Nebelmeer #7 - Lutz Flörke - E-Book

Nebelmeer #7 E-Book

Lutz Flörke

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Beschreibung

Wir wollen den Misserfolg! Das war die Losung seiner Jugend. Inzwischen ist HP Aufseher in der Hamburger Kunsthalle und bewacht Caspar David Friedrich. Als sein Jugendfreund Maximilian vermisst wird, macht sich HP auf die Suche und entdeckt: Der klaut mir meine Lebensgeschichte, um seine Biographie zu schreiben! Ein entführtes Kunstwerk, ein toter Ehemann, ein Zwischenfall mit fiesem Hund und eine Buchmesse, auf der zu viel gelacht wird, stören HPs Suche; ebenso eine Anhalterin, die erklärt: Der Umweg ist das Ziel, Baby! Lutz Flörkes zweiter Roman gleicht einem Roadmovie – eine ebenso groteske wie erheiternde Irrfahrt durch die Erinnerung, den Stoff, aus dem die Träume sind.

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verlag duotincta

Nebelmeer #7

L U T Z    F L Ö R K E

Über den Autor

Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise der Hansestadt und des Landes Niedersachsen. Er wendet sich an Menschen, die ebenso offen sind für Populär– wie für Hochkultur, aber beiden misstrauen. Sein Lieblingspublikum hat Lust am Denken und Spaß am Spiel mit Figuren, Perspektiven, Sprache. Sein Debütroman »Das Ilona-Projekt« erschien 2018 bei duotincta.

www.hamburgerliteraturreisen.de

für Vera

1 | Abends in der Kunsthalle

Anfangen. Ich liebe Anfänge, nur Anfänge. – Am Anfang ist alles frisch und einzigartig. Anfänge mit mir als Hauptperson. Mein Leben besteht aus Anfängen.

Wir wollen den Misserfolg! Das war einmal ein Anfang. Eben muss ich daran denken. Ruhig drehe ich meine Runde durch die Deutsche Romantik, Runge, Friedrich, Overbeck. Ich denke über Anfänge nach, ruft da plötzlich Dorothée:

– Wir haben einen Notfall!

Das ist doch sonst nicht ihre Art, mich bei der Arbeit zu überfallen.

Sie steht vor dem Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, Öl auf Leinwand, um 1817. Der Wanderer auf dem felsigen Gipfel wendet ihr den Rücken zu. Dorothée könnte sich über seine Schulter hinweg ebenfalls im Anblick des Nebelmeers verlieren, aber sie ruft:

– Wir haben einen Notfall!

– Ich bin Melancholiker.

– Papperlapapp!

– Melancholie wehrt sich gegen alle selbstgestellten …

– Papperlapapp!

– Ich habe mich in die Kunsthalle zurückgezogen aus Gründen der Melancholie …

Sie unterbricht:

– Meinst du nicht, dass das einfach in deinem Charakter begründet liegt?

– Lediglich insofern, als Charakter die individuell gebrochene Spiegelung gesellschaftlicher Zustände meint, entgegne ich.

Darauf sie:

– Das ist doch depressiv!

Darauf wieder ich:

– Ich habe mich in die Hamburger Kunsthalle zurückgezogen, um mich gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten zu wehren.

Darauf wieder sie:

– Papperlapapp.

Dieses Gespräch hat keinen Sinn. Es hat keinen Sinn, ihr zu erklären, weshalb ich nicht Karriere gemacht habe, dennoch nicht gescheitert bin und mir nichts wünsche, als zu sein, was ich bin, Bodyguard für Caspar David Friedrich. Obwohl mir manchmal Zweifel kommen. Aufseher schauen stumm, sie gehen im Kreis herum, Bilder betteln still um Gunst, ist das noch Kunst?

Sie läuft mir nach:

– Es handelt sich um einen Notfall. Ich brauche deine Hilfe.

Vielleicht sollte ich anders beginnen. Ohne Dorothée. Stürzt da plötzlich eine wildfremde Frau in Gummistiefeln herein. Stolpert auf mich zu und schreit vor dem Wanderer über dem Nebelmeer:

– Er ist die Treppe hinuntergestürzt.

In jedem Fall ein dynamischer Anfang. Stürzt plötzlich eine Frau in Gummistiefeln herein, den Mantel eng um sich gewunden, bricht zusammen und haucht mit rauchiger Stimme aus lila Lippen:

– Er liegt am Fuß der Treppe. Aber ich war’s nicht.

Zielgenau würfe sie sich in meine Arme. Natürlich wäre das ein Notfall. Museumsbesucher blieben stehen und beobachteten uns. Endlich wäre etwas los zwischen den Bildern. Die Kollegen guckten neidisch; alle Aufmerksamkeit läge bei mir. Ein Anfang als Hauptperson, nicht etwa bloß als Protagonist, sondern als Erzähler einer Geschichte.

Ereignisse ereignen sich, wie, wann und wo sie sich eben ereignen. Wenn ich sie erzähle, muss ich mich aber nicht ihrer Abfolge unterwerfen. Die Konturen von Ereignissen verdanken sich der Erzählung, in der sie auftreten. Etwa dieser hier. Die Erzählung legt fest, was wir zu den relevanten Ereignissen hinzuzählen und was nicht. Na also! Die Entscheidung über Relevanz und Reihenfolge müssen die Ereignisse mir überlassen.

HP – Hauptperson und Erzähler in eins.

– Nun bleib doch endlich stehen, ruft Dorothée, und hör zu!

