Nell Sweeney und die Spur des Todes - P. B. Ryan - E-Book
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Nell Sweeney und die Spur des Todes E-Book

P.B. Ryan

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Beschreibung

Gouvernante mit Herz und Detektivin aus Leidenschaft – Nell Sweeneys erster Fall
Spannender historischer Krimi für Fans von Annis Bell und Robert C. Marley

Boston, 1868: In düstere Armut hineingeboren, besitzt die junge Nell Sweeney kaum mehr als ihren Scharfsinn. Doch ihr Schicksal wandelt sich, als sie die Stelle als Gouvernante der unglaublich reichen Familie Hewitt antritt. Aber schnell begreift sie, dass unter einer vergoldeten Oberfläche auch hässliche Geheimnisse lauern können …
Als die Hewitts erfahren, dass ihr ältester Sohn William, früherer Militärarzt und schwarzes Schaf der Familie, gar nicht tot ist, währt die Freude nur kurz. Denn William sitzt im Gefängnis, weil er im Opium-Rausch einen Mann getötet hat. Von der Schuld seines Sohnes überzeugt, verbietet August Hewitt seiner Frau, Will zu helfen. In ihrer Verzweiflung bittet sie Nell, William zu entlasten. Dafür muss Nell erneut in die dunkle und heimtückische Unterwelt eintauchen, der sie entflohen war. Wird sie es schaffen, die Wahrheit aufzudecken bevor sich des Henkers Strick um William Hewitts Hals legt?

Erste Leserstimmen
„Die Geschichte hat mich sehr positiv überrascht.“
„Nell Sweeney ist eine sehr sympathische und kluge junge Frau, die ich gleich ins Herz schließen konnte.“
„Es hat mir Freude gemacht, Nell bei ihren Ermittlungen zu begleiten.“
„Bis zum Schluss konnte ich das Ende nicht vorhersehen.“
„Die Geschichte lässt sich gut und flüssig lesen, außerdem hat mir der historische Hintergrund gut gefallen.“

Weitere Titel dieser Reihe
Nell Sweeney und der dunkle Verdacht (ISBN: 9783960877561)
Nell Sweeney und die blutrote Wahrheit (ISBN: 9783960877578)

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Seitenzahl: 487

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Über dieses E-Book

Boston, 1868: In düstere Armut hineingeboren, besitzt die junge Nell Sweeney kaum mehr als ihren Scharfsinn. Doch ihr Schicksal wandelt sich, als sie die Stelle als Gouvernante der unglaublich reichen Familie Hewitt antritt. Aber schnell begreift sie, dass unter einer vergoldeten Oberfläche auch hässliche Geheimnisse lauern können …Als die Hewitts erfahren, dass ihr ältester Sohn William, früherer Militärarzt und schwarzes Schaf der Familie, gar nicht tot ist, währt die Freude nur kurz. Denn William sitzt im Gefängnis, weil er im Opium-Rausch einen Mann getötet hat. Von der Schuld seines Sohnes überzeugt, verbietet August Hewitt seiner Frau, Will zu helfen. In ihrer Verzweiflung bittet sie Nell, William zu entlasten. Dafür muss Nell erneut in die dunkle und heimtückische Unterwelt eintauchen, der sie entflohen war. Wird sie es schaffen, die Wahrheit aufzudecken bevor sich des Henkers Strick um William Hewitts Hals legt?

Impressum

Erstausgabe 2003 Überarbeitete Neuausgabe Juni 2019

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-755-4

Copyright © 2003 by Patricia Burford Ryan Titel des englischen Originals: Still Life with Murder

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit Patricia Burford Ryan.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© für die deutsche Übersetzung erschienen im CORA-Verlag in der Reihe HISTORICAL, 2007 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2011, HarperCollins Germany GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2011 bei HarperCollins Germany GmbH erschienenen Titels Dunkel wie die Spur des Todes (ISBN: 419-7-46540-450-7).

Übersetzt von: Alexandra Kranefeld Covergestaltung: Rose & Chili Design dp DIGITAL PUBLISHERS Korrektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 20.03.2023, 13:46:27.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Nell Sweeney und die Spur des Todes

Ein schlechtes Gewissen ist ein nagender Wurm,

der niemals endet.

Nicholas Ling,Politeuphuia (1597)

Prolog

September 1864 Cape Cod, Massachusetts 

„Das wird schlimm …“ Dr. Greaves sagte es so leise, dass Nell, die ihm im schwarzen Brougham der Hewitts gegenübersaß, ihn fast nicht gehört hätte. Mit ihrem Schal wischte sie über das beschlagene Kutschenfenster. Draußen peitschte der Wind die Bäume vor einem violetten Himmel, Regen schlug gegen die Scheibe. „Das Gewitter?“, fragte sie. „Oder …“ Ihr Blick fiel auf die Holzschatulle mit chirurgischen Instrumenten, die neben ihm lag, auf die Arzttasche zu seinen Füßen.

„Die Geburt“, sagte er. „Und das Gewitter.“ Im grellen Licht eines Blitzes schien ihr sein Gesicht auf einmal alt, was ihr bislang nie aufgefallen war, wenngleich er fast doppelt so viele Jahre zählte wie sie. Cyril Greaves war rank und schlank, das Haar kaum ergraut. Und dann waren da seine gütigen Augen, das freundliche Lächeln.

An diesem Abend lächelte er indes nicht.

„Es muss schlimm stehen, wenn sie jemanden nach East Falmouth geschickt haben, um mich hinzuzuziehen. Familien wie die Hewitts stellen ihren Zimmermädchen keine Ärzte. Hilfe wird erst im allerletzten Moment geholt, doch dann ist es meist zu spät.“

Schweigend blickte er hinaus, und sie tat es ihm nach. Ein gleißender Blitz fuhr vom finsteren Himmel herab, grollender Donner ließ die Kutsche erbeben. Wenn sie morgen nicht zu erschöpft war, wollte sie die sturmgepeitschte Landschaft im Bild festhalten. Auf Dr. Greaves' bestem Papier, mit kräftig hingetuschten Strichen – schwarz die Bäume, grau laviert der Himmel.

Brady, der Kutscher der Hewitts, hielt vor einem hohen schmiedeeisernen Tor, das von zwei Männern in langen Pelerinen geöffnet wurde. Am holzverschindelten Pförtnerhaus vorbei fuhren sie eine lange, gewundene Auffahrt hinauf, an deren Ende im Gewitterschein ein selbst aus der Ferne imposant wirkendes Haus zu erkennen war, mit einer Vielzahl kleiner Türme und steiler Giebeldächer.

„Das ist Falconwood“, sagte Dr. Greaves mit feinem Lächeln, als er ihren ungläubigen Blick bemerkte. „Die Familie verbringt jeden Sommer sechs Wochen hier, meist von Mitte Juli bis Ende August. Komisch eigentlich, dass sie nicht längst abgereist sind.“

„Sechs Wochen? Dieses … Schloss für gerade mal sechs Wochen?“

„Die Hewitts nennen es ihr Sommer-Cottage. Es hat zwanzig Zimmer, die hinteren mit Blick auf die Waquoit Bay.“

Nell dachte an die armselige Behausung, in der sie aufgewachsen war, an die zwei winzigen Zimmer, die sie sich während der ersten elf Jahre ihres Lebens mit ihrer ganzen Familie hatte teilen müssen.

Ihre Gedanken mussten ihr anzusehen gewesen sein. „Nell“, meinte Dr. Greaves leise. „Gerade du solltest wissen, dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht. Und doch machst du deinen Weg. Die meisten Menschen folgen der einmal festgelegten Bahn, wohin sie auch führen mag. Manche hingegen schlagen sich einen neuen Pfad durchs Dickicht des Lebens und gelangen so hinauf zu lichten Höhen. Du gehörst zu Letzteren.“

Das Hufgeklapper lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zum Haus, dem sie sich in weitem Bogen näherten. Wie das Pförtnerhäuschen war es mit silbrig grau verwitterten Holzschindeln verkleidet.

„Seit zwanzig Jahren verbringen die Hewitts den Sommer am Cape.“ Dr. Greaves suchte Arzttasche und Instrumentenkasten zusammen. „Wahrscheinlich mögen sie die ruhige Abgeschiedenheit, denn fashionabel ist die Gegend nicht gerade. Ihr Haus in Boston hingegen liegt an der Colonnade Row.“

„Colonnade Row?“

„Der eleganteste Abschnitt der Tremont Street, mit prächtigen Stadtvillen, die Falconwood wie ein Gartenhaus aussehen lassen.“ Dr. Greaves ging auf all ihre Fragen ein, ohne sich jemals über ihre Unwissenheit lustig zu machen. In den vier Jahren, die Nell schon bei ihm war, hatte sie mehr gelernt als in all der Zeit zuvor. „August Hewitt ist ein typischer Vertreter der Bostoner Oberschicht, vielleicht noch etwas bigotter als in diesen Kreisen üblich. Seine Frau ist Engländerin, sie haben mehrere Söhne, aber bis auf den jüngsten, den ich jeden Sonntag mit seinem Vater in der Kirche sehe, waren sie während der letzten Sommer nicht mehr mit von der Partie. Wahrscheinlich sind sie im Krieg.“

Die Kutsche hielt hinter dem Haus, vor einem Anbau mit gläserner Kuppel. Brady sprang vom Bock, spannte einen großen schwarzen Schirm auf und half Nell aus dem Brougham. „Ich lass Sie durch den Wintergarten rein“, rief er über das Prasseln des Regens hinweg. Sein breiter irischer Akzent war ihr schon vorhin aufgefallen. „Vor dem Haus ist alles überschwemmt. Hoppla – passen Sie auf, Miss, dass Sie nicht in die Pfütze treten.“

Mit einer Laterne ging er ihnen voraus in den dunkel daliegenden Wintergarten, in dem Nell exotische Pflanzen vermutet hätte, doch stattdessen sah sie …

Gemälde? Staunend folgte sie dem Kutscher zwischen den auf Staffeleien stehenden Leinwänden hindurch. Einige Seestücke zeigten die Waquoit Bay, ein oder zwei Stillleben waren zu erkennen, aber auf den meisten Bildern waren Porträts – keine formalen Porträts, sondern natürliche Darstellungen elegant gekleideter Menschen in opulentem Ambiente. Juwelen funkelten, Seide schimmerte, wenn diese erhabenen Geschöpfe im Licht von Bradys Laterne kurz Gestalt annahmen, ehe sie sich wieder im Dunkel verloren.

