Nebelvermächtnis - Arne Kilian - E-Book

Nebelvermächtnis E-Book

Arne Kilian

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Beschreibung

Dass Robert die Herbstferien bei seinem Onkel in dem verschlafenen Nest Loch verbringen soll, stimmt ihn alles andere als glücklich. Verborgen in einem Tal und von Moor umgeben, bestimmt dichter Nebel den Alltag des Dorfes. Robert entdeckt mitten im Nebel eine magische Stadt, die bislang vor den Blicken der Menschen verborgen war. Er ahnt weder, dass sein Leben einer höheren Bestimmung folgt, noch, dass ihm bald eine bezaubernde Begegnung fast den Verstand rauben wird …

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Nebelvermächtnis

Arne Kilian

Copyright © 2018 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Lillith Korn

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-278-5

Alle Rechte vorbehalten

Für Antonia.

Dein Lied vom Nebel hat mich zu diesem Buch inspiriert!

Und für Bennet.

Du kannst die Magie um uns herum sehen!

Inhalt

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Über den Autor

Prolog

»Geh weiter!« Dieser Gedanke war so laut in seinem Geist, als würde jemand direkt zu ihm sprechen. Und er ging. Spürte den Untergrund. Fühlte den Nebel.

»Noch weiter! Du musst unbedingt weitergehen!«

Teil 1

1

»Macht dir der Nebel Angst?« Diese Frage sollte Robert nicht so schnell vergessen. Als er vor fünf Minuten mit dem Zug in Loch angekommen war, hatte er noch über das Graffiti am Ortsschild lachen müssen: DAS LETZTE hatte dort jemand in schwarzer Farbe aufgesprüht. Es traf genau auf diesen Ort zu. Er hieß zwar »Loch«, doch bereits der Bahnhof verriet, dass es sich eindeutig um das allerletzte Loch handelte. Ausgerechnet hier verbrachte er die Herbstferien! Der Gedanke daran reichte aus, um Roberts gute Laune in einem tiefen Schlund verschwinden zu lassen. Wahrscheinlich würde sie sich nicht einmal wehren, sondern freiwillig in den Abgrund springen und ihn allein zurücklassen.

»Herzlich Willkommen im schönen Loch, Robert. Macht dir der Nebel Angst?« Ein Mann, dessen unteres Gebiss beim Sprechen wackelte, lächelte ihn an. Er trug eine abgewetzte und viel zu große blaue Dienstuniform. Es war mehr als bezeichnend, dass man in dem Örtchen genau wusste, wer dort ausstieg.

Vor zwei Stunden hatte Robert seine Heimatstadt Hamburg verlassen. Kurz darauf stand der Schaffner neben ihm und wies darauf hin, dass der Zug nur auf Wunsch in Loch anhalten würde. Es klang wie eine Warnung: Junge, bitte zwinge uns nicht, in dieser öden Gegend zu halten! Dort leben bloß Schafe und Menschen, die sich wie Huftiere verhalten!

Niemand stieg ein oder aus. So stand er allein auf dem Bahnsteig und wusste, dass der Ort seinem Namen alle Ehre machte. Und genau hier hatte Robert seine Wurzeln! Sein Vater sprach kaum darüber, und seine Mutter konnte er nicht danach fragen. Sie lebte in ihrer eigenen Welt.

In dem Ort Loch gab es mehr Schafe als Menschen, denn wenn man erfolgreich sein wollte, brauchte man eine große Herde. Und wahrscheinlich waren diese Tiere die wahren Herrscher von Loch. Würden sie es darauf anlegen, könnten sie jederzeit die Gemeinde stürzen und die Macht übernehmen – und womöglich hatten sie das längst getan.

Wenn die lebenden Wollknäuel geschoren wurden, half selbst der Pfarrer mit. Das lag weniger daran, dass er sämtlichen Schäfchen in seiner Gemeinde helfend zur Seite stehen wollte. Die pure Langeweile trieb ihn dazu.

Vermutlich war der Nebel daran schuld, dass sich neben Roberts Eltern bisher nicht viel mehr Menschen dazu aufgemacht hatten, diesen Ort zu verlassen. Wahrscheinlich erzeugten die Schafe in einem geheimen Ritual stets eine noch dichtere Nebelwand, sobald jemand beschloss, aus dem Dorf zu fliehen.

Besonders in den kälteren Monaten gab es genau genommen keinen Tag ohne Nebel in Loch. Das erklärte sich durch die Lage des Ortes, denn Loch lag in einem Tal und zusätzlich war die Umgebung sumpfig. Insbesondere nördlich der Siedlung befanden sich einige tiefe Moorlöcher.

Auch wenn es genügend Wiesen für die Schafe gab, beschrieben die Einwohner das Umland schlicht als Moorgebiet.

Der Nebel lauerte überall, zog durch offene Fenster oder Türen und suchte sich seinen Weg durch die Ritzen der Häuser. Bald sollte Robert erkennen, dass so zwar erklärt werden konnte, wie der Nebel in Loch entstand – was sich in dem dichten Dunst verbarg, war damit aber keinesfalls klar.

Der Weg zu Onkel Theo war trotz der Wetterverhältnisse nicht schwer. Es gab nur eine Straße, die vom Bahnhof in den Ort führte. Dort musste Robert den kleinen Laden suchen. So hieß das Geschäft, das sein Onkel führte: Kleiner Laden. Der Bahnhofsvorsteher wollte ihn dorthin begleiten. Unterwegs befürchtete Robert, dass er seine Kenntnisse über Erste Hilfe gleich bei ihm anwenden musste.

In diesem Schuljahr belegte er einen Ersthelfer-Kurs. Vor zwei Wochen hatte er dafür an einer Kunststoffpuppe üben müssen, wie man einen Menschen wiederbelebt. Seine Wangen liefen bei dem Gedanken daran rot an, was Andi gerufen hatte, als Robert an der Reihe gewesen war: »Robert, nimm deine Zunge aus dem Mund der Puppe! Das ist nicht Vicky, die steht hinter dir!«

Warum hatte er nicht einfach irgendeinen coolen Spruch erwidert? Stattdessen hatte sein Kopf die Farbe einer Tomate angenommen – und zwar einer überreifen und matschigen. Dabei bedeutete ihm Vicky nicht besonders viel. Sie hatte einfach zufällig hinter ihm gestanden.

