Nell Sweeney und die letzte Lüge - P.B. Ryan - E-Book

Nell Sweeney und die letzte Lüge E-Book

P.B. Ryan

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Beschreibung

Nell wird von ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt …
Der letzte Fall für Nell Sweeney – Gouvernante mit Herz und Detektivin aus Leidenschaft

Cape Cod, 1870: Nell ist erschüttert, als sie erfährt, dass ein Mann, der nach einem heimtückischen Raubüberfall und Mord in seinem Versteck verbrannte, ihr Bruder Jamie gewesen sein soll. Unmöglich, glaubt sie und beginnt im sommerlichen Cape Cod zu ermitteln. Bis unversehens ein dunkles Geheimnis aus ihrer irischen Vergangenheit ans Tageslicht kommt. Plötzlich ist alles bedroht, was Nell sich in der neuen Welt aufgebaut hat. Und das ausgerechnet als Will Hewitt, ihr Geliebter, in den europäischen Kriegswirren verschollen ist …

Weitere Titel dieser Reihe
Nell Sweeney und die Spur des Todes (ISBN: 9783960877554)
Nell Sweeney und der dunkle Verdacht (ISBN: 9783960877561)
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Nell Sweeney und der schwarze Freitag (ISBN: 9783968172316)
Nell Sweeney und die eiskalte Sünde (ISBN: 9783968176994)

Erste Leserstimmen
„Würdiger Abschluss einer großartigen, fesselnden Krimi-Reihe!“
„Auch dieses Mal hat es großen Spaß gemacht Nell beim Ermitteln zu begleiten.“
„Mit viel Liebe zu historischen Details geschrieben, tolles E-Book!“
„Für mich der spannendste und dramatischste Teil der Reihe.“

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Seitenzahl: 349

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Über dieses E-Book

Cape Cod, 1870: Nell ist erschüttert, als sie erfährt, dass ein Mann, der nach einem heimtückischen Raubüberfall und Mord in seinem Versteck verbrannte, ihr Bruder Jamie gewesen sein soll. Unmöglich, glaubt sie und beginnt im sommerlichen Cape Cod zu ermitteln. Bis unversehens ein dunkles Geheimnis aus ihrer irischen Vergangenheit ans Tageslicht kommt. Plötzlich ist alles bedroht, was Nell sich in der neuen Welt aufgebaut hat. Und das ausgerechnet als Will Hewitt, ihr Geliebter, in den europäischen Kriegswirren verschollen ist …

Impressum

Erstausgabe 2017 Überarbeitete Neuausgabe Juni 2021

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-700-7

Copyright © 2017 by Patricia Ryan Titel des englischen Originals: A Bucket of Ashes

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit Patricia Burford Ryan.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© für die deutsche Übersetzung © CORA-Verlag in der by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg. 

Copyright © 2017, HarperCollins Germany GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei HarperCollins Germany GmbH erschienenen Titels Flammend wie die Lüge (ISBN: 978-3-73377-513-1).

Übersetzt von: Alexandra Kranefeld Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von periodimages.com: © Mary Chronis, VJ Dunraven Productions shutterstock.com: © Hank Shiffman, © quiggyt4 Korrektorat: Katharina Pomorski

E-Book-Version 06.02.2023, 13:11:57.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Nell Sweeney und die letzte Lüge

1. Kapitel

August 1870

Cape Cod, Massachusetts

„Miss Sweeney, wer ist der Mann da?“, fragte die kleine Gracie Hewitt atemlos, während sie zwischen den beiden jungen Frauen, die mit ihrer Obhut betraut waren, im Wasser der Waquoit Bay strampelte. „Welcher Mann, Butterblümchen?“ Nell Sweeney, die hüfttief im seichten Wasser stand, folgte Gracies Blick zum großen, holzverschindelten Sommer-Cottage der Hewitts. Schützend hob sie die Hand über die Augen und sah im Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne einen Mann über den Rasen zwischen Haus und Strand laufen und geradewegs auf sie zukommen. Er war von schlanker Gestalt und hatte einen anmutigen Gang, trug einen gut geschnittenen Cutaway und einen Bowler. Erst als er den Hut abnahm und Nell anlächelte – dieses herzliche, warme Lächeln, das ihr einst so vertraut gewesen war –, erkannte sie ihn.

„Ja, ist das denn zu glauben?“, murmelte sie.

„Ja, wer ist er denn?“, wollte Eileen Tierney mit ihrer mädchenhaften, irisch getönten Stimme wissen.

„Das ist ... ähm ... jemand, den ich kannte, als ich noch hier auf dem Cape lebte. Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen.“

Von den Sommerwochen auf Falconwood abgesehen, lebte Nell mittlerweile mit den Hewitts in Boston. Drei Jahre war es jetzt her, dass Nell Dr. Cyril Greaves erstmals wieder begegnet war. Im Juli 1867 hatte sie ihre Dienstherrin Viola Hewitt zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung nach Falmouth begleitet, bei der auch er zugegen gewesen war. Obwohl sie sich herzlich, fast schon vertraulich, unterhalten hatten, gab es doch ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen ihnen, ihre Bekanntschaft von einst nicht wieder aufleben zu lassen. Und zwei Sommer zuvor waren sie einander, wiederum zufällig, auf der Short Street in Falmouth begegnet – er in seiner allwettertauglichen Arztdroschke, Nell und Gracie in ihrer eleganten Bostoner Chaise – und hatten ein paar Minuten miteinander geplaudert, bis ein Salzkarren hinter Dr. Greaves herangerumpelt gekommen war und er hatte weiterfahren müssen.

Dass er sie nun auf diese Art aufsuchte, war ungewöhnlich genug, um beunruhigt zu sein.

„Oh, der sieht aber gut aus“, flüsterte Eileen.

„Er ist verheiratet“, ließ Nell sie wissen. „Und älter als es den Anschein hat.“

Als Nell Dr. Greaves das erste Mal begegnet war, hatte sie sich an die Statue des heiligen Franz von Assisi erinnert gefühlt, die vor St. Catherine's stand, ihrer Gemeindekirche auf dem Cape. Von Geburt an mit noblen Zügen gesegnet, ausdrucksvollen Augen und eben jenem Lächeln, gehörte er zudem zu den glücklichen Männern, die in mittleren Jahren nur wenig altern. Seine hellbraunen Haare zeigten gerade mal die ersten grauen Strähnen an den Schläfen, und er bewegte sich noch immer mit der leichten Anmut eines jungen Mannes.

„Ist er nett?“, fragte Gracie schnaufend und verlegte sich aufs Hundepaddeln, um mit Nell mithalten zu können, die zurück zum Strand watete.

