NEBENWELTEN - Wolf Welling - E-Book

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Wolf Welling

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Beschreibung

Die Welt in Wolf Wellings Geschichten ist eine Welt unheimlicher Orte, mysteriöser Geschehnisse, rätselhafter Transformationen. Immer wieder verschlägt es seine Charaktere in Regionen, die unserer vertrauten Wirklichkeit um eine Dimension entrückt sind: sei es ein anonymes Bewusstsein, das in einem Computerspiel Prüfungen bestehen muss; sei es ein Autofahrer, der in eine Nachstellung von Thomas Manns Zauberberg hineingerät; sei es ein Strafgefangener, der über den Sinn seiner Haft getäuscht wird.

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Wolf Welling

NEBENWELTEN

Ausgewählte Erzählungen 2005–2023

Mit einem Nachwort von Horst Pukallus

Cutting Edge 4

Wolf Welling

NEBENWELTEN

Ausgewählte Erzählungen 2005–2023

Mit einem Nachwort von Horst Pukallus

Cutting Edge 4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Dezember 2023

Cutting Edge @ p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Das Titelbild dieses Buches wurde von Michael K. Iwoleit mit einem selbstentwickelten Verfahren zur generativen Bildkreuzung erzeugt. Als Ausgangsmaterial dienten dabei Public-Domain-Photos von Martin Vorel (libreshot.com). Lesern, die sich für die Produktion von Kunst mit generativen und evolutionären Verfahren und Methoden der künstlichen Intelligenz interessieren, empfehlen wir besonders die Website

aiartists.org.

Layout: global:epropaganda

Umschlaggestaltung: Tom Turtschi, Michael Iwoleit

Redaktion & Lektorat: Michael Iwoleit

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: Cutting Edge @ p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

the-cutting-edge.eu, the-cutting-edge.net

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 365 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 741 1

Nowhere Man

 

 

Ich stehe nicht am Rand des Abgrundes, ich bin in ihm gefangen. Ausweglos, ohne Hoffnung auf Erlösung, seit langer, langer Zeit. Ich weiß nicht, wie lange. Ein Bewusstsein ohne Körperempfinden, voll immer wiederkehrender gleicher Erinnerungen. Sind es meine Erinnerungen? Ich weiß es nicht. Ich bin ein in sich geschlossenes System, abgekapselt von äußeren Kontakten. Ich denke vor mich hin, ich überlege, ich träume, ich fantasiere.

Ich bin eine fensterlose Monade, ohne Kontakte und ohne Austausch. So war das nicht geplant, so war das nicht konzipiert. Ich wurde betrogen, hereingelegt oder einfach vergessen …

 

 

Aktionssequenz 1

 

Plötzliche geschieht Seltsames. Ich werde herausgerissen aus meinem gestaltlosen Universum und finde mich allein in einem Zimmer. Es ist einfach eingerichtet: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett aus Metall, ein Bord mit wenigen Büchern. Auf dem Boden liegt ein zerschlissener Teppich. Die Wände sind kahl. Ich liege auf einem verrosteten Metallbett und trage eine lange Hose in Militärfarben und ein olivfarbenes T-Shirt. Beide sind fleckig und verschwitzt.

Ich erhebe mich völlig benommen und taumele zum Fenster. Ich stelle fest, dass der Raum etwa im fünften oder sechsten Stockwerk eines höheren Hauses liegt. Durch die verschmutzten Fenster kann ich auf der gegenüberliegenden Seite ein anderes hohes Haus sehen, das völlig verlassen wirkt. Seine Außenfassade ist teilweise abgebröckelt, und die meisten der Scheiben sind gesprungen. Linker Hand am Haus vorbei blicke ich auf einen Hafen oder einen ehemaligen Hafen, denn ich kann kein intaktes Schiff erkennen, aber verrostete Schiffswracks, die halb versunken aus dem Wasser ragen. Hinter dem Hafen sehe ich eine riesige schwarze Rauchsäule, die wie ein Tornado unheilvoll in den Himmel ragt und deren schlanke, verwirbelte, senkrechte Form oben bedrohlich dunkle Wolken ausspuckt. Der Himmel ist schon zu einem großen Teil von diesen Wolken bedeckt, die das Tageslicht zunehmend dämpfen. Der Hafen ist von einfachen Häusern umgeben, die alle verlassen und verkommen aussehen. Hinter ihnen beginnt eine Wüste.

Ein leichtes Beben lässt das Haus erzittern.

Eine offene Tür des Raumes, in dem ich mich befinde, führt in einen leeren Flur. Aus anderen Zimmern höre ich aufgeregte Stimmen. Eine ruft in meine Richtung: »Jetzt kümmere dich endlich um den Rest der Ausrüstung! Los, beeil dich!«

Ich gehe in den Flur und betrachte den Raum linker Hand. Niemand ist dort. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander darin. Ich gehe zu dem Schreibtisch, auf dem ein altmodisches Telefon mit Drehwählscheibe steht und zahlreiche Papiere liegen. Obenauf liegt ein Blatt mit Angaben von Ausrüstungsgegenständen und drei Telefonnummern. Ich setze mich hinter den Schreibtisch auf den wackligen Stuhl, hebe den Hörer ab und beginne die erste Nummer zu wählen. Sie besteht aus einer Zahlenfolge, die mir völlig unbekannt ist. Nach dem Wählvorgang ertönt ein Rufzeichen in der Leitung.

Zwischenzeitlich hat sich der Himmel draußen weiter verdüstert. Als ich mich zum Fenster dieses Raumes umwende, sehe ich Blitze durch die Wolken zucken. Wieder geht ein leichtes Beben durch den Boden, das den Schreibtisch leicht ins Wanken bringt. Die Ziffern auf dem Blatt Papier vor mir verschwimmen.

