Nebelstreif - Jean-Pierre Rochat - E-Book

Nebelstreif E-Book

Jean-Pierre Rochat

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Beschreibung

Bauer Jean Grosjean hätte seinen Kühen nicht ohne Grund gern schwarze Halfter angelegt: Es ist der Tag des Abschieds, sein ganzes Hab und Gut, "Vieh, Fahrhabe und Gerätschaften", wie es in der öffentlichen Ankündigung heisst, wird versteigert. Mit jedem Werkzeug, mit jeder Maschine, mit jeder Kuh verliert Jean, der mit Leib und Seele Bauer war, ein Stück von sich selbst. Und was kommt nach dem Verkauf von Nebelstreif? Jean-Pierre Rochat erzählt in diesem Buch die Geschichte einer individuellen, aber auch einer gesellschaftlichen Tragödie. Es ist ein flammendes Manifest gegen das Schicksal zahlreicher Bauern und Kleinbauern, die unter den herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen mehr und mehr in den Tod getrieben werden. Und eine ebenso flammende Liebeserklärung an das, was das bäuerliche Leben auch sein kann oder sein könnte. Nach MELKEN MIT STIL ist Nebelstreif Jean-Pierre Rochats zweites Buch im verlag die brotsuppe. Yla M. von Dach hat ins Deutsche übersetzt.

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Jean-Pierre Rochat

NEBELSTREIF

Roman

verlag die brotsuppe

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Der Autor

Die Übersetzerin

Anmerkungen der Übersetzerin

I

»Elias Schwarz, gleich binde ich dich an einen Baum, die Nase auf der Rinde, zieh dir die Hose runter und stecke dir eine Dynamitstange in den Hintern!« Das denke ich, während er sich höflich nach dem genauen Verwendungszweck jedes Werkzeugs erkundigt.

»Elias Schwarz, gleich zünde ich die Zündschnur an, die zwischen deinen prallen Hinterbacken raushängt!«

Elias Schwarz ist ein schöner Mann, gross, gute Figur, rabenschwarzes Haar, braune Augen, stattlich und elegant, ein grosser Schauspieler, der Starverkäufer, um den sich die Betreibungsämter reissen. Ich dagegen bin schon tot, ich kann töten. Nicht irgendwen, seien wir fair, es gibt noch ein paar anständige Typen …

Sogar Elias Schwarz könnte einer von ihnen sein, wäre er nicht genau der, der mir alles rauben wird, was mir gehört, sogar meine Kühe, sogar mein Herzblut Nebelstreif.

II

Ich wollte nichts davon wissen, doch es stand in allen Lokalzeitungen, in allen Gratisblättern und war in der Info-Vitrine der Gemeinde angeschlagen:

DIENSTAG, 12. APRIL, ÖFFENTLICHE VERSTEIGERUNG IM »COMBE DU DROIT« VON VIEH, FAHRHABE, MASCHINEN UND GERÄTSCHAFTEN AUS DER KONKURSMASSE VON JEAN GROSJEAN. MASCHINEN UND GERÄTSCHAFTEN AB 9 UHR, VIEH AB 13 UHR 30. VERPFLEGUNG VOR ORT.

Die haben bei mir eine Festwirtschaft eingerichtet, aber ich bin schon nicht mehr zuhause, dort gehen Leute ein und aus, die ich gern ins Gras beissen sähe, mit einer Kugel im Kopf, aber ich kann nichts machen, ich bin ein Unschuldstölpel.

Elias Schwarz ist ein intelligenter Typ, er sagt: meine Bauern. Er sucht den Dialog, versteht, dass ich bis zum Hals im Dreck stecke; er stellt mir seine beiden Gehilfinnen vor, ich hab keinen Kopf mehr für sie, beide sind hübsch. Sie sind dazu da, das Geld aus den Verkäufen einzusammeln und die Kundschaft anzuheizen, damit sie die Preise in die Höhe treibt, dafür verschenken sie Villiger-Stumpen oder Ragusa-Schokoriegel an jeden höher Bietenden, wenn sie ihn ausfindig gemacht haben in der Menge.

