für Gerechtigkeit, aber sie dulden die Ungerechtigkeit. Ich würde über sie kein schlechtes Wort verlieren, aber sie haben nicht ein einziges Gutes für mich übrig.

Ich wende den Kopf über die Schulter und verdränge den alten Zorn, der von Tag zu Tag genährt wird. Keiner der kämpfenden Koa auf dem Waldboden beachtet uns, denn sie würden es nicht wagen, sich ablenken zu lassen. Jegliche Ablenkung wäre unser Tod, das weiß jeder der Krieger ganz genau. Gestöhne dringt zu uns herauf, wenn jemand auf den Boden knallt oder von einer Waffenattrappe getroffen wird. Keuchende Atemzüge wandern über den Waldboden. Holz knallt gegen Holz. Fleisch trifft auf Fleisch. Dazwischen ist das Gekreische der Affen, ein leichtes Brummen von Insekten und das Gezwitscher der Vögel. Das Blätterrauschen geht in der Geräuschkulisse fast unter.

Hinter dieser Lichtung liegen noch drei weitere, die von den Huna Ke Koa genutzt werden. Auf dieser hier wird mit Fäusten und mit unechten Waffen gekämpft. Auf einer anderen wird ausschließlich mit unserer Macht gekämpft. Dort schlagen sich ohne Vorwarnung Wurzeln durch die Erde, so schnell wie ein Blitz, der über den Himmel jagt. Sie können einen innerhalb von Sekunden von den Füßen reißen oder jemanden mit Leichtigkeit durchbohren. Dort werden Bäume entwurzelt, alleine durch den Willen des Angreifers, um jemanden oder gleich mehrere zu zerquetschen. Dort wachsen giftige und heimtückische Pflanzen, die einen allein beim Einatmen den Tod bringen können. Krater bilden sich innerhalb von Sekunden in der Erde und drohen einen zu verschlucken.

Auf einer anderen Lichtung wird den kleineren Kindern von Grund auf alles sorgfältig erklärt. Wie sie Pflanzen verformen und verändern können. Sie müssen den Aufbau und die Erschaffung der giftigen und heimtückischen Pflanzen verstehen lernen, damit sie ihnen nicht selbst in die Falle geraten. Sie müssen lernen, wie sie sich in unwegsamen Situationen aus der Gefahrenzone retten können. Sie müssen lernen, zu überleben und sich zu verteidigen, ohne direkt im Kampfgeschehen zu sein. Sie müssen lernen, sich mithilfe der Natur zu verstecken und sie als Waffe zu benutzen.

All das nur um unbesiegbar zu sein. Meine Haut ist ein Abbild dieses Trainings. Narben von Klingen sind darauf, Narben von Brüchen, Narben von giftigen Pflanzen. Unbesiegbar sind wir trotzdem nicht geworden.

Atréju holt tief Luft, weshalb ich ihm wieder den Blick zuwende. Seine Brust hebt sich, genauso wie seine Schultern, bevor er sich vor mich stellt. Ich drehe mich nun ganz zu ihm herum und stehe ihm wie ausgeliefert gegenüber. Er mit seiner breiten Statur vor mir, die Brüstung hinter mir. Seine Augen brennen sich in meine. Schwarz trifft auf Grasgrün. Sein Geruch von Kardamom und Zimt kitzelt mich in der Nase. Er riecht vertraut, er riecht nach Zuhause. »Eines Tages, Nayla«, schwört er und streift meine sandfarbenen Haare nach vorne über meinen Bauch, Strähne für Strähne, als hätte er alle Zeit der Welt, mich zu lausen wie ein Affe und die Knoten zu entwirren. »Eines Tages wirst du unsere Anführerin sein! Und du wirst gut sein, besser als jeder andere, der es vor dir war.«

Es kribbelt in meinem Nacken, als er mich berührt. Sehnsucht ergreift mich wie eine sengende Hitze in meinen Adern. Diese Sehnsucht schreit wahrscheinlich nicht nach ihm, aber sie giert trotzdem nach jemanden. Nach jemandem Starken, der kräftig genug ist, mich zu halten. Nach jemand Lustigem, der mich vergessen lassen kann, wovor ich mich tagtäglich fürchte. Ich wüsste so gerne, was Liebe ist. Herzflattern, ein Kribbeln im Bauch. Die Wärme der Nähe zu einer anderen Person. All das ist mir fremd.

Seine Worte sind demütigend statt aufbauend. Mit einem festen Druck im Bauch starre ich auf seinen Hals, wo das Mal unseres Volkes in einem friedlichen Weiß strahlt. Das schönste Wurzelgeflecht der Welt ist nicht in der Erde zu finden, sondern auf unseren Körpern. An unseren Hälsen und Nacken. Nicht nur das Mal an sich ist schön und friedlich, vor allem die Macht, die darin zu finden ist. Die Macht, die uns zu dem macht, was wir sind. Die Ho’oulu. Das Volk, welches eine unbändige Macht über die Natur besitzt.

Atréju ist mir so nah und dennoch so fern. Sein Geruch ist so vertraut, dass die Erinnerungen an unsere Freundschaft in meinem Geist aufleben. Vier Jahre Freundschaft, über Lachen und Weinen, über das Kämpfen und Scheitern. Unsere Freundschaft hat mehr erduldet, als tragbar ist und dennoch stehen wir hier, ohne uns jemals nahe gekommen zu sein. Manchmal wünschte ich mir, wir wären weiter gegangen, aber meist sind dies Situationen, in denen die Einsamkeit mich unter die Erde zieht und mit Massen an Geröll vergräbt. Ob wirklich Gefühle für Atréju darin mitspielen, ist ungewiss. Meinen Gefühlen ist nicht zu trauen, da ich ständig hin- und hergerissen bin und mir nie sicher bin, was ich wirklich will.

»Außerdem ist es nur ein bescheuerter Titel«, merkt er leise an, bevor er meine Haare loslässt und eine Hand flach gegen meine Brust drückt, die Stelle zwischen den Schlüsselbeinen und den Ansatz der Rippen, dort wo meine Seele beheimatet ist. Direkt über meinem Herzen. Mit seiner Berührung schlägt mein Herz nun in einem viel zu holprigem Tempo. »Du führst sie schon seit Jahren an, wenn wir ehrlich sind«, bekräftigt er voller Leidenschaft. Ich kann seinen schönen dunklen Augen nicht standhalten und muss schlucken, als ich seinen Pulsschlag spüre. Jede Fingerkuppe liegt fest auf meiner Haut und bringt etwas in mir durcheinander. »Tagtäglich bist du zur Stelle, wenn es Probleme gibt. Wenn sie nach Rat suchen, fragen sie dich. Wenn sie Kummer haben, lassen sie sich von dir trösten. Wenn sie etwas planen, fragen sie dich nach deiner Meinung. Keiner von ihnen geht zu Norbu.« Er lächelt sachte, sucht meinen Blick, den ich leicht abgewandt habe. »Monatlich gibt es ein Dutzend neuer Rekruten, Kinder und Jugendliche, die zu mir kommen und sich ausbilden lassen wollen. Die zu mir kommen und mir sagen, dass sie so werden wollen wie du.«