Der Bahnhofsvorsteher wollte unbedingt die Tasche tragen. Robert fragte sich, ob er ihm dafür anschließend ein Trinkgeld geben sollte. Wie viel gab man einem Mann, dessen Hilfe man eigentlich gar nicht benötigte und der drohte, bei jedem weiteren Schritt unter der Belastung zusammenzuklappen?

Dieser bescheuerte Andi hatte mit seiner dämlichen Äußerung dafür gesorgt, dass Robert dem restlichen Erste-Hilfe-Kurs nicht mehr aufmerksam folgen konnte. Er hatte die Blicke der anderen und besonders das Getuschel der Mädchen bemerkt und alles unternommen, um ziemlich lässig zu wirken. Wenn der alte Mann vor ihm kollabierte, konnte Robert ihn wahrscheinlich überhaupt nicht retten. Außerdem musste er sich bei dem Gedanken schütteln, bei der Mund-zu-Mund-Beatmung das Wackelgebiss zu spüren.

»Geben Sie mir ruhig das Gepäck. Den restlichen Weg finde ich alleine.« Robert kramte in seinem Portemonnaie und zog einen Fünfeuroschein hervor.

»Junge, das habe ich deinem Onkel versprochen. Man weiß nie, was einem im Nebel begegnet. Und manchmal ist es besser, mit geschlossenen Augen hindurchzugehen.« Mit einer schnellen Handbewegung steckte sich der Alte den Schein ein und schlurfte weiter Richtung Ortschaft. Bedeutete das jetzt, dass Robert ihm gleich einen weiteren Geldschein überreichen musste? Er fragte sich, wie teuer eine Taxifahrt gewesen wäre und ob es überhaupt Autos in Loch gab.

Die feinen Wassertropfen durchdrangen Roberts Jeans und Jacke. Seine Frisur war inzwischen ruiniert. Die schwarzen Haare klebten ihm auf der Stirn, versperrten zusätzlich seine Sicht. Durch den Dunst konnte man gefühlte zehn Meter weit sehen.

»Du darfst niemals die Straße verlassen, wenn du in den nächsten Tagen alleine unterwegs bist. Niemand weiß, wie viele Menschen im Moor ihr Leben verloren haben. Die Erde gibt keine Seele mehr frei, die sie verschluckt hat.« Der dürre Mann blieb stehen und nahm sich eine silberne Dose aus der Westentasche. In ihr befand sich eine braune Masse, die er in seinen Mund stopfte.

»Bei dieser feuchten Luft brennt der Tabak nicht gut«, sagte er, wischte sich dunkel verfärbte Spucke vom Kinn und setzte die Wanderung fort.

Robert wusste nicht, warum er das Bedürfnis verspürte, sich andauernd umzusehen. Lag es daran, dass ihm ein alter Mann die Tasche trug? Dann hoffte er bloß, nicht gesehen zu werden. Allerdings war der Nebel dicht genug, dass diese Gefahr nicht bestand. Also rührte seine Unruhe daher, dass er sein Umfeld kaum wahrnehmen konnte. Für den Bruchteil von Sekunden dachte er, dass sich Schatten übers Moor bewegten – aber jedes Mal, wenn Robert blinzelte und sich die Stelle im Nebel genauer ansah, war dieser Eindruck verschwunden. Er drohte anscheinend, direkt am ersten Tag in Loch wahnsinnig zu werden. Um sich zu beruhigen, blickte er fortan nur noch auf die Straße.

Als die Silhouetten der ersten Häuser auftauchten, stoppte Roberts Gepäckträger und holte tief Luft. Er würde ja wohl nicht jetzt kurz vorm Ziel zusammenbrechen?

»Den Rest des Weges schaffe ich alleine.« Robert zog einen zweiten Geldschein hervor und wollte erreichen, dass der Alte ihm dafür den Fünfeuroschein zurückgab. Der lächelte lediglich und steckte den Zehner ein.

»Du bist ein guter Junge. Es geschehen hier Dinge, über die niemand im Dorf sprechen möchte. Besuche mich am Bahnhof und ich erzähle dir davon!«

»Dinge?«, fragte Robert.

»Meine Familie wohnt seit der Gründung in Loch. Wir gehören zur ersten Generation. Über die Geschichte von Loch habe ich eine Chronik geschrieben. Du kannst sie lesen. Wenn du mich besuchst, zeige ich sie dir.«

»Vielen Dank. Ich gehe dann jetzt.«

»Bring mir aus dem Laden deines Onkels neuen Tabak mit, wenn du zu mir kommst. Warte damit aber, bis der Nebel abgezogen ist. Du kennst dich nicht aus und das Moor verzeiht keine Fehler!« Mit diesen Worten wandte sich der Alte ab und verschwand in der dichten weißen Suppe. Nach kurzer Zeit wirkte er auf Robert ebenfalls wie ein Schatten, von dem man nicht genau wusste, ob er überhaupt lebte.

Mit einem Kopfschütteln folgte Robert dem Straßenverlauf. Dabei fielen ihm viele verwinkelte Nebengassen auf. Zu einem Großteil standen in Loch Fachwerkhäuser aus der Gründerzeit. Viele von ihnen besaßen Bilder auf den Fassaden. Sie verstärkten die mittelalterliche Aura und zeigten Handwerksberufe, die damals ausgeübt worden waren. Die Farben wirkten frisch. Mit Sicherheit lag das an der Luftfeuchtigkeit und dem wenigen Sonnenlicht an diesem Ort.

Da die meisten Häuser verziert waren, fühlte sich Robert wie in einer Kunstausstellung. Mit seiner Kurslehrerin Frau Grundel hatten sie in diesem Jahr ein Museum besucht, das einen zeitgenössischen Maler präsentiert hatte. Eine Studentin hatte die Schüler durch die Räume geführt und ihnen erklärt, dass der Betrachter von Kunst eine ebenso große Rolle spiele wie der Erschaffer. Also könnten sie ruhig ihre eigenen Eindrücke schildern. Weil Robert den Fehler machte, als einziger Schüler der Frau mit einem Lächeln zuzuhören, sprach sie ihn sofort an: »Was siehst du in diesem Bild?«

Welch bescheuerte Frage. Die Absicht hinter dem Ding auf der Leinwand war eindeutig. Der Maler hatte ein paar Linien gezeichnet und selbst keine Ahnung davon gehabt, was er eigentlich aussagen wollte. Aus diesem Grund hatte er dem Museum einen Zettel beigelegt und draufgeschrieben, dass der Betrachter bei seinen Kunstwerken eine größere Rolle spiele als er, der Künstler höchstpersönlich.

