Nell Sweeney und die eiskalte Sünde - P. B. Ryan - E-Book

Nell Sweeney und die eiskalte Sünde E-Book

P.B. Ryan

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Beschreibung

Im schlimmsten Viertel von Boston sucht Nell nach der Wahrheit
Gouvernante mit Herz und Detektivin aus Leidenschaft – Nell Sweeneys fünfter Fall

Boston, 1870: Ungläubig hört Nell Sweeney die schreckliche Nachricht: Detective Colin Cook, ein guter Freund und Ire wie sie, wird beschuldigt, einen eiskalten Mord begangen zu haben. Seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt und ließ sogar seine schwangere Frau zurück. Nell kann nicht glauben, dass Colin zu einem Mord fähig ist, und will sich im berüchtigten North End auf die Suche nach der Wahrheit machen. Ihre verbotene Liebe Will Hewitt kann sie natürlich nicht allein in diesem kriminellen Viertel lassen, und so werden sie beide zu einem  Bordell geführt, in dem die Sünde regiert und die Lust vom Tod nur ein Atemzug trennt …

Erste Leserstimmen
„Wer historische Krimis liebt, muss die Nell Sweeney-Reihe einfach lesen!“
„Interessantes Setting, spannender Fall und eine tolle Dynamik zwischen den Protagonisten.“
„Wie von P.B. Ryan gewohnt, ist auch dieser Krimi fesselnd und charmant erzählt.“
„Geheimnisvoll, mitreißend und unvorhersehbar!“

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Über dieses E-Book

Boston, 1870: Ungläubig hört Nell Sweeney die schreckliche Nachricht: Detective Colin Cook, ein guter Freund und Ire wie sie, wird beschuldigt, einen eiskalten Mord begangen zu haben. Seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt und ließ sogar seine schwangere Frau zurück. Nell kann nicht glauben, dass Colin zu einem Mord fähig ist, und will sich im berüchtigten North End auf die Suche nach der Wahrheit machen. Ihre verbotene Liebe Will Hewitt kann sie natürlich nicht allein in diesem kriminellen Viertel lassen, und so werden sie beide zu einem Bordell geführt, in dem die Sünde regiert und die Lust vom Tod nur ein Atemzug trennt …

Impressum

Erstausgabe 2006 Überarbeitete Neuausgabe Mai 2021

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-699-4

Copyright © 2006 by Patricia Ryan Titel des englischen Originals: Murder In the North End

Veröffentlicht nach Vereinbarung mit Patricia Burford Ryan.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© für die deutsche Übersetzung © CORA-Verlag in der by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg. 

Copyright © 2017, HarperCollins Germany GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei HarperCollins Germany GmbH erschienenen Titels Eiskalt wie die Sünde (ISBN: 978-3-73377-512-4).

Übersetzt von: Alexandra Kranefeld Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von periodimages.com: © Mary Chronis, VJ Dunraven Productions shutterstock.com: © David Hughes, © Kai Beercrafter Korrektorat: Katharina Pomorski

E-Book-Version 06.02.2023, 13:16:18.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Nell Sweeney und die eiskalte Sünde

1. KAPITEL

Juli 1870

„Noch ein wenig Tee, Lady Higginbotton?“, fragte Nell Sweeney. Sie saß im Schneidersitz unter einem Bettlaken, das über vier zierliche goldene Stühle drapiert worden war.

„Nun, ich hätte gewiss nichts dagegen“, erwiderte Gracie und gab sich alle Mühe, wie eine feine englische Dame zu klingen. Sie streckte die winzige Tasse vor, damit ihre Gouvernante, die eine kleine Porzellankanne mit Goldrand in der Hand hielt, ihr noch ein wenig imaginären Tee nachschenken konnte. „Und vielleicht auch noch etwas Sahne, wenn ich bitten darf.“

„Für Sie auch, Lady Wigglesworth?“, fragte Nell und wandte sich an Eileen Tierney, ihre junge Assistentin.

„Ach, eigentlich sollte ich ja nicht, aber ein kleines Schlückchen wird schon nicht schaden“, sagte die schlaksige, blonde Eileen und streckte gleichfalls ihre Tasse vor. Ihr Versuch, wie eine englische Adelige zu klingen, war weit weniger erfolgreich als jener der fünfjährigen Gracie, was vor allem an ihrem breiten irischen Akzent lag, den sie wohl nie ganz würde ablegen können. „Und wirklich, einen wunderschönen Morgen haben wir uns ausgesucht für unsere kleine Teegesellschaft. Doch, doch, ich muss schon sagen, wirklich wunderschön. Na, dann mal zum Wohl allesamt.“

„Auch noch ein kleines Schlückchen, Lord Hubble-Bubble?“ Nell hielt die Teekanne Gracies kleinem rotbraunen Pudel Clancy hin, der neugierig daran schnupperte, als sie die Tülle über seine Tasse neigte.

„Sagen Sie mal, Hitchens, haben Sie irgendwo die Sweeney gesehen?“

Die Frage – vorgetragen in einem knappen, unduldsamen Tonfall – war deutlich in dem improvisierten Zelt zu vernehmen. Sowie sie die wohlbekannte Stimme hörten, verzogen Nells Teegäste gequält das Gesicht. Sogar Clancy stieß einen leisen, leidgeprüften Seufzer aus.

„Mrs. Mott“, sagte Gracie lautlos, doch mit einer bühnenreifen Miene des Abscheus.

So nah schon klang die Stimme der Haushälterin, dass sie wohl wieder ganz leise und unbemerkt hinauf in den zweiten Stock gehuscht war, dachte Nell. Mrs. Mott hatte ein Talent dafür, sich so lautlos wie der Tod an einen heranzuschleichen. Edward Hitchens, Mr. Hewitts Kammerdiener und auch stets auf leisen Sohlen unterwegs, war ihr vermutlich draußen auf dem Korridor begegnet.