Mein Gesichtsausdruck verrät meine Zweifel, weshalb sein Blick noch eindringlicher wird. Treue, warme Augen blicken auf mich herab. »Ich schwöre es dir, beim Wandel unserer Vorfahren.« Mit einem Nicken deutet er auf die Lichtung hinter mir und auf die über tausend Krieger. »Sie sind wegen dir hier, Koa.«

Koa – Kriegerin. Wir alle sind Krieger. Gute und schlechte. »Sie sind wegen des Krieges hier«, brumme ich. Seine Worte sind wahr, aber nicht ausreichend, um die Pein meiner Seele zu mildern. Der Schmerz ist beharrlich in meiner Brust und flammt wie ein Feuer auf, was mit Schwarzpulver übergossen wird. Vielleicht wäre der Schmerz nicht da und Atréjus Worte einwirkender, wenn Norbu nicht trotzdem solch einen Einfluss auf unser Volk hätte. Egal, was unser Anführer sagt, die Menschen tun es. Egal, was es die Menschen kostet. Ein Anführer ist nicht dafür da, Befehle zu geben, aber Norbu tut es. Ein Anführer zwingt seine Menschen nicht zu Dingen, die sie nicht wollen, aber er tut es. Wenn sich nicht bald etwas ändert, dann müssen wir ihn wahrscheinlich bald mit Hoheit ansprechen oder schlimmer noch, vor ihm auf die Knie sinken und das Haupt senken. Wenn ich nicht bald etwas ändere, dann besitzen wir keine Freiheit mehr.

Dies ist der größte Sturm in mir. Tagtäglich sehe ich mit an, wie unser Volk zugrunde geht. Wie unsere freien Entscheidungen von unserem Anführer mit Befehlen vereitelt werden.

Ich ziehe die Schultern hoch und wische Atréjus Hand beiseite, die immer noch eindringlich auf meiner Haut liegt. »Der Titel ist mir nicht halb so wichtig, wie es für unser Volk ist.« Mein Kiefer knackt, so heftig beiße ich die Zähne zusammen. Mit meinen wahren Worten stoße ich oftmals auf Ärger, da mein Volk die bittere Wahrheit lieber verschweigt und in der Erde vergräbt, und da ich mein Temperament selten zügele und wahrlich auf Konfrontationskurs bin. »Eines Tages werde ich ihre Anführerin?«, wiederhole ich seine Worte, die wie heiße Glut auf meiner Zunge brennen. Wie erwartet tritt mein Freund während meiner gezischten Worte einen Schritt zurück und spannt den Kiefer an. »Umso länger sie sich zurückhalten, umso mehr Macht erlangt Norbu. Dann kann es längst zu spät sein, Atréju!«

Ich könnte alles sofort beenden. Ich könnte mich umdrehen und auf die Krieger herabsehen und sie dazu ermuntern für mich zu stimmen, sich gegen Norbu aufzulehnen. Ich könnte zum restlichen Volk gehen und sie bitten, mich zur Anführerin zu erwählen. Jahrelang war ich wegen meines einzigartigen Mals geächtet, aber ich habe mich bewiesen und gezeigt, dass es nicht das ist, was mich ausmacht. Noch immer werde ich manchmal fragwürdig betrachtet, weil ich mich so sehr von ihnen unterscheide, aber inzwischen würde ein kleiner Teil des Volkes trotzdem sofort hinter mir stehen. Das Problem ist, dass ich es nicht auf diese Art und Weise will. Ich will, dass sie sich selbst erheben. Dass sie selbst einsehen, was hier geschieht. Dass sie für sich selbst einstehen und nicht immer nur ich. Wenn ich zur Anführerin erwählt werde, dann nur, weil sie den Mund aufmachen. Dem Anschein nach wird dieser Tag aber nie kommen. Sie bevorzugen es, zu schweigen.

»Du bist wie die anderen«, fahre ich fort, damit er es endlich versteht und sich auf meine Seite schlägt. Er ist ein Vorbild, so wie ich. Wir könnten gemeinsam die Welt verändern, aber dazu muss er erst einmal sich selbst verändern. »Du hättest nie den Mund aufgemacht und dich zur Wahl als neuen Lehrmeister aufstellen lassen.« Meine Tonlage ist vorwurfsvoller als beabsichtigt. Meine Finger gestikulieren anklagend auf ihn und unsere Umgebung. »Du hast gewartet, bis ich es tue. Ihr alle wartet, bis ich es tue, bis ich gegen Norbu angehe, ihm die Stirn biete, ihm die Meinung sage, oder eine Entscheidung treffe.« Mit einem bitteren Zug um den Mund schüttele ich den Kopf, sodass meine Traurigkeit nicht verborgen bleibt. »Ihr nehmt mich als selbstverständlich, alles, was ich tue. Ihr wartet einfach darauf, dass die Dinge sich von alleine richten, aber von Nichts kommt Nichts. Wer Frieden will, muss friedlich sein. Wer Gerechtigkeit will, muss gerecht sein. Wer frei sein will, muss die Freiheit ergreifen.« Ein bitteres Schnaufen kommt mir über die Lippen.

So schnell wandelt sich das Blatt. Schon im Morgengrauen habe ich mich zurechtgemacht und meine Worte geübt, um Atréju zu bezirzen. Lachhaft. Dumm. Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich weiß, was ich selbst will. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Anstatt ihm schöne Augen zu machen, streite ich mit ihm. Mal wieder.

Unaufgefordert kommt mir die Erinnerung ins Gedächtnis, die mich dazu bewegt hat, mich heute so sehr auszustaffieren. Inyan – der unehrenwerte Sohn unseres Anführers, der seit jeher eine ungesunde Faszination für mich hegt – hat Atréju nämlich vor ein paar Tagen konfrontiert. Er hat ihn bedrängt und zur Rede gestellt, weil er wohl gemerkt hat, dass ich in Bezug auf Atréju ebenfalls eine ungesunde Faszination hege. Ohne ihr Wissen bin ich Zeuge dessen gewesen und habe sie versteckt hinter einer Efeuwand belauscht und beobachtet.

›Ist da etwas zwischen dir und ihr?‹, hat Inyan ihn direkt gefragt, mit einem Blick von oben herab, der seine geballte Arroganz preisgab. Ihm passte es von Anfang an nicht in den Kram, dass Atréju und ich so viel Zeit miteinander verbringen und ein lockeres und lustiges Beisammensein pflegen. Auch wenn ich Inyan nie eine Bestätigung für seine Avancen gegeben habe, scheint ihn das nicht weiter zu interessieren. Er drängt sich mir seit Jahren immer wieder auf.