„Er ist sehr nett.“

„Kann ich ihn kennenlernen?“

„Ob du kannst?“

„Darf ich?“, fragte die Kleine und verdrehte theatralisch die Augen.

„Ihr habt euch bereits kennengelernt. Du erinnerst dich bloß nicht mehr daran.“

„Dann würde ich ihn jetzt gern noch mal kennenlernen.“

Am Fuße der Bucht blieb Nell stehen, um den klitschnassen, knielangen Rock ihres Badekleides auszuwringen, als Dr. Greaves auch schon leichten Fußes über den Sandstrand gelaufen kam. Sie schaute auf und sah, dass er ihre Aufmachung – die gerüschte Haube, das Matrosenkleid aus schwarzer Wolle, die dazu passenden Beinkleider und die geschnürten Leinenschuhe – mit einem sinnigen Lächeln betrachtete. Das Blut schoss ihr heiß in die Wangen.

„Nun starren Sie mich doch nicht so an“, sagte sie und lachte verlegen.

„Begrüßt man so einen alten Freund?“

Einen alten Freund. Komisch, dachte Nell, dass Dr. Greaves sich so bezeichnete, denn so viel sie einander auch bedeutet hatten, waren sie doch im eigentlichen Sinne nie Freunde gewesen. Zumindest wäre ihr nie der Gedanke gekommen.

„Und ich habe Sie gar nicht angestarrt“, fügte er hinzu, „sondern bewundert.“ Ehe Nell darauf etwas erwidern konnte, hatte er sich auch schon Gracie und Eileen zugewandt und verneigte sich grüßend. „Meine Damen. Entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hereinplatze, doch der Butler sagte mir, dass Sie hier draußen wären, und meinte, ich solle einfach zum Strand hinuntergehen.“

„Keine Ursache“, sagte Nell. „Grace Hewitt, Eileen Tierney, dürfte ich euch Dr. Cyril Greaves vorstellen, Arzt in East Falmouth.“ Und an Dr. Greaves gewandt fügte sie hinzu: „Miss Tierney und ich kümmern uns um Gracie, deren Bekanntschaft Sie ja bereits gemacht haben.“

„Sehr erfreut, Sie wiederzusehen, Miss Hewitt“, sagte Dr. Greaves.

„Ganz meinerseits“, erwiderte Gracie – auch in ihrem kurzen weißen Badekleid und mit nassen Zöpfen ganz die kleine Bostoner Dame.

Die artige Antwort schien Dr. Greaves zu amüsieren. „Ich muss schon sagen, meine junge Dame, das ist doch ein weitaus wohlerzogenerer Empfang als das laute Gebrüll, mit dem du mich bei unserer ersten Begegnung begrüßt hast.“

„Dr. Greaves ist der Arzt, der dich aus dem Bauch deiner Mama geholt hat“, erklärte Nell dem Mädchen.

„Mit Miss Sweeneys Hilfe“, fügte er hinzu. „Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.“ Eine äußerst wohlmeinende Übertreibung, war es doch ihm und ihm allein zu verdanken, dass in jener sturmumtosten Nacht vor sechs Jahren Gracies Leben und das ihrer Mutter – einem Zimmermädchen der Hewitts namens Annie McIntyre – durch einen beherzten Kaiserschnitt in letzter Minute gerettet werden konnte. Er fing Nells Blick auf und meinte lächelnd: „Ich hätte Sie niemals gehen lassen sollen.“

Mit großen Augen schaute Gracie zu Nell auf. „Du warst dabei, als ich geboren wurde?“

Nell zögerte. Dr. Greaves sah betreten drein, als ihm aufging, dass er anscheinend etwas verraten hatte, das Nell bislang für sich behalten hatte, um Gracies ständige Fragerei nach ihren Eltern zu unterbinden. Nun, da die Katze aus dem Sack war, nickte Nell nur und sagte: „Ja, ich war vier Jahre lang Dr. Greaves‘ Assistentin. Als dann du gekommen bist und Nana beschlossen hatte, dich zu adoptieren, hat sie mich gefragt, ob ich mit nach Boston kommen würde, um dein Kindermädchen und später deine Gouvernante zu werden.“

Dies jedoch erst, nachdem sie Dr. Greaves einer ausführlichen Befragung unterzogen hatte – die Nell zufällig mitangehört hatte –, um sich zu vergewissern, ob sie zur Erziehung eines jungen Mädchens geeignet sei. Kann ich davon ausgehen, dass sie einen guten Charakter und einen anständigen Lebenswandel vorzuweisen hat? Er hatte beides bestätigt, wenngleich seine Antwort absichtsvoll vage gehalten war. Keine Andeutung ihrer zwielichtigen Vergangenheit oder des Umstandes, dass sie drei der vier Jahre, die sie seine Assistentin gewesen war, auch das Bett des Doktors geteilt hatte. Nell hatte kaum zu atmen gewagt und ihm im Stillen für seine Diskretion gedankt, denn sie hatte diese Stelle unbedingt haben wollen.

Sie ist doch aus guter Familie?, hatte Mrs. Hewitt weiter gefragt.

Sie sind aus der alten Heimat gekommen, Ma‘am. Beide weilen längst nicht mehr unter uns – erst ist der Vater von uns gegangen, dann die Mutter, als Nell noch ein Kind war.

Und mehr Familie gibt es nicht?

Sie hatte einige jüngere Geschwister – so hat sie auch gelernt, sich um Kinder zu kümmern. Die meisten wurden früh von Krankheiten dahingerafft – Cholera, Diphterie –, nur ein Bruder hat das Erwachsenenalter erreicht. Sie vermutet, dass er noch am Leben ist, hat ihn jedoch seit Jahren nicht mehr gesehen. Sein Name ist James, aber sie nennt ihn Jamie.

Nell hatte aufgeatmet, erleichtert und dankbar, dass er Duncan nicht erwähnt hatte. Alles andere war schon vernichtend genug, aber hätte Viola von Duncan gewusst, wäre es um ihre Anstellung und ihre Zukunft ein für alle Mal geschehen gewesen.

Sie verstehen gewiss, hatte Viola zu Nell gesagt, als sie ihr die Stelle angeboten hatte, dass ich es vorziehen würde, wenn Sie unverheiratet blieben. Zumindest solange Gracie klein ist, damit Sie ihr Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen können. Auch Ihr Lebenswandel und Ihr Ruf müssen selbstverständlich über jeden Tadel erhaben sein – schließlich sind Sie für die Erziehung eines jungen Mädchens verantwortlich. Aber ich gehe davon aus, dass Sie mich in dieser Hinsicht nicht enttäuschen werden.