Nell wollte ihre Anwesenheit gerade zu erkennen geben, als Mrs. Mott noch mit bedeutungsvoll gesenkter Stimme hinzufügte: „Unten wartet nämlich ein Polizist, der nach ihr gefragt hat.“

Hitchens kommentierte dies mit einem vielsagenden Schnauben. Seine Genugtuung angesichts dieser Neuigkeit war unüberhörbar. Hatten sie es nicht von Anfang an gewusst? Der stocksteife Kammerdiener war unter den Bediensteten der Einzige, mit dem Mrs. Mott auf annähernd freundlichem Fuße stand. Und wie auch die gestrenge alte Haushälterin billigte Hitchens es keineswegs, dass "die Sweeney" sich höchst arglistig, wie sie glaubten, das Wohlwollen der exzentrischen Viola Hewitt erschlichen hatte. Er beäugte es nach wie vor mit Misstrauen, dass seine Herrin Nell erst als Gracies Kindermädchen angestellt hatte und nun als deren Gouvernante beschäftigte – trotz ihrer bescheidenen Herkunft, über die man nur dunkel etwas erahnen konnte, und schlimmer noch, obwohl sie Irin war. Ja, es empörte ihn geradezu, Nell Sweeney hier im Haus zu wissen. Da machte es gar nichts, dass Nell sich tadellos in die privilegierte Welt der Bostoner Oberschicht einfügte, in der sie seit nunmehr sechs Jahren lebte und arbeitete. Sie kleidete sich so, sie sprach so und sie wusste sich so zu benehmen, wie es sich gehörte. Von einem leichten kupferroten Schimmer ihrer braunen Locken abgesehen war nichts an ihrem Äußeren, das ihre Herkunft verraten hätte. Und doch würde sie immer Irin bleiben, fremdes Gesindel in den Augen der meisten Bostoner, die sich darin über alle Schichten hinweg einig waren.

„Ein Polizist?“, raunte Hitchens vernehmlich. „Gütiger Gott. Er wird doch hoffentlich nicht zur Vordertür gekommen sein?“

„Doch, genau das ist er. Unglaublich, diese Dreistigkeit.“

„Was sollen nur die Nachbarn denken?“

Mit einem verächtlichen Schnauben meinte Mrs. Mott: „Was sollen sie schon denken? Dasselbe, was sie seit sechs Jahren denken – seit die Sweeney tagein, tagaus mit diesem Kind über die Colonnade Row spaziert und gerade so tut, als würden die beiden hierher gehören. Ich habe Mrs. Hewitt ja immer gesagt, dass sich dergleichen nicht schickt, aber Sie wissen ja, wie sie ist – macht immer, was sie will. Ohne Rücksicht auf das, was die Leute sagen werden oder ob Mr. Hewitts Ansehen dadurch Schaden nehmen könnte.“

„Schlimm genug, dass sie das Kind überhaupt aufgenommen hat“, meinte Hitchens verdrießlich, „aber dann auch noch so zu tun, als gehörte das Balg zur Familie und diese irische Aufsteigerin einzustellen, statt einer richtigen Gouvernante …“

„Nun, das Kind dürfte einer richtigen Gouvernante wohl kaum würdig sein und wenn man es von Anfang an so behandelt hätte, wie es sich gehört, wäre es längst im Arbeitshaus, statt uns hier andauernd vor die Füße zu laufen. Es ist mir völlig egal, dass sie von einem Hewitt gezeugt worden ist – der Bastard eines Zimmermädchens hat in diesem Haus nichts verloren. Stolziert hier rum wie eine kleine Prinzessin und das unter dem Dach einer der besten …“

„Mrs. Mott, sind Sie das?“, rief Nell, der nach einem kurzen Blick in die verwirrten Gesichter von Gracie und Eileen etwas zu spät einfiel, dass die beiden schon viel mehr zu hören bekommen hatten, als sie eigentlich hören sollten. Wäre sie nicht so schrecklich müde – sie war schon vor Tagesanbruch aufgestanden, um Gracies und ihr Gepäck zu packen –, würde sie die Unterhaltung der beiden Dienstboten unterbunden haben, sowie sie merkte, auf welch heikles Terrain sie zusteuerten.

Nell schlug das Laken zurück, stand auf und strich sich ihr nun schon etwas zerknittertes Reisekleid aus brauner Sommerwolle glatt. „Ah, und Mr. Hitchens erweist uns auch die Ehre. Wie reizend von Ihnen, uns einen kleinen Besuch abzustatten – ein wahrlich seltenes Vergnügen. Möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen und ein Tässchen trinken?“, fragte sie und hielt die kleine Teekanne hoch.

Haushälterin und Kammerdiener standen an der Tür zum Kinderzimmer und blinzelten ungläubig. Nachdem er noch kurz seinen missbilligenden Blick hatte schweifen lassen – das mit kleinen Kindermöbeln im Rokokostil eingerichtete Zimmer war seit gestern mit schneeweißen Leinenlaken verhängt, die indes keinen Zweifel an seiner ausgesuchten Pracht ließen –, wandte Hitchens sich mit regloser Miene um und schritt schweigend davon. So blieb es Mrs. Mott überlassen, Gracie und Eileen mit grimmigem Missfallen zu bedenken, als die beiden aus ihrem Bettlakenzelt hervorgekrochen kamen und sich artig aufstellten.

Die betagte Haushälterin straffte die Schultern und hielt sich kerzengerade, die Hände vor dem Bauch gefaltet, als sie Nell kühl mitteilte: „Sie werden unten erwünscht. Im Musikzimmer wartet ein Constable Skinner, der Sie sprechen möchte.“

Skinner. Dieses furchtbare kleine Frettchen. Was um alles in der Welt könnte er von ihr wollen?