Atréju stand einfach da, so wie jetzt mit seinem tiefen Atem und seiner erhobenen Brust. An diesem Tag aber mit Wut in den Augen, die ihm noch mehr Ähnlichkeit mit einem schwarzen Geparden verlieh. Seine Stimme war klar und aufrichtig, aber auch belehrend und warnend. ›Das Mädchen ist ein Wildpferd!‹, hat er ihn mit gebleckten Zähnen aufgeklärt. ›Wer versucht, sie einzufangen und ihrer Freiheit zu berauben, wird immer ihren Zorn zu spüren bekommen. Sie wird immer versuchen auszubrechen und die Freiheit wiederzuerlangen.‹ Er schnaubte daraufhin und warf Inyan einen kalten Blick zu, keinesfalls eingeschüchtert von dem Hünen, der über ihm aufragte. ›Versuch gar nicht erst, sie einfangen zu wollen, denn es wird nicht funktionieren. Ein Wildpferd sucht sich seinen Seelengefährten selbst aus und glaub mir, das wirst niemals du sein.‹

In Atréjus Kehle vibriert ein Knurren, was die Erinnerung wieder verblassen lässt. Mein Vorwurf schlägt ihm übel auf. »Das ist nicht fair, du-« Bevor der Anführer unserer Krieger etwas sagen kann, ertönt das Kriegshorn mit einem langgezogenen Laut. Es schallt durch den Wald und über die Lichtungen. Atréjus Mund schließt sich und die Kämpfe auf den Lichtungen werden unterbrochen. Die Krieger und die angehenden Krieger sammeln sich nun hier.

Hin- und hergerissen stehe ich da und weiß nicht, ob ich einfach wortlos gehen oder doch etwas sagen soll. Entschuldigen werde ich mich für meine Worte auf jeden Fall nicht. Eine flüchtige Berührung an meinem Ellenbogen nimmt mir schließlich die Entscheidung ab. »He, Sonnenschein«, flüstert er. Der Kosename schwebt zwischen uns in der Luft, während ich zu Boden starre und Atréjus Augen auf mir spüre. »Lass uns nicht zanken! – Wo ist das Mädchen hin, dass immer mit der Sonne um die Wette strahlt und mich zum Lachen bringt?« Bevor ich mich versehe, liegen seine Arme um mich und zwängen mich an seine Haut. Mit einem tiefen Seufzer erwidere ich die Umarmung, klammere mich an ihn, bevor ich mich selbst verliere. Das Mädchen, das sonst immer ein Lächeln im Gesicht hat, stirbt, aber das kann ich ihm nicht sagen. ›Sie stirbt, Atréju. Sie erstickt an der aufkommenden Monarchie. Sie wird von den Massen an nicht verweigerten Befehlen erdrückt, gegen die die Menschen sich nicht wehren. Sie ertrinkt in den Tränen ihres Volkes, weil der Krieg und die Toten kein Ende nehmen. Sie verbrennt in der Einsamkeit, weil sie so viel Liebe verschenkt und davon kaum etwas zurückerhält.‹

Übrig bleibt irgendwann nur ein Mädchen, das verlernt hat zu lachen, glücklich zu sein.

Lautes Grölen erschallt von der Lichtung. Die Krieger sind bereit und ungeduldig. Ich ignoriere sie und ihr übertriebenes Gejaule.

»Mir ist gerade etwas klar geworden«, antworte ich ausweichend, während ich mich langsam von ihm löse. Ich könnte mutig sein und ihn direkt fragen, was er für mich fühlt. So soll es aber nicht mehr sein. Das ist nicht das, was ich will, denke ich. Die Menschen können doch nicht immer erwarten, dass ich den Anfang mache, dass ich den Mut finde. Ich will nicht immer mutig sein müssen und mich selbst überwinden müssen, für mich selbst nicht und nicht für andere. Wann ist endlich einmal jemand für mich mutig und überwindet sich selbst?

Vielleicht hat Atréju recht. Vielleicht bin ich ein Wildpferd, zu wild dafür, um es einfangen zu können. Aber auch ein Wildpferd ist nicht sein Leben lang alleine. Ja, es sucht sich seinen Seelengefährten selbst aus, aber sein Seelengefährte wartet nicht stumm und still darauf, dass er zu ihm kommt. Er kämpft um ihn und zeigt ihm, dass er sich auf ihn verlassen kann. Alles, was Atréju nicht tut. Wir sind keine Seelengefährten und mein ganzer Plan damit einer der bescheuertsten, die ich jemals hatte.

Übrig bleibt irgendwann nur ein Mädchen, was verlernt hat zu lachen, glücklich zu sein. Das große Problem ist – wie ich nun selbst erkenne – ich bin alleine daran schuld. Ich muss mich nicht so verausgaben, ich muss mich nicht so aufopfern. Ich muss nicht so viel Liebe verschenken und daran verenden, wenn nichts davon zurückkommt. Warum tue ich das eigentlich, immer wieder aufs Neue? Warum stelle ich meine eigenen Bedürfnisse immer an letzter Stelle?

Mir wird klar, dass sich etwas ändern muss. Ich muss mich ändern.

Ich tue nun zum ersten Mal etwas, wovon ich nie gedacht hätte, es einmal zu tun: Ich tue etwas für mich selbst. »Ich steige aus«, verkünde ich wispernd. Die Worte schmecken kalt und fahl, dennoch macht sich Erleichterung in mir breit. Fast befreit tätige ich einen tiefen Atemzug und meine Stimme wird sicherer, während ich den Blick zu dem Krieger hebe. »Ich steige aus und werde fortan nicht mehr mit dir die Kinder trainieren.« Atréjus Hand streckt sich zu meinem Gesicht vor, berührt mich aber nicht. Seine Augen hat er zusammengekniffen. Worte liegen ihm auf den Lippen, aber ich lasse keinen Protest zu. »Ich bin nur am Arbeiten«, erkläre ich und hebe fast entschuldigend die Schultern. »Ich habe nie Zeit für irgendetwas, nicht für mich oder für Anela. Deshalb steige ich aus.«

Die Selbstsicherheit ist aus seinem Gesicht verschwunden. »Du liebst diese Arbeit«, widerspricht er, legt gleichzeitig die Hand beschwörend an meine Wange. Ich spüre jede Narbe an seinen Fingerkuppen wie brennende Nadeln, denn ein paar davon habe ich ihm zugefügt. »Du kannst nicht einfach aussteigen! Es ist deine Aufgabe und alle hier zählen auf dich!« Er schluckt und wiederholt seine Worte danach so langsam, als sei ich ein kleines Kind, was sich weigert richtig zuzuhören. »Du kannst nicht aussteigen!«

Ich ziehe den Kopf zurück, um dieser Berührung aus dem Weg zu gehen. Meine Stimme klingt abwehrend und endgültig, weil ich es wie die Pest hasse, wenn jemand mir eine Grenze setzen will. Meine Augen sprühen Funken. »Oh doch, das kann ich! Das und noch viel mehr.« Ich schenke ihm nun ein kaltes Lachen, was er bestimmt nicht hören will. »Den Vorfahren sei Dank, brauche ich von niemanden das Einverständnis, um zu tun, was ich will. Nicht deines und nicht Norbus. Von niemanden.«