Am faszinierendsten fand Nell indes die Bildnisse dreier junger Männer, die immer wieder auftauchten, wahre Lichtgestalten mit ihrem goldblonden Haar, ihren strahlenden Gesichtern voll sorgloser Zuversicht, ihrer lässigen Eleganz. Zweifelsohne die Söhne des Hauses.

Auf einem Tisch lagen eine mit getrockneten Ölfarben verkrustete Palette und zerknäuelte Lappen, daneben stand ein Glas mit Pinseln. Skizzenblätter waren an die Querstrebe einer Staffelei geheftet. Ein schwacher Hauch von Leinöl und Terpentin hing in der Luft.

„Hier“, sagte Dr. Greaves zu Nell und zeigte auf eines der Bilder. „Den sehe ich öfter in der Kirche.“

„Aye, der junge Master Martin – ein ganz Frommer.“ Brady zwinkerte Nell zu, als er ihr durch eine hohe Kassettentür den Vortritt ließ. „Für einen Episkopalen.“

Nell zwinkerte zurück. Wenngleich sie nicht fand, dass sie besonders irisch aussah, hatte sie sich längst daran gewöhnt, von ihren alten Landsleuten stets erkannt zu werden.

„Ich soll Sie zu Mrs Mott bringen“, sagte Brady und führte sie in die große, nur spärlich beleuchtete Küche. „Das ist die Haushälterin.“ Er zog am Klingelzug und zeigte auf den hell erleuchteten Flur hinaus. „Sie haben Annie nach nebenan ins Zimmer der Köchin gebracht. Annie MacIntyre – die Kleine, die das Kind bekommt. Normalerweise schläft sie oben bei den anderen Mädchen, aber als es so weit war, dachte Mrs Hewitt wohl, dass sie hier unten mehr Ruhe hat.“

Wie aus dem Nichts tauchte eine ältere Frau auf, die so hart und farblos wirkte wie eine Bleistiftskizze. Sie hatte ein blasses, bebrilltes Gesicht, graues, straff zurückgebundenes Haar und hielt die bleichen, knochigen Hände vor dem Bauch verschränkt. Ein schweres Schlüsselbund hing am Gürtel ihres schmucklosen schwarzen Kleides.

„'n Abend, Mrs Mott“, brummte Brady. „Ich geh mal Pater Donnelly holen. Wenn ich Sie nachher zurückfahren soll, Doc, sagen Sie Bescheid.“

„Machen wir. Danke, Brady.“

„Hier entlang.“ Mrs Mott drehte sich um und führte sie den Flur hinab, an dessen Ende ein junges Mädchen auf einem Schemel hockte. Unter ihrer weißen Haube stahlen sich ein paar rote Strähnen hervor. Missmutig kaute sie an ihrem Daumennagel.

„Mary Agnes“, fuhr Mrs Mott sie an und blieb vor einer verschlossenen Tür stehen. „Solltest du nicht oben sein und die Betten aufdecken?“

„Mrs Bouchard will mich hier haben. Für alle Fälle.“

„Du unterstehst aber nicht Mrs Bouchard, sondern mir. Und hör gefälligst auf …“

„Oh Gott.“ Hinter der Tür erklang das Stöhnen einer Frau. Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie sehr jung. Die Stimme einer weiteren Frau ließ sich vernehmen, doch ihre Worte wurden von einem gellenden Schrei übertönt. Entsetzt wich Mrs Mott zurück. Mary Agnes starrte an die Decke und kaute weiter an ihrem Daumennagel.

Dr. Greaves klopfte. „Hier ist Cyril Greaves, der Arzt. Dürfte ich …“

Die Tür wurde aufgerissen. „Gott sei Dank.“ Eine kräftige Negerin mit rundem Gesicht und grauem, wie Raureif wirkendem Haar trat zur Seite, um sie hereinzulassen. „Ich bin Mrs Bouchard, Mrs Hewitts Krankenschwester. Sie hat mich um Hilfe gebeten.“

Falls der Doktor Nells Neugierde teilte, weshalb Mrs Hewitt eine Krankenschwester brauchte, so ließ er es sich nicht anmerken. Er dankte Mrs Bouchard und trat an das schmale Bett. Ehe Nell die Tür hinter ihnen schloss, sah sie Mrs Mott so lautlos wie ein Gespenst den Flur hinabhuschen.

Dr. Greaves beugte sich über die blonde junge Frau, die ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah, und fühlte ihr die Stirn. „Und, wie läuft es, Annie?“

„N…nicht so gut“, keuchte sie. „Irgendwas stimmt da nicht.“

„Das Kleine liegt quer, Doktor“, sagte Mrs Bouchard. „Vor vierzehn Stunden haben die Wehen eingesetzt, aber es rührt sich nicht.“

Dr. Greaves zog sich den Rock aus und reichte ihn Nell, die ihn zusammen mit ihrer Haube und ihrem Umhang auf einen Stuhl in der Ecke des kleinen, sehr reinlichen Zimmers legte. Er krempelte sich die Ärmel hoch und deutete auf die Waschschüssel. „Ist das Wasser sauber?“, fragte er Mrs Bouchard.

„Ich habe es abgekocht.“

„Annie“, sagte er, während er sich die Hände einseifte und sie gründlich abspülte, „ich werde dich jetzt untersuchen, aber es tut nicht weh. Diese junge Dame“, er deutete auf Nell, die gerade dabei war, das Bettzeug von unten her aufzudecken, „ist meine Assistentin Nell Sweeney. Vermutlich seid ihr im gleichen Alter.“

„Lassen Sie mich raten.“ Lächelnd setzte Nell sich zu Annie auf das Bett. „Zwanzig?“

„Zweiundzwanzig.“

„Genau wie ich.“

Annie verzog das Gesicht und warf den Kopf zurück. „Nein …“, stöhnte sie.

„Sie schaffen das“, machte Nell ihr Mut, hielt ihre Hand und strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn. „Bald ist es ausgestanden, und dann haben Sie ein schönes Baby, das …“

„Oh Gott“, schrie Annie heiser und zitterte am ganzen Leib, als die Wehe endlich nachließ. Sie schien mit ihren Kräften am Ende.

„Erzählen Sie mir von Ihrem Mann.“ Nell war der Ehering an Annies Hand aufgefallen, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, nicht mehr Wo ist Ihr Mann? zu fragen, da er auf einem Schlachtfeld irgendwo in den Südstaaten gefallen sein könnte.

„Er … er …“ Annie schnappte nach Luft und starrte herunter auf Dr. Greaves, der vermutlich gerade die Untersuchung begann.

„Annie, schauen Sie mich an“, drängte Nell sanft. „Wie heißt er?“

„M…Michael. Aber …“ Annie schluckte schwer. „Aber alle nennen ihn Mac – von MacIntyre.“

„Er ist einer unserer Kutscher“, kam es von Mrs Bouchard, die einen Stapel sauberer Tücher auf die Kommode legte. „Oder vielmehr war, ehe er sich zur Armee gemeldet hat.“

„Elftes R… Regiment“, stieß Annie hervor.

„Hat im Mai bei Spotsylvania sein Bein verloren und liegt seitdem im Lazarett“, sagte Mrs Bouchard. „Aber nächsten Monat kommt er nach Hause, hat er geschrieben.“

Nell lächelte. „Dann sehen Sie ihn ja bald!“

Annie warf den Kopf auf dem Kissen hin und her. „Ich sterbe! Da stimmt was nicht.“

„Annie“, sagte Dr. Greaves ruhig. „Ich will ganz offen sein: Es gibt tatsächlich ein Problem. Aber keine Sorge, ich kann es beheben.“ Er winkte Nell herbei. „Sehen Sie sich das mal an, damit Sie bei einem ähnlichen Fall künftig Bescheid wissen. Hier, fällt Ihnen auf, wie weit sich ihr Unterleib in die Breite streckt?“

Er legte ihre Hände zu beiden Seiten an Annies sich unter dem Leinenhemd wölbenden Bauch.

„Spüren Sie das?“, fragte er. „Auf der einen Seite der Kopf, auf der anderen der Steiß, ungünstiger kann ein Kind bei der Geburt gar nicht liegen. Die Nabelschnur ist zudem vorgelagert.“ Er zog die Bettdecke wieder herab und wandte sich zu Mrs Bouchard um. „Wann ist die Fruchtblase geplatzt?“

„Im Morgengrauen, gleich bei den ersten Wehen.“

„Ich muss operieren, so schnell wie …“

„Operieren!“, rief Mrs Bouchard.