Nell konnte sich schon denken, weshalb Mrs. Mott den ungebetenen Gast in das Musikzimmer abgeschoben hatte, anstatt ihn im vorderen Salon warten zu lassen, wie es eigentlich üblich war. Der Salon ging nämlich auf die Prachtstraße hinaus – jenen vornehmen Abschnitt der Tremont Street, der auch als Colonnade Row bekannt war – und hatte große, hohe Fenster, die an einem so schwülwarmen Sommermorgen wie diesem weit offen stehen dürften. Das Musikzimmer dagegen ging auf eine nur wenig frequentierte Seitenstraße hinaus. Selbst wenn auch dort die Vorhänge zurückgezogen wären, so würden wohl nur wenige Passanten vorbeikommen und den Polizisten bemerken, der den ehrwürdigen Hewitts zu so früher Stunde einen Besuch abstattete.

„Ich komme gleich herunter“, sagte Nell.

„Sehen Sie zu, dass Sie sich beeilen mit diesem … Gentleman“, sagte Mrs. Mott. „Es wurde ausdrücklich darum gebeten, dass wir alle um Punkt zehn zur Abreise bereit sind. Ihnen bliebe also nicht mal mehr eine ganze Stunde, um …“

„Aber ja doch, unser Gepäck steht schon längst in der Eingangshalle bereit“, unterbrach sie Nell. „Nur wollten wir vor der langen Reise noch ein wenig Tee trinken.“

Gracie hob ihre winzig kleine Tasse, als wolle sie der Haushälterin zuprosten, und setzte sie dann teedurstig an ihre Lippen. Mrs. Mott bedachte das kleine Mädchen mit einem durchdringenden Blick. Ihre Nasenflügel bebten lautlos, bevor sie sich umdrehte und davonstolzierte.

„Miss Sweeney“, fragte Gracie, während sie sich bückte, um Clancy hochzuheben, „was ist ein Bastard?“

Eileen schaute Nell an und biss sich verlegen auf die Unterlippe, denn sie wusste natürlich sehr wohl, was ein Bastard war. Allerdings dürfte ihr bislang nicht bekannt gewesen sein, dass Viola Hewitts Adoptivtochter das illegitime Kind eines ihrer Hausmädchen war – und noch dazu das illegitime Kind eines Hewitt! Viola hatte den Bediensteten von Anfang an verboten, über Gracies Herkunft zu sprechen, doch Mrs. Mott und Hitchens standen ganz eindeutig über derlei Beschränkungen. Und Gracie glaubte bislang, dass ihre Nana sie sich ausgesucht hatte, weil Gracie etwas ganz Besonderes war und ihre Nana sich nach vier Söhnen endlich eine kleine Tochter gewünscht hatte.

„Also, ein Bastard …“, setzte Nell zögerlich an. Während sie überlegte, strich sie über Gracies zu Zöpfen geflochtenes Haar, das ebenso schwarz glänzte wie das ihres Vaters. „Das ist einfach nur so ein dummes Wort für ein kleines Kind. Eigentlich bedeutet es gar nichts.“

Das Mädchen nickte wenig überzeugt und schmiegte seine Nase in das Fell des kleinen Hundes, der eifrig versuchte, es am Kinn zu lecken. „Und was ist ein Arbeitshaus?“ Gracie war mittlerweile in einem Alter, wo der Fragen kein Ende war, wenn sie erst einmal begonnen hatten.

Eileen sah Nell mit bangem Blick an, als wundere sie sich, wie sie das wohl beantworten wolle.

„Oh, das“, sagte Nell. „Das ist ein großes Haus auf einer Insel namens Deer Island, in dem ganz viele Leute leben.“ Ein Haus für Arme, für Waisen und Verrückte, für die Kranken und Gescheiterten – ganz ähnlich wie es das Armenhaus von Barnstable County gewesen war, wo Nell einen Großteil ihrer meist wenig erfreulichen Jugend verbracht hatte.

„Auf einer Insel?“, fragte Gracie und sprang dabei auf und ab, wie sie es immer tat, wenn sie ganz aufgeregt war. „Können wir da auch leben, wenn du und Onkel Will geheiratet habt?“

„Tja …“

Nells vermeintliche Verlobung mit William, dem ältesten Sohn der Hewitts, war indes reine Fassade – eine kleine, schickliche Lüge, die es ihm ermöglichen sollte, Zeit mit ihr und Gracie zu verbringen, ohne dass es gleich zu allerlei ungehörigen Gerüchten führen würde. Will hatte ihr diese Taktik letzten Sommer vorgeschlagen, um Mutmaßungen aus der Welt zu schaffen, dass Nell, die tadellos tugendhafte Gouvernante, ein heimliches Verhältnis mit William Hewitt unterhalte – dem berüchtigten Glücksspieler, ehemals Arzt und seit jeher das schwarze Schaf der Familie. Galten sie hingegen als inoffiziell verlobt, so Wills Überlegung, würde niemand ihre Freundschaft infrage stellen.

Allerdings war es eine Freundschaft, aus der nie mehr würde werden können, da Miss Nell Sweeney schon verheiratet war, und zwar mit einem Insassen des Staatsgefängnisses in Charlestown. Duncan, den sie seit nun zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte gerade die ersten zehn Jahre einer dreißigjährigen Haftstrafe abgesessen, die er sich mit einem bewaffneten Raubüberfall und damit einhergehender schwerer Körperverletzung eingehandelt hatte. Niemand in Boston wusste über ihn oder den Rest von Nells fragwürdiger Vergangenheit Bescheid, außer Will und Pater Gorman von St. Stephen, der ihr Beichtvater war. Und die beiden waren auch die Einzigen, die jemals davon wissen durften, denn sonst wäre es aus mit dem wunderbaren, sorglosen Leben, das sie so zu schätzen gelernt hatte. Ganz abgesehen davon, dass sie dann auch das Kind verlieren würde, das sie liebte, als wäre es das ihre, und dieser Gedanke war ihr unerträglich.

Besagtes Kind schaute sie nun mit großen unschuldigen Augen an und wartete darauf zu erfahren, ob es eines Tages dem Paar, das es lange schon insgeheim als seine Ersatzeltern betrachtete, eine richtige Tochter sein könnte. Es war eine Frage, die Gracie ihnen schon einige Male gestellt hatte, seit sie erfahren hatte – zweifelsohne dank der gedankenlosen Bemerkungen der Dienstboten –, dass Nell und Will wohl heiraten würden. Der Wunsch, die Familie solle dann zusammen ins Armenhaus, das große Haus auf der Insel ziehen, war indes neu.