Ich verschiebe die hereinstürzende Frau in Gummistiefeln auf ein späteres Kapitel.

– Dorothée, sage ich, wir hatten so einen schönen Anfang damals.

– Wir sollten unser Leben nicht mit Rückblenden verschwenden! Weißt du, was dein Freund Maximilian sich geleistet hat?

Wenn sie Krach mit ihm hat, ist er mein Freund. Zwar kenne ich ihn seit der Schulzeit, aber sie hat mit ihm seit Jahren eine feste freie Beziehung, während ich ihn kaum sehe.

Sie zieht mich auf die Bank herunter und drückt mir ein Tablet in die Hand.

– Sieh dir das an!

Maximilian sitzt an seinem wie stets leergeräumten Schreibtisch. Vor ihm liegt ein Blatt Papier.

– Und?

Dorothée startet das Video. Maximilian starrt nach links oben, nach rechts oben, direkt in die Kamera und liest:

– Wir wollen den Misserfolg.

Den Satz kenn ich und die folgenden Sätze auch:

– Wir kennen die Notwendigkeit, Geld zu verdienen; keinesfalls erkennen wir sie an. Wir wehren uns gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten.Wenn Arbeit wirklich so toll wäre, dann würden die Reichen sie für sich behalten, schreibt Mark Twain. Wir wollen den Misserfolg. Wir wollen nicht dem Erfolg hinterherhetzen wie ihr! Kein Burnout, keine Frühvergreisung des Geistes, keine Gesellschaft mit beschränktem Horizont.

– Der anarchistische Ton passt gar nicht zu ihm, stellt Dorothée fest.

– Wir haben das gemeinsam geschrieben, damals, sage ich. Unser Manifest, zusammen vorgetragen auf der Abiturfeier. Natürlich hat es keinen interessiert. Als wir fertig waren, haben sie einfach weitergefeiert. Beim Klassentreffen zwanzig Jahre später erinnerte sich niemand mehr daran.

– Wieso fällt Maximilian eure postpubertäre Rebellion heute wieder ein? Der will doch nicht ernsthaft den Misserfolg.

– Wir wollten die selbstbewussten Performer des eigenen Misserfolgs sein, sage ich.

– Quatsch. Maximilian verkörpert den Typus des kreativen Erfolgsmenschen, beruflich, privat, freizeit- und körperorientiert, als Konsument oder Produzent. Er ist Inbegriff der postpostmodernen, authentisch-marktkonformen Persönlichkeit.

Ich habe ihn gewarnt. Schon damals, als er sein kleines Vermögen erbte, sagte ich zu ihm:

– Vergiss nicht, wir wollen den Misserfolg!

– Klar, antwortete er, ist ja bloß Spaß.

Und investierte in Aktien. Ich warnte:

– Pass auf! Du gerätst in die Erfolgsspur.

– Nee, sagte er, das ist nur ein klitzekleines Portfolio.

Er investierte in Immobilien und einen Kultur-Reisedienst und sagte:

– Das Geld ist mir egal, wirklich.

Wieder machte er alles richtig. Die ökonomische Krise brachte eine Sinnkrise mit sich. Aus Angst vor Armut, Einsamkeit und undurchschaubaren Veränderungen verlangten Mittelschichtler nach sozialer Distinktion durch Bildung und Kultur. Der Kunstkenner Maximilian war ihnen lieber als ein Künstler, er belästigte sie nicht mit schwerverständlichen Werken, sondern konnte alles erklären: Kommt mit, ich zeige euch, was mir am Herzen liegt in Wien, Barcelona, Paris.

Ich sagte:

– Vorsicht, Maximilian, Erfolgsgefahr. Die Leute wollen keine Kunst, sondern ein bisschen am Abglanz teilhaben.

– Was willst du, antwortete er. Ist doch ihr Recht, oder?

– Denk an Adorno!, sagte ich: Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht.

– Ach, sagte Maximilian, Adorno …

Er gewann seine ersten eigenen 500.000.

– Hör mal, insistierte ich, du bist erfolgreich, da beißt die Maus keinen Faden ab.

– Nö, sagte er, darum geht es nicht.

Und gründete eine Kette von Art-Hotels. Entschleunigte Kultur für Menschen, die den Gedanken liebten, Genuss und Lebensstil seien wichtiger als Erfolg. Bereits beim Einchecken erhielt jeder Gast Eintrittskarten für überregional beachtete Kultur-Events.

– Du kriechst den Leuten in den Arsch, sagte ich.

– Wir bilden eine Erlebnisgemeinschaft, antwortete er.

– Wir wollten den Misserfolg, weil wir aufmüpfig waren, und ich bin es noch immer, erklärt Maximilian auf Dorothées Tablet. Aber inzwischen steht Misserfolg nicht mehr für Lifestyle, sondern für Versagen.

– Was für Probleme hat der denn?, ruft Dorothée so laut, dass ein Kollege um die Ecke schaut. Sind das Depressionen? Glaubst du, dass er sich was antut?

– In den Augen anderer darf man keinen Misserfolg haben, sagt Maximilian, gerade wenn man ihn propagiert.

Ich schaue Dorothée an.

– Ja, sagt sie, ich habe auch zuerst gedacht, jetzt kommt eine Frau ins Spiel.

– Ich wollte den Erfolg, um ihn verachten zu können, erklärt Maximilian in die Kamera.

