Neben der Zärtlichkeit - Leonie Ossowski - E-Book

Neben der Zärtlichkeit E-Book

Leonie Ossowski

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Beschreibung

In ihrem wohl persönlichsten Buch erzählt Bestsellerautorin Leonie Ossowski von Liebe und Verweigerung, von Träumen und Visionen und einem großen Frauenschicksal.  Schon als Kind lief Wanda einfach immer weg, wenn sich ihr Anspruch auf Zuwendung und Liebe nicht erfüllte. Auch später sind ihre Fluchtpunkte ihre Vorstellungen und Träume, bis sie auf einer Reise nach Polen plötzlich lernt, die Realität zu akzeptieren und damit endlich auch sich selbst.  NEBEN DER ZÄRTLICHKEIT ist ein zeitlos ergreifender Roman von einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautorinnen.

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Seitenzahl: 234

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Leonie Ossowski

Neben der Zärtlichkeit

Roman

I

Mensch ärger dich nicht, jubelten die Geschwister, tanzten um den Vater herum, der nach ihren Spielwünschen gefragt hatte. Nur Wanda jubelte nicht. Die Geschwister lärmten im Zimmer, klapperten mit der Spielschachtel, rückten die Stühle zurecht und legten das Brett aus. Rot, Blau, Grün, Gelb, jeder hatte seine Farbe, die ihm Glück bringen sollte, während der Vater einen Preis für den Gewinner aus seinem Schreibtisch holte.

Das waren schöne Preise, Sachen, die Wanda sich immer wünschte und nur selten bekam, da sie mehr verlor als gewann. Dann musste sie zusehen, wie ihr dicker Bruder oder die ältere Schwester den ersehnten Gewinn davontrugen, nie bereit, einen Tausch einzugehen.

Verlieren können muss man lernen, sagte der Vater.

Wanda lernte es nicht, das wusste sie längst. Als sie ganz klein war, so hieß es, habe sie immer nur geweint, wenn ein anderer gewann. Sie selbst konnte sich darauf zwar nicht mehr besinnen, aber die Mutter erzählte es gern.

Damals, als Wanda noch ein beherrschtes Kind war, klag- und lautlos, bloß von Tränen begleitet ihren Verlust einsteckte, da versprach sie so recht nach dem Herzen des Vaters zu geraten. Unsere Wanda, so sagte er nach den Erzählungen der Mutter, die passt in die Welt, die weiß, mit ihrem Schmerz umzugehen. Dann pflegte er ihr die Tränen vom Gesicht zu küssen, lachte, warf sie hoch, fing sie wieder auf, ohne das lautlose Weinen seiner Tochter zu beachten. Wandas Erinnerungen reichten nur bis zu den Tränen, die nie aufhören wollten, aus ihren Augen zu tropfen, unaufhörlich nachströmend, und die außer ihr niemandem etwas auszumachen schienen.

Natürlich hatte sie auch hin und wieder gewonnen, aber das blieb ihr nicht im Gedächtnis, nur die Tränen um den verlorenen Preis, Tränen, mit denen sie den anderen und sich das Vergnügen verdarb. Aber der Vater ließ nicht locker, ließ Wanda das Spiel selbst aussuchen, kaufte neue Spiele dazu, versuchte hartnäckig und geduldig zugleich seiner jüngsten Tochter die Freude an anderer Leute Glück beizubringen.

Heute gab es etwas Außergewöhnliches zu gewinnen, eine Praline, so schön anzusehen, dass Wanda das Wasser im Mund zusammenlief. Die Schokoladenstipser wirkten so verlockend, dass alle drei Kinder gleichzeitig mit dem Finger drauftippten und der dicke Bruder, alle Strafe in Kauf nehmend, sich nicht beherrschte, sondern die Süßigkeit in den Mund steckte, um sie herunterzuschlucken.

Kaum war die Praline zwischen seinen Lippen verschwunden, da kam sie auch schon wieder hervor und kullerte unversehrt über den Tisch. Das ist ja ein Bleistiftanspitzer, schrie Wanda und hielt ganz verzückt das künstliche Konfektstückchen in der Hand. So etwas hatte sie noch nie gesehen, so etwas wollte sie haben, und kein anderer durfte diesen Preis gewinnen.

Mensch ärger dich nicht, sagte der Vater und schob Wanda als Erste den Würfel zu.