Atréju sieht so aus, als hätte ihn ein Wildpferd mit voller Wucht in die Weichteile getreten. Das ist ein Schlag, der sein Ziel trifft, denn jeder andere fühlt sich unserem Anführer verpflichtet und untergeordnet. Ich nicht. Atréju nicht mehr zur Seite zu stehen, wird seine Arbeitszeit außerdem verdreifachen und ihm viele Schwierigkeiten bereiten. Norbu wird sich tierisch darüber aufregen, weil ihm nichts wichtiger ist als die Stärke unserer Krieger. Jeder andere würde sich seinem Willen beugen, wenn er den Rückzug verbietet, aber nicht ich. Jeder weiß, dass mir Norbus Meinungen und Anweisungen an meinem durchtrainierten Hintern vorbeigehen.

Ich trete den Rückzug an, da ich nichts mehr zu sagen habe. Atréju habe ich mit diesen Worten so vor den Kopf gestoßen, dass er völlig sprachlos ist, aber das ist mir egal. Sein Blick verfolgt mich Schritt für Schritt, bis die Biegung der Treppe mich verschluckt. Sein Blick brennt sich in meinen Rücken.

Kaum bin ich außer Sicht halte ich mit wild klopfendem Herz inne. Heilige, was habe ich getan?

Ich schiebe mir die Haare aus dem Gesicht, raufe dann ein paar meiner Strähnen mit geballten Fingern. Ich liebe die Arbeit mit Atréju. Ich liebe die Arbeit mit den Kindern und den anderen Jugendlichen. Bin ich verrückt das aufzugeben? Nur aus falschem Stolz? Ich lasse meine Haare los, stütze mich an das Geländer und schüttele den Kopf. Nein, was ich getan habe, war richtig. Ich mache keinen Rückzieher. Mein Leben kann sich nicht nur um andere drehen. Du hast alles richtig gemacht!, rede ich mir gut zu. Du brauchst Zeit für dich. Nur für dich.

Ich beginne wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Treppe hinabzusteigen. Das ist schwieriger als es aussieht, weil mich immer noch Zweifel plagen und auf Rückzug drängen. Unten am Ende der Treppe wartet Anela schon etwas zappelig auf mich und greift freudestrahlend nach meiner Hand, weil sie nicht ahnt, was ich gerade Fatales getan habe. Bei ihrem Anblick vergehen die Zweifel, sie zerplatzen so leicht wie eine Seifenblase. Nun habe ich die Möglichkeit Atréju aus dem Weg zu gehen und mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Dinge, die wichtiger sind. Wie Anela zum Beispiel. Mit dem nachtblauen Kleid und mit den schwarzen Perlen an den Schulterträgern sieht sie aus wie eine Waldfee. Zart und engelsgleich, weil die Kindheit noch an ihr haftet. Sie ist ein blasses Mädchen mit leuchtend erdbeerroten und lockigen Haaren. Dutzende von Sommersprossen sprenkeln ihr zartes Gesicht und man findet hundert weitere auf ihren Armen und auf ihrer Brust. Ihr Geburtsmal, die feuerroten Wurzeln auf ihrem Hals, vervollkommnen ihre ganze Erscheinung. Sie ist einfach wunderschön. Vor allem, wenn sie lächelt, was viel zu selten vorkommt.

Ich erwidere ihr Grinsen und den Druck ihrer Hände. »Mein liebster Teil des Tages!«, säuselt Anela und zieht mich hüpfend durch die Menge. Es ist auch mein liebster Teil des Tages, weil hier der Moment kommt, an dem meine Ziehschwester alle Ängste und Sorgen vergisst. Ein winziger Moment, in dem sie mutig und frei aussieht. Ein Moment, in dem sie glücklich wirkt. Etwas, was nicht sehr oft geschieht. Ein zwölfjähriges Kind sollte nicht so zerbrochen sein, sollte nicht so eine kaputtgetretene Seele besitzen und wie ein Gespenst durch das Leben streifen. Ich habe im Laufe der Jahre immer die Hoffnung gehabt, ihr alle ihre Ängste nehmen zu können, aber ich musste lernen, dass ich dagegen machtlos bin. Absolut machtlos. Waisenkindern wie uns kann man den Schmerz der Einsamkeit nicht leichter machen. Die Pein des Verlustes. Die Leere der fehlenden Liebe, die plötzlich nicht mehr da ist.

Ein paar Jungen und Mädchen Pfeifen anerkennend, als wir durch die Massen gehen, die sich hier wie jeden Morgen versammelt haben. Die meisten bekommen große Augen. »Wow, Nayla!«, haucht Achana mit verzaubertem Blick, als sie mich in dem traumhaften Kleid entdeckt. Beiläufig streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und rückt ihren Oberkörper ins rechte Licht. Der Liebe ihres Lebens ist sie bisher genauso wenig begegnet, wie ich selbst, und es ist nicht das erste Mal, dass sie mir ein Kompliment entgegenschleudert und meinen Körper bewundert. »Du siehst toll aus!« Heute aber leuchten ihre Augen besonders strahlend.

»Kommst du heute Abend zum Essen vorbei?«, fragt ein anderes Mädchen gierig, stiert mir aber auf den Körper und gönnt mir keinen Blick in meine Augen. Ein sehr freiheitsliebendes Mädchen, welches keine Scheu hat, mit jedem Sonnenaufgang eine neue Liebelei anzufangen. Egal, ob Junge oder Mädchen.

»Vergiss es!«, ruft Laqua ihr schadenfroh zu und stellt sich dabei auf die Zehen, um noch größer auszusehen. Über die Köpfe der anderen hinweg steckt er sein Territorium ab. »Nayla kommt schon zu mir zum Essen!« So wie Atréju sieht auch Laqua zum Anbeißen aus. Sein grinsendes Gesicht dreht sich in meine Richtung, er zwinkert mir mit seinem blutunterlaufenen Auge zu. Er muss im Training ganz schon was abbekommen haben, aber wie immer freut er sich über jeden Kampf. Seine ockerfarbene Haut glänzt schweißüberströmt. Seine Muskeln spannen sich an, als er nach mir greifen will. »Nicht wahr, Schönheit? Ich werde dich mit meinen eigenen Händen füttern, wenn du es verlangst.«

Ich trete lachend nach ihm, aber er weicht mir aus. »Nur weil ich die Einladung angenommen habe«, kontere ich locker, »Bedeutet das nicht, dass ich in deinem Beisein das Kleid ausziehe!« Das Grinsen weicht trotz meiner Abfuhr nicht aus seinem schönen Gesicht. Betont langsam beißt er sich auf seine sinnlich breiten Lippen, die wie Schokolade glänzen, so als wüsste er, dass mich das anlockt wie die Sonne die Blumen. Mein Grinsen wird breiter. Bei ihm bin ich mir nie sicher, was er will. Entweder mich mit all meinen Macken für den Rest seines Lebens an seiner Seite haben oder nur für ein bisschen Spaß zu zweit. Vielleicht ist es auch nur eine alberne Frotzelei unter Freunden. Wie gehabt ist es aber nur eine Einladung zum Essen, ich kriege täglich ein paar Dutzend, was also nicht zwanghaft eine tiefere Bedeutung haben muss. Im Gegensatz zu Atréju zeigt Laqua aber wenigstens Interesse an mir. Deshalb zwinkere ich nun zurück.