„Oh Gott“, stöhnte Annie. „Sie wollen es mir rausschneiden? Dann sterb ich wirklich!“

„Annie.“ Dr. Greaves sah sie ernst an. „Wenn du versuchst, es auf normalem Wege zur Welt zu bringen, wird die Gebärmutter reißen, und das würden weder du noch das Kind überleben. Ich nehme Chloroform. Du wirst während der Operation schlafen.“

„Aber …“ Mrs Bouchard warf ihm einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie ganz genau wusste, was mit Frauen passierte, bei denen ein Kaiserschnitt vorgenommen wurde.

„Ich war mit dieser Methode schon oft erfolgreich“, versicherte ihr Dr. Greaves. „Man muss die Gebärmutterwand nur ordentlich vernähen. Und wenn man sauber arbeitet, gibt es auch keine Infektionen. Haben Sie Erfahrung mit Operationen, Mrs Bouchard?“

Sie reckte das Kinn. „Mein Vater war Arzt, in New Orleans. Ich habe ihm bei Hunderten Eingriffen assistiert. Keine Sorge, ich falle schon nicht in Ohnmacht.“

„Gut. Dann werden Sie und Nell mir beide zur Hand gehen.“

„W…was heißt denn 'erfolgreich'?“, fragte Annie. „Es sterben doch immer noch welche dabei, oder?“

Dr. Greaves' Zögern war Antwort genug. „Es ist deine einzige Chance, Annie. Du bist jung und stark. Ich wüsste nicht, warum du es nicht schaffen solltest, und … das Kind schafft es meistens.“

„Tun Sie's“, flüsterte das Mädchen. „Aber erst muss ich noch mit …“ Sie jaulte vor Schmerz, als die nächste Wehe nahte. „Schicken Sie nach …“

Mrs Bouchard tätschelte ihr die Hand. „Pater Donnelly ist schon …“

„Mrs Hewitt. Ich muss mit M… Mrs Hew…“ Der Rest ging in einem markerschütternden Schrei unter.

Nell hielt ihr die Hände und redete beruhigend auf sie ein, bis die Schmerzen nachgelassen hatten. Dann meinte Mrs Bouchard: „Tut mir leid, Annie, aber ich kann Mrs Hewitt zu so später Stunde nicht stören. Wenn du ihr etwas mitteilen willst, sag es mir, und ich werde ihr …“

„Nein!“ Annie bebte am ganzen Leib. „Ich muss selbst mit ihr sprechen. Allein.“

„Kommt gar nicht infrage“, beschied Mrs Bouchard. „Nach allem, was die arme Frau in letzter Zeit durchmachen musste, hat es ihr gerade noch gefehlt, dass …“

„Sonst lasse ich mich nicht operieren.“

Die Krankenschwester seufzte schwer. „Annie …“

„Tun Sie ihr den Gefallen“, bat Dr. Greaves leise.

Mit rauschenden Röcken marschierte Mrs Bouchard hinaus.

„Wir werden in der Küche operieren“, sagte der Doktor zu Nell, „auf dem großen gekachelten Tisch. Versuchen Sie, jemanden aufzutreiben, der uns eine Trage improvisieren kann. Das Gas muss aufgedreht werden, und ein paar zusätzliche Lampen brauchen wir auch. Hier.“ Er reichte ihr eine eckige Flasche aus seiner Arzttasche. „Sie wissen, was zu tun ist. Lassen Sie sich von dem jungen Ding da draußen helfen.“

„Was ist das denn?“ Mary Agnes rümpfte die Nase. Von dem Tuch, mit dem sie den Tisch abwischen sollte, stieg ein beißender Geruch auf.

„Karbolsäure“, sagte Nell und schrubbte ein großes Tablett sauber, um nachher die chirurgischen Instrumente daraufzulegen. „Damit bekommt man den Tisch so sauber wie nur irgend möglich.“

„Wozu denn, wenn er sie aufschneidet? Dann wird doch sowieso alles wieder dreckig.“

„Der Doktor sagt, dass es hilft.“

„Sind Sie auch Krankenschwester, so wie Mrs Bouchard?“

„Nein, nicht wie Mrs Bouchard. Dr. Greaves hat mir zwar viel beigebracht, aber meistens begleite ich ihn nur bei Visiten, führe seine Bücher, putze und koche …“

„Hat er dafür keine Frau?“

„Seine Frau ist schon eine Weile krank.“ So hatte Dr. Greaves es ausgedrückt – eine Krankheit. Doch Nell wusste, dass die Bostoner „Klinik“, in der Charlotte die letzten acht Jahre zugebracht hatte, in Wahrheit eine, wenngleich fortschrittliche, Irrenanstalt war.

„Was zahlt er denn?“, wollte Mary Agnes wissen. „Oder gibt es nur Kost und Logis?“

„Kost und Logis“, antwortete Nell. „Aber dafür bringt er mir auch viel bei. Nicht nur Heilkunde, auch Geschichte, Musik und gutes Benehmen. Von ihm habe ich gelernt, richtige Bücher zu lesen und einen ordentlichen Brief zu schreiben, mit Zahlen umzugehen und …“

Mary Agnes räusperte sich und begann schneller zu schrubben. Sie fing Nells Blick auf und sah dann vielsagend zur Tür.

Nell drehte sich um. Eine Dame im Rollstuhl kam in die Küche gefahren. So etwas hatte sie bislang nur auf Bildern gesehen. Mrs Hewitt bewegte den gepolsterten Holzstuhl eigenhändig voran, wenngleich Mrs Bouchard hinter ihr ging und sie wohl hätte schieben können.

Obwohl sie im Rollstuhl saß, wirkte Viola Hewitt sehr groß. Sie hatte vornehme Züge und schwarzes, grau gesträhntes Haar, das ihr zu einem Zopf geflochten über die Schulter hing. Statt eines Morgenmantels trug sie über ihrem Nachthemd eine purpur- und goldfarbene Seidenrobe, die aussah wie die Gewänder der Frauen in Dr. Greaves' Buch mit den japanischen Holzschnitten. Kimonos hatte er sie genannt. Trotz ihres Alters und ihres Gebrechens war Mrs Hewitt eine ansehnliche Frau, geradezu beeindruckend, doch aus ihren Augen, dem Zug um ihren Mund, aus ihrer ganzen Haltung sprach eine Traurigkeit, die ihr wahre Schönheit absprach.

Mrs Hewitt bedachte Nell mit einem kurzen Blick, als sie, dicht gefolgt von Mrs Bouchard, durch die Küche zum hinteren Flur rollte. Die Räder des Rollstuhls ratterten über den Steinboden, zwei Stöcke mit beinernen Griffen und ein Nähbeutel hingen über der Lehne.

„Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt“, sagte Nell, sowie sie außer Hörweite waren. „Sind ihre Söhne nicht blond?“

„Die drei jüngeren.“ Mary Agnes lächelte versonnen. „So gut aussehende Männer. Wie Engel. Aber sie kommen nach Mr Hewitt. Der hatte früher ganz hellblondes Haar. Jetzt wird es langsam weiß, doch man sieht den Unterschied kaum.“

Nell musste an eines der Gemälde denken, die sie im Wintergarten gesehen hatte: das Bildnis eines sehr distinguierten älteren Herren, Hut und Handschuhe in der einen, den Spazierstock in der anderen Hand. Das Haar schimmernd wie poliertes Silber, die blauen Augen strahlend hell, die Haltung majestätisch und Ehrfurcht gebietend: August Hewitt.

Kurz darauf betraten Dr. Greaves und Mrs Bouchard die Küche. Mrs Hewitt hatte darauf bestanden, unter vier Augen mit Annie zu sprechen. Mary Agnes wurde losgeschickt, drei saubere Schürzen zu holen und so viele frisch gewaschene Tücher, wie sie nur tragen konnte. Nell machte sich daran, die Instrumente mit Karbolsäure zu reinigen: Skalpelle, Lanzettmesser, Wundspreizer, Arterienklemmen …

Vom Flur her drang ersticktes Schluchzen an ihr Ohr, das bei dem gegen die Scheiben prasselnden Regen und dem Zischen der Gaslampen kaum zu hören war. Zunächst dachte Nell an eine weitere Wehe, doch bald war offenkundig, dass Annie weinte.

„Was fällt diesem Mädchen ein, der armen Frau noch mehr Kummer zu bereiten?“, schimpfte Mrs Bouchard und breitete ein Laken über den Tisch. „In den letzten Wochen ist sie um Jahre gealtert.“

„Warum?“ Erst als sie Dr. Greaves' mahnenden Blick auf sich spürte, wurde Nell sich ihrer Taktlosigkeit bewusst. Sie stellte zu viele Fragen, das sagte er ihr immer wieder. Manchmal, so seine Ansicht, erfahre man mehr, wenn man einfach nur still zuhöre.

Mrs Bouchard schien sich glücklicherweise nicht daran zu stören. „Die Hewitts haben ihre beiden ältesten Söhne verloren – beide, binnen zwei Tagen. Im Februar wurden sie bei Olustee gefangen genommen und nach Georgia gebracht.“

„Sie meinen … nach Andersonville?“, fragte Dr. Greaves entsetzt. Sogar Nell, der wenig Zeit blieb, die Nachrichten zu verfolgen, hatte von dem berüchtigten Gefangenenlager der Konföderierten gehört. Es musste die Hölle auf Erden sein.

Mrs Bouchard nickte und betupfte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. „Letzten Monat sind sie gestorben, an der Ruhr, alle beide. Das muss man sich mal vorstellen! Herrgott, wie schrecklich, so elendiglich umzukommen.“

„Beide Söhne dienten im selben Regiment?“ Nell legte die desinfizierten Instrumente bereit. Wenn Dr. Greaves Fragen stellte, konnte sie das wohl auch.

