Nebelbraut - Ariane Rücker - E-Book

Nebelbraut E-Book

Ariane Rücker

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Beschreibung

Susi, die nicht einmal mehr für ihre Mutter zur nahegelegenen Bäckerei gehen konnte, hielt den Atem an. Die Augen weit aufgerissen, starrte sie ins Dunkel, die Blutflecken an der Wand hinter ihrem Bett schimmerten schwarz. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, füllte sich mit Angst, drohte sie zu ersticken. Die Schattenwesen hatten sich in ihre Nischen zurückgezogen und lauerten. Susi versuchte, die Ungeheuerlichkeit zu begreifen, sich das Leben ohne all das Vertraute um sie her vorzustellen. Abschied zu nehmen. Abschied von Kerstin, mit der sie alles teilte und von Jens, der schon groß war und sich ihr Freund nannte, dann aber doch immer wieder Dinge tat, für die Susi Geschimpftes bekam, von Lulia aus der HO und der Bäckerin, die immer Bescheid wusste, vom Friseur, der mit der Schere in der Luft klapperte, von Herrn Seidel mit dem Knattermoped und vom Winkemann… Hier fielen ihr die Geister wieder ein... Folgen Sie der kleinen Susi ins Dunkel des Schlafzimmers; lernen Sie Nofretete, die einsame Jägerin kennen; treffen Sie Krispin, den kühnen jungen Mann, der für eine Wette einen Viadukt überquert und zünden Sie für den sündigen Vater eine Kerze an ... Erzählungen, die Sie mitreißen werden.

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Nebelbraut2

Titel SeiteSusis GeisterBegegnung im RegenFünf Minuten, in denen nichts passiertFür jeden brennt ein LichtDaher also weht der WindNebelkrautWer werfe den ersten SteinSommer 1891AbschiedSpäte LiebeFeenhainDer Zug nach HauseSamstag wird gebautDer StrohhutDie heutige ZeitungDie verflixten AmerikanerFrau SchmidtDer AnrufWiedersehenKorsakowSchein und SeinMontagszauberEin bisschen WärmeDer SammlerMelissas WunschHoher BesuchDie Kraft der GedankenDankLeseempfehlung

Ariane Rücker erblickte in Meißen, im Schatten der geschichtsträchtigen Albrechtsburg, das Licht der Welt. Bereits in früher Kindheit weckte ihr Vater bei ihr die Liebe zum Hören und Erzählen von Geschichten.

Nach einer Uhrmacherlehre studierte sie nacheinander Feinwerktechnik, Belletristik und Sozialpädagogik.

Sie arbeitete als Konstrukteurin, Familientherapeutin, Dozentin und Therapeutin für chronisch psychisch Kranke, ehe sie sich als Technische Redakteurin und Lektorin für wissenschaftliche Arbeiten selbstständig machte.

Die Liebe zum Erzählen und Schreiben bestimmt bis heute ihr Leben.

Ariane Rücker hat drei erwachsene Kinder und lebt in der Sächsischen Schweiz.

Bisher sind von ihr erschienen:

"Wie du mir, so ich …, Aggressionen zwischen Müttern und Töchtern" (Sachbuch);

"Paul hat zu tun" (Kinderbuch) und

gemeinsam mit Tochter Antje

"Fest der Erwartungen" (Weihnachtsgeschichten) sowie zahlreiche Zeitschriftenartikel und Beiträge in verschiedenen Anthologien.

Ariane Rücker ist Mitglied im Neustädter Autoren e. V.

Ariane Rücker

Kurzprosa

Nebelbraut

Kurzweiliges für die Badewanne und für unterwegs

Nebelbraut

Copyright © 2016. Alle Rechte bei der Autorin

Verlag: epubli GmbH, Berlin

Lektorat:Neustädter Autoren e. V.

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über

http://dnb.d-nb.de

Für meine Mutter und meinen Vater,

denen ich die Gabe verdanke,

Phantasie zu entwickeln.