Ich bin ein toter Mann. Meine Frau ist weg, die Kinder mit ihr. Die Leute sagen: »Seine Frida hat den Hintern gelupft, sie war zu schön!« Schön noch immer, aber weit weg jetzt, jenseits der Meere, die Kinder, das zerreisst dir das Herz, an die Kinder zu denken tut mir so weh, dass es, würde ich Elias Schwarz und die ganze Menschheit in die Luft sprengen, nichts wäre als ein Tropfen Glück im Ozean meines Schmerzes. Ich will nicht flennen, was mir passiert, ist vielen Bauern passiert. Magerkäs, zum Beispiel, hat sich in seiner Scheune erhängt, und Krauskopf ist über die Felsen runter mit seinem Traktor, krack hat’s gemacht, Schraubenbolzen bis in die Zementfabrik hinüber. Ich denke doppelt, seit es mir schlecht geht. Eine dieser Gehilfinnen von Elias Schwarz, die mag mich, oder ist es Mitleid, eine Erinnerung ihrerseits, eine Situation, eine Ähnlichkeit, sie kommt ganz nah, um mit mir zu reden, nimmt Anteil mit ihren blaugrünen Augen, die Augen sind das Schönste an ihr, der Rest ist ein bisschen pummelig.

Ich hab keinen Sexualtrieb mehr, seit Frida weg ist. Hab’s versucht, es war erbärmlich, ich glaube, das ist ein fester Bestandteil des »Mannes, der schon tot ist«, in dem gerade noch genug Leben bleibt, dass er sein Vieh füttern kann.

Die andere Gehilfin von Gantrufer Elias Schwarz, die, die mich von oben herab behandelt (ja, doch, nein, doch), die ist aber ein Top-Girl, spielt sich ein bisschen auf, und mit den Bauern klappt das, diese Üppigkeit: »Da, ein Stumpen.« Es ist ein Haufen Leute da, Neugierige, Interessenten, Händler, Antiquare.

III

An diesen Tag meines Todes werde ich mich gut erinnern müssen. »Wie denn, wenn du doch tot bist?« Ich sollte es schaffen, nicht komplett zu sterben; mir einen lästigen Körper vom Hals zu schaffen und einen wachen, unbeschwerten Geist zu bewahren.

Schon allein die Werkzeuge, das trifft dich jedes Mal wie ein Schnitt mit der Hippe in die Seele. Angefangen mit Fridas Gabel, im Dreierposten angeboten, vom Helfershelfer hochgehalten, vom Strohmann, den das Betreibungsamt im Auftrag von Elias Schwarz angeheuert hat, um den reibungslosen Verlauf der Gant zu gewährleisten. Der Helfershelfer, der Strohmann, hat die drei Gabeln über dem Kopf geschwenkt, waagrecht. Elias Schwarz zur Musik: »Zum Gebot! Drei Gabeln, neuwertig, laufen wie von selbst.«

»Nein, nein, nicht die da, die können Sie nicht, die gehört meiner Frau!« Sie hatte ihre eigenen Werkzeuge, die man nicht anzurühren wagte, sie sagte: »Es braucht mindestens zwei Jahre, bis mir ein Werkzeug nach der Hand geht!«, und sie war enorm begabt für die Arbeit, für alles übrigens, sie war eine ideale Frau. Etwas muss eines Tages aufhören, damit man merkt, dass es ideal war. Dass die Ideale sich ändern können und dass die Liebe dir urplötzlich aus den Pfoten glitschen kann wie eine schöne Forelle, die dir entwischt.

Ich bin kein Bauer mehr, nicht einmal ein Dichter, das hier ist die Realität, ganz ungeschminkt. Was wird aus mir, danach? Ach nichts. Es ist der Tag der Hinrichtung. Danach kommt die Arbeit des Bestattungsinstituts, denen fehlt es nicht an Energie, die werden dafür bezahlt, doch wer bezahlt? Wo ich doch ein Loch bin, eine Negativquote, Tod auf Kredit.