Ein gehässiges Raunen geht durch die Reihen. Ein paar Mädchen und auch Jungen rufen nun gleichzeitig: »Für wen würdest du denn das Kleid ausziehen, Nayla?« Ich hebe meinen Mittelfinger in die Luft, was meine einzige Antwort darauf ist. Anela zieht mich weiter. Ihre Wangen sind bei dem Wortwechsel bleich geworden und die Sommersprossen leuchten noch mehr auf ihrer blassen Haut, fast wie Glühwürmchen in der Dämmerung. Manche Menschen erröten, wenn ihnen etwas unangenehm ist. Anela nicht. Sie wird kreidebleich. Ich lache und zwicke sie von hinten in die Seite, um sie zu piesacken. Vor Schreck kreischt sie auf.

Wenige Minuten später stehen wir inmitten der Huna Ke Koa. Alle in Reihe und Glied. Siebenhundert starke Männer und Frauen in den hinteren Reihen. Dreihundert Kinder in den vorderen Reihen. Die Kleinsten stehen ganz vorne. Das Jüngste ist drei Jahre alt, aber nicht weniger beeindruckend.

Auf unserer Insel haben Kinder kaum die Möglichkeit, Kind zu sein. Wir haben keine Wahl, als sie zu Kämpfern zu erziehen, aber keiner von ihnen wird zu etwas gezwungen. Alle Kinder, die hier sind, sind freiwillig hier. Natürlich lernen die Kleinen noch nicht das Kämpfen, aber sie lernen sich lautlos durch die Natur zu bewegen. Sie lernen die Natur so zu benutzen, dass sie ihnen Schutz bietet. Sie lernen, wie man Verbände anlegt, wie man Wunden desinfiziert, wie man Spuren liest.

Seit Norbu unserem damaligen Lehrmeister Litu befohlen hat, die Kämpfer nicht mehr anzuführen – da er angeblich zu alt ist, was, wie ich weiß, nur eine fade Ausrede ist – habe ich Atréju dazu gebracht, uns im Kampf anzuführen. Litu arbeitete zielgerichtet und ging hart mit uns um, aber er war sehr weise. Er bemühte sich immerwährend, sein Wissen an uns weiterzugeben und unser Mensch-Sein nicht aus den Augen zu verlieren. Wir alle haben ihn bewundert. In Norbus Augen wohl zu sehr, denn Litu war zwar ein großer Krieger und bildete uns zu seinen Ebenbildern aus, war aber gleichfalls darauf aus, uns nicht zu gefühlskalten Kriegern mutieren zu lassen. Man sollte einem Kampf immer aus dem Weg gehen und Gewalt nie die Chance geben, sein Leben bestimmen zu lassen. Norbu, unser Anführer, will aber das Gegenteil. Er will die blanke Gewalt gegen unsere Peiniger, gegen unsere Feinde. Ich verstehe Norbus Hass nur zu gut, aber ich verstehe auch Litu, dem die Erhaltung der Menschlichkeit und des Mitgefühls so wichtig war.

Mein Vorschlag, Atréju als Litus Nachfolger auszuwählen, war kein dummer Zug von mir. Norbu, welcher gedacht hat, dass diese Wahl ihm zugutekommt, musste erkennen, dass Atréju viel von Litu gelernt hat. Auch wenn Atréju zu diesem Zeitpunkt gerade seine Eltern verloren hatte und voller Wut war, ließ er sich nicht von seinen Gefühlen leiten, behielt stattdessen seine Vernunft und Menschlichkeit bei. Seit seiner Funktion als Lehrmeister lernen die Kinder noch viel mehr als früher. Dinge, die viel wichtiger sind als blanke Wut und rachsüchtige Gedanken. Sie lernen Zusammenhalt. Sie lernen Disziplin. Das Wichtigste aber: Sie lernen es mutig zu sein und keine Angst haben zu müssen. All das, was Norbu im Keim zu ersticken versucht. Denn Angst entfacht Wut und Wut ist nötig, um unsere Feinde, einem nach dem anderen, abzuschlachten – zumindest ist das Norbus Ansicht. Nicht die unsere.

Von Anfang an stand ich Atréju zur Seite und habe ihn dabei unterstützt, seine Pläne für die Lehrjahre der jungen Krieger umzusetzen. Es war viel harte Arbeit und sie war es wert. Jetzt aber braucht Atréju mich nicht mehr. Anela aber braucht mich. Sie braucht mich nicht klein und verletzlich, so wie ich zu werden drohe. Sie braucht mich stark und unnachgiebig, so wie ich es die letzten Jahre war. Deswegen ist es wichtig, nun mehr auf mich zu achten, mehr für mich selbst zu tun.

Anela lässt meine Hand los und mustert die Menschen um uns herum. Die Kleinen neben uns grinsen voller Vorfreude. Die Älteren, die schon vollwertige Huna Ke Koa und mit den schwarz umrandeten Wimpernkranz gekennzeichnet sind, ebenfalls. Denn den Kriegstanz hat Atréju eingeführt und wir alle lieben ihn. Es ist ein Akt, der einem Mut zuspricht, der einen stärker macht, der einem die Furcht nimmt und uns zusammenschweißt. Wir agieren gemeinsam und stehen nicht alleine da. Auf den, der neben uns steht, auf den, der hinter uns steht, egal, wer in unserer Nähe ist, wir können uns auf ihn verlassen.

Anela grinst mich schief an. Auch wenn sie sehr ruhig und zurückhaltend in der Gegenwart anderer ist, so ist sie beim Kriegstanz eine der Lautesten. Ihre geballte Stimme macht mich immer stolz, ihre funkelnden Augen und der Mut, welcher unerschütterlich in ihrem Gesicht zu erkennen ist.

Es geht los. Ich werfe einen Blick über die Köpfe der anderen zu dem Mammutbaum. »’O’ana ô takamā, Koa?«, ruft Atréju mit stolz herausgestreckter Brust von der Plattform herunter. Seid ihr bereit, Krieger? Seine Arme sind angespannt vor Kampfeslust, sein Blick liegt durchdringend auf mir. Seine ganze Erscheinung ist beeindruckend. Die Muskeln, seine faszinierende Hautfarbe. Seine in den Bann ziehenden Augen.