»Ich sehe darin …«, begann Robert und spürte die Erwartungen seiner Mitschüler und besonders von Frau Grundel. Alle warteten gespannt darauf, was er sagen würde. Das Bild bestand aus gelben, blauen und roten Linien. »… die Grundfarben«, beendete er seinen Satz und erkannte ein zufriedenes Lächeln auf dem Mund seiner Kunstlehrerin.

»Was löst das Bild in dir aus?«, bohrte die Studentin nach.

Die Linien liefen kreuz und quer über die Leinwand, verdichteten sich an manchen Stellen und zeigten am unteren Rand eine Struktur, die Robert an etwas erinnerte, das er früher mal in Biologie gesehen hatte. Seine Eltern hatten damals, bevor Herr Klotz den Aufklärungsunterricht beginnen durfte, eine Einverständniserklärung unterschreiben müssen. In den Vorjahren hatte es einige Beschwerden gegeben. Am Ende spielte der Biolehrer einen Film ab, der ihnen kurz zusammengefasst erklärte, dass sie jahrelang an eine Erfindung verklemmter Erwachsener geglaubt hatten. Danach war es raus gewesen: Der Klapperstorch brachte keine Babys, sondern fraß Frösche. Aber das konnte Robert unter gar keinen Umständen sagen. Er wusste, wie die Reaktion der anderen sein würde – selbst noch im ersten Jahr der Oberstufe. Was konnte sich dieser Typ bloß bei seinem Bild gedacht haben? Dieser dämliche Linienzeichner besaß genug Grips, seinem Werk sicherheitshalber keinen Namen und stattdessen eine Nummer zu geben.

Nein, über den Aufklärungsunterricht durfte Robert jetzt auf gar keinen Fall sprechen. Er wäre das gefundene Fressen für den Rest des Tages und wahrscheinlich auch für alle weiteren Kunststunden bis zu den Sommerferien geworden. Dabei war das Schuljahr zu dem Zeitpunkt erst zwei Wochen alt gewesen. Also musste er schnell irgendetwas anderes sagen und dafür hatte er höchstens drei Sekunden Zeit, bis sein Schweigen peinlich wurde.

»Ich finde, dass das Bild … einen Klapperstorch zeigt …«, begann Robert und holte tief Luft.

»… der ein Baby auffrisst!«, setzte Tobias fort und versammelte mit dem Spruch einen lachenden Chor von Mitschülern auf seiner Seite. Das hätte Roberts Witz sein können, doch auf diese Weise war er zumindest aus dem Rampenlicht getreten. Die Studentin wandte sich Tobias zu und fragte mit einer gespielt interessierten Miene: »Wie kommst du auf diese Idee?«

»Es ist auf dem Bild klar zu erkennen«, entgegnete er und erntete weitere Lacher.

In Loch sah die Sache anders aus – und zwar eindeutig. Die Szenen auf den Malereien verstand man, ohne groß nachdenken zu müssen. Zumindest glaubte Robert das im ersten Moment, als er einen Schmied, einen Bäcker vor seinem Ofen und eine Wildschweinjagd betrachtete. Dann gab der Nebel ein weiteres Gemälde frei, das Robert überraschte. Die Malerei war seitlich an einem Gebäude angebracht, das vorn eine große Glasscheibe besaß. Er hatte den Laden von Onkel Theo gefunden. Auf dem Bild hielt ein Mann seine gespreizten Finger in die Luft und zeigte in einen Gewitterhimmel. Aus düsteren Wolken stießen Blitze. Auf dem Boden waberte Nebel und es sah aus, als würde ein Magier das Wetter beherrschen. Wahrscheinlich waren die Menschen im Mittelalter sehr abergläubisch gewesen und dachten, dass ein Unwetter übernatürliche Gründe besaß. Das Motiv würde Robert in der nächsten Zeit weiter beschäftigen, aber das wusste er in diesem Moment nicht.

Roberts Uhr zeigte die Mittagszeit an und die Lichter im Inneren waren erloschen. Von seinem Vater wusste er allerdings, dass Theo direkt über dem Geschäft wohnte.

Sein Vater arbeitete oft bis nachmittags in seinem Fotostudio, das sich ebenfalls bei ihnen zu Hause befand. Anscheinend war es Familientradition, den Unterhalt in den eigenen vier Wänden zu verdienen. Wenn sein Vater am Computer Aufträge für Zeitschriften oder andere Kunden bearbeitete, saß Robert meistens im Krankenhaus bei seiner Mutter und fragte sich, was wohl in ihr vorging. Die Erinnerung an ihre Stimme verblasste allmählich. Vor mehr als fünfzehn Jahren hatte sie es geschafft, Roberts Vater davon zu überzeugen, Loch zu verlassen. Damals war Roberts Mutter mit ihm schwanger gewesen. Wenn die Geschichte stimmte, die er kannte, dann hatte sie sich nach einer medizinischen Untersuchung durchgesetzt und Roberts Vater zu einem Umzug in die Stadt gezwungen. Die Erkenntnis, dass Loch nicht der geeignete Ort für ein Neugeborenes sei, habe sie bekommen, als der Arzt bei einer Untersuchung gesagt hatte: »Blöken Sie bitte einmal.«

Bevor Robert klingelte, wollte er sich einen Moment umsehen. Er stand allein auf der Straße und sah, dass in den Fenstern der anderen Fachwerkhäuser Licht brannte. An der Eingangstür zum Kleinen Laden hing ein Plakat, das einen Schweinemarkt ankündigte. Er fand in einer Woche statt und schien das Highlight des Jahres in Loch zu sein. Über dem Datum hielt ein gezeichnetes Schwein einen Bierkrug fest und prostete dem Betrachter mit einem breiten Grinsen zu. Kein Schaf wäre so belämmert gewesen, auf diese Weise vor der Kamera zu posieren. Robert fragte sich, was die Kunststudentin zu der Abbildung gesagt hätte. Allerdings würde die bestimmt niemals freiwillig in Loch aussteigen. Deshalb stellte sich diese Frage erst gar nicht.

»Das ist echt super«, sagte Robert zu sich selbst, »ich sitze in einem Ort fest, an dem die Bewohner mit Schweinen Spaß haben. Wahrscheinlich folgt einen Monat danach eine öffentliche Hexenverbrennung, weil es eine Frau mit einem Kasten am Ohr schaffen konnte, eine Pizza zu sich zu zaubern.«

Während Robert weiter auf der Straße stand, dachte er darüber nach, dass es in Loch tatsächlich ein Wunder wäre, wenn man hier ein Pizza-Taxi auftrieb.