– Ich verstehe den Kerl nicht, sagt Dorothée. Ist er wirklich lebensmüde? Oder erzählt der das nur, um nicht mit mir nach Tübingen ziehen zu müssen? Ich bestehe ja gar nicht darauf. Ich habe nur gesagt: Entscheide dich! Komm mit nach Tübingen, ich bekomme da eine Eins-a-Stelle an der Uni.

Glücklicherweise schieben da doch tatsächlich Besucherinnen, die sich unbeachtet wähnen, ihre Finger, Gesichter, Ärsche zu nahe an den Wanderer über dem Nebelmeer. Noch bevor die Alarmanlage anschlägt, springe ich auf und flüstere:

– Dies ist ein Museum! Anfassen können Sie drüben in der Europa-Passage.

– Nun lass die doch, zieht mich Dorothée auf die Bank zurück. Hier ist dein Notfall.

– Als ich das vierte Hotel eröffnete, erklärt Maximilian, hatte ich längst keine Lust mehr, Geld zu verdienen. Es ging ausschließlich um den kreativen Akt, nicht um den ökonomischen Erfolg. Beim fünften Hotel lag ich sechs Tage mit Migräne im Bett. Ich wollte es am liebsten verschenken, aber mein Steuerberater erklärte mir, das solle ich mir überlegen.

Steuerberater? So eine billige Ausrede.

– Ich überlegte und überlegte, sagt Maximilian, und während ich noch überlegte, kommt die Nachricht … Also … Selbstverständlich habe ich mich gefreut. Zuerst. Was mich persönlich betrifft. Nur ganz kurz. Es ist ja eine Anerkennung, das muss man anerkennen. Meine Firma wurde zum Start-up des Jahres gekürt. Doch, doch. Darüber habe ich mich gefreut. Ohne Wenn und Aber. Aber plötzlich ging ein Riss durch meine Seele.

– Start-up des Jahres, sagt Dorothée. Was will er denn noch?

– Vielleicht im Erfolg seinen Misserfolg bewahren, über den er sich einst definiert hat?

– Habe ich mein Leben verpfuscht?, fragt Maximilian pathetisch. Oder ist das bloß Nostalgie? Egal. Sucht nicht nach mir.

Dorothée hat eine Nachricht an alle Bekannten geschickt. Ergebnislos.

– Stell dir vor, der bringt sich um.

Sie schnieft kurz. Ich sage:

– Er will nicht, dass du ihn suchst.

– Deshalb wirst du ihn suchen.

– Ich bin Melancholiker, kein Privatdetektiv!

– Papperlapapp!

– Ich habe mich in die Hamburger Kunsthalle zurückgezogen aus Gründen der Melancholie.

– Aus Bequemlichkeit, behauptet Dorothée.

– Ich liebe Museen, die Melancholie alter Gegenstände, die keiner mehr braucht.

– Papperlapapp!

– Melancholie ist nicht Depression, sondern zelebrierte Traurigkeit.

– Papperlapapp!

– Ich lebe der Kunst.

– Du lebst in meiner Wohnung!

Tatsächlich ist es ihre Eigentumswohnung, aber …

– Du zahlst eine Miete, die den Namen nicht verdient.

– Melancholie ist gelebte Ewigkeit.

– Ewigkeit deckt nicht die Nebenkosten! Ich ruf gleich morgen früh an und sage, dass du krank bist.

– Dorothée …

– Sehr geehrte Besucher, mischt sich eine Frauenstimme ein, in wenigen Minuten schließt das Museum. Bitte begeben Sie sich zu einem der Ausgänge. Morgen ab zehn Uhr sind wir wieder für Sie da. Wir wünschen einen guten Heimweg, einen angenehmen Abend und eine schöne Nacht.

2 | Draußen vor der Kunsthalle

Ich verlasse die Kunsthalle durch den Personaleingang neben der Wachzentrale. Über dem granitgepflasterten Platz zwischen dem Altbau und der Galerie der Gegenwart staut sich die Hitze. Die Fassade des alten Hauptgebäudes ist im eleganten Stil der italienischen Renaissance in Backstein mit Künstlerporträts aus Terrakotta gestaltet. Die vollplastischen Figuren von Michelangelo und Raffael sind durch rahmende Ädikulen hervorgehoben. Auf den Stufen vor dem Hauptportal dösen junge Leute vor sich hin. Es ist wie damals, als Dorothée zum ersten Mal auf mich wartete. Ein Nachmittag im Hochsommer. Drinnen verbreiteten wenigstens die übereinandergeschichteten Eisschollen auf Caspar David Friedrichs Das Eismeer gedanklich wohltuende Kühle, hier draußen lief mir der Schweiß den Rücken hinunter. Da entdeckte ich auf den Stufen vor der alten Kunsthalle Dorothée. Eine Bekanntschaft aus der Uni. Saß also da auf den Stufen zum Haupteingang und wartete, hat man Töne, ausgerechnet auf mich. Dabei waren wir nicht verabredet. Sie sagte:

– Schön, dich zu sehen.

War das Zufall? Seit wann interessierte sie sich für mich?

– Wie geht’s?, fragte ich, weil man etwas fragen muss. Was macht das Leben, das Streben, die Lust?

– Alles falsch, immer falsch. Ich werde in Göttingen anfangen.

– Göttinnen nach Göttingen.

– Sehr witzig. Würdest du nach Göttingen gehen?

– Was hast du gegen Göttingen? Andererseits, was willst du dort?

– Job, fester Freund, wunderbare Altbauwohnung, ein fertiges Leben.