Inhalt

Susis Geister 

Begegnung im Regen

Fünf Minuten, in denen nichts passiert 

Für jeden brennt ein Licht 

Daher also weht der Wind

Nofretetes Entscheidung

Nebelkraut

Wer werfe den ersten Stein

Sommer 1891

Abschied

Der Zug nach Hause

Späte Liebe

Das Märchen von der verlorenen Wurzel 

Feenhain

Nomen est omen

Samstag wird gebaut 

Der Strohhut 

Die heutige Zeitung

Die verflixten Amerikaner 

Frau Schmidt 

Der Anruf 

Wiedersehen

Korsakow

Schein und Sein

Montagszauber

Der Sammler

Melissas Wunsch

Hoher Besuch

Die Kraft der Gedanken

Susis Geister

Das Weckerklingeln löste die samtige Schwärze auf und vertrieb die Gespenster, die Nacht für Nacht das Kinderbett umlagerten. Der Vater wälzte sich auf die andere Seite. Susi starrte ins Nichts. Sie lag häufig wach, sodass sie selbst davon überzeugt war, niemals zu schlafen.

Wenn es dunkel wurde und sie in diesen Raum geschickt wurde, kam auch die Angst. Kaum hatte der Vater das Licht ausgeknipst, krochen die nebligen Gestalten aus ihren Verstecken und versammelten sich um das Bett. Und jedes Mal fragten sie, ob Susi lieb gewesen war. Sie dachte an das enttäuschte Gesicht oder die laute Stimme der Mutter. Manchmal befühlte sie auch die Stellen, an denen die Hand der Mutter Abdrücke auf ihrer Haut hinterlassen hatte, sank noch tiefer in ihre Kissen und zog die Bettdecke bis ans Kinn.

Wenn es ganz schlimm kam, lehnten sich die Geister sogar über das Bett, so dicht, dass Susi ihren Atem spüren konnte. Dann kroch sie tief unter die Decke und traute sich erst wieder hervor, wenn das Moped von Herrn Seidel aus dem Nachbareingang vor dem Fenster vorüber knatterte.

Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis der Wecker dem Grauen ein Ende machte. Susi liebte den Wecker. Er bestand aus drei Teilen, dem Uhrwerk und zwei grünen Lederschalen, die abends wie ein Haus zusammengesteckt wurden.

Tagsüber durfte Susi damit spielen. Dann klappte sie das Zifferblatt in die Mitte und ließ das Etui wie eine Tasche darum schnappen. Europareisewecker nannte ihn die Mutter, wobei sie das „Europa“ besonders betonte. Niemand anderes, nicht einmal Susis beste Freundin Kerstin, hatte einen solchen Wecker. Und gleich gar keinen, wo Europa drin war. Lag es daran, dass die Mutter Uhrmacherin war? Oder daran, dass sie vor Susis Geburt eine Weile in Westdeutschland gelebt hatte? In Köln. Susi konnte sich nicht vorstellen, wo das lag und was dort anders sein sollte, als hier in Meißen. Aber sie hörte oft, wie die Mutter dem Vater vorwarf, dass er sie überredet hatte, in den Osten zu kommen. Dass sie nun, seit es die Mauer gab, gezwungen war, in diesem Kaff festzusitzen, wo es weder eine ordentliche Arbeitsstelle für sie noch einen Kindergartenplatz für Susi gab.

„Noch fünf Minuten“, hörte sie den Vater murmeln und wusste, jetzt drehte er sich um und vergrub sein Gesicht in Mutters Locken. Irgendwann stand er auf und versuchte, im Dunkeln geräuschlos in die Küche zu gelangen. Meist stieß er dabei an das Bettgestell oder lief gegen den Stuhl vor Susis Bett. Es klapperte, wenn er das Kaffeewasser aufsetzte, dann plätscherte im Bad sein Waschwasser und beim Rasieren sang er „…als Büblein klein an der Mutterbrust …“. Beim Anziehen raschelten seine Sachen.