2

Die Klingel über der Ladentür erinnerte an eine Messdienerglocke. Onkel Theo hatte Robert heute Morgen – seinem zweiten Tag in Loch – vorgewarnt, dass es vormittags eine ruhige Zeit sein würde. Inzwischen arbeiteten viele Einwohner außerhalb. Die wenigsten betrieben noch traditionelle Landwirtschaft. Aber eigentlich war es gut, gerade keinen Stress zu haben. Die letzten Wochen bis zu den Ferien waren sehr anstrengend gewesen. Nur wollte er sich nicht wirklich hier davon erholen.

Robert fühlte sich müde. Das musste an dem Klima liegen. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte das Atmen schwerer.

Im Kleinen Laden befanden sich wenige Waren. Die Höfe belieferten Onkel Theo mit ihren Erzeugnissen. Ein großer Sack mit Getreide stand neben der Kasse. Eier, luftgetrocknete Wurst, Tabak, Kaffee und Wein hatten einen festen Platz in den Regalen. Der Laden öffnete an drei Tagen in der Woche für ein paar Stunden und reichte für Roberts Onkel eher als Nebenerwerb. Den Wocheneinkauf erledigte man besser im nächsten Supermarkt. Dafür musste man allerdings eine halbe Autostunde lang fahren: für eine Strecke.

»Bist du Theodors Neffe?« Eine Dame mit einem Gehstock legte Kautabak und eine Packung Kaffee auf die Theke.

»Ja. Ich helfe im Laden aus. Mein Onkel ist bei den Schafen.« Robert gab die beiden Beträge in die Kasse ein und nannte der alten Frau die Summe. Sie starrte ihn an, ohne zu bezahlen. »Wie lange bleibst du hier?«, fragte sie.

»Die ganzen Herbstferien.« Erst in einer Stunde durfte er das Geschäft schließen.

»Ach herrje! Heutzutage zerbrechen so viele Ehen. Dein Onkel ist ein großartiger Mann.« Sie schnalzte mit der Zunge und wiederholte: »Ein Mann.« Dann setzte sie fort: »Bei ihm bist du gut aufgehoben.«

»Nein, das verstehen Sie falsch. Mein Vater musste für einen großen Auftrag verreisen. Er begleitet mit seiner Fotoausrüstung einen Politiker.«

»O Gott! Und deine Mutter ist im Himmel? Du bist ein armer Junge. Sei froh, dass du deinen Onkel hast. Theodor ist ein Engel. Das sagen alle. Unser Theo ist die gute Seele hier in Loch.«

Robert musterte die alte Dame. Er verspürte keine Lust, ihr von seiner Mutter zu erzählen. Das ging nur die Familie etwas an. Sogar mit seinen Freunden sprach er nicht darüber. Und genau genommen begriff er selbst kaum, was ihr fehlte. Seit wie vielen Monaten lag sie inzwischen im Krankenhaus? Es kam Robert vor, als wäre es erst wenige Tage her, dass sein Vater ihn mit in die Klinik genommen und von einem Wachkoma gesprochen hatte.

Noch immer lagen die Waren zwischen ihm und der Kundin. Sie stützte sich weiter auf ihrem Stock ab, lächelte und starrte zu Robert.

»Hast du eine Begleitung für den Schweinemarkt?« Die Alte grinste genauso wie vorhin, als sie Theo mit einem Engel verglichen hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich dort überhaupt hingehe.«

»Das Fest findet direkt hier in den Straßen von Loch statt. Du musst also gar nicht irgendwohin gehen.«

»Das ist ja fantastisch. Und ich brauche eine Begleitung?« Robert fühlte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte. Er sah auf das Plakat im Schaufenster. Das fette Schwein hielt weiterhin das Bier in der Hand. Irgendwie schien es, dass sich die Mimik von Mr. Pig kaum von der alten Schachtel unterschied. Die Ferien endeten erst nächste Woche und anscheinend gab es bestimmte Traditionen in Loch, denen er sich bis dahin unterwerfen musste.

»Wenn du nicht zum Gespött aller werden möchtest, musst du dir jemanden suchen.« Sie griff in ihre Manteltasche und legte Robert das Geld passend auf den Tresen. Eine Ansammlung aus großen und kleinen Münzen lag vor ihm. Während er den Betrag zählte, drehte sie sich um, verließ den Laden und verharrte in der offenen Tür: »Richte Theodor herzliche Grüße von Ludmilla aus.«

Wie sie es geschafft hatte, mit einem Handgriff die passende Summe zu greifen, blieb Robert ein Rätsel. Entweder war die Frau eine Hexe – das traf auf jeden Fall zu – oder sie wusste noch vom letzten Mal, wie teuer ihr Einkauf werden würde.

Unbedingt musste er mit seinem Onkel über den Schweinemarkt sprechen. Ihm reichte es schon in der Schule, wenn andere über ihn lachten. Wenigstens hier wollte er seine Ruhe davor haben und alles richtig machen. Seit seiner Ankunft hatte er zwei Jungs in seinem Alter gesehen. Sie standen in einem Gemüsebeet und zogen Unkraut aus dem Boden. Ihre Blicke sagten alles: »Warum arbeitest du nicht irgendwo mit deinen Händen? Du willst ein Mann werden? Vergiss es einfach!«

Als Robert die Einnahmen des Vormittags zählen wollte, schlug die Ladentür erneut gegen die Glocke. Dieses Mal betrat ein Mädchen mit blonden Locken den Laden. Das Gespräch mit der alten Ludmilla war Robert noch sehr präsent und er überlegte, ob sich hier gerade die einzige Chance auftat, eine Begleitung für dieses Schweinefest zu finden. Warum ihm das überhaupt Sorgen machte, wusste er nicht. Es ärgerte ihn, doch irgendetwas an Ludmilla hatte ihn beunruhigt und drängte ihn dazu, nach einer Begleitung zu suchen.

»Ich brauche Krampen.« Das Erscheinungsbild des Lockenschopfs passte zu Loch. Sie trug einen Wollpullover, verwaschene Jeans und Gummistiefel. Ihre Haut sah makellos aus. Helle Sommersprossen verzierten das hübsche Gesicht.

»Ich glaube nicht, dass mein Onkel Backwaren verkauft.« Robert schaute sich im Laden um und sah bloß Zutaten, mit denen man höchstens ein Brot backen konnte.