„Ja. Sie hatten sich zur Berittenen Infanterie gemeldet – Will, der Ältere, allerdings als Feldarzt.“

„Er war Arzt?“ Dr. Greaves, der sich am Spülstein die Hände wusch, sah sich fragend um.

„Gerade mit dem Studium fertig, drüben in Schottland. Medizin an der Universität von Edinburgh.“

Mary Agnes kam mit einem schwankenden Stapel frischen Linnens zurück, obenauf drei Schürzen, von denen Mrs Bouchard zwei an Dr. Greaves und Nell verteilte und eine für sich behielt. „Seit sie die Nachricht erhielt, ist die arme Mrs Hewitt kaum noch wiederzuerkennen. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich davon nicht unterkriegen lassen. Immerhin hat sie ja noch Harry und Martin – das sind die beiden jüngeren Söhne. Sie hatte gerade ein Porträt von den beiden angefangen, als das Kabel wegen Robbie und Will kam. Keinen Pinselstrich hat sie seitdem mehr gemacht.“

„Martin ist der Jüngste?“ Dr. Greaves streckte die Arme aus, damit Nell ihm in die Schürze helfen konnte. „Der, den man häufiger mal in der Kirche sieht?“

Mrs Bouchard nickte. „Er war Feuer und Flamme für den Krieg, wollte sich gleich nächsten Monat, wenn er achtzehn ist, melden, aber sein Vater hat es ihm verboten. Meinte, es würde seine Mutter umbringen, wenn sie noch einen Sohn verliert. Mr Hewitt hat ein paar Strippen gezogen und Martin in Harvard untergebracht, damit er zu Hause bleiben kann. Deshalb ist er auch schon wieder in Boston, um nicht so viel vom ersten Semester zu verpassen.“

„Und Harry?“, fragte Nell.

Mrs Bouchard strich das Laken auf dem Tisch glatt. „Oh, Master Harry wird in der Tuchfabrik seines Vaters oben in Charlestown gebraucht.“

Das klang, als hätte Harry Hewitt sich, wie so viele Söhne aus gutem Hause, dafür entschieden, den Krieg auszusitzen und lieber seine Nachbarn und Diener – oder eben seine Brüder – kämpfen zu lassen.

Aus dem Wintergarten waren Stimmen zu hören. Nell machte Pater Donnelly, ihrem beleibten und schon recht betagten Gemeindepfarrer, die Tür auf und nahm ihm seinen völlig durchnässten Mantel ab.

„Sie werden einen Moment warten müssen, Pater“, sagte Mrs Bouchard. „Mrs Hewitt und Annie haben …“

„Mrs Hewitt und Annie haben genug geredet“, entschied Dr. Greaves. „Wenn ich mit der Operation noch länger warte, ist es zu spät. Pater, meinen Sie, Sie könnten tun, was immer Sie zu tun haben, während wir Annie in die Küche transportieren?“

„Nun ja …“

„Gut. Mrs Bouchard, Sie helfen mir mit Annie … und Nell, Sie kümmern sich darum, dass hier alles bereit ist.“

Minuten später lag Annie auf dem Tisch und wurde, begleitet von Pater Donnellys leisem Gemurmel, für den Eingriff vorbereitet. Das arme Mädchen! Das Gesicht rot und geschwollen vom Weinen, zitterte sie trotz allen tröstenden Zuspruchs am ganzen Leib vor Furcht.

Nachdem er bis auf Nell und Mrs Bouchard alle aus der Küche verbannt hatte, sprach Dr. Greaves ein kurzes Gebet – ein protestantisches Gebet, aber Nell und Mrs Bouchard bekreuzigten sich dennoch. Dann befestigte er den Gummischlauch an der Chloroformflasche, und Nell legte die Narkosemaske mit frischer Gaze aus.

„Machen Sie jetzt die Augen zu, Annie“, wies Nell das Mädchen an, als sie ihm die Maske auf Mund und Nase setzte. „Wenn Sie aufwachen, wird Ihr Baby da sein.“

„Sie ist ein hübsches kleines Ding, nicht wahr?“

„Babys sind alle süß.“ Nell wiegte das Kind in den Armen und lächelte Viola Hewitt über den Küchentisch hinweg an.

Es war weit nach Mitternacht, und Nell hatte die Gaslampen heruntergedreht, sodass die Küche abermals in schummrigem Halbdunkel lag. Draußen tobte unvermindert der Sturm. Dr. Greaves und Mrs Bouchard wachten an Annies Bett wegen möglicher Komplikationen, und Mrs Hewitt war in der Küche geblieben, um ein Auge auf das Neugeborene zu haben, während Nell es badete und wickelte.

„Nicht alle sind so schön.“ Mrs Hewitt erwiderte Nells Lächeln. Während der letzten paar Stunden schien sich die Trauer, die sie wie Nebel umfangen hatte, verflüchtigt zu haben. „Sie ist ein richtig properes Baby, schauen Sie sich nur den perfekt geformten Kopf an. Meine Jungs dagegen sahen alle ein bisschen zerknautscht aus.“

„Das liegt am Kaiserschnitt, weil sie nicht durch den …“ Nell sah beiseite und tadelte sich stumm, derlei in höflicher Konversation erwähnt zu haben, insbesondere gegenüber jemandem wie Viola Hewitt. Was würde Dr. Greaves dazu sagen?

Mrs Hewitt lachte leise. „Keine Sorge, ich bin nicht so leicht zu schockieren, Miss Sweeney. Mr Hewitt ist der Ansicht, ich solle mehr Neigung zu Ohnmachten zeigen, doch ich fürchte, ich habe kein Talent dafür.“

Das Baby gähnte und lag dann wieder still und warm in Nells Armen. Wie sehr es doch immer wieder ihr Herz erfreute, ein Kind zu halten! Sachte blies sie über den feinen schwarzen Flaum, der dem Säugling trotz des Bades noch am Kopf klebte. „Hat der Vater dunkles Haar?“, fragte sie, weil sie an Annies blonde Locken denken musste.

Mrs Hewitt runzelte die Stirn. „Nein, Mac ist … aschblond, würde man wohl sagen. Aber Babys sind da ganz eigen. Martin hatte bei der Geburt auch schwarzes Haar, und jetzt ist er der blondeste von all meinen …“ Sie verstummte, vermutlich, weil ihr bewusst wurde, dass „all meine Söhne“ nur noch zwei umfasste.

„Mein Beileid zu Ihrem Verlust“, sagte Nell leise.

„Nun ja. Normalerweise sind wir zu dieser Zeit längst wieder in Boston, aber diesmal …“ Ihre Stimme brach. „Ich habe gesagt, es ginge nicht wegen Annie, weil sie in ihrem Zustand nicht reisen konnte. Aber das war es nicht. Ich konnte es nicht ertragen, in das Haus an der Colonnade Row zurückzukehren, wo meine Jungs …“

Das Baby regte sich in Nells Armen, schmatzte mit den Lippen, drehte den Kopf hin und her.

Gespannt sah Mrs Hewitt zu, wie Nell den kleinen Finger in die Tasse mit abgekochtem Zuckerwasser tunkte, mit dem sie den Säugling zu beschwichtigen versuchte. „Die Kleine hat Hunger. Ich hoffe, dass Annie sie bald stillen kann.“

„Ich auch.“ Nell ließ das Baby an ihrer Fingerspitze saugen. Im Eisschrank standen frische Milch und eine alte Nuckelflasche bereit, doch gäbe man sie dem Säugling jetzt, würde dies später das Stillen erschweren.

„Ich würde sie Ihnen ja abnehmen, aber dann fängt sie nur wieder zu schreien an. Bei Ihnen fühlt sie sich am wohlsten. Selten habe ich jemanden erlebt, der so liebevoll und geschickt mit einem Baby umzugehen weiß.“

Erfreut über das Lob, murmelte Nell ein leises Dankeschön. Sie sah hoch, als Dr. Greaves in die Küche kam. „Die frisch gebackene Mutter ist aufgewacht, und es geht ihr gut“, verkündete er lächelnd. „Am besten, Sie bringen ihr jetzt das Kind, damit wir sehen, ob sie es stillen kann. Und dann sollten wir Brady wegen der Rückfahrt Bescheid geben. Mrs Bouchard bleibt heute Nacht bei Annie, und ich werde morgen …“

„Sie wollen noch zurückfahren? Bei diesem Wetter?“ Mrs Hewitt schüttelte den Kopf. „Wir haben ein halbes Dutzend unbenutzte Gästezimmer, da sollten wir zwei erübrigen können. Ich lasse Ihnen Nachtwäsche bringen, und morgen nach dem Frühstück fährt Brady Sie dann nach Hause.“

Zu Nells Erleichterung nahm Dr. Greaves das Angebot an. Es wäre kein Vergnügen gewesen, mitten in der Nacht durch Wind und Wetter zu fahren.

Als sie ins Zimmer der Köchin trat, schob Mrs Bouchard der Wöchnerin gerade ein paar Kissen in den Rücken. „Schauen Sie mal, wen wir da haben.“ Nell setzte sich mit dem Baby auf die Bettkante. „Ein süßes kleines …“

„Ich will es nicht sehen“, stöhnte Annie und wandte den Kopf ab.