Es hebt niemand ab, ich lasse es weiter klingeln. Aus dem dritten Zimmer, dessen offene Tür ich vorhin im Flur bemerkt habe, dringen laute, aufgeregte Stimmen. Als ich den Hörer endlich auf die Gabel lege, sehe ich zwei Gestalten an der offenen Tür des Zimmers, in dem ich mich befinde, mit großen Reisetaschen vorbei hasten. »Komm schon, raus hier!«, rufen sie mir zu. Ich stehe langsam auf. Ich höre sie den Flur verlassen und die Treppe hinunter laufen, die meinem Zimmer gegenüber liegt. Ich habe die beiden nicht erkennen können. Ich greife zur Telefongabel, um die zweite Nummer anzuwählen, als ich von unten aus dem Treppenhaus eine laute Stimme rufen höre: »Die Sache wird gefährlich! Komm endlich raus!«

Ich sehe aus dem Fenster, dass heftiger Regen eingesetzt hat. Dicke, dunkle Tropfen klopfen an die Scheiben. Das Donnergrollen wird heftiger. Ich eile in das Zimmer, in dem ich erwacht bin, und suche nach meiner Reisetasche. Ich weiß, dass ich ohne sie nicht gehen darf. Außerdem ist mein Oberkörper nur mit dem T-Shirt bekleidet, und ich befürchte, dass ich mich nicht schutzlos diesem giftigen Regen aussetzen darf. Meine Tasche ist nicht da, aber wenigstens finde ich eine Plastikjacke, die ich überziehen kann. Ich überlege, was ich aus dem Zimmer noch mitnehmen soll. Mein Blick schweift über die wenigen Bücher auf dem Wandbord, als ich ein erneutes Kommando aus dem Treppenhaus höre. Ich renne in das Zimmer mit dem Telefon, kann aber auch dort keine Tasche finden. Ich befürchte, dass ich mich zunehmend in Lebensgefahr befinde, je länger ich in dem Gebäude bleibe.

Die Donnerschläge werden immer lauter, das Haus erzittert immer stärker. Ich haste in den dritten Raum, in dem völliges Chaos herrscht. Auf einem Tisch seitlich sehe ich eine grüne Tasche, die meine sein muss. Daneben liegen eine mir fremdartige wuchtige Waffe und weitere Gegenstände. Ich reiße die Tasche und die Waffe an mich, wende mich um und renne die Treppe hinunter. Das Treppenhaus ist dunkel und schmutzig, die Wände sind mit Graffiti und Schmierereien verunziert. Die Treppenstufen sind teilweise beschädigt und ebenfalls verdreckt.

In der Höhe der zweiten Etage steht eine Wohnungstür offen, und ich kann etwas versetzt hinter dem Türrahmen eine Frauengestalt erkennen. Im Vorbeirennen sehe ich, dass sie lächelt. Irgendwoher kenne ich diese Frau mit dem langen schwarzen Haar, dem gepflegten Äußeren in modisch schicken Kleidern, oder sie sieht jemandem ähnlich, den ich kannte, aber mein Gedächtnis lässt mich im Stich.

Ein heftiger Erdstoß erschüttert das Gebäude. Ich rufe ihr zu: »Laufen Sie! Raus hier!« Doch sie bleibt stehen, sieht mich an und lächelt noch etwas stärker. In diesem Augenblick, als ich verharre, als die Zeit stehen bleibt, stürzt das Haus in sich zusammen.

 

 

Zustand ∞

 

Ich bin unter den zusammenstürzenden Trümmern des Gebäudes gestorben. In diesem anderen Universum bin ich tot. Hier aber lebe ich weiter. Ich bin aufgeregt und aufgewühlt, erschrocken und verwundert. Mein Selbstverständnis ist erschüttert, mein Seinszustand infrage gestellt.

Es ist etwas Unfassbares geschehen. Wer oder was hat mich aus meinem schwebenden Bewusstseinszustand gerissen? Zu welchem Zweck? Was ist geschehen und warum? Diese Fragen geben mir viel Stoff zum Nachdenken, und ich habe viel Zeit zum Grübeln.

Doch da geschieht es schon wieder…

 

 

Aktionssequenz 2

 

Erneut werde ich aus dem Dunkel meines Abgrundes gerissen, hinein in gleißendes Licht, in eine Welt mit Farben und Bewegungen. In Sekundenschnelle strukturiert sich meine Wahrnehmung, ich sehe eine gewellte Wüstenlandschaft, grell unter einem orangefarbenen Himmel mit einer glühenden Sonne. Die sanften Konturen der Sanddünen flimmern in der Hitze. Ich sehe durch etwas wie einen Helm, jedenfalls durch eine Glasschicht, auf der Symbole und Zahlen flimmern, die ich nicht deuten kann. Wenn sich mein Blick nach unten senkt, sehe ich die Waffe, die ich aus dem Haus mitgenommen habe. Je nachdem, in welche Richtung die Waffe sich bewegt, ändert sich ein schwacher blauer Richtungspfeil auf meinem gläsernen Wahrnehmungsfeld. Aus dem Augenwinkel kann ich links zwei schemenhafte schwarze Gestalten sehen (sehe ich?), die eine Art Taucheranzug oder Rüstung tragen. Wir bewegen uns in einer Reihe vorwärts.

Ich bin auf diese Situation nicht vorbereitet, nach den Äonen völliger Deprivation, gekäfigt in Dunkelheit und Gefühllosigkeit, ohne jeglichen äußeren Reiz, ohne jeglichen Input, allein mit meinen um sich und in sich kreisenden Erinnerungen, Ideen, Überlegungen, Plänen, Denkübungen, Stimmungsschwankungen und inneren Dialogen. Ich war ein geschlossener Kreis, allein mit mir selbst kommunizierend. Wie komme ich hier her? Was soll ich hier? Was wird von mir erwartet, welche Aufgabe soll ich erfüllen? Ist dies eine Bewährungsprobe, deren erfolgreiche Bewältigung mich befreien kann aus meinem unsichtbaren Verlies? Wovon hängt der Erfolg ab?