„Wir können aber nicht im Arbeitshaus wohnen, Butterblümchen“, erwiderte ihr Nell und umschiffte damit geschickt die eigentliche Frage. „Dort leben nur Leute, die gar kein eigenes Zuhause haben. Und du bist doch hier bei deiner Nana zu Hause.“

„Aber Nanas Beine können doch nicht mehr laufen! Deshalb braucht sie dich und du darfst nicht einfach weggehen.“ Clancy fest an ihre Brust gedrückt, schaute die Kleine mit einem Blick so tiefer Ergriffenheit zu Nell auf, dass sie einer Schauspielerin in einem Melodrama alle Ehre gemacht hätte. „Und ich brauche dich auch, Miss Sweeney. Wer kümmert sich denn um mich, wenn du nicht mehr da bist?“

„Wie wäre es denn mit Miss Tierney?“, schlug Nell vor.

„Ja, genau, wie wäre es denn mit mir?“, fragte Eileen mit gespielter Strenge und zog Gracie an einem ihrer Zöpfe.

„Sie könnte dann doch auch mitkommen, oder? Bitte, Miss Sweeney!“, bettelte das Kind und drückte den armen Hund noch fester an sich. „Bitte!“

Nell hockte sich hin, damit sie mit Gracie auf Augenhöhe war, und sagte ihr, was sie ihr bei dieser Gelegenheit immer zu sagen pflegte. „Verlobungen können sehr, sehr lange dauern, mein Schatz. Es können noch Jahre vergehen, ehe Onkel Will und ich heiraten.“

„Aber wenn ihr heiratet, dann kann ich …“

„Das sehen wir dann, wenn es so weit ist.“

„Aber …“

„Ich habe jetzt keine Zeit, das ausführlicher mit dir zu besprechen.“ Nell gab Gracie einen Kuss auf die Stirn und meinte: „Unten wartet doch ein Polizist, der mich sprechen will, und einen Polizisten lässt man lieber nicht warten. Warum schaust du nicht noch mal mit Miss Tierney, dass du auch nichts vergessen hast, was du nach Cape Cod mitnehmen willst? Ich bin auch so rasch wie möglich zurück.“

Als sie davonging, hörte Nell, wie Gracie Eileen fragte: „Miss Tierney, was heißt denn ‚gezeugt‘?“

„Ähm …“

„‚Von einem Hewitt gezeugt‘“, beharrte Gracie. „Was heißt das?“

Herrje. An der Tür blieb Nell kurz stehen und drehte sich um. „Das erkläre ich dir später“, versprach sie Gracie, wenngleich sie keine Ahnung hatte, wie sie sich diesmal unverfänglich aus der Affäre ziehen sollte.

Als Nell die Tür des Musikzimmers öffnete, stand Charlie Skinner mit dem Rücken zu ihr. Offenbar hatten die zahlreichen Familienporträts, die sich entlang der mit Rosenholzpaneel getäfelten Wände reihten und bereits vorsorglich für den Sommer verhüllt worden waren, seine Neugier geweckt. Gerade hob er das Laken hoch, um ein kolossales Ganzkörper-Bildnis von August Hewitt zu betrachten, welches von seiner Frau Viola gemalt worden war.

„Sie wollten mich sprechen?“, fragte Nell und schloss die Tür hinter sich. Solange sie nicht wusste, was Skinner von ihr wollte, dürfte es besser sein, wenn niemand ihr Gespräch mit anhörte.

Skinner drehte sich um, ließ das Laken fallen und bedachte sie mit jenem Blick unbestimmt belustigter Verachtung, der ausschließlich ihr vorbehalten schien. Seit sie ihn im vorigen Jahr zuletzt gesehen hatte, hatte er sich kaum verändert – noch immer war er von schmächtiger Gestalt, mit dem Gesicht eines kleines Nagetiers, doch sein schon vorzeitig von den ersten grauen Strähnen durchzogenes Haar war sichtlich noch stärker ergraut.

Mit unverhohlener Herablassung ließ er seinen Blick über sie schweifen. „Miss Sweeney.“ Dass er ihren irischen Namen derart betonte, dürfte als Beleidigung gedacht sein.

Da sie ihm in dieser Hinsicht nicht nachstehen wollte, ließ auch Nell eine Weile ihren Blick spöttisch auf Skinner ruhen, auf der dunkelblauen Uniform eines einfachen Wachtmeisters der Bostoner Polizei. An seinem Gürtel hingen ein Paar Handschellen, Schlagstock und Pistolenhalfter. Sein Polizeihelm lag auf dem unter weißen Leinen verhüllten Konzertflügel.

„Constable“, grüßte sie ihn mit einem feinen, kühlen Lächeln. „Es ist doch wieder ‚Constable‘ und nicht mehr ‚Detective‘, oder?“

Skinner presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, bevor er sich ein wenig erfreuliches Grinsen abrang. Als Nell ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er im Dienst noch einen Anzug getragen und eine der bunt karierten Westen, für die er unerklärlicherweise eine große Vorliebe zu haben schien. Damals war er aber auch noch einer der sieben Polizisten gewesen, die man dem neu geschaffenen Kriminaldezernat zugeordnet hatte, mit einem eigenen Büro im Bostoner Rathaus. Im Februar jedoch, nachdem Beschwerden über die weitverbreitete Korruption bei der Polizei zu endlos langen Anhörungen geführt hatten, war die Kriminalbehörde wieder aufgelöst worden. Die betroffenen Beamten waren, bis auf eine Ausnahme – denn nur einer der Kriminalpolizisten war keiner größeren Vergehen für schuldig befunden worden –, entlassen oder zum Rang eines einfachen Wachtmeisters degradiert worden. Wie es schien, war es auch Skinner gelungen, auf diese Weise im Dienst zu bleiben, doch die Herabstufung kratzte sichtlich an seiner Ehre.