Im Wohnzimmer deckte er den Tisch für sich. Während er noch Salz und Butter aus der Küche holte, stieg Susi aus dem Bett und setzte sich in der Wohnstube auf ihren Stuhl. Es war noch kalt im Zimmer und sie rieb die nackten Füße aneinander. Wie jeden Morgen tat der Vater so, als hätte Susi ihn überrascht. Sie lachten. Er bestrich zwei Schwarzbrotschnitten dick mit Butter. Nebenbei erzählte er von seiner Arbeit und über Kollegen, deren Namen Susi immer wieder vergaß, von Problemen, die er auf seinem Schreibtisch liegen hatte und von seinem Chef, der kluge Entscheidungen traf.

Was musste der für ein mächtiger Mann sein, wenn er sogar dem Vater sagen durfte, was er zu tun hatte! Susi sah den Chef ihres Vaters vor sich, wie er in einem purpurnen Mantel mit Leopardenkragen vor ihren Vater hintrat und Befehle erteilte. Während sie versuchte, sich ein Bild von der Arbeit ihres Vaters zu machen, streute er Salz auf die Butter und plauderte weiter. Von Sperrholz und Messingblech, das er zum Bau seiner Modelleisenbahn benötigte, von Schrauben und Muttern, die es wieder einmal nicht zu kaufen gab, und von Politik. Susi hing an seinen Lippen. Beim Abendbrot sprach er von genau denselben Dingen, dann verdrehte Susi die Augen und seufzte ein ums andere Mal, weil die Mutter das auch so machte.

Der Vater war inzwischen bei der zweiten Scheibe Brot angelangt, die er tief in den Kaffee tauchte, ehe er abbiss. Susi fand den bitteren Geschmack eklig, aber es gab nichts Wichtigeres für sie, als morgens bei ihrem Vater von der eingetunkten Butterschnitte abzubeißen. Verlangend riss sie den Mund auf und zeigte dabei ihre erste Zahnlücke. Der zweite und der letzte Bissen waren immer für sie. Gemeinsam brachten sie das Geschirr in die Küche. Dann packte der Vater seine Aktentasche, stopfte die Aluminiumblechdose mit den Pausenbroten an eine freie Stelle und zog und zerrte so lange an der ledernen Klappe, bis die Schnallen endlich zuschnappten.

Er umarmte seine Tochter und gab ihr einen Kuss. Susi lief ans Küchenfenster, schob die Scheibengardine beiseite und winkte. Er winkte zurück, bis er aus dem Lichtkreis der Straßenlampe vor dem Haus trat und die Dämmerung ihn verschlang.

Susi krabbelte wieder ins Bett. Es war nicht mehr so dunkel im Zimmer und die Geister hatten sich zurückgezogen. Die Mutter schlief noch. Susi streckte sich aus und fiel in einen traumlosen Schlummer.

Als in der Küche das Geschirr klapperte, schlappte Susi verschlafen ins Bad. Die Waschmaschine musste schon seit einer Weile laufen, denn die erste Ladung Wäsche lag bereits zum Spülen in der Badewanne. Sie hob den Deckel der Waschmaschine an und lugte hinein. Susi liebte es, die schaumigen Wirbel zu verfolgen. Da die Mutter nicht in der Nähe war, erlag sie der Versuchung und hielt probeweise einen Finger ins Wasser – und verbrühte sich. Sie weinte ein bisschen, aber es war keiner da, der sie trösten konnte, denn gleich darauf sah sie die Mutter durch das Badfenster draußen auf dem Wäscheplan.

Susi zog sich rasch an. Wenn die Mutter hereinkam, würde sie zum Bäcker gehen. Trällernd hopste sie in die Küche.

„Hinter dem Pullini Pompali ...“, sang sie.

„Es muss heißen: Hinter den Kulissen von Paris“, sagte die Mutter, doch Susi wusste es besser.

Sie hatte die zerkratzte Stimme vom Deutschlandfunk genau im Ohr und die sang:

“… Pullini Pompali …”. Die Stimme gehörte Miräh Matjö, Vaters Lieblingssängerin und der Deutschlandfunk war verboten, doch der Vater hörte ihn heimlich.

In der Küche stand der blau gesprenkelte Emaillewindeltopf auf dem Herd und glucksende Geräusche verrieten, dass Unterwäsche und Handtücher darin brodelten. Ab und an rührte die Mutter mit einem großen Holzlöffel die Wäsche um und Susi rümpfte die Nase.