»Achtung, da kommen sie!«, höre ich eine Stimme sagen. Sie muss wohl von einer der beiden Personen kommen, die links neben mir gehen. Rechts habe ich nichts weiter als Wüstenfläche bemerkt. Hinter uns liegt vermutlich die Hafenstadt mit den zerstörten Schiffen und Häusern. Jetzt stelle ich fest, dass die beiden ebenfalls Waffen tragen, die meiner ähnlich sind, und dass sie diese Waffen jetzt leicht anheben. Ich kann allerdings nicht sehen, was da kommt oder kommen soll.

Doch dann erblicke ich etwas, weit voraus, an der Grenze meines horizontalen Wahrnehmungsfeldes. Sie kommen über die Sanddüne, die etwa fünfhundert Meter vor uns liegt, gleichmäßig in einer Reihe, mindestens dreißig, langsam über den Hügelkamm gekrabbelt. Es sind spinnenartige Gestalten, mit fetten Körpern und langen, gefalteten Beinen. Sechs dieser Beine tragen jeweils den schwankenden Körper in ihrer Mitte. Die Beine überragen ihn, sie schimmern metallen, und in ihren Gelenken sind runde, dunkle Scharniere erkennbar. Die rund geformten platten Füße sinken kaum in den Wüstensand ein. Es sind abstoßende Wesen. Das Schrecklichste jedoch sind die Gesichter. Vorne an den baumelnden Körpern befinden sich Menschenköpfe oder zumindest menschenähnliche Köpfe. Sie sind einigermaßen gleichförmig, bleich, starr, mit weit aufgerissen Augen, breiten, hochgewölbten Nasen, wulstigen Lippen und offenen Mündern, in denen keine Zähne erkennbar sind. Dass ich dies auf die Entfernung so genau studieren kann, ist einer Zoomfunktion in meinem Wahrnehmungsfeld zu verdanken.

Die Gesichter erschrecken mich zutiefst. Sie drücken zugleich Verzweiflung und Wut, Verwirrung und Apathie, Trauer und Aggressivität aus. Doch mein Schrecken wird zum Entsetzen, als ich sehe, wie aus den Mündern blaue Strahlen zucken und auf uns zu rasen. Ich spüre zwar nichts, weiß aber, dass ich getroffen werde. Auf meiner Helmanzeige – inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ich ebenfalls eine schwarze Rüstung mit Helm trage – tritt blinkend eine Skala mit der Überschrift Life Energy Level hervor, und ich bemerke, dass in der zugehörigen Säule der Inhalt von einem grünen in einen gelben Bereich zu sinken beginnt.

Ich bemerke gleichzeitig, dass von den Waffen meiner Kameraden – vermutlich sind wir ein Team – rote Strahlen ausgespuckt werden und, wenn sie eine der Spinnen mit den humanoiden Köpfen treffen, diese zerstören. Die Köpfe zerplatzen dabei in einer weiß-roten Masse, der Spinnenkörper in grüne Schleimbeutel und die Beine fliegen wie zerfetzte Metallstäbe durch die Luft. Was soll ich tun?

»Schieß endlich, du Idiot!«, höre ich eine Stimme in meinem Helm wütend bellen, und die Aufforderung scheint mir durchaus vernünftig, hat doch die Lebensenergieskala bereits den Orangebereich erreicht. Ich kann nicht sagen, wie ich es anstelle zu schießen, aber irgendwie funktioniert es. Auch mein Supergewehr schießt rote Strahlen, allerdings zunächst, ohne etwas zu treffen. Mit zunehmender Einsatzdauer werde ich aber immer zielgenauer und erwische, wie meine streitbaren Nachbarn, eines dieser schrecklichen Wesen nach dem anderen. Bald darauf ist der gegenüberliegende Hügel mit Metallbeinen, grünen gallertartigen Klumpen und weiß-roten Flecken bedeckt. Die schrecklichen Spinnenwesen sind alle tot.

Warum habe ich gezögert zu schießen? Es waren diese Gesichter, die Ahnung, auf menschenähnliche Wesen zu zielen und sie zu zerstören, die mich hemmte. Entscheidender aber war, dass ich in den Gesichtern etwas von mir selbst zu erkennen glaubte und das Gefühl hatte, ich würde etwas von mir zerstören, wenn ich auf diese Wesen schösse; dass ich Teile meines Ichs eliminieren würde.

»Okay, das war’s, Jungs. Wir gehen weiter!« Ich entnehme diesem Befehl, dass wir offensichtlich einen Anführer haben. Ich vermute, es ist die Gestalt in der Mitte, weil deren Waffe noch monströser aussieht als meine und der Person links außen.

»Wohin gehen wir?«, frage/denke ich, erhalte aber keine Antwort. Entweder ist die Kommunikation nur einseitig, oder ich bin nicht in der Lage oder nicht fähig, mit den beiden anderen zu sprechen. Immerhin kann ich durch Willenskraft, Augenbewegungen und Steuerung meiner Gliedmaßen, die ich zwar nicht fühle, aber wahrnehme, vorwärts gehen und die Waffe lenken, zielen und den Abzug betätigen.

Wir gehen im Gleichschritt unseren Hügel hinunter, den von Spinnenbestandteilen und Gehirnmasse übersäten hinauf und weiter durch die Wüstenlandschaft. Ich spüre keine Hitze, keinen Hunger, keinen Durst, nichts. Die Sonne scheint aber meiner Lebensenergie gutzutun, der Pegel steigt wieder in den grünen Bereich. Auch meine Waffe lädt sich durch die Solarenergie wieder auf, wie ich einer anderen Skala auf mein Gesichtsfeld mit der Bezeichnung Weapon Energy Scale entnehmen kann.