Über den Bahngleisen am Hauptbahnhof sammelten sich schwarze Wolken.

– Lass Göttingen, sagte ich, lass uns einfach hier sitzen und nach Leuten Ausschau halten, die hier und jetzt ihre Geschichten anfangen. Nur Anfänge, Anfänge, die zu nichts führen.

Ich versuchte, sie abzulenken. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht, weil sie mich so plötzlich an ihrem Leben teilnehmen ließ. Das hätte ja der Anfang einer Geschichte mit mir als Hauptperson sein können. Wie Novalis schreibt: Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn. Selbstverständlich mit mir als HP, der Hauptperson.

– Schau dir die beiden Trockenvögler an, sagte ich.

Eine junge Frau räkelte sich auf einem jungen Mann. Der Rock war hochgerutscht. Man sah ihren dunkelgrünen Slip. Sie bewegte sich rhythmisch auf und ab. Rhythmisch auf und ab. Eine Performance, in der die Körper als leibliche Instanz sinnlichen Affiziertwerdens und/oder als performativer Aufführungsort einer von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung hervortreten. Ob das ein Anfang sein konnte?

– Kennst du das Gefühl, fragte Dorothée, wenn alles falsch ist? Jede Entscheidung, bleiben oder gehen, sitzen oder stehen, alles daneben, und du kannst nichts ändern? Meine erste Festanstellung an einer Uni. Wohin soll das führen?

Eine alte Dame irrte umher.

– Trixie, rief sie. Immer wieder: Trixie!

Sie erinnerte an die Endlichkeit des Seins. Oder war das zu weit hergeholt?

Ein Skater umkreiste die alte Dame. Sex mit Dorothée könnte meine Nerven beruhigen, dachte ich. Wie sie hatte ich meinen Abschluss in der Tasche. Der Unterschied: Sie hatte sich sofort beworben, ich würde mich nie bewerben. Ich bin nicht der Typ dazu, in einer Institution zu arbeiten, deren einziger Zweck darin besteht, bürgerlichen Jugendlichen den Anstrich von kultureller Bildung zu verschaffen. Schon damals fiel mir das Wort Distinktionsvorteil ein. Germanistik! Ich bitte Sie! Was kommt dabei heraus? Lehrer und Journalisten, aber keine Leute, die sich wirklich für Poesie interessieren.

– Fühlen Sie sich alt?, fragte Dorothée die alte Dame.

– Aber ja, natürlich.

– Und einsam?

– Trixie, Trixie!

Die alte Dame schüttelte traurig den Kopf.

– Die hat überhaupt keine Ahnung, stöhnte Dorothée.

Da öffnete sich der Notausgang der Galerie der Gegenwart, ein kleines, schwarz-weißes Hündchen sprang heraus.

Tage habe ich in der Kunsthalle verbracht, damals noch als Besucher. Entzieht das Schicksal dir die Gunst, guckste Kunst. Welche Bilder hatte sich das Hündchen wohl angeschaut? Den Chor der Heuschrecken von Rebecca Horn?

– Da bist du ja, rief die Alte. Hast mich nicht vergessen.

Die Installation besteht aus 17 an der Decke angebrachten Schreibmaschinen, deren Tastaturen nach unten zeigen. Von einer hängt das schwarzrote Farbband bis auf den Boden hinab. Ich habe oft davorgestanden. An einer dünnen Metallstange ist ein Taktstock angebracht, der wie ein langer knochiger Finger einen Halbkreis auf dem Boden beschreibt. Die Tasten klicken und klacken. Sie schreiben einen unlesbaren Text und der Taktstock gibt den Takt. Sinnbild eines Lebens? Ausdruck der Freude, seinen eigenen Gedanken einen Resonanzraum zu verschaffen?

Ich habe davorgesessen und mich gefragt, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Kunst machen? Ach du liebes Bisschen. Mich stört nicht, dass sie meistens brotlos ist. Mich stört das gelangweilte Publikum, dem das abrollende Farbband und der ungeschriebene Text egal sind, solange der Taktstock die Ordnung garantiert. Durchschnittliche Verweildauer: Zwanzig Sekunden. Interessant, sagen sie und gehen nach nebenan.

– Ob ich mir einen Hund anschaffen soll?, fragte Dorothée. Ach wie peinlich, so einen Aufstand zu machen, bloß weil ich die Stadt wechsle. Hörst du mir eigentlich zu?

– Aber ja.

Dir sind deine Gefühle peinlich, dachte ich, weil du weißt, dass viele denken, was regt sie sich auf, das ist doch der Lauf der Dinge.

– Ich würde nicht nach Göttingen gehen, sagte ich. Höchstens als arbeitsloser Ehemann, wenn du die Außenvertretung für uns beide übernimmst.

Wir lachten und meinten es doch ernst.

Da stürmten zwei Junghooligans, fünf, sechs Jahre alt, hinter uns die Freitreppe herunter aus dem Altbau der Kunsthalle. Sahen aus wie zwei der monströsen Hülsenbeckschen Kinder auf dem Gemälde von Runge. Hatten mit ihren allzu großen Köpfen und den ungeschlachten Proportionen die Leinwand verlassen, um Ärger zu machen. Der eine trug eine Peitsche, der andere ein Zähneblecken. Betrachteten erst die rhythmischen Bewegungen der Trockenvögler, wandten sich dann einer Taube zu. Der eine, Unterarm in Gips, trat nach dem Vogel. Der war zu schnell für ihn. Der andere plärrte und wollte auch.