Der Schlüssel rasselte im Schloss und Susi bekam von der Mutter ein freundliches „Guten Morgen“ und einen Kuss.

„Na, du bist ja schon fertig. Dann kannst du gleich losgehen.“

Susi nahm das Geld und den kleinen Stoffbeutel, den die Mutter aus einem alten Schirmbezug genäht hatte und hopste die frisch gewachsten Stufen hinunter.

Der Weg führte an dem gelben Wohnblock entlang und folgte dann der Hauptstraße. Vorbei am Friseurladen, wo sich die alten Männer die Bärte abnehmen ließen. Der Frisör, der auch ein alter Mann war und beim Schneiden immer mit der Schere in der Luft herum klapperte, schenkte Susi jedes Mal wenn sie ihre Mutter begleitete, ein kleines Kissen mit Haarshampoo. Vorn drauf war das Bild von einem Mädchen mit seifigen Haaren gedruckt. Es hieß Babette, wie darauf zu lesen war und Susis Mutter vergaß nie darauf hinzuweisen, dass Babette kein Geschrei veranstaltete, wenn man ihr die Haare wusch. Susi dachte, dass die Babette auf dem Bild sicher auch keine Seife in die Augen bekam, doch sie sagte nichts. Gleich hinter dem Frisör befand sich der Bäcker. Susi schaute zurück und sah ihre Mutter die Kopfkissen zum Lüften auf das Fensterbrett legen. Auf der anderen Straßenseite, ganz oben im vierten Stock des grauen Hauses winkte ein alter Mann zu Susi herunter. Das war der Winkemann. Er hatte im Krieg einen Splitter in den Kopf bekommen, der nun darin herumwanderte und machte, dass der Mann nichts anderes mehr tun konnte, als am Fenster zu sitzen. Susi winkte zurück und er schien sich zu freuen.

Wie es ihr die Mutter gezeigt hatte, ging Susi genau bis gegenüber vom Bäckerladen und überquerte die Straße.

Vor dem Geschäft fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, zu fragen, was sie kaufen sollte. Seit ihrem dritten Lebensjahr ging sie jeden Morgen mit drei Groschen zur Bäckerei Riedel und kaufte drei große Semmeln. Eine für sich, zwei für die Mutter. Susi öffnete die verschwitzten Finger und sah nach dem Geld. In ihrer Handfläche lagen dreißig Pfennig.

Was sollte sie tun? Sie könnte drei große Semmeln kaufen, aber wenn es ausgerechnet heute das Falsche war? Warum hatte sie nicht noch einmal gefragt? Vielleicht hatte die Mutter gesagt, was sie holen sollte, aber sie hatte nicht zugehört?

„Du hörst nie ordentlich zu“, sagte die Mutter häufig. Susi seufzte und schaute zum Bäckerladen. Frau Riedel winkte hinter der Scheibe. Susi konnte nicht hineingehen.

Sie lief nach Hause. Atemlos kam sie an. Die Mutter öffnete ihr und langte nach dem Beutel. Susi versteckte den Arm hinterm Rücken.

„Ich wusste nicht, was ich holen sollte.“

„Was holst du denn sonst immer?“

Susi schämte sich, doch die Mutter sah es nicht.

„Geh noch einmal los. Jetzt weißt du ja, was du verlangen musst.“

„Aber die Frau Riedel hat mich doch schon gesehen. Was soll sie denn denken?“

„Sie wird dich fragen, warum du beim ersten Mal weggelaufen bist und du wirst es ihr sagen.“

„Ich trau mich nicht.“

„Sei nicht dumm.“ Die Mutter wandte sich dem Wäschetopf zu. Susi blieb im Korridor stehen. In ihren Augen glänzten Tränen.

„Was ist, bekommen wir heute noch Frühstück oder nicht?“ Die Mutter hatte die schwarzen Brauen ärgerlich zusammengezogen und blickte auf ihre Tochter herab. Susi stand immer noch regungslos. Ihre Unterlippe begann zu zittern und sie versuchte es zu unterdrücken. Nichts verabscheute die Mutter mehr als heulende Kinder.