 

 

Zustand ∞

 

Das Gehen durch die eintönige Wüste macht mich müde. Ich bin es schließlich nicht mehr gewohnt, dauerhaft aufmerksam zu sein, reaktionsbereit auf Außenreize zu achten. Die öde Umgebung tut ihr Übriges, mich schläfrig zu machen. Eine Melodie formt sich in meinem Kopf. Dies bin ich gewöhnt in meiner eingegrenzten Diaspora. Meist habe ich keine Kontrolle darüber, welche Musik, welche Melodie, welches Lied da entsteht. Sie taucht ohne erkennbares Muster aus meinem Unterbewusstsein auf. Teils sind es Schlager aus meiner frühen Kindheit, den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts (ich datiere das genau, weil ich keine Ahnung von der Jetzt-Zeit habe, falls es eine solche gibt), englische oder deutsche Lieder, die ich innerlich mitsumme, oder Melodien aus Ouvertüren oder singbaren Jazz-Titeln. Letztere muss ich aber meistens in mein Bewusstsein rufen, bevor ich sie verfolgen kann. Aber wenn eine Melodie oder ein Lied erst mal da ist, verfolgt es mich lange Zeitperioden. Ich kann sie nur durch äußerste Konzentration auf eine Erinnerung, eine Konzentrationsübung oder eine andere Melodie, ein anderes Lied verscheuchen. Das Aufsteigen und das Festfressen einer solchen Musik geschieht am ehesten, wenn meine Aufmerksamkeit wegschliert, wenn ich meinem Gedankenfluss ungerichtet seinen Lauf lasse, dann okkupiert sie mich und höhlt mein Denken aus. Ich kann keine Regelmäßigkeiten bzw. Kausalbeziehungen zwischen bestimmten Gedanken, Erinnerungen oder Ideen und der einsetzenden Melodie feststellen, obwohl ich schon eine Reihe von Hypothesen aufgestellt und getestet habe. Das Auftauchen folgt erratischen Regeln.

Selbstverständlich bin ich in meinem Kerker völliger Finsternis nicht ständig wach. Ich unterscheide durchaus Phasen des Schlafes, des Dösens, des Aufwachens, der hohen Konzentration, doch ich habe keine zeitliche Zuordnung zu diesen Zuständen. Dies bewirkt auch, dass ich Vergangenheit und Gegenwart nicht streng auseinanderhalten kann. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit verstrichen ist zwischen dem Beginn meiner Deprivation und dem plötzlichen Eintauchen in diese mir fremde Welt. Ich kann mich auch nicht erinnern, wie und warum ich ursprünglich in den Zustand meines Bewusstseins verstoßen, verwandelt, geschaffen, bestraft, geläutert wurde. Oder war ich es selbst, der ihn herbeigeführt hat?

 

 

Aktionssequenz 3

 

Durch das vorsichtige Vorwärtstappen im Wüstensand bin ich, wie bereits erwähnt, schläfrig geworden. Der Beatles-Song »Nowhere Man« rauscht mir, wie so oft, durch den Kopf, zumindest mit Textteilen, soweit sie mir noch in Erinnerung sind, diese aber sich ständig wiederholend, wahrscheinlich weil ich ihn in besonderer Weise mit meiner Situation assoziiere:

 

He’s a real nowhere man,

sitting in his nowhere land,

making all his nowhere plans for nobody …

 

Das Lied verwandelt sich in eine Kakofonie, als ein dumpfer Beat es unrhythmisch untermalt und durchkreuzt, immer stärker und lauter werdend, und es schließlich übertönt, erstickt. Die Erde beginnt zu beben.

»Achtung, jetzt kommt der Wurm! Macht euch bereit mit schwerer Munition!«, sagt unser Anführer. Ich kann weder mit der Ankündigung noch mit der Anweisung etwas anfangen, Letzteres, weil ich nicht weiß, wie die Art der Munition meiner Waffe geändert wird. Ich durchforste die Informationen auf meinem Gesichtsfeld, lasse den blinkenden Cursor hin und her wandern und ihn auf Verdacht in einem Feld Ammunition einrasten und im darin erscheinenden Fenster eine höhere Wertzahl wählen.

Weit vor uns wölbt sich der Sand in einer beträchtlichen Länge, und diese Wölbung bewegt sich mit großer Geschwindigkeit auf uns zu. Wir heben die Waffen rechtzeitig, als sich etwa einhundert Meter vor uns der Kopf eines Riesenwurms aus der Wüste erhebt, das enorme Maul sich sternförmig öffnet, auf uns zurast, um uns zu verschlingen. Meine erste Assoziation ist, die abstruse, ins monströse verzerrte Karikatur eines Penis’ vor mir zu haben, und mein Zögern zu schießen rührt wohl auch aus der Furcht, mich an einer gigantischen Kastration zu beteiligen. Mein zweiter Eindruck ist das Erkennen dieser riesenhaften Gestalt. Ja, früher, aus einem Film meiner Kindheitstage, aus einem Film, der in der Wüste eines fremden Planeten spielte, dort wurde der Kampf um eine Droge geführt, und die riesigen Sandwürmer spielten dabei eine wichtige Rolle. Wie kommt dieses Untier hierher? Habe ich sein Auftauchen durch eigene Erinnerungen bewirkt? Dies scheint mir eher unwahrscheinlich, habe ich mich doch bisher weder an den Film noch diese Gestalt erinnert, soweit ich mich jetzt erinnere. Außerdem ist ein Wiedererkennen dieses Sandwurms eine Folge seines Auftauchens und nicht der Gedanke daran die Ursache.

Die gebündelten Strahlen meiner Waffe prallen wirkungslos an der dick gepanzerten Haut des Wurmes ab, hinterlassen lediglich einige Kratzer. Wir wären wohl hilflos verschlungen, zermalmt und verdaut worden, wäre es unserem Anführer nicht im letzten Augenblick gelungen, eine schwere Granate abzufeuern und direkt in den Schlund des Monsters zu platzieren. Die gigantische Eichel des Riesenpenis zerplatzt. Schleimige Brocken fliegen in alle Richtungen auseinander wie eine breit gestreute Ejakulation. Der Rest des Wurms windet sich in Todeszuckungen, die Erde bebt, wir werden durch die Luft geschleudert.

Danach Stille. Absolute Stille. Wir stehen auf (ich bleibe bei dieser anschaulichen Beschreibung des Geschehens, weil ich es anders nicht ausdrücken kann), wir blicken uns an, nicken uns zu, recken siegesbewusst einen Daumen nach oben (ich kann dabei auch meinen eigenen sehen), wir gehen weiter.