»Man merkt sofort, dass du aus der Stadt kommst. Das ist ja lustig!« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und hob die Augenbrauen. »Ich suche keine Krapfen, sondern gebogene Metallnägel für einen kaputten Zaun.«

»Ähm. Ach so. Das Werkzeug befindet sich … befindet sich dort … dort drüben.« Robert verließ seinen Platz und ging zur Wand. Er betrachtete die Regalböden lange, fand jedoch keine Krampen.

»Beim letzten Mal hat dein Onkel sie aus der oberen Schublade bei der Kasse geholt. Soll ich dir helfen, Robert?«

»Das ist wahrscheinlich besser.« Ihm fiel auf, dass sie seinen Namen kannte. Mit Sicherheit war das normal hier. Man wusste direkt, wenn es etwas Neues gab.

Sie nahm Roberts Platz ein, brauchte wenige Sekunden und hielt schließlich eine Handvoll gebogener Metallnägel in der Hand. »Du kannst deinem Onkel sagen, dass ich zwanzig Stück mitgenommen habe. Das Geld bringt meine Mum beim nächsten Mal vorbei.«

»Ja.« Mehr konnte Robert nicht erwidern. Warum das Mädchen direkt sagen konnte, dass sie genau zwanzig Krampen mitnahm, verstand er nicht. Wahrscheinlich hatte sie die Anzahl geschätzt.

»Du solltest auch wissen, wie ich heiße, oder?« Sie legte ihren Kopf schief. Robert nickte und bemerkte zugleich, dass er sich ziemlich dämlich verhielt. Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn Onkel Theo den Laden aufgeschlossen und ein Schild mit dem Hinweis »Selbstbedienung« aufgestellt hätte.

»Tinja Hufnagel«, sagte sie und ergänzte: »Meine Eltern sind zugezogen. Es ist Zufall, dass mein Nachname zu dieser Gegend passt.« Es freute Robert, dass das ihr wunder Punkt war, denn endlich stand jemand vor ihm, der nicht zwischen Schafen das Licht der Welt erblickt hatte.

»Wo hast du denn früher gewohnt?« Seine Stimme kratzte bei den ersten Worten, aber Robert schaffte es trotzdem, einen vollständigen Satz zu formulieren.

»Meine Eltern kommen aus Hamburg und haben irgendwann unser Haus mit der Weide geerbt. Ich kann mich kaum daran erinnern, früher woanders gewohnt zu haben.« Hamburg! Besser ging es nicht. Sie kamen aus derselben Stadt! Während Tinja die Krampen in die Tasche steckte und zum Ausgang ging, stellte Robert plötzlich eine Frage, die ihm mit Sicherheit Ludmilla aufgehext hatte: »Gehst du zum Schweinemarkt?«

Tinja drehte sich zurück. »Jeder in Loch geht zum Markt. Warum fragst du mich das?« An ihrem Mund bildeten sich Lachfalten.

Es brachte nichts, nach Ausreden zu suchen. »Vorhin hat eine alte Frau hier eingekauft. Ludmilla heißt sie. Sie sagt, dass jeder in Loch eine Begleitung für euer Fest braucht. Aber irgendwie habe ich gar keine Lust darauf.« Den letzten Satz wollte Robert gar nicht aussprechen. Allerdings sah Tinja ihn mit ihren grünen Augen auf eine Weise an, sodass seine Gedanken aus ihm heraussprudelten.

»Es zwingt dich niemand dazu. Warum machst du dir Gedanken darüber? Du bist schließlich zu Besuch und bald zurück in der Großstadt. Bestell deinem Onkel schöne Grüße!« Sie wandte sich zur Tür und verließ den Laden. Robert schüttelte über sein Gespräch mit Tinja den Kopf, bevor es jemand anderes tun konnte. Es stimmte. In einigen Tagen durfte er wieder abreisen – hoffentlich.

Die Zeit war gekommen, das Geschäft zu schließen. Wenn sein Onkel ihm einen Stundenlohn zahlen müsste, hätte er heute Verlust gemacht.

3

»Es war eine alte Frau im Laden. Milla oder so.« Robert wollte endlich wissen, was es mit dem Schweinefest auf sich hatte.

»Die gute Ludmilla. Sie kann etwas anstrengend sein.« Theo beschmierte sein Brot mit Schmalz und streute Salz darüber.

»Sie hat mich nach dem Schweinemarkt gefragt.« Robert suchte den Tisch ab, um sich den Gewohnheiten seines Onkels anzupassen. Es wirkte unhöflich, das Brot ständig mit Butter zu essen.

»Wollte sie mit dir auf den Markt gehen?« Sie saßen an einem runden Holztisch, der direkt unter einem Fenster stand. Am Rahmen blätterte die Farbe ab und eine Kerze, die zwischen Robert und seinem Onkel stand, flackerte ständig. Die Arbeitshose und einen löchrigen Wollpullover hatte Theo noch an.

In der Wohnküche befanden sich eine Kochzeile und ein Bauernschrank, in dem das Geschirr und einige Lebensmittel aufbewahrt wurden. Außerdem hingen an mehreren Dachbalken Würste zum Trocknen. Gegenüber vom Herd, den Theo mit Holz befeuerte, stand ein Kühlschrank. Er war mindestens so alt wie Roberts Vater.

»Ob ich eine Begleitung habe, wollte sie wissen.« Robert entschied sich für Salami, die aus Schaffleisch bestand.

»Hat dich das verunsichert? Ludmilla gehört zu einer anderen Generation. Damals entstand ein Großteil der Ehen auf dem Schweinemarkt. Du kannst ganz entspannt sein. Schmeckt dir die Salami nicht?« An Theos Dreitagebart hing ein Essensrest. Er wischte ihn ab und wies zu Roberts Brot. Er hielt es in der Hand, ohne bisher davon abgebissen zu haben.

»Nein. Ich meine … das ist es nicht. Direkt nach Ludmilla kam Tinja ins Geschäft. Du erhältst das Geld von ihrer Mutter für zwanzig Kru… ich meine, Kri… also für gebogene Nägel.« Er probierte das Brot, erwischte direkt ein Pfefferkorn und biss gleich ein weiteres Mal ab.

»Gut. Es schmeckt dir. Sie hat also die letzten Krampen mitgenommen. Ich habe Tinja beim letzten Mal gesagt, wie viele ich davon in der Schublade habe.« Jetzt wusste Robert, warum sie direkt die genaue Zahl gewusst hatte.