Dumpfes Poltern drang herein, als draußen in der Eingangshalle etwas auf den Marmorboden fiel, gefolgt von einem wütenden, bis in das Musikzimmer zu vernehmenden: „Verfluchter Mist!“

„In diesem Haus hütest du gefälligst deine Zunge, junger Mann.“ Das war unverkennbar Mrs. Mott, die den ungehobelten jungen Gehilfen in bester Despotenmanier zurechtwies. „Los, ihr beiden, hebt den Koffer auf. Und ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf.“ Sie verpasste den beiden je eine schallende Ohrfeige. „Ihr seid nicht eingestellt worden, um hier dumm herumzustehen.“

„Da draußen ist der Teufel los“, bemerkte Skinner kopfschüttelnd.

Tatsächlich herrschte im prächtigen, an einen Palazzo der italienischen Renaissance erinnernden Stadthaus der Hewitts bereits seit den frühen Morgenstunden ein heilloses Durcheinander. Immerhin waren zwanzig Dienstboten mithilfe einer ganzen Horde zusätzlich angeheuerter Fuhrmänner damit beschäftigt, einen Großteil des Haushalts zu der langen Reihe von Fuhrwerken und Pferdekarren zu befördern, die hinten im Hof und längs des Gehsteigs bereitstanden.

„Die Hewitts verbringen den Juli und August zumeist in Falconwood, dem Sommerhaus der Familie auf Cape Cod“, erklärte Nell das chaotische Treiben. „Wir wollen heute Vormittag abreisen.“

„Wir? Etwa auch die Dienstboten?“, fragte er süffisant.

Natürlich entging Nell keineswegs, dass Skinner sie eben mit den Hausmädchen und den Lakaien auf eine Stufe gestellt hatte. Und dabei war es so, dass sie sich dank ihrer Stellung als Gouvernante in einer sozial eher unbestimmten Grauzone zwischen den einfachen Dienstboten und der Familie befand – eine kleine, feine Unterscheidung, die gewiss auch dem Constable bekannt sein dürfte, die er aber geflissentlich ignorierte.

„Die gesamte Dienerschaft wird mit der Familie reisen“, erwiderte sie. „Das Haus wird erst wieder Ende August bezogen.“

Skinner sah sich in übertriebener Manier um. „Dieses große, schicke Haus wird einfach so leer stehen? Ganze sechs Wochen lang, oder sogar acht? Haben die Hewitts denn keine Angst, dass eingebrochen wird und Diebe sich mit all dem teuren Kram davonmachen?“ Er zog an einem der Laken und enthüllte Violas geschätzte Vase aus Limosiner Emaille, die auf dem Flügel stand.

„Vor ein paar Jahren ist das tatsächlich passiert“, sagte Nell. „Danach hat Mr. Hewitt jedoch neue Schlösser an den Türen anbringen lassen.“

„Wenn man was davon versteht, bekommt man jedes Schloss auf“, beschied Skinner. Bei seinen Worten musste Nell daran denken, wie Will einst Virgil Hines’ Briefpult im Handumdrehen mit einer von Nells Haarnadeln geöffnet hatte. „Sie haben recht viele verwerfliche Talente“, hatte sie damals zu ihm gemeint.

„Jede Wette, dass ich jedes Schloss in diesem Haus in weniger als einer Minute geknackt hätte“, brüstete sich der Constable.

„Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel“, sagte Nell, wusste sie doch, dass Einbrüche mit zu den zahlreichen Gesetzesverstößen gehörten, der die vom Dienst enthobenen Polizisten für schuldig befunden worden waren – dazu kamen zudem Nötigung und Vergewaltigungen, Bestechlichkeit und Bestechungen, Erpressung und Auftragsmord sowie die unverhältnismäßige und ungerechtfertigte Züchtigung von Iren und Negern. „Sind Sie eigentlich nur gekommen, um ein wenig mit mir zu plaudern, Constable, oder dient Ihr Besuch einem bestimmten Zweck?“

Skinner schlenderte zu dem Konsolentisch bei der Tür hinüber, wobei er wie beiläufig ein Paar venezianischer Lampen enthüllte, die sehr alt, wertvoll und zerbrechlich waren. „Im North End gab es einen Mord. Johnny Cassidy, ein kleiner Ganove aus dem Viertel, hat gestern Abend in einem Saloon namens Nabby’s Inferno eine Kugel in den Schädel gejagt bekommen.“

Er hob eine der Lampen hoch, drehte und wendete sie, um zu schauen, wie das feine blaue Glas im Sonnenlicht aufleuchtete, das durch die weit geöffneten Fenster hereinfiel.

Vorsichtshalber nahm Nell ihm die Lampe aus der Hand, stellte sie zurück auf den Tisch und verhüllte sie wieder mit dem Laken. „Was im North End vor sich geht, interessiert mich herzlich wenig, Constable.“ Mal abgesehen von der Tatsache, dass Zehntausende Iren in dem Hafenviertel lebten, dicht zusammengepfercht in schändlich heruntergekommenen Häusern.

So meinte Skinner dann auch mit einem belustigten Schnauben: „Ja, klar, interessiert Sie nicht. Sie sind ja jetzt auch was Besseres und sich mittlerweile wohl zu schade für das Rattennest, was? Nur ist mir ganz zufällig zu Ohren gekommen, dass Sie in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal die Sonntagsmesse in St. Stephen versäumt haben. Sie wissen schon, die Kirche an der Hanover Street.“

Zutiefst erschrocken, doch ebenso bemüht, sich nichts davon anmerken zu lassen, meinte Nell: „Haben Sie mir etwa hinterherspioniert, Constable?“

Skinner spähte unter eines der Laken, das über einen der beiden fast zwei Meter hohen Obelisken drapiert war, welche die Tür zum Roten Salon – Violas privatem Rückzugsort – flankierten. „Das North End ist mein Revier und ich habe nun mal gern ein Auge auf Leute, die Probleme machen könnten.“

„Ich verstehe leider immer noch nicht, was ich mit dem Mord an einem mir völlig Unbekannten zu tun haben soll.“