Sie wog ihn schwer in der Hand, legte die andere darüber, schüttelte beide Hände, pustete zwischen die aneinandergelegten Daumen, dachte nur an die Sechs, mit der sie das Spiel beginnen sollte. Und es war eine Sechs. Wanda setzte den ersten Stein, würfelte wieder und hatte eine Vier. Eins, zwei, drei, vier, das Steinchen tippte hörbar über das Spielfeld. Für deine sechs Jahre, sagte der Bruder, hast du verflucht viel Sechsen. Die Schwester sagte nichts, den Blick aufmerksam über dem Spiel, damit niemand mogelte.

Tot, flüsterte Wanda plötzlich, zählte die gewürfelten Punkte aus und kickte das grüne Steinchen des Vaters seitlich weg vom Feld.

Wieso tot?

Wanda hob nur die Schultern. Mensch ärger dich nicht.

Na, seht mal unsere Wanda, sagte der Vater und lachte, sie lernt.

Was?

Zu verlieren.

Nein, Vater, ich gewinne!

Wanda würfelte, hörte dem Klicken zu, rückte ihre Steinchen von Feld zu Feld, immer vorwärts.

Tot – tot – tot.

Die Steinchen von Vater, Mutter, Schwester und Bruder nahmen Gestalten an. Viermal der Vater, viermal die Mutter, die Schwester, der Bruder.

Einer jagte den anderen und kam doch immer nur so weit vorwärts, wie der Würfel es zuließ. Alles hing von dem Würfel ab. Wanda kniete auf dem Stuhl, der Bruder hatte sie überholt. Viermal stand er schon dick, klein und blau auf dem Brett, lauerte auf Wanda, tippelte hinter ihr her, sprang über sie hinweg, wobei er ihr jeweils leicht auf den Kopf klopfte. So und so und so.

Alle Steinchen waren im Spiel. Wanda hatte bereits zwei im Häuschen. Der Sieg rückte näher. Da kam Gefahr von der Mutter, die aber ganz ohne Aufsehen einen anderen Stein setzte und Wanda verschonte.

Warum?

Die Praline nahm plötzlich ein gewaltiges Ausmaß an, wuchs an Größe und der Spitzer mit, in den jetzt die Köpfe aller passten, von Wanda gedreht, nadelfein zugespitzt.

Der Vater nahm keine Rücksicht, fegte Wandas Steinchen kurz vor dem Häuschen vom Brett, und der dicke Bruder holte Zug um Zug auf, war jetzt vor ihr und rückte ohne größere Gefahr dem Sieg näher. Neuer Einsatz für Wanda, keine Sechs.

Mensch ärger dich nicht, sagte der Bruder und schob seinen letzten Stein in sein Häuschen.

Gewonnen!

Tränen, die nicht aufzuhalten waren.

Mein Gott, seufzte der Vater und nahm seine Jüngste auf den Schoß, nimm dich doch einmal zusammen. Er rückte Wandas Gesicht in sein Blickfeld, hob ihr Kinn und wischte die Tränen ab.

Sag jetzt: Schade, ich habe verloren.

Wanda sagte nichts, brachte nur immer neue Tränen hervor, tonlos, wortlos, ohne zu schluchzen. Vor ihren Augen verschwamm alles. Selbst die Praline konnte sie nicht mehr erkennen.

Der Vater schüttelte sie. Nun sag schon, ich will es, verstehst du? Sag: Schade, ich habe verloren.

Wandas Lippen klebten aufeinander, dahinter die Zunge zwischen den Zähnen eingeklemmt, die Hände zu Fäusten geballt, rührte sie sich nicht und ließ nur den Tränen ihren Lauf.

Der dicke Bruder, den Wandas stummer Neid, ihr unaufhaltsames Weinen ganz verrückt machten, verlor die Geduld und schrie sie an: Du wirst dir noch die Augen aus dem Kopf heulen. Sieh mal, und er tippte ihr unterhalb der Brauen leicht ins Gesicht, sie sitzen schon ganz locker!

Die Augen aus dem Kopf heulen? Wanda packte Entsetzen. Sie machte sich los und rannte aus dem Zimmer, über den Flur die Treppe hinauf, wo sie sich auf die oberste Stufe setzte, immer noch ganz benommen von dem, was ihr Bruder gesagt hatte.

Vorsichtig wiederholte sie den Test. Nein, die Augäpfel schienen festzusitzen. Andererseits aber konnte Wanda die Prüfung nur über dem Lid vornehmen. War darauf Verlass?

 

Langsam öffnete sie erst das eine, dann das andere Auge, fühlte mit dem ersten Blick schon die Tränen aufsteigen, nahm sich zusammen und wackelte so heftig sie konnte mit dem Kopf.