Fragend schaute Nell Mrs Bouchard an, die nicht erfreut, doch wenig überrascht schien. „Hör mal, Annie, jetzt stell dich nicht so an. Du bist ihre Mutter, und sie braucht …“

„Ich will sie nicht. Nehmt sie weg. Bitte.“

Mrs Bouchard zuckte resigniert die Schultern und nickte der verdutzten Nell zu, die ungläubig mit dem Kind das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss. Als sie durch den Flur zurück zur Küche ging, hörte sie Mrs Hewitt sagen: „Vier Jahre? Und sind Sie zufrieden mit ihr?“

„Mehr als zufrieden“, erwiderte Dr. Greaves. „Nell arbeitet hart, und sie ist gescheit. Ihr entgeht nichts.“

Nell blieb stehen.

„Sie hat eine rasche Auffassungsgabe, eine gute Portion gesunden Menschenverstand und einen robusten Magen“, fuhr er fort. „Bei ihr muss ich mir keine Sorgen machen, dass sie beim Anblick einer unschönen Verletzung einfach umkippt.“

„Sie ist doch aus guter Familie?“, fragte Mrs Hewitt weiter.

Nell hielt den Atem an, als Dr. Greaves kurz zögerte. „Ihre Eltern sind aus Irland hergekommen, Ma'am, als Nell gerade mal ein Jahr alt war. Doch beide weilen nicht mehr unter uns – erst ging der Vater von ihnen, dann die Mutter, als Nell noch ein Kind war.“

Nell schluckte. Ihr Vater war tatsächlich von ihnen gegangen, allerdings nicht, um seinem Schöpfer gegenüberzutreten. Er hatte sich mit einem Schankmädchen aus dem Staub gemacht.

„Und andere Angehörige gibt es nicht?“

Nell machte sich darauf gefasst, dass er Duncan erwähnen würde.

„Sie hatte mehrere jüngere Geschwister – so hat sie auch gelernt, sich um Kinder zu kümmern. Die meisten wurden früh von Krankheiten dahingerafft – Cholera, Diphtherie –, nur ein Bruder hat das Erwachsenenalter erreicht. Sie vermutet, dass er noch am Leben ist, hat ihn jedoch seit Jahren nicht mehr gesehen. Sein Name ist James, aber sie nennt ihn Jamie.“

Nell atmete erleichtert auf.

Das nachfolgende Schweigen wurde von einem gedämpften Dong unterbrochen, als eine Uhr irgendwo im Haus die volle Stunde schlug.

„Sie scheint so …“ Mrs Hewitt hielt inne. „Ich habe ihr Dinge erzählt, die ich …“

„Ja“, sagte Dr. Greaves, und Nell konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „Ich weiß, was Sie meinen. Sie versteht es, Menschen für sich einzunehmen.“

„Wahrscheinlich kann Sie weder Latein noch Griechisch?“

Kurzes Zögern. „Nein, Ma'am. Aber sie ist recht versiert im Französischen.“

„Kenntnisse des Deutschen oder Italienischen?“

„Kaum. Aber sie liest alles, was ihr in die Finger kommt. Zudem hat sie eine sehr schöne Schrift und großes zeichnerisches Talent.“

„Kann ich davon ausgehen, dass sie einen guten Charakter und einen anständigen Lebenswandel vorzuweisen hat?“

„Sie hat mir nie Grund zur Beanstandung gegeben, Ma'am.“ Was die Frage nicht unbedingt beantwortete.

„Und diese kleine Narbe an ihrer linken Braue … Dürfte ich fragen …“

„Eine alte Verletzung, Ma'am. Ich habe sie eigenhändig genäht.“ Ebenso wie all die anderen Verletzungen, die längst nicht so offensichtlich waren. Ehe Mrs Hewitt ihn noch bitten konnte, seine recht ungefähre Antwort doch etwas näher auszuführen, meinte Dr. Greaves auch schon: „Dürfte ich fragen, woher Ihr Interesse rührt?“

„Ich dachte nur … Natürlich muss ich mich erst mit meinem Mann besprechen, und ich bin mir nicht sicher, ob er um diese Zeit noch auf ist. Sollten wir heute Nacht nichts mehr voneinander hören, dann vielleicht morgen, nach dem Frühstück?“

„Ganz wie Sie wünschen, Ma'am.“

Nell hörte die Räder des Rollstuhls über den Steinboden rattern. Sie wartete, bis das Geräusch verklungen war, dann erst betrat sie die Küche. Dr. Greaves stand reglos und hatte den Blick auf die Tür gerichtet, durch die Mrs Hewitt verschwunden war. Als er Nell hinter sich hörte, drehte er sich um. Er wirkte nachdenklich, gar ein wenig traurig.

„Was meinen Sie, was das gerade sollte?“, fragte Nell.

Er seufzte. „Haben wir gelauscht, Nell? Du überraschst mich immer wieder.“ Ehe sie noch erwidern konnte, dass er an ihrer Stelle wohl genau dasselbe getan hätte, meinte er: „Lass uns hier aufräumen. Es war eine lange Nacht.“

Als es zum zweiten Mal klopfte, schloss Nell hastig die Perlmutterknöpfe des seidenen Morgenrocks, den Mrs Hewitt für sie hatte bereitlegen lassen, und eilte zur Tür des Gästezimmers.

Gewiss wieder Mary Agnes, um mir noch irgendetwas zu bringen, dachte sie. Ein weiteres weiches Daunenkissen, parfümierte Seife, ein flauschiges Handtuch … Doch es war Viola Hewitt. Nicht in ihrem Rollstuhl, sondern auf zwei Gehstöcke gestützt stand sie vor der Tür. „Es ist schon furchtbar spät, aber ich sah Licht bei Ihnen, und da dachte ich … Dürfte ich …?“

„Ja, natürlich.“ Nell hielt ihr die Tür auf. Mrs Hewitt bewegte sich unsicher, indes mit bemerkenswerter Anmut. Unter dem leisen Rascheln ihres Seidenkimonos war ein metallisches Scharren zu hören.

„Beinschienen“, erklärte sie. „Mit ihnen komme ich die Treppe hinauf und hinunter, doch es ist eine Qual. Ich hoffe, das Zimmer gefällt Ihnen. Haben Sie alles, was Sie brauchen?“ Mit sichtlicher Mühe ging Mrs Hewitt umher, strich die Decke auf dem Bett zurecht, richtete den Spiegel, öffnete und schloss die Schublade des Ankleidetisches, arrangierte die Rosen in der bauchigen chinesischen Vase. In ihren Duft mischte sich ein Hauch von Zitronenöl. Im ganzen Zimmer roch es lieblich, exotisch und etwas alt und angestaubt. Für Nell roch es nach Reichtum.

Sie fragte sich, weshalb ihr solcher Luxus zuteilwurde. Die meisten Leute hätten sie an Mrs Hewitts Stelle oben bei den Dienstboten einquartiert.

„Erst war ich bei Dr. Greaves, aber er scheint nicht auf seinem Zimmer zu sein. Vielleicht sitzt er noch unten und erholt sich von den Strapazen des Abends. Ich habe ihm gezeigt, wo der Sherry steht.“ Mrs Hewitt lächelte und warf einen kurzen Blick auf die Tür zum Ankleidezimmer, die einen Spalt offen stand.

„Wie geht es dem Baby?“, fragte Nell. Mrs Hewitt hatte eine Wiege vom Dachboden holen und neben ihrem Bett aufstellen lassen.

„Schläft tief und fest, nachdem es nun satt ist. Ich bin froh, dass es die Flasche angenommen hat. Haben Sie die gezeichnet?“ Sie ließ sich auf dem Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch nieder und nahm zwei Skizzen zur Hand, die Nell rasch auf das Papier geworfen hatte, von dem noch mehr in der Schublade lag – dickes cremeweißes Bütten, auf das nur ein einziges Wort geprägt war: Falconwood. Es waren eilig angefertigte Porträts, eins von dem Kind, das andere von Viola Hewitt.

„Es sind nur Skizzen.“ Nell spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, als Mrs Hewitt die Blätter aufmerksam betrachtete. „Wenn ich die Zeit finde, will ich ein paar Details …“

„Nein, lassen Sie es so. Es sind flüchtige Impressionen und als solche perfekt. Und alle Achtung, Sie haben mich gut getroffen … die Kleine ebenfalls … Und das alles aus dem Gedächtnis!“

„Mir bleibt selten Zeit, nach Modell zu malen, deshalb habe ich gelernt, mir das Wesentliche einzuprägen und es später zu Papier zu bringen. Es ist fast so, als hätte ich eine Fotografie davon in meinem Kopf.“

„Das ist eine Begabung.“ Noch immer in die Betrachtung der beiden Bildnisse versunken, meinte Mrs Hewitt: „Annie möchte das Kind nicht.“

„Ah“, sagte Nell etwas ratlos.

„Wissen Sie, warum?“

Nell zögerte, um nicht die falschen Worte zu wählen.

„Nur zu. Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich nicht so leicht zu schockieren“, ermunterte Mrs Hewitt sie.

„Weil ihr Mann nicht der Vater ist?“

Sehr bedächtig legte Mrs Hewitt die Blätter zurück. „Mac hat sich vor anderthalb Jahren bei den Boston Volunteers gemeldet und seitdem noch keinen Heimaturlaub bekommen. Ich habe dem Personal untersagt, darüber zu reden. Derlei Dinge sind …“ Nell rechnete damit, dass sie „unschicklich“ sagen würde, doch sie sagte: „… kompliziert. Leider leben wir in einer Welt, die uns glauben machen will, dass sie einfach wären.“

Wie wahr, dachte Nell, und doch kam ihr Mrs Hewitts Reaktion etwas befremdlich vor.