Ich brülle los und hebe die Faust. Die anderen tun es mir gleich. Unsere Masse kreischt und faucht und stößt die Hände in die Luft. Der Krach der Krieger wummert in meinen Ohren und beschert mir eine angenehme Gänsehaut. Selbst die Kleinen ganz vorne gehen völlig in diesem Ritual auf.

»’O’ana ô takamā, Koa?«, erschallt erneut Atréjus dröhnende Stimme. Seid ihr bereit, Krieger?

Die Masse bewegt sich synchron. Wir klatschen uns lautstark gegen die Brust und stampfen mit den Beinen auf die Erde, sodass wir nun alle kampfbereit dastehen. Alle Blicke sind auf Atréju gerichtet. Unsere Kiefer angespannt. Unsere Lippen ein schmaler Strich. Unsere Augen sind voller Mut.

»Tu’a korá?« Wer seid ihr?

»Huna Ke Koa«, rufen wir mit tiefen Stimmen. Unser Gesang dröhnt über die Lichtung und durch den angrenzenden Wald. Das Tierreich verstummt ehrfürchtig.

Ich weiß noch, als Norbu diesem Tanz das erste Mal beiwohnte. Wie er von dem feurigen Glanz in unseren Augen hypnotisiert wurde und voller Ehrfurcht erstarrte. Wie er die Bewegungen unserer angespannten Arme verfolgte, wie er unseren dröhnenden Stimmen lauschte. Er war regelrecht begeistert von der Wut, die in uns innewohnte. Er wusste aber nicht, dass das, was wir wollten, nicht das war, wonach er gestrebt hat.

»He’ou korá mahalea?«, erschallt Atréjus Stimme. Was wollt ihr?

»Ka pi’oua!«, zischen die anderen wie Schlangen. Frieden!

Mein Volk will Frieden. Anela will Frieden. Sie sind bereit dafür auf die Knie zu gehen, Kompromisse einzugehen, sich den Feinden zu unterwerfen. Nur wenn der Kampf nötig ist, werden sie zu den frisch geschliffenen Waffen greifen. Nur wenn der Untergang unserer Feinde nötig ist, werden sie damit tödlich zustechen. Sie alle hoffen, dass allein der Anblick unserer Krieger sie in die Schranken weist. Dass sie kapitulieren und aufgeben.

Ich verstehe Norbu und warum ihm das Grinsen damals aus dem Gesicht gerutscht ist. Meine Antwort lautet genauso wie seine.

Ka’ua tâlmuo. Der Kampf. Ein Kampf, der längst überfällig ist. Ich will aber auch mehr als nur das. Ich will eine Revanche, einen Vergeltungsschlag, ihre komplette Vernichtung. Ich will Rache. Ich will keine Kompromisse, ich werde mich nicht den Feinden unterwerfen. Ich werde niemals vor jemanden auf die Knie gehen.

Wir alle heben nun synchron die Arme in die Luft. Strecken sie langsam nach oben weg und lassen sie dann gemeinsam, so als wären unsere Arme eine gemeinsame große Klinge, nach unten sausen. Wir stampfen mit unseren Füßen nacheinander auf den Boden. Die Erde bebt unter den Tritten. Unsere Fäuste knallen gegen unseren Brustkorb. Immer wieder, um zu zeigen, wie hart unsere Schläge sind, wie kräftig unsere Tritte. Es hört sich an wie ein Bergrutsch. Nichts kann die Masse an Geröll aufhalten, wenn sie die Welt umkrempelt und alles niederwalzt. Genauso soll es auch sein. Einschüchternd, zurückdrängend, ehrfürchtig.

»Seht uns kommen, wir weichen keinen Schritt zurück!«, fauchen wir im kriegerischen Gesang. »Wunden mögen bluten, Tapferkeit und Stärke nicht!« Unsere Stimmen sind ein Chor aus Tapferkeit und Hoffnung. Unsere Augen sprechen die Sprache des Mutes und der Hingabe. Unseren Feinden mag es gelungen sein, uns zu schwächen und uns mit Schmerz zu erfüllen, aber noch liegen wir nicht am Boden. Wir halten uns aufrecht. Wir leben weiter.

»Seht die Macht der Pflanzen. Seht den Glanz unserer Klingen. Der Frieden wird euch niederringen.« Es geht nicht nur um das Überleben, das habe ich auf harte Weise herausfinden müssen. Man darf auch nicht vergessen zu leben, zu lieben, zu lachen. Einfach ist das nicht. Im Moment habe ich nicht das Gefühl zu leben, nur zu überleben, aber das will ich ändern. Ich will ein Leben leben, glücklich sein.

Der Tau an meinen Füßen

Kapitel 2

Der Wald ist mein Zuhause. Lautlos schleiche ich durch ihn hindurch. Ein Blick nach oben zeigt die großen Kronen der Bäume. Saftig grüne Blätter, die aneinander im Wind rascheln und einen leisen beruhigenden Klang hinterlassen. Sie sind so zahlreich und dicht bewachsen, dass die wenigen Sonnenstrahlen in Waldbodennähe nicht mehr als einem zarten Flimmern gleichen. Unter meinen nackten Füßen ist dunkelgrünes Moos, sanft gibt es bei jedem Schritt nach, sodass meine Sohlen den Tau küssen können. Kleine Frösche hüpfen bei jedem Schritt vor mir her, so winzig wie der kleine Nagel meines kleinen Fingers.

Ich bin geschickt und leise, bewege mich so vorsichtig und langsam, dass die meisten Tiere mich völlig ignorieren. Ein Blick weiter nach vorne verrät, dass es Anela wie befürchtet nicht so leicht gelingt. Meine kleine Schwester hat noch Schwierigkeiten sich dem Wald anzupassen, sich in den letzten Wochen aber deutlich verbessert. Einziges Manko bleibt ihre immerwährende Ungeduld, die auch jetzt auf ihrem sommersprossigen Gesicht deutlich abzulesen ist. Alleine um mich zu ärgern, würde sie diese Mimik zur Schau stellen. Ich weiß, dass sie dieses Training verabscheut, genauso wie sie weiß, dass ich mich irgendwann immer durchsetze.