Nicht etwa nacheinander, nein, beide Augen sprangen ihr zugleich aus dem Kopf, klirrten zu Boden, fielen wie Murmeln auf die erste Stufe und hüpften von dort weiter mit Schwung die Treppe hinab.

In den Höhlen blieb nur das Wasser zurück. Zwei winzige Seen, lauwarm und abgrundtief.

Wanda hielt sich am Geländer fest, sah zwar mit ihren Augen, aber außerhalb ihres Kopfes, wobei ihr ganz schwindlig wurde, da das Ende der Treppe noch nicht erreicht war. Ein schreckliches Rauf und Runter, das sich von ihr entfernte und dem sie nicht nachsetzen konnte. Wenn jetzt die Mutter aus dem Wohnzimmer käme, um nach Wanda zu rufen, würde sie ihrer Tochter auf die Augen treten. Kommt zurück, rief Wanda.

Aber die Augen gehorchten nicht, kullerten dicht nebeneinander durch den Flur. Wanda sah alles von unten und in beängstigender Größe. Was da alles auf dem Fußboden herumlag, war nicht zu fassen.

Schuhe, hoch wie Lastwagen, Flusen, die Gewitterwolken ähnelten, und erst Vaters Aktenkoffer – Wanda fand keinen Vergleich.

Dort war der Spalt zur Wohnzimmertür, groß wie ein Himmelstor, zu dem sich jetzt ihre Augen auf den Weg machten, über die Schwelle kreiselten, die Pupillen immer hübsch aufwärts gerichtet, damit kein Schmutz hineinkam.

Gott sei Dank waren sie vorsichtig, wagten sich nicht in die Mitte des Raumes, schon gar nicht in die Nähe der Füße. Sie blieben artig neben der Tür unter einem Stuhl liegen, von wo aus alles gut zu übersehen war. Hören konnte Wanda kein Wort, auch kein Geräusch. Der Vater hatte die zweite Runde eröffnet. Mensch ärger dich nicht. Lautlos rollte der Würfel über den Tisch. Wie sie lachend die Zähne zeigten, sich gegenseitig anstießen. Neben dem Bruder der Pralinenanspitzer, den er festhielt, als würde ihn jemand wegnehmen wollen.

Bis auf den Tisch konnte Wanda nicht sehen, wusste nicht, wer am Gewinnen war, wer am Verlieren. Niemand schien sie zu vermissen. Runde um Runde. Hier nützten keine Tränen, Wanda war vergessen. Nur die Mutter drehte sich einmal zur Tür, sah den Stuhl, aber nicht Wandas Augen, die darunterlagen.

Sie sagte etwas. Wanda glaubte ihren Namen von den Lippen ablesen zu können. Aber der Vater winkte nur ab, und der Bruder steckte den Anspitzer in seine Hosentasche.

Die Schwester schrie plötzlich auf, schien gewonnen zu haben, schlug ihre Hände vor den Mund und nahm vom Vater ihren Preis entgegen. Wiederum eine künstliche Praline, diesmal als Schlüsselanhänger.

Wanda kippte ihren Kopf nach vorn. Die zwei Seen schwappten auf die Treppenstufen. Jetzt waren die Höhlen leer, hatten Platz für die Augäpfel, die sich ungerufen sofort in Bewegung setzten, durch den Türspalt rollten, die Treppe aufwärts hüpften, wenn auch nicht so schnell wie abwärts, und flugs zurück in Wandas Kopf flutschten, festsaßen und nicht mehr herauszuschütteln waren. Ein Schrei. Wanda schrie, wusste gar nicht, wie sie die Treppe hinunterkam, riss die Tür auf, kümmerte sich nicht um die erschrockene Familie, sondern riss nur das Spielbrett vom Tisch. Es flog in die Ecke, die Steinchen hinterher, und anschließend trampelte Wanda darauf herum, solange es ihre Kräfte erlaubten.

Als Erster reagierte der Vater. Sein Gesicht sah böse aus, und er sagte, dass er Wanda die Flötentöne beibringen würde.

Dann packte er mit seinen großen, starken Händen zu, hob Wanda in die Luft und trug sie aus dem Zimmer. Niemand folgte, auch die Mutter nicht.

 

Eingeschlossen. Wanda war eingeschlossen, weiß der Himmel wie lange schon. Die Uhr konnte sie zwar schon lesen. Aber hier im Gastzimmer, wo der Vater sie eingesperrt hatte, gab es keine. Hier gab es überhaupt nichts, mit dem etwas anzufangen war. Neben dem frisch bezogenen Bett standen auf einem Tisch ein Glas Milch und ein Teller mit Broten.