Wenn Nell es in den letzten sechs Jahren gelungen war, Violas Erwartungen gerecht zu werden, dann nur dank einer Lüge durch Unterlassung, derer sie sich ausgerechnet jener Frau gegenüber schuldig gemacht hatte, die ihr mittlerweile fast wie eine Mutter geworden war. Soweit Viola wusste – damals wie auch heute – war Miss Nell Sweeney nichts weiter als eine unbescholtene, tugendhafte irische Katholikin aus einfachen Verhältnissen, die gut mit Kindern umzugehen verstand. Das war indes nicht alles. Viel, sehr viel hatte es gegeben, das Nell all die Jahre hatte verheimlichen müssen, um ihre Stelle nicht zu verlieren, ihr wunderbares neues Leben und – das vor allem – Gracie.

„Miss Sweeney?“ Gracie zupfte an ihrem Rock. „Hast du?“

„Was habe ich, mein Schatz?“

„Meine Mama gekannt? Meine richtige Mama?“

„Ich bin ihr in jener Nacht zum ersten Mal begegnet“, erwiderte Nell wahrheitsgemäß.

„Und du?“, fragte sie Dr. Greaves.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich kannte sie auch nicht.“

„Gracie, du weißt doch, was deine Nana gesagt hat“, erinnerte sie Nell. „Wenn du zwölf wirst, wird sie dir als Geburtstagsgeschenk von deiner Mama erzählen.“

Obwohl die Kleine ebenso neugierig auf ihren Vater war, hatte es – auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin – kein ähnliches Versprechen gegeben, auch seine Identität zu lüften. Jüngst jedoch hatte Gracie mitangehört, wie Mrs. Mott, die mürrische Haushälterin der Hewitts, gesagt hatte, dass „das Balg von einem Hewitt gezeugt“ worden wäre, woraufhin sie nicht mehr locker gelassen hatte und von Nell wissen wollte, was das denn hieße. Als Antwort hatte Nell zu einer Lüge gegriffen – der einzigen, die sie Gracie je erzählt hatte. „‘Balg‘ ist nur ein anderes Wort für Kind, und ‚gezeugt‘ heißt einfach adoptiert. Mrs. Mott wollte damit sagen, dass Nana dich ausgesucht hatte, weil sie schon immer so ein wunderbares kleines Mädchen wie dich haben wollte.“

Eileen, die sich ihren Teil wohl dachte und mittlerweile geübt darin war, das Thema zu wechseln, sobald ein Gespräch auf dieses heikle Terrain abdriftete, sagte zu Dr. Greaves: „Dann sind Sie es also, der Miss Sweeney so viel über Krankenpflege beigebracht hat.“

„Nicht nur über Krankenpflege“, meinte Nell. „Er hat mir Rechnen beigebracht, Französisch, Geschichte, Musik, Benehmen ... Ehe Dr. Greaves sich meiner angenommen hatte, wusste ich ja nicht einmal, wie man einen ordentlichen Brief schreibt.“ Er war ihr Pygmalion gewesen, sie seine dankbare und gelehrige Galatea.

„Nell hat allerdings einen außerordentlich scharfen Verstand und eine beneidenswert rasche Auffassungsgabe“, versicherte Dr. Greaves Eileen. Nachdem er das zarte, flachsblonde Mädchen eine Weile mit neugierigem Interesse betrachtet hatte, fragte er: „Verzeihen Sie die Frage, Miss Tierney, aber sind wir uns nicht schon einmal begegnet?“

„Ich wüsste nicht wie, Sir. Ich bin ja erst vor zwei Jahren aus Irland gekommen, und diesen Sommer das erste Mal auf Cape Cod.“

„Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor, aber vielleicht verwechsele ich Sie auch mit jemandem.“ Damit wandte er sich wieder an Nell. „Ich ... ähm, würde gern mit Ihnen reden.“ Er warf einen kurzen Blick auf Gracie und Eileen. „Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang?“

„Gehen Sie nur, Miss Sweeney“, sagte Eileen. „Ich bringe Gracie schon mal ins Haus und sehe zu, dass sie ihr Bad und ihr Abendessen bekommt.“

Schweigend schlenderten Nell und Dr. Greaves den Strand entlang in Richtung Bootshaus, einem schönen Gebäude, das halb an Land und halb auf einer aus Steinen aufgeschichteten Mole über dem Wasser stand. Wie das Haupthaus war es holzverschindelt und hatte schiefergedeckte Dachgiebel, einen kleinen Turm und eine Veranda mit Blick auf die Bucht. Von dort führte eine Treppe zum privaten Anleger der Hewitts. Im unteren Geschoss, das zum Wasser hin offen war und zwei Ablaufbahnen hatte, lagen ein kleines Segelboot, ein Paddelboot, ein Kanu und zwei schmale, schnittige Ruderboote. Darüber befand sich die Gästesuite.

„Das ist also das berühmte Bootshaus von Falconwood“, bemerkte Dr. Greaves, als sie näherkamen. „Es heißt, es wäre das größte und komfortabelste am ganzen Cape. Mr. Hewitt segelt vermutlich, oder?“

„Nein, nicht mehr.“ Nell wusste, dass Dr. Greaves nicht gekommen war, um mit ihr über das Bootshaus zu plaudern, und fragte sich, warum er nicht endlich zur Sache kam. Es passte nicht zu ihm, so um den heißen Brei herumzureden. „Martin, der jüngste Sohn der Hewitts, fährt gern mit einem der Ruderboote raus, wenn er hier ist und das Wetter es erlaubt. Auch jetzt müsste er irgendwo da draußen sein.“

„Martin ... das war der Fromme, nicht wahr?“

Nell nickte. „Mittlerweile ist er Pfarrer an der King‘s Chapel. Kurz bevor wir aus Boston abgereist sind, hat er seine erste Predigt gehalten, und sie war ganz hervorragend. Ich wüsste nicht, wann ich jemals so bewegt gewesen wäre.“

„Eine gläubige Katholikin wie Sie besucht einen Gottesdienst der Unitarier? Das dürfte Ihnen eine halbe Ewigkeit im Fegefeuer einbringen.“

„Nun ... ich besuche den Gottesdienst in der King‘s Chapel schon geraume Zeit.“

Wie angewurzelt blieb Dr. Greaves stehen. „Sie machen Witze.“

„Jetzt starren Sie mich aber wirklich an.“

„Sie? Eine Protestantin?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

Dr. Greaves deutete den Anleger hinab, an dessen etwas erhöhtem Ende zwei Korbstühle standen. Dort konnte man in aller Ruhe den Blick über die Bucht genießen. Er bot ihr seinen Arm. „Wollen wir?“ Als er sie den schmalen Holzsteg hinabführte, meinte er: „Wenn ich mich recht erinnere, war der andere Sohn eher ein Dandy. Hat sich während des Krieges vor der Armee gedrückt ... Henry, nicht wahr?“

„Ja, aber er wird Harry genannt, und ‚Dandy‘ ist noch eine sehr höfliche Umschreibung für das, was er ist. Er ist allerdings nicht der einzige andere Sohn. Es gibt noch William, den ältesten.“

„Aber ich dachte, William wäre während des Krieges in Andersonville umgekommen, er und der Zweitälteste, Robert. So ist es uns zumindest in jener Nacht erzählt worden, als wir Gracie auf die Welt geholt haben. Da bin ich mir sicher.“

„Robbie ist in Andersonville gestorben. Will konnte flüchten, aber es sollte noch Jahre dauern, ehe er wieder daheim und mit seiner Familie vereint war.“ Von vereint sein konnte an sich keine Rede sein, war der Anblick Wills dem gestrengen August Hewitt doch ebenso unangenehm wie der Nells.