„Was es mit Ihnen zu tun hat“, sagte Skinner, während er gemächlich durch das Zimmer schlenderte und ausführlich die Konturen der verhüllten Kostbarkeiten begutachtete, „ist die Tatsache, dass der Mörder zufälligerweise ein alter Freund von Ihnen ist.“ Mit süffisantem Grinsen sah er sie an. „Colin Cook.“

2. KAPITEL

Irgendwie gelang es Nell, angesichts dieser Neuigkeit keine Miene zu verziehen, obgleich ihre Gedanken sich überschlugen. Colin Cook, einer von Skinners einstigen Kollegen bei der Kriminalpolizei – wenn auch wegen seiner irischen Abstammung von den anderen nie als solcher akzeptiert –, war jener einzige Beamte, der von den verhängten Sanktionen nach dem Korruptionsskandal verschont geblieben war. Zwar hatte auch er keine ganz reine Weste – Nell wusste, dass auch Cook sich hin und wieder ein paar Scheine zustecken ließ –, dennoch stand der behäbige, dunkelhaarige Ire in dem Ruf, einer der wenigen Vertreter seiner Zunft zu sein, die für Integrität und Kompetenz bürgten. Während die anderen Detectives entweder aus dem Dienst entfernt worden waren oder fortan wieder Streife laufen durften, war Cook eine Stelle angeboten worden, die einer Beförderung gleichkam: Er erhielt einen der begehrten Posten beim Massachusetts State Constabulary. Als Detective der Staatspolizei war Cook nun hauptsächlich dafür zuständig, der stetig wachsenden Kriminalität in Boston Einhalt zu gebieten, vor allem dem zunehmenden Verfall der Sitten. Und natürlich fielen damit auch weiterhin Mordermittlungen in sein Ressort.

„Ich bezweifle, dass Sie richtig unterrichtet sind“, sagte Nell ruhig. „Sonst wären Sie wohl kaum zu dem Schluss gelangt, dass Detective Cook der Schuldige ist.“

„Sie können sich nicht vorstellen, dass er jemanden umbringen könnte?“

„Für eine gerechte Sache? Doch, gewiss. Immerhin hat er im Bürgerkrieg auf Seiten der Unionisten gekämpft. Aber Mord?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich erwarte keineswegs, dass Leute wie Ihresgleichen derlei verstehen, aber lassen Sie es sich gesagt sein – es gibt auf dieser Welt durchaus noch Menschen, die über Anstand und Moral verfügen, und Colin Cook ist einer von ihnen.“

„Schön gesagt, Miss Sweeney“, meinte Skinner und verneigte sich spöttisch, „und wenn Cook jetzt hier wäre, würde er bestimmt sehr gerührt sein über das Vertrauen, das Sie in ihn haben. Aber wie das Leben so spielt, ist Vertrauen hier bedauerlicherweise völlig unangebracht. Er hat den Mord begangen. Kaltblütig und brutal, und wie ich auch hinzufügen will, ziemlich schlampig und dilettantisch. Ich war der Erste, der am Tatort eintraf, und eins kann ich Ihnen gleich sagen – das ist ein ziemlich klarer Fall. Bei Nabby’s kennt ihn jeder, ein alter Stammgast ist er, und wir haben drei Zeugen, die alle aussagen, dass er es war.“

„Wir? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man Sie mit dem Fall betraut hat. Fiele so etwas nicht in die Verantwortlichkeit der Staatspolizei?“

„Würde es wohl, aber Major Jones, der für das State Constabulary zuständig ist, meinte – wie hat er gleich noch mal gesagt? –, ach ja, dass es ein ‚Interessenkonflikt‘ für seine Jungs wäre, wenn sie gegen einen aus ihren eigenen Reihen ermitteln müssten. Und weil ich ja reichlich Erfahrung als Detective und wahrlich keinen Grund habe, nachsichtig gegenüber Cook zu sein, habe ich mich im Dienste der Gerechtigkeit erboten …“

„Im Dienste der Gerechtigkeit?“, höhnte Nell. „Sie meinen wohl im Dienste der Rache! Nichts wäre Ihnen doch lieber, als Cook eines solchen Verbrechens zu überführen und ihn dafür hängen zu sehen.“

Skinner zog das Laken von einem runden Marmortisch, der in der Mitte des Zimmers stand und auf dem sich einige der Lieblingsstücke aus August Hewitts Sammlung alter Musikinstrumente präsentiert fanden. Er nahm das kleine Jagdhorn zur Hand, ein vielfach verschlungenes Blechinstrument, kaum einen Fuß lang, zerbeult und vom Alter dunkel patiniert. Viola fand es unansehnlich und verstand nicht, weshalb man es nicht endlich diskret im Instrumentenschrank verschwinden lassen konnte. Aber da das Musikzimmer das geschätzte Refugium ihres Gatten war, genoss das unschöne Instrument weiterhin seinen Ehrenplatz auf dem Marmortisch.

Skinner wog das Horn in den Händen, als wolle er prüfen, wie schwer es war. „Ja, ich muss gestehen, dass es mich stets mit Genugtuung erfüllt, wenn ich einen Mörder am Strang baumeln sehe.“

„Und sähen Sie Cook hängen“, meinte Nell trocken, „wären Sie ganz außer sich vor Freude, und sei es nur, weil er Ire ist und ein besserer Mensch als Sie. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ist er auch noch befördert worden, als die Wahrheit darüber herauskam, was bei der Kriminalpolizei so vor sich ging, wohingegen Sie und die anderen …“

„Er hat uns verraten“, stieß Skinner hervor und bleckte die Zähne. „Während der Anhörungen hat er sich heimlich mit den ganz hohen Tieren getroffen und uns verpfiffen. Dabei haben wir nur unsere Arbeit gemacht. Wenn die wüssten, was es heißt, andauernd mit dem fremden Gesindel zu tun zu haben, das unsere Stadt mittlerweile bevölkert! Und ehe wir uns versehen, laufen wir allesamt Streife in Paddyland – und haben auch noch einen Paddy als Captain, der mich behandelt, als wäre ich ein streunender Kater, den er am liebsten ertränken würde, während dieser elende Verräter geradewegs in Jones’ Einheit befördert wird! Cook verdient jetzt fast doppelt so viel wie vorher, während ich immer noch zusehen kann, wie ich mit meinen mickrigen achthundert im Jahr auskomme.“

„Ach, Constable, Sie sorgen doch sicher dafür, dass sich Ihr Job besser auszahlt“, meinte Nell mit einem wissenden Lächeln.