Ob sie hier schlafen sollte, die Nacht verbringen, Tage, Wochen, vielleicht Monate oder bis zum Winter?

Anfangs hatte Wanda gegen die Tür getreten, gerufen, gebrüllt. Niemand hatte geantwortet, und niemand hatte ihr das Lärmen verboten. Auch das Fenster war nicht zu öffnen. Vom Vater fest verriegelt, schaffte Wanda es nicht, den Griff zu verschieben. Nur das Kippfenster des Oberlichts ließ frische Luft herein. Unter dem Waschtisch stand ein Nachttopf mit einem Deckel. Nicht einmal aufs Klo durfte sie gehen.

Wanda besann sich auf ihre Augen. Wenn sie jetzt richtig losheulte, ließen die sich vielleicht wieder aus dem Kopf schütteln, rollten durch einen Ritz davon, und Wanda konnte wenigstens sehen, ob sie allein im Haus war oder nicht.

Aber sie brachte keine Träne zustande. Die Augen saßen wie angewachsen in den Höhlen. Nicht herauszukriegen, so sehr Wanda auch ihren Kopf bewegte, ihn sogar gegen die Tür schlug und schließlich mit dem Zeigefinger von den Augenwinkeln her zu drücken begann. Sie musste sich etwas anderes ausdenken. Aber was?

 

Wanda dachte so angestrengt nach, dass sie die Luft anhielt. Da es mit den Tränen nicht klappen wollte, schloss sie die Augen und atmete tief ein, aber nicht aus. Dann riss sie den Mund auf, schrie nicht, spannte die Bauchdecke, drückte und presste, bis sie glaubte zu platzen. Kein Ton.

Die Zunge wurde ihr trocken. In den Mundwinkeln bildeten sich kleine Risse, die wehtaten. Wanda störte das nicht. Nur nicht aufgeben. Noch ein bisschen mehr Luft einatmen, noch ein bisschen mehr Druck ausüben, dann würde sicherlich Gewaltiges passieren.

Wie ihr Herz raste, der Kopf dröhnte, der Bauch immer fester wurde und der Mund, groß wie ein Walfischmaul, plötzlich den Atem herausließ. Er schoss wie ein Dampfstoß aus Wanda ins Zimmer hinein. Das Haus bebte, die Wände wackelten. Wanda blies und blies mit Kraft und stetig vor sich hin. Die Möbel des Zimmers hoben sich empor, tippten an die Decke, senkten und drehten sich wie in einem Wirbelsturm. Die Tür knisterte und fiel schließlich auseinander.

Als Erstes segelte der Schrank heraus, dem Wanda direkt gegenübergesessen hatte. Als nächstes pustete sie die Stühle weg, den Tisch samt allem, was darauf stand. Die Milch schwappte aus dem Glas, und die Brote schwirrten wie Vögel durchs Fenster, dessen Glasscheiben lautlos in sich zusammengefallen waren. Bald war das Zimmer leer gefegt, aber der Orkan hielt noch an.

Wanda spürte, wie viel Luft sie noch in sich hatte, schnappte sich den Nachttopf, ließ den Deckel wegflattern, setzte sich breitbeinig, die Hände am Henkel, auf den Rand des Geschirrs und ritt unter dem Donner des eigenen Getöses davon.

Soviel Luft, wie sie erst oben herausgelassen hatte, fuhr jetzt unten aus ihr heraus und hielt so den Nachttopf unter Dampf. Knatternd segelte sie über die Köpfe der Eltern hinweg, die ihr mit erhobenen Armen nachstarrten, in der Haustür standen, nicht wussten, über was ihr Entsetzen größer war, über die Verwüstung des Hauses oder den Flug der Tochter. Wie das im Topf bullerte, knallte, krachte. Den dicken Bruder umkreiste sie zweimal, die Schwester nur einmal, während sie des Vaters Haarschopf mit ihren Füßen durcheinanderbrachte.

Ich werd euch was scheißen, schrie sie von oben auf die vor Schreck Erstarrten hinunter, ich werde gewinnen!