„William ... war das nicht der, der in Edinburgh Medizin studiert hatte?“

„Ja, er war bei Verwandten in England aufgewachsen, kehrte aber zurück, nachdem der Krieg erklärt worden war, und hat sich als Feldarzt bei der Unionsarmee gemeldet.“

„Hat er nach dem Krieg eine Praxis aufgemacht?“

Nell wählte ihre Worte sehr sorgsam, damit Dr. Greaves nicht wie August Hewitt zu dem Schluss käme, dass Will ein unverbesserlicher Nichtsnutz sei. „Er hat seitdem nicht mehr als Arzt praktiziert – wenngleich er letztes Jahr erst Eileens Klumpfuß behandelt hat.“

„Ihre junge Assistentin? Aber sie hat keinen Klumpfuß.“

„Jetzt nicht mehr. Auf Wills Veranlassung ist ein berühmter Orthopäde aus New York nach Boston gekommen, um Eileen zu operieren.“

Triumphierend schnalzte Dr. Greaves mit den Fingern. „Daher kenne ich sie. Der Chirurg war Louis Albert Sayre – hervorragender Mann. Ich habe mir die Operation im Anatomiesaal des Massachusetts General Hospital angesehen.“

Gerade wollte Nell eine anerkennende Bemerkung darüber machen, dass es für sein professionelles Engagement spräche, dafür extra den Weg vom Cape nach Boston auf sich zu nehmen, da fiel ihr ein, dass er diese Fahrt ohnehin alle ein bis zwei Wochen unternahm. Er besuchte regelmäßig Charlotte, seine geliebte Frau, die seit Jahren schon Patientin der Psychiatrie des Massachusetts General war.

„Eileen muss spezielle handgefertigte Stiefel tragen“, erklärte Nell, „aber sie humpelt kaum noch. Will war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.“

„Wenn er seit dem Krieg nicht mehr praktiziert hat“, fragte Dr. Greaves, „was hat er denn dann getan?“

Um Geld gespielt und versucht, vom Opium loszukommen. „Er hat ein Semester lang Rechtsmedizin in Harvard gelehrt“, sagte sie. „Ein guter Freund von ihm, Isaac Foster, ist stellvertretender Dekan der medizinischen Fakultät. Er hat Will eine ordentliche Professur angeboten und will einen eigenen Lehrstuhl für Rechtsmedizin einrichten. Die Sache hat allerdings einen Haken. Will müsste sich auf fünf Jahre verpflichten, und er ... ihm behagt diese Aussicht nicht.“

„Die Aussicht auf eine Professur an der medizinischen Fakultät von Harvard behagt ihm nicht?“, fragte Dr. Greaves ungläubig.

Als sie am Ende des Piers angelangt waren, blieb Nell stehen und schaute auf die Bucht hinaus. Sie schlang die Arme um sich. „Will ist ... ein sehr schwieriger Mann. Und er hatte noch ein anderes Angebot. Präsident Grant schrieb ihm letzten Monat, als Frankreich und Preußen begannen, für den Krieg mobil zu machen. Elihu Washburne, unser Botschafter in Frankreich, hatte sich bei ihm nach einem guten Feldarzt erkundigt. Der Präsident war Will während des Krieges verschiedentlich begegnet, hatte eine hohe Meinung von ihm gewonnen und ihn empfohlen.“

„Als Feldarzt? Aber wir sind doch keine Verbündeten der Franzosen. Die Vereinigten Staaten sind in diesem Krieg völlig neutral.“

„Mr. Washburne anscheinend nicht. Zumindest hat er beschlossen, in Paris zu bleiben und alles ihm Mögliche zu tun, die Franzosen zu unterstützen, auch wenn es dort jetzt wie im Tollhaus zugehen soll. Will hat das Angebot angenommen.“

„Warum sollte ein Amerikaner, der noch ganz bei Sinnen ist, Leib und Leben riskieren, um für eine Sache zu kämpfen, die nicht die unsere ist – ja, die nicht einmal sonderlich legitim scheint? Das Ganze ist doch nicht mehr als ein Hahnenkampf zwischen Napoleon und Wilhelm.“

„Er hatte seine Gründe“, sagte Nell und musste an den Brief denken, den Will in jener Nacht vor dreieinhalb Wochen, bevor er an Bord gegangen war, auf ihrem Kissen zurückgelassen hatte. Du wirst Dich vielleicht fragen, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe, statt die gewiss angenehmere Professur in Harvard anzunehmen. Wir beide sind in unserer Beziehung an einen Punkt gelangt, von dem aus wir nicht einfach weitergehen können wie bisher, von dem aus wir nicht wie gehabt gemeinsam einherschlendern können, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern – zumindest keines, das wir auszusprechen wagten...

„Wird er in Paris bleiben“, fragte Dr. Greaves, „oder soll er auf dem Schlachtfeld als Arzt dienen?“

„Letzteres. Vergangene Woche hat er mir aus Paris gekabelt, dass er am nächsten Tag aufbrechen würde, um zu Napoleons Truppen zu stoßen.“ Soll Marschall de Mac Mahons 1. Armeekorps nahe Wissembourg an der deutschen Grenze zugeteilt werden und dort bis Ende des Krieges bleiben. Werde einige Zeit nicht schreiben können, vielleicht Monate. Bitte mach Dir keine Sorgen und bitte Mutter und Martin, sich ebenfalls nicht zu sorgen.

„Er hat Ihnen gekabelt?“

„Wir ... haben uns im Laufe der letzten Jahre angefreundet.“

Dr. Greaves betrachtete sie mit wissendem Blick. „Wann wird er zurückkehren?“

„Nicht vor Ende des Krieges. Er meinte, es könne Monate dauern oder ...“ Die Stimme versagte ihr, bevor sie „Jahre“ sagen konnte.