Ich dachte ans Trockenvögeln, an Rebecca Horns Heuschrecken und an meine Sehnsucht nach einem Leben, in dem niemand mir zu nahe tritt. Ich dachte an die Friedenstaube, an den Heiligen Geist, an den Vogel der Aphrodite.

Die Hülsenbeckschen Kinder zeigten die furchterregenden Gesichter verwöhnter Bürgerkinder. Die grausame Jagd ging weiter. Im Zickzack wackelte die Taube übers heiße Pflaster. Sex, Gewalt und Kunstgeschichte, eine Szene aus einem vulgären Film, dachte ich.

– Versprich mir das eine!, sagte Dorothée. Ach, versprich mir nichts.

Den Hülsenbeckschen Kindern folgten ein Mann und eine ältliche Frau, Opa und Oma. Er respektabel im Gehrock, sie abgehärmt in Schwarz, eine strenge, bösartige Alte. Ich kannte die beiden von Runges Gemälde Die Eltern des Künstlers. Sie mahnten, warnten, glotzten zu den Trockenvöglern. Der Michelangelo aus Sandstein griff nicht ein.

Dorothée zog nicht um, weil sie Lust auf einen Anfang hatte, sie zog um, weil sie um ihren Aufstieg kämpfte. Oft redet man von Kultur- oder Identitätskonflikten, wo es in Wirklichkeit um Macht geht. Sie wusste das, ich wusste das, trotzdem fiel es uns schwer, darüber zu reden.

Der kleinere Junge guckte verängstigt ob der Taube, die nicht fortflog wie gewöhnliche Vögel. Taubenerschrecken machte Spaß, aber diese? Warum flog sie denn nicht auf? Es blieb ihm nichts anderes übrig: Wenn sie sich weigerte fortzufliegen, musste er sie tottreten.

– Selber schuld, schluchzte er und trat zu.

Die Taube machte einen Satz, er strahlte übers ganze Gesicht und nahm die Verfolgung wieder auf.

– Können Sie Ihre Brut nicht davon abhalten, die Taube zu quälen?, rief die junge Frau und stellte ihre rhythmischen Bewegungen ein. Das ist doch Tierquälerei.

– Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, protestierten die Großeltern der Hülsenbeckschen Kinder.

– Ich steh nicht auf Gewalt.

– Unverschämtheit!, schimpften sie, um das letzte Wort zu haben.

– Morgen früh fahre ich mit dem Möbelwagen nach Göttingen, seufzte Dorothée. Oder? Die Frage ist doch …, das ist doch die Frage? Wie ist die Frage?

– Welche Frage?

– Weshalb muss ich Karriere machen – und du nicht? Dich treibt kein Ehrgeiz, der eitle Prunk der Welt, er plagt dich nicht.

Weil mich nur Anfänge interessieren, hätte ich antworten können. Du dagegen liebst Abschlüsse, zum Beispiel akademische. Aber ich sagte lieber nichts.

– Ich ziehe nach Göttingen und verderbe mir meine schöne Seele. Gestern jedenfalls hatte ich noch eine.

Ein Zug aus Richtung Dammtor fuhr vorbei. Die Trockenvögler standen auf und gingen:

– Schönen Abend noch.

Dorothée lehnte ihren Kopf an meine Schulter:

– Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin gar nicht mehr ich, sondern bloß Schauplatz für Durchgangsverkehr.

– Was meinst du damit?

– Nichts Sexuelles. Keine Ahnung, erklär du’s mir.

In dem Augenblick hatte ich den unabweisbaren Eindruck, dies sei ein Anfang, mein Leben könne neu beginnen. Ein Leben als Hauptperson mit Dorothée. Wie kam ich darauf? Vermutlich, weil ich sie kaum kannte. Wenn man jemanden kaum kennt, scheint alles möglich in Momenten wie jenem. Es lag an der einsamen alten Dame, den Trockenvöglern, an der Hitze, an Dorothée, die nicht wusste, was sie wollte, am nahenden Sturm, an der Kunsthalle im Rücken … Alles zusammen erzeugt bei mir die Vorstellung eines Ausnahmezustandes, der mich fortbringt in eine neue Geschichte, dachte ich. Ich musste nur ein kleines Zeichen setzen, dann ging’s los. Ich zerrte mir also mein armes altes dunkelgrünes Jackett vom Leib, als wäre es mein bisheriges Leben. Alles war möglich, sobald ich diese Zwangsjacke abstreifen würde. Ich wollte nicht länger mit ihr leben, sondern aussteigen. Wenn ich diese alte Jacke ausziehen würde, würde ich neu beginnen. Ohne Jacke würde ich frei sein für einen Anfang mit Dorothée, dachte ich. HP wagte einen neuen Anfang. Aus dem rechten Ärmel war ich bereits heraus, wenn er sich dabei auch umgestülpt hatte. Dorothée sah mir zu, half aber nicht.

Das Jackett hatte mir treu gedient, jetzt war es verschlissen, das Futter des Ärmels riss aus, ich hing fest, noch ein Ruck, wieder riss eine Naht. Ich musste dieses dunkelgrüne Jackett endgültig loswerden. Ich streifte es ab und warf es über den Metallpfosten, der die Feuerwehrzufahrt freihielt. Tschüss Jackett. Stirb an meiner statt, während ich wiedergeboren werde!

Was jedoch, wenn Dorothée die Tragweite meiner Handlung nicht verstand und mich bloß für einen albernen Kerl hielt, der aus unerfindlichen Gründen seine Jacke aussetzte? Dann hätte ich sie sinnlos fortgeworfen.