Ab ging’s rund ums Haus, während Vater, Mutter und die Geschwister auf der Erde mitzuhalten versuchten, bettelten und riefen, vielleicht weinten. Aber das war von oben nicht zu sehen. Nur der Bruder ließ seinen Neid erkennen, hätte auch gern auf einem Nachttopf gesessen und sich haushoch in den Himmel gefurzt. Er drohte und zeigte vor Wut seine Zähne, holte schließlich den Anspitzer aus der Tasche und bot ihn ihr an, warf ihn sogar hoch. Aber Wanda fing ihn nicht auf, ließ ihn zurückfallen und den Bruder sich danach bücken. Bravo.

Obwohl sie schon das Nachlassen ihrer Kräfte verspürte, ihre Luft für Tempo und Höhe des Topfes benötigte, riss sie noch einmal den Mund auf und schrie über die Köpfe der Eltern und Geschwister hinweg, dass sie, Wanda, gewonnen habe.

Genau das hätte Wanda nicht machen dürfen. Ihre Kraft und die Luft, die sie brauchte, um den Topf auf Touren zu halten, schwanden. Wie ein Luftballon, dessen Verschluss sich plötzlich öffnet, schoss sie dahin, immer flacher, immer schneller, sich drehend und kreiselnd, leiser und leiser werdend, ganz und gar ohne Orientierung, bis alles still war.

Sie saß auf der Bettkante im Gastzimmer, dessen Möbel da standen, wo sie immer gestanden hatten. Selbst die Milch war ins Glas zurückgekehrt, und die Brote auf dem Teller lagen in der gleichen Anordnung da, als wären sie nie aus dem Fenster geschwirrt. Wanda überprüfte erst gar nicht die Scheiben, wusste auch so, dass die wieder im Rahmen saßen. Nur die Mundhöhle war noch trocken, fühlte sich an wie mit Seidenpapier ausgeschlagen und ließ darauf schließen, dass Wanda ihn eine ziemlich lange Zeit offen gehabt haben musste.

Unterm Waschbecken der Topf mit dem Deckel. Nein, sie würde nicht hineinschauen, überhaupt wollte sie nichts mehr kontrollieren, was ihren Ausflug und ihren Sieg in Frage stellen könnte.

Umso mehr litt sie unter der abgeschlossenen Tür, dem Alleinsein und der Tatsache, nicht zu wissen, wie spät es eigentlich war. Wanda ging jetzt auf und ab, fasste alles an, was sich im Zimmer befand, drehte es um, stellte es um, machte Unordnung und gleich darauf wieder Ordnung. Nicht einmal rüttelte sie mehr an der Tür, nicht einmal versuchte sie mehr, das Fenster zu öffnen.

In der untersten Schublade der Kommode fand sie ein Vergrößerungsglas. Es stammte vom Großvater, der es zum Zeitunglesen benötigt hatte. Seit seinem Tod lag es hier oben verpackt mit anderen Habseligkeiten, die man zu seiner Erinnerung aufbewahrte.

Wanda hielt sich das Glas vor die Augen, und alles verschwamm, wurde milchig grau, nur in Andeutungen erkennbar. Je weiter sie es von sich weghielt, um so schemenhafter wurden die Gegenstände, lösten sich in Farben und Konturen auf, wurden zum Nichts. Zog Wanda das Glas an die Augen zurück, gewann das Erspähte an Schärfe, wurde groß und größer, und beugte sich Wanda bis auf den Abstand einer Handbreite heran, sah sie mehr, als sie jemals zuvor gesehen hatte. Ein schönes Spiel, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte. Wer also saß dort in der Ecke im unkenntlichen Milchgrau, wer? Es kam auf den Zentimeter an, das bedeutete aufpassen. Nicht zu dicht und nicht zu weit weg, immer hübsch im rechten Abstand. Wunder um Wunder entpuppte sich da, verwandelte alles, brachte Wanda zum Lachen oder ließ sie im Schreck die Augen schließen. Ein in sich geteiltes Gesicht, dessen Nase einwärts gerichtet war, im Spalt verschwand, roch, was im Kopf zu riechen war und wo es nach Wandas Meinung ganz gewaltig stinken musste. Das konnte sie dem Mund ablesen, der durch den Hieb verkürzt sich im Ekel krümmte. Noch schlimmer der Blick, der sich weder nach innen noch nach außen wendete, sondern Pupille dicht gegen Pupille starren ließ. Nur der Haarschopf blieb ein Ganzes, stülpte sich pilzartig über die zwei Hälften und hielt so den Kopf zusammen. Wanda nahm das Glas weg, und schon löste sich alles in Spuk auf, wurde zur Wirklichkeit und zu ihrem eigenen Spiegelbild. Nase, Mund, Augen, alles zusammen ihr Gesicht.