Wortlos nahm die Mutter ihre Strickjacke vom Bügel an der Flurgarderobe, korrigierte vorm Spiegel ihre Frisur und das seidene Haarband und langte nach der Hand ihrer Tochter. Im Sturmschritt schlugen sie den Weg zum Bäcker ein. Susi musste laufen, um Schritt zu halten. Doch die Hand der Mutter war fest wie ein Schraubstock.

„Glaubst du, ich habe den ganzen Tag Zeit? Ich muss arbeiten. Du gehst doch nicht zum ersten Mal zum Bäcker!“ Frau Riedel sah ihnen durch die Scheibe entgegen. Susi schämte sich für ihre Tränen und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Frau Riedel lachte.

„Na, du hast dich wohl beim ersten Mal nicht rein getraut?“ Sie reichte Susi einen Keks über die Theke, obwohl sie wusste, dass die Mutter das nicht mochte. Susi blinzelte dankbar, während die Mutter der Bäckerin von dem Malheur berichtete.

„Ach, da musstest du doch nicht zurückgehen. Das hätten wir schon hinbekommen.“ Frau Riedel zwinkerte ihr zu. Susi staunte. Wie konnte Frau Riedel wissen, was ihre Mutter wollte? Susi war sich nie sicher und wenn, war es meistens verkehrt.

Beim Frühstück schaute die Mutter besorgt nach dem Wetter. Es hatten sich ein paar Wolken gebildet und je nachdem, ob es sonnig blieb oder nicht, entschied sich, ob sie die Wäsche noch zu Ende bringen oder ihrer Heimarbeit nachgehen würde.

Susi wurde nach draußen geschickt. Die Mutter hatte auch bei schlechtem Wetter keine Zeit und Susis Freunde durften nicht zu ihr nach Hause kommen, denn die Mutter hatte die Uhren fremder Leute zur Reparatur da und die Gefahr von Verlusten war viel zu groß.

Susi beobachtete die Wolken ebenso interessiert, wie ihre Mutter. Hoffentlich regnete es! Dann würde sie zu Kerstin gehen und stundenlang mit ihr Puppen an und ausziehen. Susi hatte keinen Spaß an dieser Puppenspielerei, aber Kerstin bewohnte mit ihrer älteren Schwester Jana ein Zimmer und darin stand Janas Klavier. Jana hatte ihr noch nie etwas vorgespielt; sie hasste das Klavierspielen, aber Susi streichelte den polierten Kasten jedes Mal mit sehnsüchtigen Blicken und wenn die Klappe offen stand, legte sie sogar vorsichtig eine Hand auf die Tasten.

Als Susi mit der Mutter das Geschirr in die Küche brachte, malte die Sonne ein helles Viereck auf den braunen Linoleumfußboden. Janas Klavier blieb heute allein.

Susi zog ihre Steppjacke über und ging hinaus, während die Mutter das Geschirr abwusch. Von oben im Haus ertönte Kerstins Wehgeschrei. Sie weigerte sich, einen der kratzigen Pullover anzuziehen, die ihre Mutter unentwegt strickte. Susi kannte solche Zeremonien, doch sie wurde dafür nicht in den Hausflur gesperrt.

Vor dem Haus gab es einen Spielplatz mit einem Sandkasten und einem Klettergerüst, das aussah wie ein Pilz. Susi stieg unter den Pilzhut und wartete. Um diese Zeit waren kaum Kinder draußen, denn die größeren waren in der Schule. Darüber war sie froh. Wenn die Großen da waren, lebte sie in ständiger Angst. Einmal hatte die Gudrun Seidel aus dem Nachbareingang ihr eine der beiden marmorierten Holzmurmeln aus der Tasche gestohlen, die Susis Vater von einer Dienstreise mitgebracht hatte. Zur Rede gestellt, verkroch sich Gudrun hinter ihrer großen Schwester. Die spuckte Susi an und drohte ihr obendrein Prügel an. Susi hatte überlegt, ob sie es dem Papa der beiden sagen sollte, aber sie wollte keine Petze sein.