„Ah ja.“

„Worüber wollten Sie mit mir reden, Dr. Greaves?“

Er deutete auf die beiden Schaukelstühle aus Korbgeflecht. „Setzen wir uns doch.“

Sie setzte sich, während er den Stuhl für sie festhielt und dann den anderen so drehte, dass sie sich einander gegenübersaßen. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, beugte er sich vor und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Heute Morgen wurde eine junge Frau zur Behandlung zu mir gebracht. Eigentlich noch ein Mädchen – neunzehn, aber sehr jung für ihr Alter. Sie heißt Claire Gilmartin und lebt mit ihrer verwitweten Mutter etwas außerhalb von East Falmouth. Sie haben eine kleine Preiselbeer-Farm am Mill Pond. Sie erinnern sich doch noch an den Mill Pond, ein Stück westlich des Dorfes gelegen?“

„Natürlich“, sagte Nell und schaukelte bedächtig vor sich hin.

„Claire war heiser und hatte seit dem frühen Morgen Husten mit dunklem Auswurf. Sie schien auch ein wenig verwirrt zu sein, aber das gehört vielleicht zu ihrem Wesen. Der Grund ihrer Beschwerden war indes nicht schwer zu erraten. Eine ihrer Scheunen ist vor zwei Nächten abgebrannt, und Claire war kurz in den Flammen eingeschlossen, ehe es ihr gelang zu entkommen.“

„Das ist jetzt ...“, sie überlegte kurz, „... sagen wir sechsunddreißig Stunden her, und sie hat erst heute früh zu husten begonnen?“

„Es kann durchaus so lange dauern, bis eine Rauchinhalation Symptome zeigt. Auf jeden Fall sieht es so aus, als wäre ein den Gilmartins unbekannter Mann in den Flammen umgekommen. Gestern hat man ihn geborgen und nach Falmouth gebracht, wo sein Leichnam vom Coroner untersucht werden soll. Laut Mrs. Gilmartin soll es sich bei dem Toten um einen der beiden Männer handeln, nach denen die Polizei seit zwei Wochen fahndet – die beiden, die die Frau im Strandhaus erschossen haben.“

„Tut mir leid“, meinte Nell. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden. Wir leben hier draußen recht abgeschieden von der Welt.“

„Ah, Sie lesen also nicht den Barnstable Patriot. Bekommen Sie denn Zeitungen aus Boston, oder verzichten Sie während der Sommerfrische ganz darauf?“

„Wenn Mr. Hewitt am Wochenende kommt, bringt er die Bostoner Zeitungen mit, aber wir bekommen trotzdem den New York Herald zugestellt – per Zug aus New York. Brady, der Kutscher der Hewitts, fährt jeden Tag nach Falmouth, um sie vom Bahnhof abzuholen.“

„Jeden Tag? Das ist fast eine Stunde Wegstrecke pro Fahrt.“

„Es ist wegen des Krieges, und weil Will dort drüben ist. Mrs. Hewitt will über alle Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben. Und ich natürlich auch.“

„Verständlich, ebenso wie Ihr geringes Interesse an den örtlichen Begebenheiten, wenn Sie doch nur während der Sommerfrische hier sind. Aber für uns, die wir das ganze Jahr über auf dem Cape leben, ist der Fall Cunningham eine ziemlich große Sache. Susannah Cunningham ist in ihrem Haus von Einbrechern erschossen worden. Den Cunninghams gehört eins dieser riesigen neuen Sommerhäuser in Falmouth Heights.“

„Wie furchtbar. Der Mord, meine ich.“

„Die Einbrecher konnten entkommen, wenngleich mit leeren Händen, wie es aussieht. Die Polizei von Falmouth hat die letzten zwei Wochen damit zugebracht, die beiden aufzuspüren, doch bislang ohne Erfolg. Es gab Hinweise, dass sie sich noch in der Gegend aufhalten würden und sich irgendwo versteckt hätten.“

„Einer von ihnen in der Scheune der Gilmartins“, schloss Nell.

Dr. Greaves nickte. „Der Leichnam ist gestern Abend identifiziert worden. Mrs. Gilmartin hat mir seinen Namen gesagt und dass es heute im Patriot stehen würde. Der erscheint eigentlich nur donnerstags, aber es wird ein Extrablatt geben. Ich wollte nicht, dass Sie aus der Zeitung davon erfahren.“ Dr. Greaves senkte die Stimme, seine Miene verdüsterte sich. „Es ist mir schier unerträglich, Ihnen das sagen zu müssen, aber Mrs. Gilmartin meinte, sein Name wäre James Murphy.“

Nell hörte auf zu schaukeln und starrte Dr. Greaves an.

„Es tut mir leid, Nell.“ Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.

„Wie ... wie will man denn wissen, dass er es war, wenn ... wenn er doch verbrannt ist? Müsste er nicht ...?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was Mrs. Gilmartin mir gesagt hat.“

„Und Sie sind ganz sicher, dass es Jamie war?“, fragte sie. „Murphy ist ein so geläufiger Name. Genau wie James.“

„Das stimmt allerdings“, räumte er ein, doch sie merkte, dass er sie nur beschwichtigen wollte. „Hatten Sie in den letzten Jahren denn noch Kontakt zu Ihrem Bruder?“

„Nein, nicht mehr, seit er 1859 für den Raubüberfall auf den Droschkenkutscher ins Gefängnis gekommen war. Als ich ihn das erste Mal besucht hatte, hat er mich gebeten, nicht mehr zu kommen. Er wolle niemanden sehen, auch mich nicht. Natürlich bin ich dennoch wiedergekommen, aber er hat es abgelehnt, mich zu sehen. Später habe ich ihm von Duncans Verhaftung geschrieben, damit Jamie wusste, was passiert war, und dass ich jetzt bei Ihnen lebte, doch er hat nie auf meinen Brief geantwortet. Gut, mit dem Schreiben hatte er es noch nie besonders, aber man sollte meinen, dass er zumindest eine kurze Nachricht hätte abfassen können. Irgendetwas eben.“

„Wie lange hatte er noch mal bekommen?“

„Achtzehn Monate. Ich hatte gehofft, dass er mich nach seiner Entlassung aufsuchen würde, doch vergebens. Langsam fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen, dass ihm etwas zugestoßen oder er im Gefängnis gestorben sei, weshalb ich dem Direktor des Zuchthauses von Plymouth schrieb. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch – Sie hatten mir geholfen, den Brief aufzusetzen.“

„Oh ja, daran erinnere ich mich.“

„Er antwortete mir, dass Jamie im Mai 1861 entlassen worden sei. Danach habe ich nie wieder etwas von meinem Bruder gehört. Wahrscheinlich hatte er genug von mir und davon, dass ich ihm immer damit in den Ohren lag, wie er sein Leben zu leben hatte. Durchaus verständlich – wenn man bedenkt, wie ich selbst damals gelebt habe. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“ Während der letzten zehn Jahre hatte Nell sich indes oft gefragt, was wohl aus ihrem Nichtsnutz von jüngerem Bruder geworden war – dem einzigen ihrer Geschwister, der ihr geblieben war, nachdem die anderen nicht einmal das Kindesalter überlebt hatten. Am wahrscheinlichsten war wohl, so hatte sie angenommen, dass er wieder im Gefängnis gelandet war. An Schlimmeres hatte nicht einmal sie zu denken gewagt.