Plötzlich brauchte Wanda das Vergrößerungsglas nicht mehr, sah auch so, was sonst nicht zu sehen war, und konnte davon nicht genug kriegen.

Der Vater zum Beispiel, der mit vier Köpfen zwischen den Schultern eher einem mehrfachen Kohlkopf mit Leib, Armen und Beinen glich als sich selbst.

Mäuse, die, auf ihren Schwänzen aufwärts stehend, sich aneinanderdrängten, einen Teppich bildeten, über den es zu laufen galt. Regentropfen, schillernd und groß wie Kürbisse, in deren Innern Vögel einherschwammen, von Katzen gejagt, die ertranken, bevor sie ihre Opfer zu fassen kriegten.

Fische, die Segel statt Flossen hatten, Schuhe als Köpfe und deshalb gut darauf stehen konnten, durch das Zimmer liefen, statt zu fliegen.

Der dicke Bruder, ganz und gar aus Konfekt hergestellt, mit der Schwester auf den Fersen, die ihm schon ein mächtiges Loch in den Hintern gebissen hatte, dabei schluckte und kaute und den gesamten Bruder verzehren wollte.

Wanda griff wieder zum Vergrößerungsglas, hielt sich doch lieber an das, was dadurch zu erkennen war, als an das, was sich ohnehin vor ihrem Auge abspielte.

Sie ließ das Glas kreisen, zog es heran, hielt es von sich weg, gab sich Mühe, ein neues Bild einzufangen, eines, von dem sie sich wünschte, dass es schön sei, richtig schön.

Das Glas kreiste, und Wanda starrte hinein, geduldig von einer Wand des Zimmers zur anderen. Nichts wollte sich außer grauen Schatten einstellen. Die Sonne war langsam ums Haus gezogen und schien jetzt ins Zimmer. Also ging es auf den Nachmittag zu, und es war noch viel Zeit, um nach Bildern zu suchen.

Plötzlich hielt Wanda inne, kniff die Augen zusammen und pendelte die Entfernung ein.

Weiße Haut, ein warmer, weicher, großer Bauch, Mutters Bauch, den Wanda kannte und liebte. Auf den sie gern ihr Ohr legte, um zu hören, wie es darin herumgurgelte, schnalzte und zischte, als trüge die Mutter Uhren, Grillen, Pfeifen, Frösche und ewig brodelnde Milch in sich herum. Vom Bauch abwärts die Beine, schön fest und dazwischen schwarzes Haar. Haare, wie Wanda sie zwischen ihren Beinen nicht hatte. Ihre Hand im Höschen fand da nichts. Kein Härchen, das sprießte, das zum Wunderknäuel wurde und alles versteckte.

Wanda zog das Glas an die Augen, rückte dem schwarzen Kraushaar der Mutter näher und näher, kümmerte sich nicht darum, dass sie das flusige Sofakissen unter der Lupe hatte, nahm der Mutter das Fellchen zwischen den Beinen weg und trug es zum Fenster ans Licht der Sonne. Was Wanda nicht hatte, sollte die Mutter auch nicht haben.

Das Vergrößerungsglas bündelte die Strahlen und setzte einen goldenen Punkt in das Schamhaar der Mutter. Erst kreiste der Punkt, als müsste er sich einen bestimmten Ort suchen, von dem aus er zu leuchten hatte. Dann hielt Wanda die Hand still, der Punkt ruhte im unteren Teil des Dreiecks, saß dort wie hingemalt, ruckte und rührte sich nicht.

Wanda schloss die Augen, sah unter den Lidern weitere Pünktchen, glühend und schillernd, einen schwarzen Himmel voll, Mutters Fellchen.

Erst der beißende Geruch ließ Wanda aufsehen. Ein winziges Rauchsäulchen stieg von dem goldenen Punkt aufwärts, fraß einen Rand rund um das Gold, bis es in einem blauen Flämmchen versank. Dann ging alles sehr schnell. Das Sofakissen brannte, und da das Fenster geschlossen war, warf Wanda das Kissen zurück in das Zimmer. Bald war der Raum mit Rauch erfüllt und nahm Wanda die Luft. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Der Riegel saß fest, und der Abzug durchs Oberlicht reichte für den ständig wachsenden Rauch nicht aus.

Wanda schrie, trommelte an die Tür, an das Fenster, trat auf das Kissen und versuchte das Feuer zu löschen, das sich schwelend und langsam ausbreitete. Nichts half, kein Laut von draußen, kein Ruf aus dem Garten.

Feuer – sieht denn niemand, dass es hier brennt?