»Als ich Tinja gefragt habe, ob sie zu dem Fest geht, meinte sie, dass jeder dorthin geht.« Ein Pfeifen vom Herd erklang. Theo ging auf selbst gestrickten Socken zur Küchenzeile. Dort nahm er den heißen Wasserkessel von der Platte und brühte Kaffee auf.

»Wenn Tinja das sagt.« Das Wasser dampfte und Nebelfäden glitten über den Fußboden in alle Richtungen, verschwanden im Nichts. »Du brauchst passende Kleidung, wenn du nicht auffallen möchtest.«

»Kleidung?« Roberts Stimme klang heller.

»Die Einheimischen sind da traditionell. Möchtest du auch eine Tasse?« Der Duft von Kaffee erfüllte den Raum. Robert nickte. Mit seinem Vater hatte er zuletzt in den Sommerferien gemeinsam am Esstisch gesessen und sich unterhalten. Ihr jeweiliger Tagesrhythmus unterschied sich während der Schulzeit stark. Unter der Woche hatte Robert erst am späten Nachmittag frei und aß in der Mensa. Oftmals besuchte er direkt danach seine Mutter. Sein Vater ging – wenn überhaupt – vormittags ins Krankenhaus.

»Was tragt ihr genau für Kleidung? Mittelalterliche Gewänder?« Von seinen Eltern wusste er nichts darüber. Obwohl beide aus Loch kamen, hatten sie kaum etwas aus dieser Zeit erzählt.

Nach seinem ersten Schluck füllte Robert vier Löffel Zucker nach und kippte bis zum Rand Milch hinein. Sein Onkel trank den Kaffee schwarz.

»Es ist ein einfacher Umhang mit einer Kapuze. Er erinnert an eine Überlieferung. Demnach haben die Menschen aus Loch ursprünglich ihre Waren mit den Bewohnern aus der Ortschaft Nofra getauscht. Das ist allerdings eine Legende, denn niemand weiß, ob es dieses Nachbardorf wirklich gab. Kennst du die Erzählung vom Rattenfänger von Hameln? Ob damals Kinder verschwunden sind oder die Geschichte in Wirklichkeit eine andere Bedeutung hat, kann heute niemand mit Gewissheit sagen.«

»Das ist ein komischer Name. Nofra«, sagte Robert mehr zu sich selbst. Auf seinem Brot lagen zwei Scheiben Salami mit viel zu vielen weiteren Pfefferkörnern. »Was glaubst du denn?«, ergänzte Robert.

»Keine Geschichte entsteht grundlos. Es muss vor einigen Jahrhunderten einen wichtigen Grund dafür gegeben haben, dass wir jährlich mit unserem Fest an Nofra erinnern.« Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Die Temperatur machte Theo nichts aus.

»Wo soll der Ort gewesen sein?« Warum Robert das wissen wollte, war ihm schleierhaft. Bestimmt lag es daran, dass ihn diese Legende auf andere Gedanken brachte. Sie war seine Chance, sich in den nächsten Tagen mit etwas Neuem abzulenken.

»Man kann davon nichts mehr sehen. Dort, wo heute das Moor ist, lag einst Nofra. An den Hauswänden in Loch kannst du einige Elemente aus der Erzählung sehen. Das Bild an meinem Laden zeigt, wie Nofra verschwindet. Dabei soll Nebel aufgezogen sein, der zu einer undurchdringlichen Barriere wuchs. Ein Unwetter hat den Boden dermaßen aufgeweicht, dass das Moor entstanden ist. Wer danach versucht hat, Nofra zu finden, dem sind der Nebel und das Moor zur tödlichen Falle geworden. Unser Markt erinnert somit an die Zeit, als die meisten Bauern in Loch Schweine hielten. Die Schafzucht kam erst wesentlich später.«

»Und die Umhänge?« Eigentlich fühlte sich Robert zu alt für Märchen, doch der Name Nofra löste ein Kribbeln in seinem Bauch aus. Er wollte mehr über die Geschichte erfahren, versuchte aber, uninteressiert zu wirken. Allerdings scheiterte er mit diesem Vorhaben. Dafür wusste er jetzt ein gutes Thema für ein Gespräch mit seinem Onkel. Sie hatten sich eine ganze Weile nicht mehr gesehen und bereits während der Zugfahrt fiel Robert nichts ein, worüber er mit ihm reden sollte. Über Schafe und Landwirtschaft konnte man höchstens einen Tag sprechen – und von sich, der Schule oder seiner Mutter wollte Robert nichts berichten.

»Die Verkleidung? Das ist lustig, dass du danach fragst. Die meisten möchten mehr darüber erfahren, wie und warum Nofra verschwunden ist. In Ordnung … der Umhang erinnert an eine Regel, die alle Einwohner der beiden Dörfer beachten mussten. Sie sollten ihren Kopf stets bedeckt halten.«

»Waren die Menschen hässlich?« Robert entschied, das restliche Salamibrot auf einmal aufzuessen und direkt danach mit Kaffee nachzuspülen. Vorher rührte er zwei weitere Löffel Zucker in die Tasse.

»Das hat einen anderen Grund. Man wünschte keine ernsthaften Verbindungen zwischen den Ortschaften. Die Einwohner von Nofra und Loch sollten unter sich bleiben. Deshalb durfte niemand den anderen erkennen.«

»Das hat nicht funktioniert, oder?« Der Zucker konnte das Aroma der Schafsalami kaum überdecken und Robert kaute schneller.

»Natürlich nicht. Und die Dorfältesten fanden das gar nicht lustig. Sie ließen Nofra im Nebel verschwinden und hinterließen an der Stelle sumpfiges Ödland.«

»Du hast recht. Die Geschichte klingt ebenso verrückt wie das Märchen vom Rattenfänger. Wie kann denn eine Stadt auf diese Weise verschwinden?«

»Und das ist das Spannende daran, aber du wolltest ja mehr über die Kleidung wissen!« Theo schmunzelte und Robert spürte, wie seine Handflächen anfingen zu schwitzen. Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen und wartete ab, bis sein Onkel weitersprach: »In Nofra lebten der Legende nach keine gewöhnlichen Menschen. Ihre Fähigkeiten würden wir heute als Zauberei bezeichnen. Diese Geschichte kennt jedes Kind bei uns. Wir wachsen alle mit ihr auf. Sogar der Schweinemarkt erinnert daran. Ist eigentlich nichts Besonderes. Man trägt einen Umhang, trifft sich, plaudert und isst.« Theo nahm das Klappmesser vom Tisch und schnitt eine Scheibe Salami ab. »Scheint dir ja zu schmecken. Willst du noch ein weiteres Stück?« Die Klinge ruhte auf der Wurst.