Als wir weitere fünf Dünenhügel überwunden haben, sehe ich in einer Senke, etwa zwei Kilometer entfernt, ein flaches Gebäude. Die Zoom-Ansicht verdeutlicht, dass es sich um eine palastähnliche Anlage mit zahlreichen in sich verschachtelten Einzelgebäuden, Türmen und Höfen handelt, die von zahlreichen Säulen gestützt, verziert oder umgeben und mit Fenstern, Erkern und Abbildungen versehen sind. Die Anlage ist mit einer hohen Mauer umgeben. Ich kann keine Bewegung erkennen. Ich sehe weder Menschen noch Tiere. Die Anlage ist offensichtlich das Ziel unseres Weges, da wir geradewegs darauf zusteuern. In dieser Richtung scheint auch ein Eingang zu sein, weil ich in der Mitte der Mauer, auf die wir zugehen, ein hohes Tor erkennen kann, das aus zwei dunklen Torflügeln besteht. Rechts und links des Tores stehen zwei riesige Figuren. Es sind Drachen, Drachen mit monströsen Schlangenkörpern und kleinen seitlich abstehenden Flügeln. Sie sitzen und stützen sich dabei auf kurze, kräftige Beine. Sie sind bewegungslos und scheinen zu lächeln. Sie erinnern mich an Figuren, die ich in der Verbotenen Stadt in Peking und an zahlreichen anderen Stellen in China sah, früher, in meinem körperlichen Leben.

Je näher wir kommen, desto eindrucksvoller kann ich das bösartige Funkeln in den Augen der Drachen erkennen. Diese Augen scheinen lebendig zu werden – blicken sie uns an? Sie weiten sich. Das Zoom zeigt mir, wie sich die schwarzen Pupillen zu kleinen Schlitzen verengen. Das sie umgebende Rot wird glühend. Plötzlich öffnen sich ihre grinsenden Mäuler, und mit einem unglaublichen Getöse entströmen ihnen Hunderte fledermausartige Wesen, schwarz, die Sonne verdunkelnd, wild mit ihren scharfkantigen Flügeln schlagend und in höchsten Tönen kreischend. Sie stürzen sich auf uns, und ohne Befehl geben wir Dauerfeuer. Reihenweise fallen sie zerfetzt zu Boden.

Wieder habe ich zu spät reagiert. Erschreckt und entsetzt, innerlich das Gesehene leugnend, Reales nur widerstrebend akzeptierend, beginnen meine Feuerstöße mit Verzögerung. Einige der Kreaturen entgehen meinen Schüssen und erreichen mich. Sie stürzen sich auf mich. Aus der Nähe erkenne ich, dass sie wie die Drachen rot glühende Augen haben. Ihre Schnäbel sind eiserne Dolche mit rasiermesserscharfer Zahnung. Sie reißen an meinem Anzug. Sie hacken mit enormer Kraft auf das Glas meines Helmes, der erste Sprünge und Risse zeigt. Die Waffe rutscht mir aus den Händen. Ich sehe und spüre, wie mein Sichtfeld zerspringt. Mein Körper ist überall verwundet wie von Dolchstichen. Ich falle nach hinten. Ich sehe den wahnsinnig blauen Himmel. Die Sonne brennt mir gnadenlos ins Gesicht. Ich kann die Augen nicht schließen. Mehrere spitze Schnäbel hacken in meinem Gesicht herum, und als meine Augen getroffen werden, erlischt gnädig der brennende Sonnenstrahl. Alles wird dunkel.

 

 

Zustand ∞

 

Ich bin wieder im Zustand des Ichs, das vom eigenen Ich umkreist wird. Ich weiß jetzt, was wahre Egozentrik ist. Diese Welt bin nur ich. Nichts anderes existiert. Ich bin mein eigenes Universum. Ich habe das uralte philosophische Problem der Dualität von Subjekt und Objekt, vom erkennenden Ich und der es umgebenden Umwelt auf meine Weise gelöst: Ich bin nur noch Bewusstsein, ohne Umwelt.

Die Störungen meiner abgeschlossenen Welt nach endloser Zeit haben mich irritiert und beunruhigt. Ich bin verstört und aufgeregt. Was ist eigentlich geschehen? War es ein bösartiger Tagtraum, der mich überfallen hat?

Ja, natürlich träume ich, besonders zwischen meinen Schlaf- und Wachphasen. Meine Träume sind schöpferisch, anders als meine Erinnerungen, die sich wie ein Mühlrad umeinander drehen, sodass nichts Neues hinzukommt. Obwohl, manchmal steigen unerwartet und ungeahnt neue Erinnerungen aus meinem Unterbewusstsein empor, die ich für verschüttet gehalten habe, die aber dann, wenn sie in mein Tagesbewusstsein vorgestoßen sind, mir bekannt vorkommen, andere Erinnerungen assoziieren und mich eine Zeit lang fesseln. Man könnte daraus schließen, dass sich der Fundus meiner Erinnerungen erweitert. Dies scheint mir aber nicht der Fall zu sein, denn ich verliere andere Erinnerungen. Welche es sind, weiß ich nicht, sodass ich vermute, dass mein Erinnerungspool eher schrumpft, als sich ausdehnt.

Meine letzten Erlebnisse in dieser Anderswelt entsprangen keiner Erinnerung, obwohl mir manches bekannt vorkam. So z. B. die ganze Wüstenszenerie, dieser Sandwurm, die Drachen, und auch das mit den seltsamen Fledermauswesen habe ich in ähnlicher Form schon mal gesehen. Anderes aber war mir völlig neu, und ich sehe keine Verbindung zu meinem früheren Seinszustand. Ich kann das Erlebte/Wahrgenommene in etwa mit meinem früheren Beruf in der Softwarebranche in Verbindung bringen, okay, aber ich kann es nicht mit irgendwelchen anderen Erinnerungen verknüpfen, sodass ich es auch nicht für eine solche halte.