„Nell?“

Nell wurde gewahr, dass sie blicklos über die Bucht ans andere Ufer gestarrt hatte. Eigentlich sollte sie weinen, von Trauer überkommen sein, aber ihr war, als wäre sie von Watte umhüllt. Sie spürte nichts, und alles schien weit, weit weg zu sein. Die Mauer tadelloser Anständigkeit, die sie seit ihrem Umzug nach Boston um sich errichtet hatte, hatte sie von ihrer Vergangenheit abgeschnitten, die von Armut, Krankheit und Verbrechen geprägt gewesen war, einer Vergangenheit, zu der auch Jamie gehört hatte. Ihr Wunsch nach einem anderen, besseren Leben hatte sie emotional auf Distanz gehen lassen zu allem, was sie während der ersten achtzehn Jahre ihres Lebens getan hatte und gewesen war, auf Distanz auch zu allen Menschen, die sie einst gekannt hatte – sogar zu ihrem eigenen Bruder. Nun war ihr, als schlage jemand mit einem Hammer auf diese Mauer ein und versuchte, sie zum Einsturz zu bringen.

Sie umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls und wollte aufstehen, vergaß indes, dass es ein Schaukelstuhl war. Er schwankte bedenklich und sie mit ihm. Ihr wurde schwarz vor Augen. Gewiss hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre gestürzt, hätte Dr. Greaves sie nicht aufgefangen und sie bewegt, sich wieder zu setzen.

„Ganz ruhig“, sagte er und drückte sanft ihren Kopf nach unten. „So ist es gut. Atmen Sie tief durch.“

„Schon in Ordnung“, stieß sie hervor und rang nach Atem. „Ich ... das liegt nur an dieser schrecklichen Hitze.“

„Und an den schrecklichen Nachrichten, möchte ich meinen.“

„Ja, daran natürlich auch.“

„Wir bleiben hier, bis Sie sich wieder erholt haben“, meinte er, „und dann begleite ich Sie zurück zum Haus.“

„Erinnern Sie sich noch an die Nacht von Gracies Geburt, als Sie dieses Haus zum ersten Mal sahen?“, fragte Dr. Greaves etwas später, als er Nell die Stufen der hinteren Veranda hinaufführte – eine von vier Veranden, die das Haus umgaben. Sie wusste, dass die leichte Plauderei, mit der er sie während des Rückwegs unterhalten hatte, vor allem dazu diente, sie von Jamie abzulenken. Genau dieselbe Methode wandte er an – und hatte sie auch ihr beigebracht – um seine Patienten zu beruhigen. „Sie haben es ein Schloss genannt und mochten gar nicht glauben, dass die Hewitts nur sechs Wochen im Jahr hier verbringen.“

„Sie erzählten mir damals, es habe zwanzig Zimmer“, sagte Nell und versuchte, das lähmende, betäubende Gefühl abzuschütteln, das sie befallen hatte. „Tatsächlich sind es vierzig – wenn man die Räume der Dienstboten und die Kinderzimmer im zweiten Stock mitzählt.“

„Nell?“, ließ sich eine britisch getönte Frauenstimme aus dem Haus vernehmen. „Sind Sie das?“

Sie traten in das große, prunkvolle Foyer und sahen Viola Hewitt in ihrem Rollstuhl, scharf umrissen vom Sonnenlicht, das hinter ihr durch ein zweigeschossiges Erkerfenster hereinfiel.

„Mrs. Hewitt“, sagte Nell. „Erinnern Sie sich noch an Dr. Greaves?“

„Wie könnte ich ihn vergessen?“ Viola kam zu ihnen herübergefahren, wobei sie den Stuhl geschickt um zwei wuchtige Ledersofas herumlenkte, die den riesigen Kamin flankierten. Zwischen ihnen lag ein Schaffell, auf dem sich Gracies kleiner rotbrauner Pudel Clancy zusammengerollt hatte und schlief. „Ohne Sie würde unsere Gracie in jener Nacht wohl nicht überlebt haben. Wie schön, Sie wiederzusehen, Dr. Greaves“, sagte sie und reichte ihm die Hand.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits – zumal ich sagen muss, dass Sie sich im Laufe der letzten sechs Jahre kaum verändert haben, Mrs. Hewitt. Sie sehen noch genauso einnehmend aus wie damals.“

Was wie eine bloße Schmeichelei klingen mochte, entsprach jedoch ganz der Wahrheit. Viola Hewitt, schlank und hochgewachsen, graue Strähnen im schwarzen Haar und ernste, tiefgründige Augen, war die beeindruckendste – ja schönste – Frau, der Nell je begegnet war. Von ihren vier Söhnen kam jedoch nur Will nach ihr. Martin, Harry und der verstorbene Robbie waren blond wie ihr Vater.

Auch an diesem Nachmittag trug Viola wieder eines der weich fließenden, seidenen Gewänder, die sie bei Tage bevorzugte, um den Hals eine schwere Türkiskette aus Mexiko, die wohl nur wenige Damen der Bostoner Gesellschaft ihrer würdig genug fänden. Auf ihrem Schoß lag das silberne Brieftablett, das sonst immer auf einer Konsole neben der Eingangstür stand, darauf ein Umschlag und ein aufgefalteter Brief.

„Bleiben Sie zum Abendessen, Dr. Greaves?“, fragte Viola.