Das ist das Problem, das zwischen meiner Ziehschwester und mir immer wieder für Streitereien sorgt. Ich will, dass sie kämpfen kann und sich zu verteidigen weiß. Ich habe Angst, dass der Krieg nie aufhört und sogar noch schlimmer wird. Als große Schwester ist es also nicht zu viel verlangt, dass sie sich zu verteidigen weiß. Anela will aber von alldem nichts hören. Sie will nie eine Waffe gegen jemanden richten. Nie ihre Faust einsetzen. »Ich richte nicht über ein Menschenleben«, sagt Anela immer. Ein Satz, der mich auch noch nach Jahren auf die Palme bringt. Allerdings bin ich ihr genauso wichtig wie sie mir. Wir haben nur noch uns beide. Das ist mein bestes Druckmittel, um sie zu Kompromissen zu nötigen. Mein sorgenvolles: »Ich habe Angst um dich!«, was ich öfter über die Lippen bringe, ist geplante Vorarbeit. Wenn ich sie dann irgendwann spontan vor den Kopf stoße mit meinen Planungen und ich dann einen Welpenblick aufsetze, dann ist sie, den Vorfahren sei Dank, gnädig und lenkt ein. Sie weiß dank dieses perfektionierten mitleidigen Blickes inzwischen mit einer Klinge und ihren Fäusten umzugehen. »Nur damit du dir keine Sorgen mehr machst«, knickt sie dann meistens ein. Nach den Jahren ist sie inzwischen sehr gut geworden und weiß ihren Körper vor Schäden zu verteidigen. Ob sie bereit ist, das auch in einer Notsituation anzuwenden, ist etwas, was ich hoffentlich nie herausfinden werde.

Heute ist ein wichtiger Tag für sie. Eine wichtige Lektion, in der sie sich endlich beweisen muss, auch wenn sie alles andere als begeistert davon ist. Der Welpenblick, den ich vorhin aufgesetzt habe, hat Wirkung gezeigt und ihre Gegenwehr vernichtet. Genau deswegen trägt sie jetzt diesen genervten Blick zur Schau, der mir ein sachtes Lächeln auf die Lippen zaubert.

Mein Herz schwillt unweigerlich an, so wie jedes Mal, wenn ich sie ansehe. Bei meinen Ahnen, es gibt niemanden auf der ganzen weiten Welt, der mir so viel bedeutet wie sie, und ich könnte die Liebe, welche ich für sie hege, niemals mit wenigen Worten beschreiben. Ich sehne mich tagtäglich nach ihren strahlenden und hinterlistig leuchtenden Augen, hasse aber die Momente, in denen das Feuer in ihren Augen erlischt. Die Momente, in denen sie in Gedanken gefangen ist und von Trauer und Leid überwältigt wird. In denen sie sich vor mir zurückzieht und alleine mit ihren kleinen Geheimnissen und Gedanken zurechtzukommen versucht. Die Momente, in denen sie mich nicht an sich heranlässt. Jeder einzelne Tag besteht aus zu vielen dieser Momente.

Auch wenn wir nicht blutsverwandt sind, so liebe ich sie wie eine richtige Schwester. Ich kann nicht einschlafen, wenn ich ihren ruhigen Atem nicht höre, sei ich auch noch so müde. Ich kann nicht essen, wenn sie traurig ist, jegliches Hungergefühl verschwindet sofort. Wenn wir zusammen was machen, dann greife ich ständig nach ihrer Hand und halte sie fest. Halte sie einfach fest und genieße die Wärme, die von ihr ausgeht. Es ist inzwischen ein Zwang ihre Haare zu berühren und den Duft ihrer Haut zu riechen. Ein Zwang, der aus der Angst heraus entstanden ist.

Ich habe zu viele Menschen in meinem Leben verloren. Familie und Freunde. Ich bin jedes einzelne Mal davon in ein tiefes Loch gestürzt und irgendwann war es soweit, dass ich nicht mehr daraus hervorkam. Ein kleines Mädchen mit Dutzenden von Sommersprossen im Gesicht war meine Rettung. Anela war meine Rettung. Genauso gut kann sie aber auch jederzeit mein Untergang sein. Wenn ich sie auch noch verlieren sollte, dann ist alles vorbei. Jeden Tag aufs Neue mache ich mir deshalb bewusst, dass sie noch da ist, dass sie immer noch lebt und atmet. Das ist alles, was ich brauche und der einzige Grund, warum ich noch leben und atmen und lachen kann.

Ich vergöttere sie. Sie ist mein Leben. Ohne sie bin ich nichts.

Beim nächsten Schritt halte ich vorsichtig inne. Etwas kitzelt mich am Fuß. Nur widerwillig folgt der Blick nach unten, da mir die Berührung merkwürdig bekannt vorkommt. Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle, denn meine Befürchtung bewahrheitet sich. Sie ist mitten auf meinem nackten Fuß. Ein avocadogroßer Körper, der das tödlichste Gift produziert. Lange und haarige Beine, die langsam und qualvoll über meine empfindliche Haut tippeln. Jedes der acht Beine lässt mir ein Kribbeln in der Kehle aufsteigen. Tief einatmend presse ich die Lippen aufeinander und versuche das aufkommende Kichern zu unterdrücken. Meine Schwester vor mir hält ebenfalls inne. Nur ihr Kopf wendet sich langsam zu mir um, dann drückt sie sich lautlos die Hand vor den Mund. Ihr abgehackter Lacher schallt trotzdem durch den Wald.

Ich beiße die Zähne hart aufeinander und wage es nicht mehr zu atmen. Vorsichtig schüttele ich dann die Spinne von meinem Fuß und beobachte, wie sie vor Schreck die Beine an den Körper zieht und sich tot stellt. Ein Grinsen zerrt an meinen Mundwinkeln, als ich den Kopf hebe und meiner Schwester mit einem Nicken zu verstehen gebe, weiterzugehen. Dann folge ich ihr wieder und beobachte aufmerksam unsere Umgebung, damit wir nicht plötzlich vom Jäger zum Gejagten werden. Die Jagd nach dem Giganten des Himmels kann sich schnell in eine Flucht auf Leben und Tod wandeln. Drei wulstige Narben haben seine Krallen auf meiner Haut hinterlassen, welche mich immer daran erinnern, ihn nicht zu unterschätzen und immer auf einen Angriff von ihm gewappnet zu sein. Vor allem, wenn meine Schwester sich an der Jagd beteiligt.

Langsam setzt Anela einen Fuß vor den anderen, genauso wie ich. Zentimeter für Zentimeter setzen wir erst die Ballen auf und rollen den Fuß dann sachte ab, ohne dass unsere Hacken tatsächlich den Boden berühren, da die trockenen Äste sonst womöglich ein lautes Knacken von sich geben würden. Der Wind kommt von Norden, sodass wenigstens unser Geruch fortgetragen und unsere Position nicht verraten wird. Die sich kreuz und quer windenden Baumstämme, welche in diesem Teil des Waldes bizarr in alle Richtungen wachsen, erschweren uns unser Anschleichen aber merklich.