„Ich werde die Kleine adoptieren.“ Viola Hewitts Lächeln wurde zu einem vergnügten Grinsen, als sie Nells ungläubige Miene sah. „Da staunen Sie, was? Mrs Mott ist außer sich. Ebenso mein Mann, aber er tut mir den Gefallen, weil …“ Ihre Miene wurde schlagartig wieder ernst. „Nun ja, weil er weiß, dass es mich glücklich machen wird, wieder ein Kind im Haus zu haben. Noch dazu ein Mädchen! Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, aber am Ende hatte ich dann vier Söhne. Was keineswegs heißen soll, dass ich sie nicht alle von Herzen liebe, aber ein kleines Mädchen …“

„Ja, ich weiß, was Sie meinen.“ Dennoch war es … unerhört, dass eine Dame der Gesellschaft das uneheliche Kind eines Zimmermädchens adoptierte.

„Annie will nicht, dass ihr Mann oder ihre Familie von dem Kind erfahren. Wenn ich Grace nicht nehme, wird sie …“ Als sie Nells Verwunderung bemerkte, meinte Mrs Hewitt lächelnd: „Ich habe sie Grace genannt, nach meiner Mutter. Wenn ich sie nicht nehme, wird sie im Waisenhaus landen, oder schlimmer noch, in einem der schrecklichen Armenhäuser der Stadt. Ich war ehrenamtlich in solchen Einrichtungen tätig. Sie können sich nicht vorstellen …“

Ich wünschte, ich könnte es nicht, dachte Nell.

„Annie wird unseren Haushalt verlassen und jeglichen Anspruch auf das Kind abtreten. Unser Anwalt kümmert sich um die nötigen Papiere. Im Gegenzug will ich Mr Hewitt bitten, sie den Astors in New York zu empfehlen – natürlich ohne das Kind zu erwähnen. Das dürfte eine hervorragende Stellung für sie sein, und ich werde dafür sorgen, dass sie auch Mac einstellen. Einen zusätzlichen Kutscher können die Astors immer gebrauchen.“

„Wird ihr Mann sich nicht über die Narbe auf ihrem Bauch wundern?“

„Sie kann behaupten, ihr wäre der Blinddarm entfernt worden.“

Nell musste lächeln. „Sie haben alles gründlich durchdacht.“

„Gründlicher, als Sie ahnen.“ Mrs Hewitt nickte. „Nächste Woche fahren wir zurück nach Boston, mit der Kleinen und … Nell, ich möchte, dass Sie mit uns kommen.“

Nell verschlug es die Sprache. „Sie meinen … als Kindermädchen?“

„Genau genommen haben wir schon eines, Miss Edna Parrish, die einst mein Kindermädchen war, und dann das meiner Söhne. Sie wäre beleidigt, wenn ich sie nicht bäte, sich um Grace zu kümmern, aber sie ist nicht mehr die Jüngste und kann es unmöglich allein schaffen. Wenn meine Beine nicht so nutzlos wären, würde ich es ja selbst machen … Kinderlähmung, müssen Sie wissen. Habe ich mir in Europa eingefangen, kurz vor dem Krieg.“

„Das tut mir leid“, sagte Nell und meinte es auch so. Insgeheim faszinierte sie dieses mysteriöse Leiden, und sie hätte gern mehr darüber erfahren, doch es wäre unhöflich gewesen, danach zu fragen.

„Ich dachte mir, dass Sie Nurse Parrish zur Hand gehen, solange Grace klein ist. Später könnten sie dann Graces Gouvernante sein.“

„Ich? Eine Gouvernante?“ Ein Kindermädchen konnte wohl aus einfachen Verhältnissen kommen, aber Nell wusste aus zahlreichen Gouvernantenromanen, dass deren Heldinnen, wenngleich meist in finanzieller Bedrängnis, fast immer aus Familien stammten, die gesellschaftlich nicht allzu weit unter denen ihrer Dienstherren standen. Und gebildet waren sie zudem. „Dafür bringe ich nicht die Voraussetzungen mit, Ma'am.“

„Ich denke doch“, widersprach Mrs Hewitt. „Sie sind intelligent, fleißig … und Sie lieben Kinder.“

„Aber Gouvernanten sind Lehrerinnen, und ich bin kaum zur Schule gegangen! Und ich … Ich komme nicht aus Ihrer Welt, Mrs Hewitt. Was weiß ich schon von dem Leben in Ihren Kreisen?“

„Sie sind klug und werden alles lernen. Bis Grace im entsprechenden Alter ist, bleibt Ihnen reichlich Zeit, Ihre Bildungslücken zu schließen. In vielen Fächern werden sowieso zusätzliche Lehrer hinzugezogen: Sprachen, Klavier, Tanzen … Eine gute Gouvernante ist vor allem Erzieherin und moralische Instanz, und ich bin mir sicher, dass Sie dieser Rolle hervorragend gerecht werden.“

Wenn sie wüsste. „Mrs Hewitt, ich …“ Wie sollte sie es nur sagen? „Sie scheinen sich Vorstellungen von mir zu machen, die …“

„Tugend ist nichts, das allein Damen von Stand vorbehalten wäre, Nell – wenngleich ich in meinen Kreisen mit dieser Ansicht ziemlich allein dastehe. Aber es stört mich nicht, als exzentrisch zu gelten. Wahrscheinlich bin ich es sogar. Außerdem rühme ich mich ohne falsche Bescheidenheit einer hervorragenden Menschenkenntnis, und tief in meinem Herzen bin ich mir ganz sicher, dass Sie genau die Richtige für Gracie sind.“

„Ich … ich weiß Ihr Vertrauen sehr zu schätzen, Mrs Hewitt, aber …“

„Waren Sie schon mal in Boston, Nell?“

„Nein, Ma'am.“

„Sie werden angenehm überrascht sein. Unser Haus liegt gleich gegenüber dem Common, einem herrlichen, weitläufigen Park. Sie werden ein eigenes Zimmer im zweiten Stock bewohnen, neben den Kinderzimmern. Ein eher bescheidenes Zimmer, aber hell und geräumig, und vom Fenster aus kann man den Common überblicken. Sie bekommen zehn Dollar die Woche und …“

„Zehn …“ Zehn Dollar die Woche? „Nur für mich?“

„Zu Ihrer freien Verfügung. Natürlich brauchen Sie auch eine angemessene Garderobe, aber darum wird meine Schneiderin sich kümmern – auf meine Kosten, versteht sich.“ Mrs Hewitt senkte den Blick und strich über ihren Kimono. „Mr Hewitt hat mich gebeten, die Frage des Glaubens anzusprechen. Wir sind Anglikaner, müssen Sie wissen – Episkopale nennen sie sich hierzulande. Mr Hewitt ist bei unserer Heirat von den Kongretionalisten übergetreten. Und Sie sind vermutlich …“

„Katholisch.“

„Ja, das dachte ich mir. Ich hatte selbst eine katholische Gouvernante, Mademoiselle D'Alencour, woran ich auch Mr Hewitt erinnert habe, als er … nun ja, gewisse Bedenken äußerte. Grace wird natürlich in unserem Glauben erzogen. Es steht Ihnen frei, mit den anderen Dienstboten, die Messe zu besuchen, aber sobald Grace alt genug für den Gottesdienst ist, wird sie uns in die King's Chapel begleiten. Und was die religiöse Erziehung anbelangt …“

„Sie möchten nicht, dass ich ihr papistische Flausen in den Kopf setze.“

„In allen anderen Belangen vertraue ich ganz auf Sie. Es steht Ihnen frei, sie so zu erziehen, wie Sie es für richtig halten. Ich werde Ihnen kaum Vorgaben machen. Ich erwarte nur, dass Sie sie mit derselben Liebe und Sorgfalt aufziehen, als wäre sie Ihr eigenes Kind. Und ich würde es vorziehen, wenn Sie unverheiratet blieben. Zumindest solange Gracie klein ist, damit Sie ihr Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen können. Auch Ihr Lebenswandel und Ihr Ruf müssen selbstverständlich über jeden Tadel erhaben sein – schließlich sind Sie für die Erziehung eines jungen Mädchens verantwortlich. Aber ich gehe davon aus, dass Sie mich in dieser Hinsicht nicht enttäuschen werden. Könnten Sie sich das vorstellen?“

Ob sie sich das vorstellen konnte? Ein Baby, das sie in den Armen halten und herzen konnte, wann immer ihr danach war? Ein Kind, das fast wie ihr eigenes wäre, nachdem sie sich längst damit abgefunden hatte, dass sie wohl nie eines haben würde? „Ja“, sagte sie aufrichtig und musste daran denken, wie die kleine Grace sich in ihren Armen angefühlt hatte – so warm, so gut, so richtig. „Ja, ich … Oh ja, das wäre wunderbar!“

Mrs Hewitt griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Dann werde ich gleich morgen früh mit Dr. Greaves sprechen.“

Nell nickte, doch sie wusste schon jetzt, dass Dr. Greaves ihr eine solche Gelegenheit nicht verwehren würde. Es würde ihm nicht gefallen, sie zu verlieren, aber er würde tun, was das Beste für sie war.