»Bin satt. Danke.« Eigentlich trank Robert keinen Kaffee. Jedoch war er froh, dass er es mit seinem überzuckerten Getränk geschafft hatte, sämtliche Fleischreste aus seinem Mund zu spülen. Wer hatte bloß die Idee gehabt, dass man Schafe essen konnte? Schwein, Rind und Geflügel – okay. Aber Schafe?

»Warum haben mir meine Eltern nie davon erzählt? Sie kommen schließlich aus Loch.« Robert blickte aus dem Fenster. Er konnte das Dach des gegenüberliegenden Fachwerkhauses sehen. Ein paar Tauben hockten auf den schwarzen Ziegeln eng zusammen. Der Himmel über ihnen war grau mit einer einzelnen Wolkenlücke. Darin übermalte ein Flugzeug mit seinem Kondensstreifen den letzten blauen Fleck über Loch.

»Die Geschichte ist wahrscheinlich woanders wenig interessant.« Theo lachte. »Man kennt unsere Gegend außerhalb kaum. Es scheint, als würde der Nebel uns alle verstecken.«

»Gibt es beim Schweinemarkt Karussells?«, fragte Robert.

»Erwarte nicht zu viel. Für kleine Kinder wird eine Eisenbahn aufgebaut, die im Kreis fährt. Wenn man aus der Stadt kommt, ist man viel mehr gewöhnt. Aber das wirst du selbst sehen.« Theo schlürfte den letzten Schluck aus seiner Tasse und stellte sie ab. »Ich muss zu den Schafen.«

»Kann ich mitkommen und dir helfen?« Robert wollte sich unbedingt eine Beschäftigung suchen. So konnte er zugleich seinen Onkel entlasten. Theo antwortete zunächst nicht, stand auf und ging zu einem schmalen Schrank mit einem Vorhängeschloss daran.

»Es verschwinden Schafe. Ein paar sind normal. Jedes Jahr verschwinden Tiere. In diesem Jahr sind es mir allerdings zu viele.« Im Waffenschrank lagerte ein Gewehr mit Munition. Theo nahm es, öffnete den Lauf und befüllte ihn mit zwei Patronen. »Du bleibst besser hier. Rüpel wird mitkommen.«

Dieser Hund mit seinen Stummelbeinen steht dir zur Seite? Ein Mops kann mehr ausrichten als ich? All das lag Robert auf der Zunge.

4

Es gab momentan kaum Tage in Loch, an denen kein Nebel die Gegend verhüllte. Bei dem Gedanken an die Einwohner, die Robert inzwischen im Laden seines Onkels kennengelernt hatte, kam ihm der Schleier nützlich vor. Je dichter er war, desto weniger Dörfler musste man sehen.

Der Dunst schien eine entspannende Wirkung zu haben. Bislang machte niemand einen gehetzten Eindruck und daher hatte Robert das Gefühl, dass hier die Zeit langsamer verlief. Diese Vorstellung erfreute ihn mäßig. Zwar gefielen ihm Ferien in jedem Fall besser als die Schule – besonders, wenn Andi hinter einem im Kurs saß und ausschließlich dämliche Sprüche machte, aber es gab dennoch schönere Orte, an denen man seine freien Tage verbringen konnte.

Auf der Straße knurrte Rüpel im Nebel Schatten an. Sie tauchten für einige Sekunden auf und streckten ihre langen Arme aus. Sobald man sich einer solch düsteren Gestalt näherte, verschwand sie und eine oder gar mehrere neue entstanden an anderer Stelle. Robert glaubte, dass ihn die Figuren umkreisten, anstarrten und dabei näher rückten. Rüpel bemerkte ebenfalls, dass die Anzahl der dunklen Flecken in der grauen Brühe zunahm. Sein Knurren wechselte zu einem Winseln. Der Hund klang dabei wie Darth Vader, der sein Atemsystem auf Helium umgestellt hatte. Mit seiner Piepsstimme schaffte es der Mops auf gar keinen Fall, die Erscheinungen zu vertreiben.

Die feuchte Luft zerstörte wieder einmal Roberts Frisur. Seine Haare klebten ihm am Kopf und Wasser lief seine Stirn hinunter. Mit der Hand wischte er einige Tropfen ab und richtete seinen Blick zum Moor. Plötzlich schärften sich seine Sinne. Der Mops hörte auf zu bellen und duckte sich. Gleichzeitig wedelte er mit seinem Stummelschwanz hektisch hin und her. Ein Schatten, der eine menschliche Silhouette besaß, bewegte sich dort. Allmählich verblasste er, tauchte unter. Jemand ging geradewegs ins Moor! Selbst der alte Mann vom Bahnhof hatte davon abgeraten, die Straße zu verlassen.

Aus einem Grund, den sich Robert nicht erklären konnte, fühlte er sich verantwortlich für das, was er beobachtete. Was war, wenn die Person dort draußen in dieser grauen Suppe nicht mehr auf festen Boden zurückfand? Andererseits könnte ein Verbrecher bewusst über das Moor wandeln, um vor unerwünschten Beobachtern geschützt zu sein.

In der Zeitung stand heute ein Artikel über Viehdiebe. Einige Bauern vermissten Schafe. Ein Wolf oder wilder Hund konnten ausgeschlossen werden. Von einem Kampf gab es keine Spuren. Womöglich habe jemand die Tiere gestohlen. Der illegale Fleischhandel sei ein lukratives Schattengewerbe. Insbesondere, wenn eine hohe Qualität zu extrem günstigen Preisen angeboten würde, müsse man aufhorchen. Der Zeitungsartikel betonte, dass der Erwerb von gestohlenen Tierprodukten strafbar sei.

Irgendwie interessierte Robert das alles kaum. Hier gab es Diebe, die an teurem Biofleisch mitverdienen wollten. Das klang nicht neu und außerdem würde niemand mehr eine Lokalzeitung kaufen, wenn nicht mindestens alle vier Wochen jemand zu den Höfen schlich. Oder der Redakteur ging einem Nebenjob als Viehdieb nach, weil er ständig neue Storys brauchte, die seine Anstellung bei der Provinzpresse sicherten.