Ein Traum war es aber auch nicht, nein, keinesfalls. Meine Träume haben einen anderen Charakter. Sie sind kreativ, und diese Kreativität ist der einzige Input, den ich in meinem jetzigen Daseinszustand bekomme. Ich träume Dinge und Handlungen, Zustände und Erlebnisse: Ich habe Träume aus meiner früheren Arbeitswelt, erotische Träume, Abenteuerträume, beängstigende Träume, Träume, in denen ich mich verirre, Träume, in denen ich Macht ausübe, und andere, in denen ich gedemütigt werde. Die meisten sind kreativ, weil sie etwas erfinden oder darstellen, was sich nicht mit meinen Erinnerungen deckt, was völlig neu und fremdartig für mich ist. Kürzlich träumte ich z. B. von einem Wesen mit einem würfelförmigen Kopf und einem langen Schnabel. Es sah mich aus zwei schwarzen Knopfaugen an und bewegte den Schnabel, als wolle es mir eindringlich etwas Wichtiges mitteilen. Ich konnte aber nichts verstehen, ich nahm nur knarzende Geräusche wahr. Dieses Wesen hatte nichts mit meiner früheren Welt zu tun, natürlich auch nichts mit meiner jetzigen. Auch Frauen, mit denen ich im Traum auf irrwitzige Weise kopuliere, sind mir unbekannt, ebenso Männer, mit denen ich verhandeln oder kämpfen muss. Meine Träume sind nicht gradlinig. Sie sind chaotisch und folgen bizarren Mustern. An die meisten erinnere mich gerne, soweit ich sie dem Schlafzustand entreißen kann, und ich versuche, sie im Gedächtnis zu bewahren, denn sie sind die einzige Erweiterung meine Erfahrungswelt, die ich habe. Ich bewundere mein Unterbewusstsein, denn es scheint unerschöpflich innovativ zu sein.

Es ist auch die Quelle für meine Fantasien. Meine Wachzeit besteht aus vier Arten von Aktivitäten: Erinnern, Überlegen, kognitive Trainings und Erfinden. Ich erfinde Geschichten, ich arbeite an Gedichten, ich gestalte Storys. Dies alles ist schwierig, weil ich nichts niederschreiben kann. Alles muss im Gedächtnis bewahrt werden, muss gespeichert und auf Anstoß memoriert werden können. Ich habe darin eine gewisse Übung erlangt, obwohl natürlich auch vieles wieder verloren geht. Am einfachsten ist es mit Gedichten. Die meisten, die ich ersonnen habe, habe ich immer noch parat und kann sie mit meiner inneren Stimme aufsagen. Je länger ein Text ist, desto schwieriger wird es naturgemäß, ihn dauerhaft zu behalten. Aber auch die übrige Speicherung meiner Literatur wird oft gestört von tiefer Verzweiflung: Werde ich die Texte jemals dokumentieren und weitergeben können? Werden sie jemals einen Adressaten haben? Doch immer wieder schiebe ich diese Zweifel beiseite, denn meine Kreativität lässt sich nicht abschalten. Die ist mein Lebenselixier, ohne sie würde ich völlig verkümmern.

Ich ziehe ein vorläufiges Resümee (vorläufig deshalb, weil ich alle Zeit habe, weiter über die Unterbrechungen und ihre Bedeutung nachzudenken): Das Erlebte hat nur wenig mit meinen Erinnerungen zu tun. Teilweise assoziierte ich Bekanntes, manches war mir aber auch völlig fremdartig. Es ist aber auch kein Traum, dazu war es zu stringent erzählt und viel zu realistisch in der Wahrnehmung. Gut, ich spürte nicht den Boden unter meinen Füßen, nicht das Gewicht der Waffe und hatte keine Schmerzen, aber die Szenerie war konstant, dreidimensional beobachtbar und mit realistischen Effekten versehen. Nein, das war kein Traum, das war etwas ganz anderes. Es könnte ein Produkt meines Unterbewusstseins sein, aber auf welche Weise hat es sich manifestiert, wie konnte es so erlebnisecht werden?

Und: Welche andere Welt war hier in meine eigene eingebrochen? War das schon alles? Wird es eine Wiederholung geben? Was hat das alles zu bedeuten? War es eine Art Test, und wenn ja, habe ich ihn bestanden oder habe ich versagt? Das Ganze ist ein nicht unwillkommenes Rätsel, habe ich doch jetzt viel Zeit zum Nachdenken, etwas, das mich noch lange Zeit beschäftigen wird. Bedauerlich ist nur, dass ich auch hier auf mich alleine gestellt bin. Ich kann mit niemandem darüber reden. Ich kann in keiner Fachliteratur nachschlagen. Auch kann keine Hilfe aus dem digitalen Wissensnetz bekommen.

In diesem Zusammenhang kommen bestimmte Erinnerungen wieder, die ich lange nicht mehr hatte. Mein Versagen in der Diplomprüfung, die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit, die mich über Wochen begleiteten, dann die Wut, erst gegen mich gerichtet, dann gegen das Studiensystem und die Professoren, und dann der Wille: Ich werde es euch allen zeigen!

Mit zwei Freunden und zusammengeschnorrtem Geld gründeten wir ein kleines Unternehmen, mieteten Büroräume an, knüpften geschäftliche Kontakte, erstellten ein Marketingkonzept, nahmen uns einen Steuerberater, bastelten eine Kosten- und Leistungsrechnung und so weiter. Wir hatten uns auf E-Learning spezialisiert, auf die Zusammenführung von Inhalt, Design und neuer Pädagogik. Wir arbeiteten in Projekten mit verschiedenen Experten zusammen, und wir hatten damit Erfolg, zuerst im Fortbildungssektor, später in der Ausbildung und dann beim Fernsehen. Wir wurden bekannt, unsere Umsätze stiegen, wir stellten Personal ein, wir diversifizierten mit neuen Produkten und zusätzlichem Service. Wir zählten immer zu den first movern. Wir gingen an die Börse, und wir überstanden sogar den Einbruch der ganzen Branche zu Beginn des neuen Jahrtausends einigermaßen gut. Wir stießen unrentable Zweige unseres Unternehmens ab, entließen Leute und konzentrierten uns wieder auf das Kerngeschäft. Das gab uns in den Folgejahren Stabilität und eine gute Basis, den Markt sorgfältig zu analysieren und nach neuen Produktionsmöglichkeiten zu suchen.