„Sie halten sich wohl für eine ganz Schlaue, was?“, erwiderte Skinner und versuchte, einen breiten irischen Akzent nachzuahmen.

„Nun, dumm bin ich zumindest nicht“, sagte sie. „Ich weiß ganz genau, wie Sie und Ihresgleichen bei der Arbeit auf Ihre Kosten kommen. Und wenn Sie behaupten, Cook hätte Sie verraten – wollen Sie mir etwa weismachen, er hätte gelogen?“

„Tja, er hat sich da so einige Sachen ausgedacht, um uns gehörig in Schwierigkeiten zu bringen. Aber ganz oben haben sie ihm alles geglaubt, wollten noch mehr davon hören, und er hat es ihnen erzählt – genau das, was sie hören wollten. Glatt gelogen, so ist das gelaufen.“

„Woher wollen Sie das eigentlich wissen, wenn besagte Gespräche heimlich stattgefunden haben?“, forderte sie ihn heraus.

„Gut aufgepasst, was? Tja, Sie sind wirklich ganz schön clever.“ Er kam näher, packte sie unsanft am Arm. Sie roch den Rum in seinem Atem, den sauren Geruch seines Schweißes. „Sie beide sind zwei vom selben Schlag, Sie und Cook. Ein Paar durchtriebener, unverschämter Torftreter, die sich nehmen, was sie nur kriegen können, und wenn sie dafür über die Leichen von uns gewöhnlichen, hart arbeitenden Amerikanern gehen müssen. Jede Wette, dass Sie längst nicht so etepetete sind, wenn unser guter Detective Sie mal allein erwischt. Besorgen Sie es ihm gut, Miss Sweeney? Bäumen Sie sich auf und schreien und …“

„Raus.“ Nell versuchte, sich aus seinem unerbittlichen Griff zu befreien, kam aber nicht gegen ihn an.

Mit nur einer Hand stieß er sie gegen die Tür und schob ihr Kinn mit dem Mundstück des Jagdhorns hoch. Drohend flüsterte er: „Ich hätte auch nichts dagegen, Sie mal schreien zu hören.“

„Ganz meinerseits.“ Sie riss ihm das Horn aus der Hand und schlug es ihm ins Gesicht.

Jaulend vor Schmerz taumelte er zurück und prallte gegen den Flügel. „Elendes kleines Miststück!“, stieß er heiser hervor und hielt sich mit den Händen die Nase. „Gottverdammtes …“

„Verschwinden Sie.“ Nell öffnete die Tür, die zum Korridor hinausführte. Zwei Küchenmädchen, die gerade mit Töpfen und Kesseln beladen draußen vorbeiliefen, blieben kurz stehen und starrten den Constable mit großen Augen an.

„So schnell werden Sie mich nicht los“, zischte er und kam auf Nell zu.

„Oh doch, das denke ich wohl“, ließ sich nun eine scharfe Frauenstimme mit britischem Akzent aus dem Roten Salon vernehmen.

Mit einer Miene wütender Entschlossenheit kam Viola Hewitt durch die Verbindungstür zum Musikzimmer hereingefahren. In einem ungewöhnlich streng geschneiderten grauen Kostüm, das von silbergrauen Strähnen durchzogene schwarze Haar fast gänzlich unter einem schwarzen eckigen Reithut verborgen, hinter dem ein feiner dunkler Schleier her wehte, war Viola sogar im Rollstuhl noch eine einschüchternd imposante, fast schon majestätische Erscheinung.

Mit starrem Blick betrachtete Skinner die in den allerbesten Kreisen Bostons geschätzte und verehrte Mrs. August Hewitt. Das Blut rann ihm zwischen den Fingern hinab, als er schließlich mit zitternder Hand auf Nell zeigte. „Sie hat eben einen Gesetzeshüter angegriffen. Dafür werde ich sie zur …“

„Und ich werde Sie von meinen Lakaien aus diesem Haus werfen lassen, die Ihnen mehr als nur die Nase blutig schlagen dürften, wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden.“

Mit finsterem Blick meinte Skinner zu Nell: „Ich weiß genau, dass Sie wissen, wo er steckt.“

Worauf Nell sagte: „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie …“

„Cook.“ Skinner fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und verschmierte das Blut. Auch seine Wange hatte einen tiefen Kratzer abbekommen. „Er ist gestern Abend verschwunden – nachdem er Cassidy erschossen hat. Und wenn irgendjemand weiß, wo er stecken könnte …“

„Ich habe von Detective Cook schon seit Wochen nichts mehr gehört“, erwiderte Nell.

„Sie verlogenes kleines …“

„Bridget“, sagte Viola zu einem der beiden Küchenmädchen. „Würdest du bitte Peter und Dennis holen? Ich glaube, die beiden sind draußen und laden …“

„Ich gehe ja schon“, murmelte Skinner und fügte an Nell gewandt hinzu: „Sagen Sie Cook, dass wir ihm früher oder später sowieso auf die Schliche kommen. Und damit wir uns nicht falsch verstehen – für diese Sache wird er hängen. Dafür sorge ich schon, da kann er sich drauf verlassen. Und was Sie angeht, Miss Sweeney, so sollten Sie nie vergessen, dass es dort draußen Leute gibt, denen kein einziger Ihrer Schritte verborgen bleibt. Eines Tages bekommen auch Sie noch Ihre Lektion erteilt.“

Nachdem er gegangen war, deutete Viola auf das Jagdhorn, welches Nell noch immer fest umklammert hielt. „Es wurde auch mal Zeit, dass dieses grässliche Ding zu etwas nutze ist.“

Nell atmete auf und lachte leise. Viola nickte kurz mit dem Kopf zur Tür hinüber, die Nell daraufhin schloss.