Auch der fetten Petra ging sie aus dem Weg, obwohl die nur zwei Jahre älter war. Petra hatte Susi einmal über den Haufen gerannt, weil sie sich darüber gestritten hatten, ob man Kartoffeln und Quark mit oder ohne Butter aß. Susi mochte sie nur mit Butter, ohne Quark.

Zum Glück war auch der Jens von gegenüber nicht draußen. Susi und Kerstin spielten oft mit ihm, obwohl er sogar älter war, als Kerstin, aber bei ihm wusste man nie ... Susi hatte erst vorige Woche von ihrem Vater Schimpfe bekommen, weil sie alle gemeinsam auf Jens´ Vorschlag hin „Po-Gucken“ gespielt hatten. Wobei das Schlimme nicht die Schimpfe war, sondern Susis Schamgefühl vor ihrem Vater.

Endlich kam Kerstin aus dem Haus, in Rock und Pullover, die Ringelsocken verrutscht, der Scheitel auf dem Kopf kaum zu erkennen. Susi sah, dass es schlimm gewesen war.

Inzwischen waren auch Kerstins Mutter, die kleine Frau vom mittleren Stockwerk und Susis Mutter aus dem Haus gekommen. Sie ließen sich auf der gelben Bank neben der Haustür nieder, um neue kratzige Pullover zu stricken. Kerstins Mutter arbeitete ebenfalls zuhause. Sie hatte sogar das Abitur gemacht, aber dann hatte sie zur falschen Zeit ihr Kind bekommen und nun nutzte ihr die Schläue gar nichts, denn sie verdiente ihren Lebensunterhalt mit Näharbeiten für fremde Leute. Susis Mutter war zuhause, weil sie bei einem privaten Handwerker beschäftigt war und deshalb keinen Kindergartenplatz bekam. Sie hatte einen Werktisch im Wohnzimmer stehen und arbeitete bei Regenwetter tagsüber, bei schönem Wetter abends und nachts.

Kerstin schlug vor, hinters Haus in die Strauchbude zu gehen. Susi ging mit, denn so konnten die Erwachsenen sie nicht sehen. Sie spielten Mutter, Vater, Kind. Susi war immer der Vater und ging auf Arbeit, während Kerstin ihre Puppe fütterte, schlafen legte und an- und auszog, bis die Mädchen zum Essen nach Hause gerufen wurden. Susis Mutter hatte saure dicke Milch mit Zucker gekocht und Susi löffelte ihren Teller aus, während sie erzählte, was sie am Vormittag mit Kerstin gespielt hatte. Nach dem Essen wurde Susi ins Bett geschickt.

Wieder lag sie mit offenen Augen und lauschte. Tagsüber war es nicht so schlimm wie nachts, aber die Geister waren dennoch da und sie wussten von Susis Schuld. Auch die Mutter und der Vater wussten es und die Mutter sorgte dafür, dass Susi es nicht vergaß. Susi hatte etwas sehr Schlimmes getan, etwas, das sie nie mehr würde gutmachen können: Als sie drei Jahre alt gewesen war, hatte sich mit ihrer Mutter gestritten. Schließlich hatte sie ihrem Vater vorgeschlagen, die Mutter zu verkaufen. Der war entsetzt gewesen. Er hatte Susi erklärt, dass sie dann keine Mutti und er keine Frau mehr haben würde und dass Susi so etwas nie, nie, nie auch nur denken dürfe. Er hatte Susi gebeten, die Mutter zurückzuholen, die schon angezogen in der Tür gestanden hatte. Die Mutter war zurückgekommen, doch seitdem lauerten Susi im Dunkeln die Geister auf. Sie schämte sich dafür, dass sie ihrem Vater die Frau wegschicken wollte. Noch mehr aber schämte sie sich, weil sie gelogen hatte, als sie die Mutter gebeten hatte, zu bleiben. In Wirklichkeit wünschte sie sich weit fort, wo die Mutter ihr keine Angst machen konnte.

Susi verkroch sich unter die Decke und ließ nur an der Seite ein Guckloch frei. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie mit der Mutter den Vater abholen ging.