IV

Wie hat das passieren können? Fassen wir die drei Jahre meiner Talfahrt zusammen; wie der solide Sockel meiner Vorfahren, Grund und Boden, unter meinen Füssen zu Nichts zerbröselt ist, wie ich ins Wanken gekommen und kaputtgegangen bin.

Frida, meine fremdartige Schönheit, hat sich in einen anderen verliebt, der hinterletzte Kerl hätte darauf kommen können, aber nicht ich, für mich war das undenkbar, für mich war unsere Liebe unwandelbar, ewig, daher der Schock, als sie mir, begehrenswert wie eh und je, da vor mir, erklärte: »Ich verlasse dich!«, wie in einem Film, im Theater, im Fernsehen. Das gab es nicht, sie konnte doch nicht, wir waren so unzertrennlich, wir hatten nur ein Herz für zwei, eine einzige Sicht der Dinge, ein einziges Haus, zwei Kinder, so innig mit uns verbunden, eine Familie, einen Landwirtschaftsbetrieb, Verpflichtungen, geordnete Verhältnisse, und ganz plötzlich war ihr das scheissegal, sie war frisch verliebt und entdeckte das wie eine wunderbare Erfahrung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ungeheuer glücklich ich bin, so egoistisch glücklich, dass es mich noch mehr aufreizt!«, das hat Frida zu mir gesagt. Eine eiskalte Dusche, Schmerz in den Ohren und das Herz steht still. »Und die Kinder?« Die Kinder, du kannst dir ja vorstellen, dass sie die Kinder nicht vergessen hat, das Wohlergehen der Kinder, »auch sie freuen sich, nach Kanada zu kommen«, hat sie gesagt. Neues Leben, neuer Ort. Ich hab nichts begriffen, bin an Ort und Stelle kleben geblieben, eine Art Autismus, ich wollte aufstehen, aber es ging nicht, hatte keine Beine mehr.

Meine Frau, Frida, diese Frau, um die mich alle beneideten, hat die Hälfte von allem verlangt, was uns gemeinsam gehörte, ist ja normal. Dazu Alimente, dazu die Kosten, dazu die Kosten der Anwaltskosten, der Notariatskosten, der Strafverfolgungsbeamtenkosten. Auf einen Schlag wollte jedermann Geld, wie halb verhungerte Hunde haben sie dann alles verschlungen, was ich hatte, und alle haben zugeschaut, ob Freunde oder nicht. »Pech gehabt! Dumm gelaufen für ihn! Möcht nicht an seiner Stelle sein …«

Frida – ich liebe sie noch immer, das ist es, das hat nicht funktioniert, ich bin auf der Seite stecken geblieben, wo sie mich noch liebte. Ich habe ihr die Möglichkeit geben wollen zurückzukommen: »Wann immer du willst, es wird alles noch an seinem Platz sein«, doch das Räderwerk ist in Gang, es läuft und löst einen Schneeballeffekt aus, nicht bereinigte Schulden, die sich infizieren und zur Pfändung deines gesamten Viehbestands führen, ob tot oder lebendig, heute ist der Schicksalstag, an dem ich mir sage, dass da wirklich nichts ist von einer Gegenwart Gottes, obwohl Hiob auf seinem Misthaufen noch daran glaubte, ich dagegen, wenn ich mich auf meinem Misthaufen aufpflanze, hier, auf der Stelle, dann werde ich sofort eingesperrt. »Augenblick, ich bin grad im Gespräch mit Gott!« Will ihn fragen, warum, ja, Scheissliebergott, warum das dermassen den Bach runtergegangen ist, wo ich doch immer geglaubt habe, dass er auf meiner Seite ist und dass Frida sein, dass sie mein Geschenk sei, von Ewigkeit zu Ewigkeit … Und da verliebt die sich doch schlagartig in den Gemeindeschreiber, einen Grünschnabel, der anstelle des alten Kabi ernannt worden war. Das Amt des Gemeindeschreibers hat mit der Zusammenlegung der drei Gemeinden mehr Gewicht erhalten, es entspricht jetzt dem Status einer mittleren Führungskraft mit einem komfortablen Gehalt, man sah ihn in seinem Cabrio vorbeirauschen, »hallo, hallo«.