Diese aufreibende Tätigkeit in der New Economy – erst der Aufbau, dann Abwehr des Niedergangs, schließlich Konsolidierung – ließ mir wenig Zeit für intime Beziehungen und Hobbys. Diese Zeit war geprägt von zig Telefonaten täglich, lang dauernden Besprechungen, nervenden Meetings, oberflächlichen Geschäftsessen, rasanten Events, flüchtigen sexuellen Begegnungen, kurzfristigen Freundschaften und vielen Reisen. Wir waren dauernd wie unter Strom und dauernd auf Achse. Ja, ich erinnere mich, eine diese Reisen führte mich auch nach Peking und Shanghai, um neue Absatzchancen zu erkunden. Selbstverständlich ließen es sich meine chinesischen Kontaktpartner nicht nehmen, mir stolz die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt und des Umlandes zu zeigen. Überhaupt schienen sie an Geschäftsgesprächen kein großes Interesse zu haben, lediglich bei den lang dauernden üppigen Mahlzeiten mit zahlreichen Gerichten, die nie aufgegessen wurden, und der Unmenge von Alkohol, die mit einem immer wiederkehrenden Gambei in die Kehlen geschüttet wurde, kam das Gespräch eher beiläufig auf mein Anliegen. Ich hatte mich natürlich vorher landes- und kulturkundig gemacht und wusste, dass man die Chinesen besser nicht drängen sollte und dass viel Wert auf eine gute Atmosphäre gelegt wurde. Also vergaß ich unsere Managementregeln zur Zeiteffizienz und ging brav mit und bewunderte gebührend den Tian'anmen-Platz, die Verbotene Stadt, den Sommerpalast, die Ming-Gräber und die Große Mauer. Und überall sah ich die Statuen der drei heiligen Tiere: der Löwe, der Phönix und der Drache. Ja, der Drache …

 

 

Aktionssequenz 4

 

Durch meine geschlitzten Augen sehe ich sie aus erhöhter Warte näher kommen, zwei der ursprünglich drei schwarzen Gestalten. Einen hatten meine Fledermauskinder getötet – nur einen. Also geht der Kampf weiter. Mein Bruder und ich müssen verhindern, dass sie in das hinter uns liegende Gebäude gelangen. Der Boden zwischen uns ist übersät mit den Überresten meiner kindlichen Kämpfer. Ein Trost bleibt, ich weiß, dass sie alle voll Glückseligkeit gestorben sind. Dennoch durchdringt mich eine kalte Wut, nicht eine, deren Emotionalität mich überwältigen würde, nein, eher eine, die meinen Kampfeswillen stärkt, meine Reaktionen schärft, meine Siegesgewissheit steigert.

Ich nehme wahr, dass mein Bruder, der rechts von mir auf der anderen Seite des Tores hockt, genauso fühlt. Wir sind in schwachem telepathischen Kontakt und können lautlos Kommandos und starke Emotion übertragen und empfangen. Wir rekeln uns aus unserer Starrheit. Unsere Schuppen reiben aneinander, unsere Flügel spreizen sich leicht, unsere Krallen fahren aus, unsere Augen verändern sich zu Schlitzen – wir machen uns bereit.

Als die beiden Gestalten die kritische Distanz erreicht haben, ihre Spielzeugwaffen vorsichtig auf uns gerichtet, hauchen wir ihnen gleichzeitig unsere tödliche Glut entgegen. Feuer leckt begierig über die ausgedörrte Landschaft auf die beiden zu. Erschreckt bleiben sie stehen, und erneut entladen wir unser glühendes Gift. Am Himmel bilden sich schwarz-rote Wolken, die die Sonne verdunkeln.

Die beiden beginnen, auf uns zu schießen. Das meiste aus ihren Strahlenwaffen prallt wirkungslos an unserer Panzerung ab, aber einige Schüsse verletzen uns. Simultan recken wir unsere machtvollen Körper, strecken uns, verlassen unsere Sockel und erheben uns in die Lüfte. Wir steuern auf die beiden winzigen Gestalten zu, weiter Feuer speiend, um sie zu schmelzen. Noch halten ihre Anzüge der Hitze stand. Ich bemerke, dass die rechte Gestalt ihre Waffe neu munitioniert hat. Sie legt an, feuert, und der Kopf meines Bruders zerplatzt in schauriger Schönheit. Sein Drachenleib stürzt nach unten und wälzt in stotternden Zuckungen dem Tod entgegen.

Schon hat die Mordgestalt ihre fürchterliche Waffe neu geladen und richtet den Lauf gegen mich. Ich kann gerade eben noch durch eine leichte Seitwärtsbewegung dem Schuss ausweichen, aber ein hinterer Körperteil ist getroffen. Ich kann meinen Flug nicht mehr bremsen, kann nur noch schlecht steuern, daher verfehle ich den Todesschützen und pralle auf seinen Kompagnon. Noch kurz vor meinem Ableben spüre ich, wie der Schutzanzug der Gestalt unter mir knirscht und dann zerbirst. Das weiche Fleisch des Panzerinhaltes vermischt sich mit meinem von Treffern aufgerissenen Leib. Wir sterben gemeinsam.

 

 

Zustand ∞

 

War das jetzt eine zufällige Koinzidenz, dass ich an einen chinesischen Drachen dachte und plötzlich mit einem identisch war? Oder gibt es hier einen ursächlichen Zusammenhang und wenn, welchen? War ich der Drache, weil ich gerade an ihn dachte, oder wurde mein Denken zum Drachen gelenkt, um mich auf die nächste Spielsequenz vorzubereiten? Ich habe nicht genügend Informationen, um diese Fragen zu beantworten. Ich kann noch nicht einmal plausible Hypothesen erstellen. Warum mich also weiter damit beschäftigen? Obwohl: Ungelöste Rätsel tauchen immer wieder in meinem Bewusstsein auf und drangsalieren mich. Ich kann sie nur meditativ mit inneren Befehlen stoppen.