Mit Nells Hilfe erhob Mrs Hewitt sich und meinte, ehe sie hinausging: „Denken Sie bitte nicht schlecht von Annie. Sie liebt ihren Mann und war untröstlich, als er in den Krieg zog. Aber irgendwann beginnt man sich einsam zu fühlen und … sucht Trost, wo immer man ihn findet.“

„Ich weiß, was Sie meinen.“

Diese Bemerkung entlockte Mrs Hewitt ein nachsichtiges Lächeln. „Ach, was wissen Sie schon in Ihrer jugendlichen Unschuld? Eines Tages, wenn Grace alt genug ist, werden Sie vielleicht selbst heiraten und diese Dinge besser verstehen.“

Als Viola Hewitt gegangen war, ließ Nell die Stirn gegen die Tür sinken. Was wissen Sie schon in Ihrer jugendlichen Unschuld? In den Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen war, währte Unschuld nicht lange. Man sah zu, dass man überlebte. Aber wie sollte jemand wie Viola Hewitt das wissen? Sie sah in Nell nur die junge Irin, ein katholisches Mädchen aus einfachen Verhältnissen, von tadelloser Tugend. Wenn sie die Stelle tatsächlich antrat, hatte sie einiges zu verbergen. Vor allem Duncan.

Es behagte Nell nicht, Geheimnisse vor einer Frau zu haben, die sie schon jetzt sehr mochte. Aber wenn es sein musste, würde sie es tun. Und wenn sie die Stelle annahm – und nichts wünschte sie sich sehnlicher –, musste es sein.

„Haben Sie das gehört?“, fragte sie leise und drehte sich um.

Die Tür des Ankleidezimmers öffnete sich, und heraus kam Dr. Greaves, das Haar zerzaust, die Hosenträger lose herabhängend, das Hemd offen. Nell war dabei gewesen, es ihm aufzuknöpfen, als es an der Tür geklopft hatte.

Schweigend sah er sie an, dann hob er sein Sherryglas und lächelte so wehmütig, dass ihr ganz schwer ums Herz wurde.

„Zu lichten Höhen“, sagte er.

1. Kapitel

Februar 1868 Boston 

Es war ein Wunder oder eine Tragödie – je nachdem, wie man die Sache betrachtete.

Als die Nachricht eintraf, befand Nell sich mit den Hewitts im Musikzimmer, wo Martin seinen Eltern ein geistliches Lied vorsang. Viola Hewitt begleitete ihn auf dem Steinway. Am Kamin saß August Hewitt in seinem Ohrensessel, die Brille auf der Nasenspitze, seinen Putnam's Monthly aufgeschlagen vor sich. Nichts Schöneres gab es für ihn, als den Sonntagnachmittag im Schoße der Familie zuzubringen.

Ahnenporträts hingen an den holzgetäfelten Wänden, sechs Generationen Hewitts, die es im Seehandel zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten. Den Ehrenplatz über dem Kamin nahm Mr Hewitts Vater ein, der das Familienunternehmen vorausschauend um eine Tuchfabrik erweitert hatte. Und August Hewitt selbst – von seiner Gattin in einem monumentalen Porträt verewigt – war es vergönnt gewesen, das Vermögen der Familie noch beträchtlich zu mehren, als er zu einem Zeitpunkt, da niemand ahnen konnte, dass es kurz darauf zu einem Krieg zwischen den Staaten kommen würde, mit der Unionsarmee einen Vertrag über die Lieferung von Uniformen abgeschlossen hatte.

Die kleine Grace, in ihrem apfelgrünen Lieblingskleid mit Trägerschürze, hatte es sich, kaum dass Nurse Parrish eingenickt war, auf Nells Schoß gemütlich gemacht, wo sie dann auch prompt eingeschlafen war. Ihre Haarschleife kitzelte Nell am Kinn, doch es störte sie nicht. Gracies schläfriger Atem, ihre beruhigende Wärme, der liebliche, reine Kindergeruch, all das erfüllte Nell mit einem friedlichen Wohlgefühl.

Durch die mit Samtportieren drapierten Fenster beiderseits des Kamins sah Nell den Schneeflocken zu, wie sie aus einem bleiernen Himmel herabschwebten, ihr Buch – Miss Ravenel's Conversion from Secession to Loyalty, der große Bürgerkriegsroman von Mr DeForest – lag vergessen neben ihr. Sie liebte es, wenn der Schnee sich wie eine weiß schimmernde Decke über die Stadt legte, so makellos und unberührt, als wolle er die Straßen von allem Schmutz und Unrat reinigen, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte.

Bei ihrer Ankunft vor drei Jahren war Boston ein Schock für sie gewesen: so groß, so laut, ein geschäftiger Bienenstock, in dem sie sich nicht nur verloren, sondern geradezu unsichtbar fühlte. Wie sehr sie sich am Anfang nach der ländlichen Vertrautheit von Cape Cod zurückgesehnt hatte! Doch mit der Zeit hatte die Stadt ihre bedrohliche Fremdheit verloren und war ihr zu einem Zuhause geworden – ihrem Zuhause. Und so, wie sie sich in Boston eingelebt hatte, hatte sie sich auch bei den Hewitts eingelebt. Gracie war, wenn schon nicht ihr leibliches, so doch das Kind ihres Herzens, und Viola Hewitt gegenüber empfand sie eine tiefe Verbundenheit.

Dennoch kam es selten vor, dass Nell die Sonntagnachmittage im Kreis der Familie verbrachte, gab Viola ihr doch fast jedes Wochenende frei. An den Samstagen ging sie in die öffentliche Bibliothek oder in eines der städtischen Museen, am liebsten in das Naturkundemuseum. Sie kannte auch einige andere Gouvernanten aus der Colonnade Row, da ihre kleinen Schützlinge gemeinsam im Park spielten. Gelegentlich traf man sich samstags zum Lunch oder zum Tee, aber da Nell wenig mit diesen Frauen gemein hatte, wollten sich daraus keine echten Freundschaften entwickeln.

Sonntags stand sie bereits im Morgengrauen auf, um zur Frühmesse zu gehen, danach betreute sie Gracie, während die Hewitts und Nurse Parrish ihrerseits den Gottesdienst besuchten, und den Rest des Tages hatte sie wieder frei. Bei schönem Wetter machte sie einen langen Spaziergang – selbst im Winter, sofern die Sonne schien – oder setzte sich mit einem Buch in den Public Garden. Wenn das Wetter eher ungemütlich war, so wie heute, las oder zeichnete sie auf ihrem Zimmer. Dort wäre sie auch jetzt gewesen, hätte Viola nicht ausdrücklich auf ihrer Anwesenheit bestanden.

„Bei Ihnen benimmt Gracie sich besser als bei Nurse Parrish“, hatte sie gemeint. „Und Sie wissen ja, wie Mr Hewitt ist, wenn sie anfängt zu quengeln. Sie braucht nur einen Mucks zu machen, und schon schickt er sie nach oben. Aber ich möchte sie heute Nachmittag so gern bei mir haben. Und bei dem Wetter sind Sie doch sowieso im Haus. Bitte sagen Sie, dass Sie uns Gesellschaft leisten werden.“

Da sie Viola, die ihr so lieb geworden war wie eine Mutter, kaum etwas abschlagen konnte, hatte Nell eingewilligt. Als Gracie von Nurse Parrishs auf ihren Schoß gekrabbelt war, hatte Mr Hewitt die Kleine zwar kurz mit einem grimmigen Blick bedacht, schenkte ihr aber weiter keine Aufmerksamkeit – ebenso wenig wie ihrer Gouvernante.

Nell überlegte, wann sie und Mr Hewitt sich zuletzt im selben Zimmer aufgehalten hatten. Dass ihre Wege sich nur selten kreuzten, lag vor allem an seiner Abneigung gegen Kinder im Allgemeinen und gegen Gracie im Besonderen. Auf seine Veranlassung hin nahm das Mädchen alle Mahlzeiten – außer zu Ostern und an Weihnachten – mit Nell im Kinderzimmer ein. Wenn sie sich einmal zufällig im Haus begegneten, nickten sie einander kurz zu und gingen jeder ihrer Wege.

„Es ist … anders“, sagte Mr Hewitt, als Martin sein Lied zu Ende gesungen hatte. „Gar nicht schlecht, nur die Stelle mit Gottes unerschöpflicher Gnade, die er allen Menschenkindern zuteilwerden lässt, solltest du vielleicht noch einmal überarbeiten.“

Martin nickte so ernst und bedächtig, dass wohl jeder, der es nicht besser wusste, dies als Geste tiefen Respekts gedeutet hätte. Auf den ersten Blick wirkte Martin sehr jung, doch seine Augen ließen eine Reife erkennen, die seinen einundzwanzig Jahren weit voraus war.

Leise schloss seine Mutter das Klavier und vermied es, ihren Mann oder ihren jüngsten Sohn anzusehen.

In der nachfolgenden Stille wurde zweimal vernehmlich an die Haustür geklopft. Nell hörte den Butler gemessenen Schritts die marmorne Weite der Eingangshalle durchqueren, dann das leise Quietschen der Türangeln und gedämpfte Männerstimmen.

Da sein Sohn noch immer nichts erwiderte, fuhr Mr Hewitt fort: „Ich will damit nur sagen, dass 'alle Menschenkinder' so verstanden werden könnte, dass beispielsweise auch Juden und Chinesen gemeint seien, womit du dem Unitarismus bedenklich nahekämst.“

Wieder verging eine Weile, während der Martin seinen Vater in der ihm eigenen ernsten, eindringlichen Manier musterte. „Danke, Sir. Ich werde darüber nachdenken“, sagte er schließlich und ließ seinen Blick kaum merklich zu Nell schweifen.