„Ich wünschte, ich könnte, doch ich muss heute Nachmittag noch ein paar Hausbesuche machen, weshalb ich mich langsam auf den Weg machen sollte.“

„Dann müssen Sie uns am Freitag die Ehre erweisen. Ich gebe eine kleine Dinnerparty, um die Rückkehr meines Sohnes Harry und seiner frisch angetrauten Braut aus Europa zu feiern. Die beiden sind gerade in Boston, aber sie haben beschlossen, ein paar Tage hier bei uns zu verbringen. Mr. Hewitt will mit ihnen den Zug nehmen, wenn er zum Wochenende kommt. Und auch mein jüngster Sohn Martin wird noch hier sein. Er muss erst am Samstag zurück nach Boston.“

„Welch nette Einladung, Mrs. Hewitt“, meinte er. „Es wäre mir ein Vergnügen, besonders wenn Nell uns auch Gesellschaft leisten würde.“

„Warum nicht? Eileen kann sich an diesem Abend um Gracie kümmern. Und bitte nennen Sie mich doch Viola. Ich finde diese Förmlichkeiten so unnötig.“

„Gern. Wenn Sie mich Cyril nennen.“ Mit einem Lächeln wandte er sich an Nell und fügte hinzu: „Und Sie auch.“

Auf diese plötzliche Wendung wusste Nell zunächst nichts zu erwidern. „Oh, ich ... ich weiß nicht, ob ich mich so rasch daran gewöhnen kann. Macht der Gewohnheit, Sie wissen schon.“

„Versuchen Sie es“, sagte er. „Es würde mich freuen.“

Nell begleitete ihn durch die Eingangshalle hinaus auf die vordere Veranda, wo er leicht ihren Arm berührte und sie leise fragte: „Werden Sie zurechtkommen?“

„Es scheint alles so unwirklich. Und vielleicht ist es das ja. Vielleicht war es gar nicht Jamie. Wenn wir es nur mit Gewissheit herausfinden könnten.“

„Ich denke, dass es die örtliche Polizei war, die ihn identifiziert hat“, sagte er. „Wenn Sie möchten, fahre ich Sie morgen zu dem Hauptwachtmeister, der für East Falmouth zuständig ist. Dann können Sie ihn fragen, wie er zu seinen Schlüssen gekommen ist. Vorausgesetzt, Gracie kann Sie ein paar Stunden entbehren.“

„Eileen wird sich um sie kümmern. Doch, ich würde mich wirklich gern mit dem Konstabler unterhalten. Das ist ein sehr nettes Angebot von Ihnen, Dr. Gr… Cyril.“

Er lächelte sie an. „Sehen Sie? So schwer war es doch gar nicht.“

Sie verabredeten, dass er sie morgen um zehn Uhr abholen würde, dann machte er sich auf den Weg.

„Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht“, meinte Viola, als Nell sich wieder zu ihr gesellte, „aber Sie sehen aus, als würden Sie sich Sorgen machen. Möchten Sie mit mir darüber reden?“

„Es ... es ist wegen meines Bruders Jamie“, sagte Nell. „Oder jemand, der genauso heißt wie er, was zu hoffen aber wahrscheinlich vergeblich ist.“

Viola schien etwas überrascht, dass Nell ihren Bruder zur Sprache brachte – und das mit gutem Grund, hatte Nell doch nie über Jamie gesprochen und auch nie Violas Annahme berichtigt, dass sie sich vor vielen Jahren schon überworfen und keinerlei Kontakt mehr zueinander hätten. Wie sonst hätte sie auch erklären sollen, dass ihre seit elf Jahren währende Trennung weniger mit einem Zerwürfnis als mit Jamies Wunsch zu tun hatte, nichts mit ihr zu tun haben zu wollen? Und was hätte Nell antworten sollen, wenn Viola sich erkundigte, was ihr Bruder denn so mache? Seit seiner Kindheit schlägt er sich als Kleinkrimineller durch, zumeist mit Trickbetrügereien, dem Ausplündern von Betrunkenen und Wegelagerei. Und Taschendiebstahl, worin ich übrigens auch mal sehr gut war. Vermutlich ein Talent, das in der Familie liegt.

„Haben Sie von Ihrem Bruder gehört?“, fragte Viola.

Nell schüttelte den Kopf und senkte den Blick. „Dr. Greaves meint, er wäre bei einem Feuer umgekommen.“

„Oh je, Sie Arme.“ Viola kam herangerollt und griff nach Nells Hand. „Oh, welch schreckliche Neuigkeiten. Das tut mir sehr leid.“

„Ich ... ich kann es noch gar nicht glauben. Vielleicht kann ich das erst, wenn ich morgen mit dem Konstabler gesprochen habe, der ihn identifiziert hat.“

Entschieden faltete Viola den Brief zusammen, den sie in der Hand hielt. „Dann kann das erst mal warten.“

„Was ist das?“, fragte Nell.

„Nichts. Es ist nicht weiter wichtig – nicht jetzt, wo Sie andere Sorgen haben.“

Nells Blick fiel auf den Umschlag, der auf dem silbernen Tablett lag. Der Brief war von angestrengter, fast kindlicher Hand an Mr. und Mrs. August Hewitt adressiert. Und als sie den Absender sah, stockte ihr der Atem: Charles A. Skinner.

„Der ist von Detective Skinner? Warum um alles in der Welt schreibt er Ihnen? Er kennt Sie doch kaum.“

„Er ist nicht mehr ‚Detective‘, wie Sie sich gewiss erinnern. Und nicht mal mehr ‚Constable‘, wie es scheint.“

„Stimmt. Es ist nur Macht der Gewohnheit, ihn so zu nennen, dieses garstige kleine Frettchen.“

Charlie Skinner, einst Angehöriger der – mittlerweile aufgelösten – Bostoner Kriminalpolizei, war Anfang diesen Jahres aufgrund seiner Bestechlichkeit und schwerwiegender Verfehlungen zum uniformierten Streifenpolizisten zurückgestuft worden. Da er nicht einsehen wollte, dass er sich dies ganz allein zuzuschreiben hatte, hatte er Nells Freund Colin Cook, der mittlerweile zum Staatspolizisten aufgestiegen war, beschuldigt, gegen ihn intrigiert zu haben. Sein Hass auf den irischen Polizisten war so groß, dass er gar versucht hatte, Cook einen Mord anzuhängen, den dieser gar nicht begangen hatte. Der Plan war allerdings nach hinten losgegangen – was zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Nell und Will zu verdanken war –, und letzten Monat war Skinner endgültig vom Dienst suspendiert worden.

„Was hat er Ihnen geschrieben?“, fragte Nell.

Viola schien sichtlich bemüht, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. „Es sieht so aus, als hege Mr. Skinner einen ziemlichen Groll gegen Sie, da Sie seinen Fall herbeigeführt haben. Aber darüber sollten Sie sich jetzt keine Gedanken machen, während dieser schwierigen ...“

„Mrs. Hewitt“, unterbrach Nell sie ruhig. „Viola. Bitte.“

Mit düsterer Miene schaute Viola von Nell zu dem Brief. „Setzen Sie sich, meine Liebe“, meinte sie und deutete auf eines der beiden Sofas.

„Mein Badekleid ist nass. Ich möchte nicht, dass ...“

„Setzen Sie sich, Nell.“

2. Kapitel

Nell fröstelte es in ihren nassen Badekleidern, doch sie setzte sich. Viola faltete den Brief wieder auseinander und reichte ihn ihr.