Bei der Person schien kein Tier zu sein, aber das bedeutete nichts. Sollte Robert also zu dem Unbekannten im Nebel rufen? Oder ging er besser mit Rüpel zurück nach Loch? Während Robert über die Möglichkeiten nachdachte, entschied Rüpel für ihn und machte einen Satz nach vorne. Dabei stolperte er über seine eigenen Beine, gelangte irgendwie auf den Erdwall neben der Straße und rannte zielsicher ins Moor.

Es gab viele befestigte Stellen und einen ausgewiesenen Wanderweg, der durch den vorderen Teil der Moorlandschaft führte. Allerdings nutzte ihn kaum jemand und es hieß sogar, dass schon manch ein Wanderer für immer verloren gegangen sein soll. Ob sich Rüpel hier auskannte, wusste Robert nicht. Allerdings würde das bei dem Mops keinen Unterschied machen, schließlich fiel er ständig über seine extrem krummen Beine. Also brachte er es fertig, direkt in das erste Schlammloch zu geraten. Bei seiner Größe würde kurz ein Schmatzen zu hören sein. Anschließend wäre Rüpel für immer im Morast versunken.

Warum machte er das? Er konnte nichts ausrichten, falls er den Schatten erreichte! Der Hund war stumm in sein Verderben gesprungen. Robert konnte ihn zwar problemlos einholen, aber wollte er das überhaupt? Er wusste nicht, ob da jemand bloß orientierungslos umher schlich oder mit voller Absicht durch das Moorgebiet lief. Wenn Robert näher zu der Person kam, konnte er das bestimmt besser unterscheiden. Sollte er dann das Gefühl haben, dass ein Mensch in Gefahr war, würde Robert der Person aus der verhängnisvollen Lage heraushelfen – vorausgesetzt, dass er überhaupt den Rückweg wiederfand. Und wenn dort jemand nicht gesehen werden wollte?

Robert verdrängte seine Gedanken. Er dachte an Rüpel. Wie sollte er seinem Onkel erklären, dass der verrückte Hund ins Moor gelaufen und darin verschwunden war? Mit jedem Schritt auf dem weichen Boden wuchs ein Gefühl von Gelassenheit in ihm. Der Nebel beruhigte Robert und er fühlte sich wie zu Hause – geborgen. Genau das kam ihm ungewöhnlich vor. Seit seine Mutter bewusstlos im Krankenhaus lag und die Ärzte von einer Art Koma sprachen, war es ihm nicht mehr so ergangen. Vielleicht war genau das der Grund, warum das Moor dermaßen gefährlich sein konnte. Irgendwelche verrückten Gase vernebelten einem die Sinne und man ging glücklich in den Tod. Allerdings müsste man diesen Eindruck ebenfalls auf der Straße haben, denn Methan – oder was auch immer – würde ebenfalls dorthin geweht werden.

Nein! Hier geschah etwas anderes. Er spürte eine Verbindung zu dem Ort – auf eine Weise, als wäre Robert früher einmal hier gewesen. Jedoch konnte er sich nicht daran erinnern, dass seine Eltern mit ihm jemals Loch besucht hätten. Wahrscheinlich gab es tatsächlich irgendwelche Stoffe in der Luft, die Roberts Sinne und Empfindungen beeinflussten. Und die gab es eben nur im Moor.

Der Wunsch, immer tiefer in den Nebel einzutauchen, ein Teil davon zu werden, wuchs in ihm. Es war wie eine Umarmung, die sich Kinder von ihren Eltern wünschten. Das Bild seiner Mutter aus früheren Zeiten tauchte in seinem Geist auf. Der Boden platschte stärker unter seinen Sneakers. Sie sogen Wasser auf und Robert fror an seinen Füßen. Mit jedem Schritt sank er tiefer ein. Es gab zwar den Wanderweg mit Holzzäunen an gefährlichen Stellen, aber Robert hatte nicht die geringste Ahnung, wie er diesen sicheren Weg finden konnte.

Als Kind war er mit seinen Eltern oft an den Wochenenden von Hamburg aus zur Nordsee gefahren. Der matschige Untergrund und die Geräusche bei jedem Schritt erinnerten ihn an das Watt. Seine Mutter hatte ihm damals eine Geschichte über den Mond erzählt: In seinem Innern sei eine Energie, die die Gezeiten erzeugt und alle Lebewesen beeinflusst. Ihre Erklärung klang anders als die aus dem Unterricht in der Schule. Dann stellte sie ihm eine Frage, an die er ausgerechnet jetzt denken musste: »Wenn du das Wasser beeinflussen könntest – die Macht darüber hättest – was würdest du machen?« Dieses Gespräch begann sie, als es keinen weiteren Zuhörer gab. Das wusste Robert noch genau. Wenn sein Vater bei ihnen gewesen war, hatte eine stillschweigende Einigung zwischen ihnen geherrscht, nicht über das Thema zu sprechen. Er konnte den Unterschied zwischen seinem Vater und seiner Mutter ganz deutlich spüren. Zwar mochte er seinen Vater, aber mit seiner Mutter verband ihn mehr. Sie verstanden sich auf eine Weise, für die es keine Worte brauchte. Sie wusste oft sofort, was er ihr gleich sagen wollte.

»Wie würdest du damit umgehen, wenn die Kraft in dir wäre, das Wasser zu kontrollieren?«

Jetzt würde er seine Schuhe trocknen. Das Wasser in ihnen fühlte sich unangenehm an und Roberts Blase reagierte darauf. Viele Meter war er nicht ins Moor gegangen und dennoch sah er keine Straße mehr. Und von der Figur, die seine nassen Schuhe verursacht hatte, fehlte jede Spur. Deshalb beschloss Robert, schnell Rüpel zu suchen und zurück in die Ortschaft zu gehen. Der Fremde wusste wohl, wo er sich befand und wohin er gehen wollte. Mit Viehdieben oder anderen schattenhaften Gestalten wollte Robert lieber nichts zu tun haben. Nächste Woche verließ er Loch. Daher konnte es ihm egal sein, wie viele Schafe bis dahin verschwanden.

An der Nordsee war der Nebel tückisch. Wenn er aufkam, während man im Watt wanderte, geriet man schnell in Lebensgefahr. Oft bemerkten die Touristen zu spät, dass sich eine weiße Wand um sie schloss und den Rückweg verschluckte. Ohne Anhaltspunkt in der Landschaft ging man automatisch schief und war dadurch bald der Flut ausgeliefert. Das Wasser in den Prielen riss einen orientierungslos ins offene Meer.