Stopp!

– Ich will mein altes, grünes Jackett wieder.

In der Ferne sah ich die Hülsenbeckschen Kinder, die ihm die Arme ausrissen und lachten.

– Lass mal, meinte Dorothée. Wir haben alle solche Tage.

3 | Melancholie und Eigentumswohnung

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen … Das Wasser der Alster wurde vom Regen gepeitscht. Wir liefen unter Dorothées Jacke durch den Park und lachten, weil das für sie dazugehörte.

– Wenn wir lachen, tanzt die Welt, lachte sie. Los, lach! Und los! Ich habe zu Hause noch eine Flasche Whisky.

War das eine Einladung aus Verzweiflung oder mochte sie mich wirklich?

Radfahrer wollten unters Dach einer Bushaltestelle flüchten, stießen dort jedoch auf abwehrbereite Fußgänger. Es regnete, donnerte und blitzte.

– Ist das nicht gefährlich?, fragte ich.

– Nur wenn man eine Zahnspange trägt, lachte Dorothée.

Sie war schrecklich dynamisch, und ich fühlte mich hässlich, besonders weil Haare und Hemd klitschnass am Körper klebten. Ich senkte den Blick. Vielleicht erkannte mich ja keiner.

An der nächsten Straßenecke küssten wir uns.

– Das ist romantisch, rief sie.

– Ist es noch weit?

Das Unwetter fegte die Wege leer. Im Sturm bildeten wir ein Paar und fühlten uns besonders. Die Liebe ist ein Ausnahmezustand, dachte ich.

Es schüttete noch, als wir aus dem Fahrstuhl direkt in ihre Wohnung traten. Sie machte brrr und hach und verschwand im Bad:

– Ich dusch zuerst, okay? Mir ist so kalt.

Mir auch, dachte ich, stellte mir ihre warme Haut vor und rief:

– Okay.

Ich stellte mir vor, wie warmes Wasser an ihrem Körper hinunterrinnt, Stirn, Mund, Brust, Bauch, Beine, Scham. Weshalb konnten wir nicht gemeinsam duschen, aber dazu war es wohl zu früh.

– Komm doch mit drunter, rief Dorothée aus dem Bad. Es ist himmlisch.

– Weiß nicht, rief ich zurück.

Du Blödmann, sagte ich mir. Was könnte schöner sein? Ich zögerte.

– Na gut, rief ich, ich komme.

Aber sie hörte mich nicht. Der Himmel wurde so dunkel, dass die Straßenbeleuchtung ansprang. Der Lichtschein einer Laterne fiel von draußen herein. Im Flur, in den beiden Zimmern, in der Küche, überall gepackte Kartons. Dazwischen lag eine französische Matratze auf dem Boden. Ich stellte mir vor, wie ich mich einst erinnern würde. Ich dachte, vielleicht sind dies die letzten Bilder vor meinem Aufbruch in ein ganz anderes Leben, das ich mir heute noch nicht vorstellen kann – prompt gewann die Szenerie enorm an Bedeutung.

Ich stellte mir vor, wie Dorothée mich nach Göttingen mitnimmt, als Hauptperson in ihrem Leben. Sie wirft den Freund raus, ich verbringe meine Tage in ihrem Bett und warte, dass sie von der Arbeit nach Hause kommt. Und dann … Weiter wusste ich noch nicht; erst einmal bis ins Göttinger Bett, das in diesem Augenblick kein wirkliches Bett war, sondern Symbol für mein künftiges Leben im Liegen.

Derweil goss ich zwei Gläser Whisky ein. Wir stießen an und tranken aus.

Die Straßenlaterne vor dem Fenster grinste.

– Die Vorhänge sind schon nach Göttingen vorgefahren, sagte Dorothée. Handtücher findest du im obersten Karton im Bad.

Ich duschte und wickelte mich in ein Badetuch mit der Aufschrift 100 Jahre Persil. Weshalb hob sie sowas auf?

Als ich ins Zimmer kam, räkelte sie sich nackt unterm dünnen Betttuch. Sie lachte:

– Du hast dir ja was Feines ausgesucht. In dem Badetuch ist die Katze gestorben. Aber keine Angst, es ist gewaschen.

Ich schlüpfte zu ihr ins Bett.

– Tja, sagte sie, zweieinhalb Jahre habe ich hier gewohnt. Scheiß auf Göttingen! Ich stell’s mir da schrecklich vor. Ich stell mir vor, wie all die Kollegen, Dekane, Sponsoren, parteinahen Stiftungspräsidentinnen, diese Mitglieder des Lions-Clubs, also, ich meine diejenigen, die die gesellschaftliche Elite der Stadt verkörpern, mich anstarren und denken: Was ist das für eine? Diese Leute, die sich für was Besseres halten, laden mich zu Konferenzen ein oder zum Abendessen, damit ich mich an ihre Sicht der Dinge gewöhne. Falls nicht, wird künftig eine andere eingeladen. Ich stell mir die Studenten vor, Burschenschafter oder wertkonservative Sozialdemokraten, also Leute ohne Interesse an gesellschaftskritischer Kunst. Was soll ich denen erzählen? Kannst du dir das vorstellen?