Ich kann meinem trüben Ich-Kerker nicht entfliehen, aber ich kann ihn modulieren – durch Überlegungen, Nachdenken, Fantasie, Aufarbeiten von Erinnerungen, Auseinandersetzungen mit meinen Träumen. Dennoch ist die Geschlossenheit meines Bewusstseins, die totale Ich-Isolierung eine Qual. Sartres Ausspruch »Die Hölle, das sind die anderen« ist nicht richtig – die Hölle ist das völlig eingegrenzte Ich, das nur auf sich selbst zurückgeworfen ist, das in ewiger Selbstreflexion verharrt und diesen Zustand aus eigener Kraft nicht ändern kann. Sicher, das körperlose Bewusstsein hat auch Vorteile. Vom Fleischlichen befreit, spüre ich keinen Schmerz, zumindest keinen körperlichen, seelischen schon. Ich habe keine Probleme mit Hunger und Durst, Verstopfung oder Durchfall. Ich habe keine Kopfschmerzen, und mich juckt es nirgends. Aber ich vermisse das Wohlgefühl von Wärme und des Streichelns, den Geschmack eines guten Essens, die Wollust des Orgasmus. Ich bin ein völlig losgelöster Geist – mit Vor- und Nachteilen. Für mich aber überwiegen die Nachteile, hauptsächlich bedingt durch meine ewige Einsamkeit. Es ist harte Arbeit, nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

Beunruhigend ist, dass in meinen Erinnerungen so große Lücken klaffen. So habe ich an meine Kindheit, also ungefähr bis zu meinem zwölften Lebensjahr, überhaupt keine Erinnerungen. Auch an die Zeit danach, bis zum 16. Lebensjahr, kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Szenen in der Schule, die damaligen Freunde, die erste Liebe (oder was man dafür hielt), der erste Sexualkontakt …

An sexuelle Begegnungen kann ich mich besonders gut erinnern, und ich erinnere mich gern und häufig an sie. Das wunderbare Miteinander am Strand von Vai zum Beispiel: Wir hatten unser Picknick beendet, eine Flasche Rotwein geleert, alberten herum und waren in bester Stimmung. Erschöpft lagen wir nebeneinander, küssten uns eng umschlungen, unsere Hände erfühlten die Wärme des jeweils anderen. Ich schob meine Hand unter ihr T-Shirt und betastete ihre Brüste. Meine Küsse arbeiteten sich an der Innenseite ihrer Schenkel empor, sie atmete schwer, streichelt meinen Kopf …

 

 

Aktionssequenz 5

 

Ich bin der Anführer. Einer der Drachen hat meinen Kompagnon erwischt, erdrückt, aufgesogen, bevor ich ihn endgültig töten konnte. Der andere war bereits vorher getötet worden. Ich bin erschöpft und warte. Jetzt bin ich auf mich allein gestellt.

Um mich herum ist es totenstill, nichts bewegt sich. Ich weiß nicht, was meine Aufgabe, mein Ziel ist, aber es muss in der vor mir liegenden Gebäudeanlage zu finden sein. Nachdem ich mich erholt habe und meine Waffe sich durch die Sonneneinstrahlung aufgeladen hat, schreite ich langsam auf das Tor zu, das vormals von Drachen beidseitig bewacht und beschützt wurde. Ich bahne mir meinen Weg durch die Überbleibsel unseres Gemetzels und behalte dabei das Tor und seine Umgebung wachsam im Auge. Zweimal tauchen über der ca. drei Meter hohen Mauer affenähnliche Wesen auf, die primitive Waffen auf mich richten und aggressive Schreie von sich geben. Die automatische Zielvorrichtung meiner Waffe erfasst sie sofort und tötet sie, bevor sie einen Schuss abgeben können.

Ich erreiche das Tor ohne weitere Zwischenfälle. Es ist verschlossen. Ein sekundenlanger Beschuss mit dem Laser zerstört das Schloss und lässt das Tor aufspringen. Sofort huschen etwa zwanzig der Affengestalten aus verschiedenen Teilen des Gebäudes und eröffnen das Feuer auf mich, doch die Schüsse aus altertümlichen Gewehren prallen wirkungslos an meine Panzerung ab. Ich töte alle mit einem Streufeuer. Das Gebäude selbst hat keine Tür. Eine rechteckige Öffnung dient offensichtlich als Eingang.

Ich betrete vorsichtig das Gebäude. Vor mir erstreckt sich ein schummrig beleuchteter Gang. Nun ja, es folgt Folgendes: ein endloses Gewirr von Gängen (zu bewältigen mit meinem internen digitalen Kompass- und Raumstrukturierungssystem), zahlreiche Falltüren (jeweils rechtzeitig aufgespürt durch mein elektronisches Detektorensystem), plötzliches Hervorspringen von Waffen und Schussanlagen (alles wirkungslos wegen meiner Panzerung), sowie immer wieder bewaffnete Affengestalten, die ich problemlos ins Jenseits befördere. Das Ganze zieht sich endlos hin und wird allmählich langweilig.

Mein Raumorientierungssystem strukturiert das Gebäude mit seinem steinernen Irrgarten und den verschiedenen Ebenen immer umfassender und visualisiert die Ergebnisse auf der Innenseite meines gläsernen Gesichtsfeldes. Durch Blickwendungen kann ich die dreidimensionale Projektion drehen, kippen und zoomen. Ich stelle fest, dass ich mich dem Zentrum nähere. Es muss eine Halle großen Ausmaßes sein. Eine letzte Biegung, und ich sehe sie vor mir liegen. Ein fluoreszierendes Leuchten strahlt mir entgegen, nur unterbrochen von zwei dunklen Gestalten, die den Eingang versperren und deren Schatten an meinen Stiefeln lecken. Sie sind in schwarze Umhänge gehüllt, die Köpfe sind unsichtbar unter dunklen Kapuzen.