Frida, meine Frau, war absolut unwiderstehlich, das habe ich nicht sagen wollen, meine Frau Frida war Präsidentin der Schulkommission für die drei Schulen, und der Gemeindeschreiber war auch der Sekretär der Schulkommission, daher die Annäherung, Tuchfühlung und alles, was sich daraus ergeben hat zu meinem Unglück. Zu meinem Tod, letztendlich.

Ich bin noch nicht fertig mit der Liste der Bauern, die aufgegeben haben, Bauern aus der Nachbarschaft, man braucht nicht weit zu suchen, ich bin kein Voyeur in Sachen bäuerlicher Selbstmord, will mich bloss vergewissern, dass ich dann nicht allein bin im Klub der Bauern, die sich umgebracht haben.

Ich versuche, nicht an Frida zu denken, an die Gabel, die sie weggeworfen hatte, um mir zu sagen: »Komm, wir gehen ins Heu und machen Junge!« Kätzchen? Ja, mindestens, und mehr bei gegenseitigem Einvernehmen. Sie, nackt im Heu. Ich suche Gewürzkräuter in deinem Vlies.

»Halten Sie den Mund, Monsieur Jean«, sagt die Gehilfin von Elias Schwarz, die mich mag und mich ein bisschen stützt, als wäre ich betrunken, mag sein, dass ich es ein bisschen bin, andeutungsweise. Betrunken auch an diesem Tag meines Todes wie an den Tagen zuvor, nach und nach, ein Glas, bevor ich mich auf den Weg mache, ein Glas vor dem Melken, eins für Frida, eins für Vivienne »Jumbo-Machinder«, die Mackinder. Ihr Kopf ragt in der Menge über alle anderen hinaus; bevor sie den Bauernbetrieb ihrer Onkel übernahm, war sie eine Spitzenathletin, Hammerwerfen, Vivienne Jumbo-Machinder will mehrere meiner besten Kühe ersteigern. Ich hätte sie ihr verkaufen sollen, als ich noch freie Hand hatte, als noch nicht alles gepfändet war, aber damals hoffte ich noch1 durchzukommen, ich habe lange gehofft. Lange hab ich dran geglaubt, hab am Morgen dran geglaubt, wenn ich aufstand vor Sonnenaufgang, und geschuftet, bis diese Sonne wieder untergegangen war. Als meine Brüder und meine Schwester ihren Anteil am Erbschaftskuchen der Eltern verlangten, hat es mich definitiv flachgelegt. Bis dahin hatten sie sich sehr cool gezeigt, hatten ihre Forderungen auf die lange Bank geschoben, aber plötzlich, instinktmässig, bevor ich nur etwas von der nahenden Pfändung merkte, haben meine Brüder und meine Schwester ihren rechtmässigen Anteil eingefordert. Ohne Bitterkeit.

Ein anderer Aspekt, der seinen ganzen Zauber verloren hat, es war Frida, die sich um die Finanzen kümmerte, klarsichtig hielt sie unser Budget in der Balance, füllte die elektronischen Formulare aus, mit denen man uns dauernd vollpfeffert.

Gegenwärtig schaffe ich es am Abend nicht einmal mehr, den Computer anzumachen, mag auch nicht den Kopf in den Papierkram stecken, ich peile mein Bett an, das schon lange nicht mehr gemacht worden ist, und lasse mich in den Kleidern hineinfallen, vollkommen kaputt, erschöpft, schlecht genährt und allzu ausgiebig getränkt.

V