– So schlimm wird’s schon nicht kommen, tröstete ich und stellte mir vor, wie ich im Göttinger Bett auf sie warte, umgeben von Büchern, zu deren Lektüre mich niemand zwingt. Der Tag vergeht, abends kehrt Dorothée heim, ruhmbeladen, überanstrengt und freut sich nur auf mich …

Ich stellte mir das vor, sofort ging’s mir gut. Ich stellte mir mich als Hauptperson einer Geschichte vor, die ich erzählte. Das Ich, das spricht und das Ich, von dem gesprochen wird, sind strukturell unterschieden. Das Ich, das spricht, besitzt keine positiven Prädikate, es ist so etwas wie die Sprecherposition an sich, während bestimmte Merkmale (Größe, Alter, Gewicht, etc.) nur dem Ich, von dem gesprochen wird, zukommen. Das eine Ich, dachte ich, besteht aus Sprechen, das andere Ich wird gesprochen; gemeinsam sind sie Hauptperson.

In der Hamburger Gegenwart lagen wir nebeneinander auf einer Matratze. An der Wand gegenüber hingen Reproduktionen des Gemäldes Der Morgen von Philipp Otto Runge, gleich vier nebeneinander im Negativdruck, also viel Schwarz, die hellen Flächen phosphoreszierend eingefärbt. Genien und Engel stiegen psychedelisch blau, purpurn, giftgrün und violett aus den Blüten einer Amaryllis empor zum schwarzen Licht der Himmelsglorie.

– Glaubst du, ich beschäftige mich in Göttingen noch mit der Frage, ob Kunst und Kultur die Fähigkeit verloren haben, unsere Gegenwart zu fassen und zu artikulieren? Nein, mein Lieber, ich kenne mich.

Ich schlüpfte enger an.

– Vielleicht, sagte ich vorsichtig, vielleicht, nur mal so, käme es drauf an, mit wem du nach Göttingen gehst. Ich meine, dein Freund …

– Lass den aus dem Spiel, rief Dorothée. Der hat nichts mit meiner Entscheidung zu tun. Sag mal, du hast ja Socken an, Socken im Bett geht gar nicht. Aber raus damit!

– Mir ist so kalt, da habe ich mir welche aus dem Karton im Bad genommen.

– Socken im Bett! Und dann noch die von meinem Freund. Sofort raus!, schimpfte sie.

Ich sprang aus dem Bett, sie guckte mir zu, was mir furchtbar peinlich war. Im Stehen streifte ich die Socken ab und durfte mich dann wieder an sie schmiegen. Seltsam, dachte ich, mit ihr ins Bett steigen darf ich, aber seine Socken dabei tragen nicht.

– Besser?

– Okay, sagte sie. Ich weiß nicht, ob das gut ist, was ich gerade tue, aber stell dir vor, aus schierer Verzweiflung werde ich in Göttingen an meiner Karriere arbeiten und meine Vergangenheit als kritischer Geist zur bloßen Vorgeschichte meiner Teilhabe am Leben besserer Stände herabstufen.

Ich wärmte mich an ihrem Körper und schaute mir die Rungeposter an. Der Morgen, die Hoffnung, dass sich eines Tages die Verhältnisse ändern. Romantische Utopie: Morgen wird alles ganz anders. Man weiß nicht wie, man weiß nur, so wie es ist, bleibt es nicht, kein Grund also, sich hier und heute exzessiv dem Aufstieg zu widmen. Lieber malte ich mir weiter aus, wie es wäre, mit Dorothée nach Göttingen zu ziehen. Hatte ich davon nicht immer geträumt? Vermutlich nicht, aber damals auf ihrer Matratze umgeben von Umzugskartons kam es mir so vor.

– Dorothée, sagte ich und tastete mich mit der Hand von ihrer Hüfte nach unten, die romantische Liebe bringt auf der Ebene der symbolischen Repräsentation die Sehnsucht nach und das utopische Modell einer Souveränität des Individuums jenseits und gegen die Forderungen jeder Gruppe und Klasse zum Ausdruck.

– Bestimmt, sagte sie. Ganz bestimmt.

– Dorothée, sagte ich, Utopie ist der erotische Widerpart der herrschenden Arbeitsmoral. Liebst du mich?

– Lass uns das morgen bereden.

Verstehe. Ich sollte sie nicht von ihrer Karriere abbringen, ich sollte auch nicht mitkommen, sie wollte mit mir nur eine letzte Pirouette vor dem Absprung drehen. Damit sie später in Göttingen ihrer besten Freundin erzählen konnte: Weißt du, meine letzte Nacht in Hamburg war hart, wirklich hart, beinahe wäre ich nicht losgekommen. Aber dann bin ich mit diesem Typen im Bett gelandet, der sich unbedingt in mich verlieben musste. Ich habe ihn angesehen und sofort gewusst, wenn ich mich an den binde, wird nichts aus mir. Eine Nacht lang habe ich mich mit meinem Gegenüber, meinem Double eingelassen, mit dem Loser in mir sozusagen, und mich auf diese Weise glücklich von ihm gelöst.

Ob ich ihr Unrecht tue?

– Was machen wir hier?, fragte ich.

– Ich halte mich an dir fest, antwortete sie. Weil ich Angst habe.

– Dann geh doch nicht.

– Darum geht’s doch nicht. Ich habe Angst, aber ich weiß mich zu beherrschen.