Noch einmal rüttelte Wanda an der Tür, glaubte schon die Hitze zu spüren, sah die Flämmchen am Rand ihres Rockes hochzüngeln, zwischen den Beinen, da, wo bei der Mutter das Feuer ausgebrochen war. In ihrer Not sprang Wanda auf das Fensterbrett, schob ihr Gesicht so nah es ging an den Spalt des Oberlichtes und schrie:

Vater – ich habe verloren!

II

Wanda war nicht gefragt worden. Den Beschluss, sie mit fünfzehn Jahren in ein Internat zu schicken, hatten die Eltern allein gefasst.

Die Prospekte, die Wanda nun vorgelegt wurden, zeigten ein altes Schloss oberhalb des Bodensees in bergiger Landschaft, nahe an einem Waldrand gelegen. Blühende Obstbäume, ein blauer Postkartenhimmel und eine Wiese vor dem grauen Gemäuer rangen dem Betrachter einen Ausruf des Entzückens und der Bewunderung ab.

Ist das nicht ein herrliches altes Schloss? Liegt es nicht wunderschön?

Wanda blieb still.

Vater und Mutter breiteten gemeinsam den Internatsprospekt vor der Tochter aus, die aber kein Interesse bekundete. Zimmer mit Blick auf den See, in denen jeweils zwei oder drei Betten standen, Bücherregale und ein Tisch, um den Mädchen in Wandas Alter saßen, ganz vertieft in das, was sie lasen und schrieben. Der Vater wies auf die Abbildungen des Speisesaals, der Aufenthaltsräume und des Treppenhauses hin, dessen Stuckdecken von hohem historischem Wert waren. Weitere Fotos zeigten Mädchen beim Sport oder beim Spiel auf der Wiese. Und auf einem Gemeinschaftsbild fiel Wanda auf, dass fast alle die gleiche Kleidung trugen, weiße Blusen und dunkelblaue Röcke. Ist das eine Uniform?, fragte Wanda.

Der Vater, froh, dass seine Tochter überhaupt den Mund aufmachte, sagte, dass es sich hierbei um eine Schulkleidung handele, die nur zu besonderen Anlässen getragen würde. Nicht jede Schülerin erhalte sie sofort, die Verleihung sei eine Art Auszeichnung, die ein bestimmtes Verdienst voraussetze.

Was für ein Verdienst ist das?

Mein Gott, sagte der Vater ungeduldig, mir gefällt es, dass die Schülerinnen die Interessen des Internats mittragen, sich zugehörig fühlen und ihre Pflichten begreifen.

Mir nicht, sagte Wanda und faltete den Prospekt zusammen, ohne eine Zeile des Textes gelesen zu haben.

Ich will in kein Internat, ich will zu Hause bleiben. Während sie das sagte, stand sie auf, küsste ohne besondere Leidenschaft erst den Vater, dann die Mutter und setzte sich zum Zeichen ihres Gehorsams wieder hin.

Plötzlich sah sie sich selbst in diesem dunklen Rock und der weißen Bluse, sah sich vor dem düsteren Schloss, in nichts von den anderen Mädchen unterschieden, in hundertfacher Verdoppelung. Sie sah sich unzählig wiederholt und deshalb nicht erkennbar in Reih und Glied das Schloss betreten, hörte sich mit den anderen im Chor sprechen, brachte allein kein Wort heraus, bewegte sich nur, wenn die anderen sich bewegten, hob ihren Arm nicht höher als die Mädchen vor oder hinter ihr. Wanda war nicht mehr Wanda. Wanda galt weiß-blau gekleidet als Einzelne nichts, hatte sich aufgeteilt und war eine von vielen, die nur gemeinsam gesehen werden konnten, gemeinsam einen Willen hatten und einen Gedanken. Warum bloß nahmen die Mädchen nicht dieses viereckige Schloss auf ihre Schultern, trugen es hinunter zum See und warfen es ins Wasser? Ich geh da nicht hin, sagte Wanda, ich will nicht so eine werden wie die.

Typisch, sagte der Vater, unsere Wanda ist noch gar nicht dort, aber schon dagegen. Sich ein wenig nach der Decke zu strecken, sich anzupassen und die Gemeinschaft zu achten, das zu lernen, habe noch nie jemandem geschadet.

Nichts half, Vater und Mutter waren nicht umzustimmen. Nach der Versetzung würden die Eltern sie hinbringen.