Der Boden unter unseren nackten Füßen ist moosgrün, die Baumwipfel smaragd- und lichtgrün, und zu beiden Seiten vermischt sich helles Laub- mit dunklem Tannengrün. Farne, Moos, Efeu und Pilze wachsen an den breiten Stämmen empor. Die Rinden sind hell und dunkel, marmoriert und gefleckt, glatt und kantig, geriffelt und zerfressen, andere sogar von spitzen Stacheln bedeckt. Noch ein prüfender Blick zu Anela, die schon wieder in ihre Gedankenwelt abrutscht. Ein mahnender Blick von mir, ein entnervtes Augenrollen von ihr, dann konzentriert sie sich wieder. Das Flattern von Flügeln umgibt uns, versinkt aber zwischen dem Gezwitscher und dem Tschilpen der Vögel, die uns an ihren schönen Liedern teilhaben lassen. Manche von ihnen sind winzig klein, dafür aber mit einem imposanten Federkleid bestückt, das nicht nur in den unterschiedlichsten Farben leuchtet, sondern vor allem in Form und Länge variiert und einen immer wieder in den Bann schlägt. Andere von ihnen sind hingegen so groß, dass sie mit Leichtigkeit Füchse und Bisamratten jagen können und sich auch gerne mit anderen Raubtieren anlegen, um die erlegte Beute streitig zu machen.

Ich stehe inmitten dieses Paradieses. Ein Paradies, welches meinen Atem stocken, mein Herz pulsieren und meine Finger kribbeln lässt. Ein Paradies, welches mich jeden Tag aufs Neue innehalten und alle Sorgen vergessen lässt.

Ich könnte stundenlang die Kolibris beobachten und versuchen, die Farben und Formen der Flügel zu erkennen, mit denen sie so schnell vor und zurück und gleichzeitig auf und ab schlagen, sodass außer einem flatterhaften Schatten nichts zu erkennen ist. Ich könnte den ganzen Tag auf dem sonnenuntergangsfarbenen Rücken eines Pukana sitzen und den muskulösen Leib unter mir traben spüren, während es schnauft, die Erde unter seinen Hufen bebt und ich mich jauchzend an dem elfenbeinfarbenen Geweih festhalte. Ich könnte mich in das taufrische Gras inmitten einer bunt besprenkelten Wiese legen und den Sonnenaufgang beobachten, während die Natur um mich herum zum Leben erwacht und die Tiere explosionsartig ein ohrenbetäubendes Konzert an den verschiedensten Lauten zum Besten geben. Selbst die Schlangen, Nattern und Tausendfüßler, die sich unter dem raschelnden Laub hindurchschlängeln, könnten für Stunden meine Aufmerksamkeit fordern.

In diesem Moment aber darf ich mich von der Schönheit der Natur nicht ablenken lassen.

Den Blick nach oben in die Baumkronen gerichtet, spanne ich abermals meine Zunge an den Gaumen und lasse sie nach unten schnalzen. Das klackende Geräusch, welches dabei entsteht, schallt leise durch den Wald. So leise, dass es kaum jemand wahrnimmt. Wenn doch, dann ist es zu unscheinbar. Unscheinbar genug, damit niemand auch nur erahnen kann, woher dieses Geräusch rührt. Für den Giganten aber ist es laut genug. Laut genug, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Hoffentlich.

Ich rücke noch einmal meinen Gürtel mit den beiden scharfkantigen Klingen zurecht. Der Gigant des Himmels ist nicht nur eines der gefährlichsten, sondern auch eines der eindrucksvollsten und zugleich angsteinflößendsten Tiere dieses Paradieses. Sein Körper misst an die zwei Meter und seine Flügelspannweite beträgt mehr als das Doppelte. Sein Schnabel ist so spitz wie ein Speer und seine Augen so groß wie die Faust eines kräftig gebauten Mannes. Sein Federkleid leuchtet in einem flammenden Rot und die zarten Federn an seinem Kopf und seinem Bauch sehen aus, als wären sie mit Asche eingerieben worden. Wäre ich unter den Sitten, Gebräuchen und der Religion der Festlandbewohner aufgewachsen, würde ich wohl denken, dem Teufel höchstpersönlich gegenüberzustehen und um Gnade flehend auf die Knie sinken. Da ich aber eine gebürtige Ho’oulu bin – aufgewachsen auf einer Insel fernab des Festlandes, wo man sich nicht dazu herablässt, zu Göttern zu beten – liegt mir nichts ferner, als in Ehrfurcht zu erzittern, denn auch mich sollte man fürchten.

Auf den ersten Blick fallen einem vielleicht nur meine kleine Statur und meine langen sandfarbenen Haare auf, welche mir bis zu den Oberschenkeln reichen. Auf den zweiten Blick sieht man meine zarten Muskeln und meine von Narben bedeckte Haut. Ein Blick in meine schwarz umrandeten Augen, welche wie frisches Gras aussehen, verrät, dass sich mehr hinter diesem zu kurz geratenen Mädchen verbirgt, als es im ersten Moment den Anschein hat. Meine oftmals hochgezogenen Augenbrauen und das aufflackernde Leuchten in meinen Augen, kann kaum meine trotzige und dickköpfige Art überdecken. Am auffälligsten ist aber das blaue Mal, welches aus meinem Nacken entspringt und sich wie ein Wurzelgeflecht bis nach vorne über meinen Hals ausbreitet. Wer es sieht, der weiß, dass ich niemand bin, den man sich als Gegner wünscht.

Als wir wenig später ganz tief versteckt im Wald unserem geheimen Platz erreichen, verlässt meine kleine Schwester die Lust an der Jagd. Missgelaunt lässt sie sich auf der Hängematte nieder, welche ich vor ein paar Jahren mithilfe meiner Macht aus Lianen erschaffen habe und welche nur eine Handbreit über dem Waldboden hin und her gleitet.

»Was ist die Iho Aloha?«, fragt sie leise, noch während meine Augen auf den Wald gerichtet sind. Mein Kiefer spannt sich automatisch an und meine Finger ballen sich zu Fäusten, denn dieses Training ist verdammt wichtig für sie und es wurmt mich zutiefst, dass sie das nicht ernst nimmt. Es geht schließlich um unser Überleben.

»Du hast mal wieder heimlich jemanden belauscht, nicht wahr?«, stelle ich die viel wichtigere Gegenfrage, die eigentlich keiner Antwort bedarf, weil ich meine Schwester ganz genau kenne. Ich brauche Anela nicht ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, dass sie sich ertappt auf die Lippe beißt. Dennoch lasse ich es mir nicht nehmen, sie vorwurfsvoll anzusehen.

Anela erwidert meinen erbosten Blick nicht, liegt einfach rücklings auf den ineinander verzweigten Lianen. Ihre erdbeerroten Haare fallen über das Lianenbett, gleiten bis über den Boden. Ihre Augen sind auf eine Raupe geheftet, dick, haarig und grün wie Gras, die an einer der Lianen entlang krabbelt. Eine Art, die giftiger nicht sein könnte, dennoch schweben ihre Finger nur Zentimeter über ihr hinweg, als wenn sie den Tod, den diese Berührung auslösen würde, aus der Laune heraus provozieren will.

»Iho bedeutet Seele, nicht wahr?«, bohrt Anela vorsichtig nach, wobei sie jeden Moment damit zu rechnen scheint, dass ich wütend auf sie bin, aber ihre Neugier doch groß genug ist, jenes in Kauf zu nehmen. »Und Aloha bedeutet Liebe, also ist es … die Seelenliebe?«