Klar, sie hatte Angst vor den sozialen, psychischen und physischen Kosten, sich in ein fremdes Milieu hineinzuarbeiten. Ich nahm sie in den Arm. Darauf hatte uns das Studium nicht vorbereitet und das Elternhaus schon gar nicht. Der soziale Status erscheint als Resultat der individuellen Leistung, für die man selbst verantwortlich ist, obwohl er faktisch auch weiterhin in hohem Maße durch die soziale Herkunft oder das Geschlecht bestimmt ist. Dabei ist das Risiko der depressiven Selbstabwertung dem funktionalen Selbstbezug des unternehmerischen Selbst gewissermaßen als dunkle Kehrseite eingeschrieben.

Sie umklammerte mit ihren Beinen meine. Selbstverständlich erregte mich das; ich flüsterte also:

– Dorothée, ich liebe dich.

Und küsste sie auf Mund und Augen.

– Ich nehme noch einen Whisky bitte, sagte sie.

Die Flasche stand neben einem Karton mit der AufschriftMein Vorleben 3. Sie trank. Ich begriff. Im Zuge ihres Identitätsmanagements wollte sie mit meiner Hilfe ihrer Biographie eine kleine, sinnintensive Abschiedserzählung hinzuzufügen.

– Ach, die Liebe ist die Liebe, seufzte Dorothée. Sie führt zu nichts. Umziehen dagegen führt dazu, dass man sein Leben in Kartons verpackt und nicht sicher ist, ob man es beim Öffnen wiederfindet.

– Ist dir klar, dass diese Bettgeschichte ein mentaler Fluchtversuch ist, warnte ich. Es kränkt dein Ego, dich widerstandslos deinem Karrierewillen hinzugeben.

– Ein Emmentaler Fluchtversuch?, kicherte sie. Das ist doch Käse! Und dazu passt ein Toast! Ich widme diese Nacht dir allein, dem einen, dem ich nichts verdanke, und an den ich daher stets mit Wohlwollen denken werde!

Bitte nimm mich mit nach Göttingen, flehte ich lautlos, denn mir wäre es peinlich gewesen, mich ihr an den Hals zu werfen.

Ich presste mein Ohr an ihren Bauch, sie schnappte sich ein Buch in blauem Leinen, Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais:

– Eines Tages wo ein besonders kühner Schwung sich seiner Seele in ihrer Gesellschaft bemächtigt hatte, und die mächtige Liebe ihre jungfräuliche Zurückhaltung mehr als gewöhnlich überwand, so daß sie beyde ohne selbst zu wissen wie einander in die Arme sanken und …

– Sag was!, sagte ich.

Sie, mit warmer Stimme:

– Haallo. Haaaaaallooo. Hier spricht Dorothée an ihrem letzten Abend in Freiheit. Die traurige Dorothée. O – o – ée.

Statt zu flüstern, bitte nimm mich mit nach Göttingen, berührte ich mit meiner Zungenspitze die regsamsten gefühligsten Nerven ihres höchsten Lebens, bei Novalis schmelzt der erste glühende Kuß die Liebenden auf ewig zusammen.

Beim Frühstück schlug Dorothée tatsächlich vor, gemeinsam fortzureisen, aber nicht nach Göttingen.

– Südfrankreich, Arles, Freunde haben da ’ne Wohnung. Antike Bauten, mediterranes Essen, das Licht des Südens. Ich lade dich ein!

– Mm, sagte ich, mm. Willst du deine Stelle nicht antreten?

– Doch, klar, keine Ahnung.

– Mm. Und dein Freund?

– Kann warten.

– Liebst du mich?

– Okay. Reden wir nicht mehr davon!

– Dorothée, sagte ich, wir hatten so einen schönen Anfang gestern.

– Wir sollten unser Leben nicht mit Rückblenden verschwenden!, antwortete sie und warf mir den Wohnungsschlüssel zu. Kannst hierbleiben. Melancholie und Eigentumswohnung, du hast’s gut …

Ein Jahr später war Dorothée zurück in Hamburg, ohne Job, ohne Freund. Fing in einer anderen Wohnung ein neues Leben an. Ließ mich in ihrer alten wohnen. Für derart lebensuntüchtig hielt sie mich. Zahlte sogar die Nebenkosten. Ganz ehrlich, ich sei nun mal ihre dunkle Kehrseite.

4 | Die Suche beginnt

Auf dem Nachhauseweg von der Kunsthalle klingelt mein Telefon:

– Am besten, du beginnst mit der Suche in seiner Wohnung, sagt sie.

– Dorothée, ich kann das nicht!

– Du suchst Maximilian und darfst im Gegenzug in meiner Wohnung wohnen bleiben. Das ist der Deal.

– Das ist Erpressung.

– Seine Schlüssel habe ich in deinen Briefkasten geworfen. Ende!

Ach, Dorothée. Die Suche beginnt. Apartmenthaus am Rondeelteich, weißer Kasten, Bauhaus nachgestaltet. Schlichtheit derer, die sich als Höhepunkt ihres Erfolgs Wohnkultur leisten. Besser kann man nicht wohnen, denke ich.

Wie oft mag Maximilian im vollen Sonnenschein aus dem Cabrio gesprungen sein, eine Flasche Champagner unter dem einen Arm, Dorothée im andern? Ob er überhaupt ein Cabrio fährt? Ich weiß es nicht, ich stelle es mir vor.

Okay, denke ich, HP spielt Detektiv. Detektiv für Dorothée. Was macht so einer überhaupt? Ich kenne Detektive nur aus Filmen und Büchern. Der Detektiv ist ein Aufklärer, heißt es. Er bedient sich seines eigenen Verstandesund sucht den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sapere aude! Aber will Dorothée wirklich die Wahrheit hören über Maximilian?