Boston

Freitag, 29. Juli 1870

Sehr geehrter Sir, sehr geehrte Madame,

Sie werden sich gewiss wundern, warum ich, der ich kaum mit Ihnen bekannt bin, dieses Schreiben zu Papier bringe. Zur Erklärung lassen Sie mich erklären, dass ich bis kürzlich, das heißt bis zum 9. Juli, als Konstabler im Dienste der Stadt Boston stand, was Mrs. Hewitt bekannt sein dürfte, die mir zwar nicht wohlgesonnen ist, die ich aber dennoch bitten möchte, den Inhalt meines Schreibens zur Kenntnis zu nehmen. In den Tagen vor meiner Enthebung war ich mit Ermittlungen befasst, wie sie mit meinen konstabulatorischen Pflichten einhergehen und welche kurzerhand von den fehlgeleiteten Machenschaften jenes irischen Frauenzimmers durchkreuzt wurden, welches Sie als Gouvernante beschäftigen, und in deren Folge ich wie gesagt meiner Pflichten enthoben wurde.

Wie ich zu verstehen gemeint habe, erfreut sich besagte Miss Sweeney Ihrer höchsten Wertschätzung – ist aber keineswegs eine „Miss“, wie ich Ihnen gleich erklären werde...

Jäh schaute Nell auf. Viola saß vor dem großen, hohen Erkerfenster. Sie kehrte ihr den Rücken zu und hatte den Blick hinaus auf den geschmackvoll natürlich angelegten Rasen im Norden und die Bucht im Osten gerichtet. Nell wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Worte kaum mehr entziffern konnte.

Wie ich zu verstehen gemeint habe, erfreut sich besagte Miss Sweeney Ihrer höchsten Wertschätzung – ist aber keineswegs eine „Miss“, wie ich Ihnen gleich erklären werde –, weshalb es nun mir zufällt, als einem Mann von Anstand und Aufrichtigkeit, den es zürnt zu sehen, wie anständige Leute wie Sie von einer intriganten Irin irregeleitet werden, Ihnen mitzuteilen, dass besagte „Miss“ Sweeney keineswegs ist, was sie zu sein scheint. Am 8. Juli hatte ich im Zuge meiner zuvor erwähnten konstabulatorischen Pflichten Gelegenheit zu beobachten, wie „Miss“ Sweeney Ihr Haus an der Tremont Street verließ und sich eine Mietdroschke nahm, wobei ihr auffälliges Verhalten mein Interesse in dem Maße erregte, dass ich ihr in meinem Gig in einiger Entfernung über den Fluss bis nach Charlestown folgte.

Die Droschke hielt beim Staatsgefängnis in Charlestown, wo der Kutscher vor dem Tor wartete, während „Miss“ Sweeney das Gefängnis betrat, wo sie sich von ein Uhr mittags bis um halb zwei aufhielt. Als sie wieder herauskam und in die Kutsche stieg, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass ihr Gesicht gerötet und ihre Garderobe derangiert war. Womit ich sagen will, dass ihr Hut schief saß und die Rückseite ihres Kleides sichtlich beschmutzt war.

Sie können sich meine Mutmaßungen dahingehend vorstellen, was dieser Besuch wohl bedeuten sollte. Als ich mich zwei Tage darauf beträchtlicher Zeit zur freien Verfügung erfreute, machte ich mich daran, Nachforschungen über die Natur besagten Besuches anzustellen. Da meine Nachforschungen durch meine Enthebung und meinen ramponierten Ruf nicht unerheblich behindert wurden, brauchte ich eine Weile, um der Sache auf die Spur zu kommen. Aber letztlich erschloss sich mir die Wahrheit, welche da lautet, dass „Miss“ Sweeney MRS. Sweeney ist – Ehefrau von Duncan Sweeney, der sich bewaffneten Raubüberfalls und schwerer Körperverletzung schuldig gemacht hat und seit zehn Jahren in Charlestown einsitzt und noch weitere zwanzig vor sich hat.

Wissend, dass anständige Leute wie Sie derlei dreiste TÄUSCHUNG nicht dulden können und wollen, brachte ich dieses Schreiben zu Papier, damit Sie wissen, wie sehr man Sie hintergangen und getäuscht hat, und entsprechend handeln können, womit ich meine, dass Sie MRS. Sweeney unverzüglich entlassen sollten. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wohl kaum verkommeneres Gesinde an unsere Gestade gespült wurde als besagte Betrügerin.

Hochachtungsvoll,

Charles A. Skinner

Als Nell den Brief sinken ließ, stand ihr kalter Schweiß im Gesicht. Bitte, St. Dismas, bitte lass das nicht wahr sein. Ich darf sie nicht verlieren. Ich darf Gracie nicht verlieren.

Sie legte sich die Hand auf den Bauch, der sich bedrohlich hob und senkte, und spürte bittere Galle aufsteigen. „Oh Gott“, stieß sie erstickt hervor.

Mit einem Satz war sie aufgesprungen, rannte durch die Garderobe und den Dienstbotenkorridor zu dem kleinen Badezimmer neben der Wäschekammer, beugte sich über das Wasserklosett und entleerte ihren Magen. Schwerfällig stand sie auf, zog die Spülung, wusch sich den Mund aus und betrachtete sich prüfend im Toilettenspiegel. Ihr Gesicht sah wächsern aus, ihre Augen blickten panisch. Sie riss sich die alberne Badehaube vom Kopf und strich sich mit zitternden Händen das zum Zopf gebundene rotbraune Haar glatt, das noch immer nass vom Baden war.

„Lieber Gott, steh mir bei“, flüsterte sie und ging auf wackeligen Beinen zurück in die große Eingangshalle.

Viola saß mit dem Brief in der Hand da und beobachte Nell mit ernstem Blick. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Nell nickte, obwohl natürlich gar nichts in Ordnung war. „Es ist die Hitze“, sagte sie matt und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. „Diese vermaledeite Hitze.“

„Und dieser Brief, möchte ich meinen. Aus Ihrer Reaktion schließe ich, dass es stimmt.“

Nell sank vor Viola auf die Knie. In so kurzer Zeit gleich von zwei schlechten Nachrichten ereilt zu werden, hatte sie aller Kraft beraubt. „Es tut mir leid, Mrs. Hewitt“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Es tut mir leid. Ich ... ich hatte Sie nie täuschen wollen. Das wollte ich nicht. Es war mir zuwider, es war mir schon immer zuwider. Aber ich ... ich wusste, dass ich niemals Gracies Gouvernante hätte werden können, wenn Sie gewusst hätten, dass ich verheiratet war – zumal mit jemandem wie Duncan.“

„Weiß Will davon?“, fragte Viola, die an sich nicht mehr wusste – nicht mehr wissen konnte