Leises Klopfen lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit zur Tür des Musikzimmers. Hodges brachte eine Visitenkarte auf dem silbernen Tablett. „Für Sie, Sir.“

Mr Hewitt winkte den betagten Butler herein und nahm die Karte an sich. „Leo Thorpe. Meintest du nicht eben, dass wir die Thorpes schon lange nicht mehr gesehen hätten, meine Liebe? Bringen Sie ihn herein, Hodges.“

So wie August Hewitt aus durchscheinend weißem Alabaster gemeißelt schien, wirkte sein alter Freund Leo Thorpe wie aus einem großen Klumpen rotem Ton geformt. Von rosigem Antlitz und stämmiger Statur, mit schneeweißem, stets gut geöltem Haar, pflegte er gewöhnlich mit einem herzhaften „Wie geht's uns, alter Junge?“ zu grüßen. Heute jedoch zeigte er sich etwas zurückhaltender.

„Ah“, sagte er und blieb zögernd an der Tür stehen, sichtlich verunsichert, fast die ganze Familie versammelt zu sehen. „Ich wusste nicht, dass …“

„Ich wollte sowieso gerade gehen.“ Martin gab ihm kurz die Hand, als er das Zimmer verließ. „Schön, Sie zu sehen, Sir.“

Die schlafende Kinderfrau tat Mr Thorpe mit einem flüchtigen Blick ab und richtete sein Augenmerk auf Nell. Wäre sie aufgestanden, würde sie Gracie geweckt haben, und so vertiefte sie sich einfach wieder in ihr Buch und tat, als bemerke sie nicht, was um sie her geschah. Mr Thorpe zögerte kurz, ehe er sich abwandte. Die Gouvernante mit ihrem schlafenden Schützling wurde zu einem unauffälligen Teil des Hintergrunds.

„Leo“, Viola Hewitt lächelte, „wir wunderten uns eben erst, wie lange es schon her ist, dass wir Sie und Eugenia zuletzt zu Besuch hatten.“

„Hmm? Oh, ja. Ja, allerdings.“

„Warum kommen Sie beide nicht am Samstag zum Dinner?“

„Ja. Ja, doch.“ Mr Thorpe wirkte zerstreut. „Ich, ähm … Das klingt hervorragend.“

„Alles in Ordnung, Thorpe?“, erkundigte sich Mr Hewitt. „Ich will nicht hoffen, dass die Gicht Sie wieder plagt. Hier, setzen Sie sich.“

Viola bot ihrem Gast Tee an – „Oder vielleicht etwas Stärkeres?“ –, doch er schüttelte den Kopf.

„Ich wünschte, ich wäre nur zum Plaudern gekommen, aber … Es geht um … nun ja, um Ihren Sohn.“ Thorpe fuhr über die Krempe seines Zylinders, der, mit seinen Handschuhen darin, auf seinem Knie ruhte. „Eigentlich hatte ich gehofft, unter vier Augen mit Ihnen reden zu können, Hewitt.“

Violas Lächeln war duldsam und zeugte von leidiger Erfahrung. „Sie können offen sprechen, Leo. Was hat Harry denn diesmal wieder angestellt?“ Als August Hewitts Anwalt und langjährigem Vertrauten war es Leo Thorpe wiederholt zugekommen, Harrys wüsteste Ausschweifungen unter den Teppich zu kehren. Seit letztem Jahr war Mr Thorpe zudem gewählter Vertreter des Bostoner Stadtrats und erfreute sich nun noch größeren Einflusses in allen gesellschaftlichen Belangen.

„Hoffentlich nicht schon wieder Scherereien wegen einer Frau“, meinte ihr Gatte.

„Es geht nicht um Harry.“ Mr Thorpe rieb sich verlegen den Nacken und ließ seine Gastgeberin wissen, dass er nun doch einen kleinen Whiskey zu schätzen wüsste.

Sie läutete danach. „Wollen Sie damit sagen, dass unser Martin …“

„Unsinn.“ Ihr Mann tat diese Möglichkeit mit einer knappen Geste ab.

„Nein, das könnte ich mir auch nicht vorstellen“, pflichtete der Stadtrat bei.

„Wir haben aber nur zwei Söhne, Thorpe“, klärte Mr Hewitt ihn auf. Seine Frau tastete nach der schlichten Türkiskette, die halb verborgen unter der hellen Spitze ihres Kragens lag. Ihre Lippen wurden schmal, ihre Miene ausdruckslos.

Thorpe blickte Hilfe suchend zur Tür, als hoffte er, dass die Getränke endlich kämen.

„Aber wer, wenn nicht Martin oder Harry …?“, beharrte Mr Hewitt.

„Gestern Abend wurde ein Mann verhaftet – in der Purchase Street in Fort Hill, vor einem Laden namens Flynn's. Es ist ein … nun, eine Art Logierhaus für Matrosen. Unter anderem.“ Sein Blick huschte kurz zu Viola. „Er hat seinen Namen als William Toussaint angegeben, weshalb …“

„Toussaint?“ Viola horchte auf. Ihre französische Aussprache übertraf die Mr Thorpes beträchtlich. Als ihr Mann sie fragend ansah, blickte sie beiseite.

„Ganz recht“, bestätigte Leo Thorpe. „Unter diesem Namen war er im Logierhaus eingetragen, aber heute früh beim Schichtwechsel hat ihn einer der Jungs auf der Wache erkannt – Johnston, ein Veterane.“ Thorpe holte tief Luft und musterte seine Gastgeber mit sichtlichem Unbehagen. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, auch für mich war es ein Schock. Der Mann, der letzte Nacht verhaftet wurde, ist William. Ihr Sohn William.“

Die Hewitts starrten ihn sprachlos an.

„Sieht so aus, als hätte Johnston ihn '53 schon einmal einkassiert“, erklärte Mr Thorpe, „damals, bei der großen Razzia im North End.“ Wieder ein kurzer Blick zu Viola. „In einem … einem Haus von zweifelhaftem Ruf. Daher kannte er ihn.“

Mr Hewitt räusperte sich. „Nun, das ist … fünfzehn Jahre her. Wie will er sich da an ihn …“

„Er erinnert sich noch ganz genau an die Razzia, weil es mit fast hundert Verhaftungen die größte Aktion war, die jemals durchgeführt wurde. Und an Ihren Sohn erinnert er sich … nun ja, weil er ein Hewitt ist.“

Viola starrte blicklos vor sich hin. Sie sah aus, als sei sie in Trance. „Will war über den Sommer nach Hause gekommen, und wir hatten uns noch nicht auf den Weg ans Cape gemacht. Es war der Tag vor seinem achtzehnten Geburtstag. Er war mit Robbie ausgegangen, und Ihr Jack war vermutlich auch mit von der Partie“, meinte sie zu Leo. „Aber gegen Mitternacht kam Robbie allein zurück …“

„Ausgeschlossen“, beschied Mr Hewitt. „Es muss sich um eine Verwechslung handeln. William ist tot.“

Dennis, einer der beiden feschen jungen, ganz in Blau livrierten Lakaien, brachte die Getränke und bot allen außer der Gouvernante etwas an. Wäre es Viola aufgefallen, hätte sie etwas gesagt, wie sie es immer tat, wenn Nell von den anderen Angestellten brüskiert wurde, doch diesmal war sie mit ihren Gedanken woanders.

Gouvernanten zogen sich, da sie eher als Familienmitglieder denn als Bedienstete behandelt wurden, leicht den Zorn des übrigen Personals zu. Die meisten Gouvernanten hatten indes einen privilegierten Hintergrund und daher zumindest oberflächlichen Respekt verdient. Nicht so Nell, die aus ebenso einfachen Verhältnissen stammte wie die Bedienten, welche sich ihr ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen fühlten und ihr nicht verziehen, dass sie ihr dennoch zu Diensten sein mussten.

Thorpe nahm seinen Whiskey pur und trank ihn in zwei Schlucken aus. „Captain Baxter, dessen Abteilung für Fort Hill zuständig ist, hat heute Morgen nach mir geschickt – weil ich Ihr Anwalt bin und ein Freund der Familie. Ich war auf der Wache und habe ihn gesehen. August, es ist William.“

„Er lebt“, sagte Viola mit zitternder Stimme. „Ich kann es kaum glauben.“

„Und ich will es nicht glauben“, beharrte ihr Mann. „Wenn er lebt, warum taucht er erst jetzt auf? Warum hat er sich nie bei uns gemeldet? Und warum stand er auf der Liste der Toten von Andersonville? Da hieß es, er sei am 9. August 1864 an der Ruhr gestorben. Warum sollte das da so stehen, wenn es nicht die Wahrheit ist?“

„Das habe ich ihn auch gefragt“, sagte Thorpe. „Und ich wollte noch mehr von ihm wissen, aber er war nicht gerade mitteilsam, um es milde auszudrücken. Verzeihen Sie, wenn ich ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen komme, aber waren Sie jemals in Andersonville und haben sein Grab …“

„Robbie hat ein eigenes Grab“, unterbrach ihn Mr Hewitt. „Was William anbelangt …“ Er sah kurz zu seiner Frau. „Es hieß, es habe an dem Tag sehr viele Todesfälle gegeben. Er sei in einem Massengrab beerdigt.“

„Schreckliche Sache“, murmelte Thorpe.

„Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Burschen ausdrücklich gefragt haben, ob er wirklich William Hewitt ist.“

„Natürlich, schon aus rechtlichen Gründen. Er hat nicht geantwortet, aber ich wusste auch so, dass er es ist. Er ist doch Arzt, oder?“ Thorpe nahm einen länglichen, in ein Taschentuch gewickelten Gegenstand aus seiner Rocktasche. Als er das Tuch aufschlug, kam ein Messer zum Vorschein. Es hatte einen schmalen perlmutternen Griff mit einem feinen Sprung darin.