Wanda wurde ausstaffiert, bekam neue Schuhe und Kleider, Nachthemden, Wäsche, alles mit ihrem Namen versehen. Die Eltern ließen sich nicht lumpen und gaben für ihre Jüngste etwas aus, denn Wanda hatte sich ihrer Herkunft nicht zu schämen.

Verließ Wanda jetzt das Haus, blickte sie mehr als früher immer wieder zurück. Als Letztes war stets das Fenster des Gastzimmers zu sehen, und jedes Mal musste Wanda daran denken, wie sie als Sechsjährige das Kissen in Brand gesetzt hatte. Nein, ein großes Feuer war daraus nicht geworden, mehr ein Schwelbrand, der Wanda eine harmlose Rauchvergiftung eingebracht hatte. Der Schaden war nicht der Rede wert gewesen, auch folgte keine weitere Strafe. Nur das Vergrößerungsglas hatte der Vater in seinem Schreibtisch verschlossen.

 

Der Wind roch nach Meer und fegte über die Heide, fing sich in den Büschen und Pappeln, rüttelte an den Eichen, wirbelte weiter, Blätter und kleine Zweige vor sich hertreibend, bog die Bäume, ließ sie nach rechts und nach links nicken und hielt auf diese Weise die ganze Landschaft in Bewegung. Wanda stellte sich in den Wind und breitete die Arme aus, als könnte sie ihn umarmen, hörte in sein Rauschen, das den ganzen Himmel erfüllte.

Nichts außer ihr hielt still, nichts außer ihr blieb standhaft, selbst die Baumstämme ächzten unter der Wucht der hin und her schwingenden Zweige. Hier in der Heide war kein Ende der Welt abzusehen, kein Hügelchen, das die Weite unterbrach, kein Berg, der den Blick versperrte.

Alles blieb übersichtlich und ohne Geheimnis. Bis auf den Wind, und der plauderte nichts aus, auf den war Verlass. Dem flüsterte Wanda ihren Kummer zu, den er Wort für Wort in sein Rauschen aufnahm und rund um die Erde mit sich dahintrug.

Ich will nicht von zu Hause fort.

 

Die Internatsleiterin war eine herzliche Frau mit flinken Augen und Fröhlichkeit im Gesicht. Sie ließ es sich nicht nehmen, den Eltern und Wanda die Räumlichkeiten zu zeigen, in denen Wanda von jetzt ab leben sollte.

Hinter dem alten Schloss befand sich der Neubau, der beide Gebäudeteile durch eine Glasveranda verband und in dem Wanda ihr Zimmer zugewiesen bekam. Hell war es und freundlich, mit Blick auf den Bodensee.

Wie schön, sagte die Mutter, konnte sich nicht sattsehen an den Bergen, dem Licht und dem Wasser. Auch der Vater lobte die Aussicht, sprach von dem Glück, dass Wanda gerade hier untergebracht worden sei, und selbst der Internatsleiterin fiel es über so viel Lob nicht auf, dass Wanda kein Wort zu sagen hatte.

Stattdessen gab Wanda den Mädchen die Hand, die mit ihr das Zimmer teilen sollten, wie auf dem Prospekt weiße Blusen und blaue Röcke trugen, Elke und Susi hießen und schon seit längerer Zeit hier im Internat waren.

Im Speisesaal wurde später das Abendbrot gemeinsam eingenommen. Jeweils sieben Mädchen und ein Erwachsener saßen an einem der Tische. Die Neuen hockten wie Wanda stumm auf ihren Plätzen, hatten nichts zu erzählen, nichts zu lachen, wirkten wie Puppen, bewegten sich kaum und zeigten wenig Appetit.

Nach dem Essen verabschiedeten sich die Eltern, umarmten ihre Jüngste, wünschten ihr alles Gute und fuhren davon und würden sicher auch nicht wiederkommen. Von der Lüneburger Heide bis zum Bodensee, hatte der Vater gesagt, sei die Strecke zu weit, um die Tochter zu besuchen. Da würde Wanda sich mit den Ferien begnügen müssen.

Im Schrankraum war Hochbetrieb. Alle Mädchen packten ihre Koffer aus. Schrankwand neben Schrankwand, auch quer in den Raum gestellt, dazwischen grau gestrichene Bänke. Kein Eckchen blieb unbemerkt, hier hatte jeder sein Hab und Gut preiszugeben.

Nachdem Wanda heimlich ein paar Fotos zwischen Pullis und Wäsche geschoben hatte, hielt sie, unschlüssig und halb von der Schranktür verborgen, eine kleine, tönerne Ziege in den Händen.

Wohin mit ihr?