„Setzen Sie sich doch, meine Liebe“, sagte Viola und kam weiter ins Zimmer gerollt. „Sie sind bleich wie ein Gespenst.“

Erleichtert ließ Nell sich auf einem der verhüllten Stühle nieder und rieb sich den linken Arm, der noch immer schmerzte, wo Skinner sie gepackt hatte.

„Mir ist natürlich bewusst, dass ich mich früher hätte zu erkennen geben sollen“, meinte Viola, „doch als ich merkte, worum es in dem Gespräch ging, hat meine Neugier über den Anstand gesiegt, und so versteckte ich mich stillschweigend hinter dem Kuriositätenkabinett. Detective Cook ist dieser Polizist, den Sie so sehr mögen, nicht wahr?“

Nell lehnte sich zurück und nickte. „Er ist ein grundanständiger Mensch, Mrs. Hewitt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er jemanden umgebracht hat. Ich kann es einfach nicht glauben.“

„Sind Sie sich dessen ganz sicher? Wenn die Umstände danach sind, ist es oft überraschend, wie gewalttätig selbst der netteste Mensch werden kann.“

Hätte Viola gewusst, wie anders Nells Leben noch vor zehn Jahren gewesen war, würde sie ihr gewiss keine Lektion über das Wesen der Gewalttätigkeit erteilt haben. Und so wählte Nell ihre Worte mit Bedacht, um auf diesem Gebiet nicht gar zu bewandert zu erscheinen, als sie nun meinte: „Um jemanden zu töten – und zwar nicht für eine gute, gerechte Sache, sondern beispielsweise im Zorn –, muss man, glaube ich, eine Grenze überschreiten, die die meisten von uns nicht überschreiten können. Es ist fast so, als hätte Gott uns mit einer Art … moralischen Bremse ausgestattet, die uns davon abhält, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, es sei denn, wir haben einen wahrhaft guten Grund dafür.“

„Wäre es denn nicht möglich, dass Ihr Detective Cook einen wahrhaft guten Grund hatte, diesen – wie hieß er noch mal, Cassidy? – umzubringen?“

„Johnny Cassidy. Sie denken an etwas wie Notwehr? Das kann zumindest nicht offensichtlich so gewesen sein, denn sonst würde man ihn ja nicht als Mörder suchen.“

„Und“, fügte Viola bedächtig hinzu, „er wäre wahrscheinlich auch nicht geflüchtet.“

Nell schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Wenn Sie ihn so gut kennen würden wie ich …“

„Stimmt denn, was Sie Constable Skinner erzählt haben – dass Sie seit Wochen nichts von Detective Cook gehört haben?“

Nell nickte und meinte: „Das letzte Mal habe ich ihn vor zwei oder drei Wochen gesehen. Als ich mit Gracie nachmittags im Park war, bin ich ihm zufällig begegnet. Wir haben eine Weile geplaudert, über das neue Haus, das er sich gerade erst gekauft hat, und über seine Arbeit beim State Constabulary.“

„Und von irgendwelchen Problemen im North End hat er nichts erzählt oder …?“

„Er meinte nur, dass er ziemlich viel Zeit dort zubringe, beruflich, was aber auch seinen neuen Aufgaben entspricht und daher nicht ungewöhnlich ist. Im North End und auch in Fort Hill, da in den irischen Slums eben die meisten Spielhöllen und Schenken und … derlei Lokalitäten liegen.“

„Bordelle“, ergänzte Viola mit feinem Lächeln. „Sie können es ruhig sagen – wir sind ja unter uns.“

Nell erwiderte das Lächeln. Eine von Violas einnehmendsten Eigenschaften war ihre Offenheit in heiklen Belangen – wahrscheinlich ein Relikt ihrer jungen Jahre als Bohemienne in Paris.

„Er sprach von seiner Arbeit“, erzählte Nell weiter. „Aber nur ganz allgemein. Er meinte, dass es eine sehr wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe wäre, in einer Stadt wie Boston gegen den Verfall der Sitten anzugehen. Zuletzt hätte man über dreitausend Lokale gezählt, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde, Dutzende Spielhallen und zwischen zwei- und dreihundert … ‚Logierhäuser‘, wie er sie nannte.“

Viola lachte leise über Cooks wohlanständige Umschreibung.

„Wenn es irgendjemandem gelingen kann, in diesen Vierteln aufzuräumen, dann Colin Cook“, sagte Nell. „Er ist ein sehr guter Polizist und durch und durch Ire. Er passt zu den Leuten, die dort leben, er weiß, wie sie denken, er spricht ihre Sprache. Und er hat einen sehr ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.“

„Und dennoch“, seufzte Viola, „scheint er nun selbst vor dem Gesetz auf der Flucht zu sein.“

Nell vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihre Begegnung mit Skinner wühlte sie noch immer sehr auf. „Ich kann mir auch nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Und es ist ja nicht nur Skinner, der ihn für schuldig hält. Der Präsident des State Constabulary muss ihn gleichfalls verdächtigen, sonst hätte er Skinner kaum auf ihn angesetzt. Ich habe furchtbare Angst, dass man ihn findet und … Oh Gott. Bis ich vom Cape zurück bin, ist er vielleicht längst im Gefängnis – wenn nicht gar schon am Galgen! Skinner wäre es sogar zuzutrauen, dass er die Sache selbst in die Hand nimmt, Cook an Ort und Stelle beseitigt und dann behauptet, er hätte flüchten wollen. Skinner ist alles zuzutrauen.“ Sie schauderte.

Viola fuhr zu Nell heran und nahm ihre Hand. „Sie wollen Detective Cook helfen, nicht wahr?“

„Ja, aber wie?“, erwiderte Nell mit erstickter Stimme. Tränen stiegen in ihr auf und schnürten ihr die Kehle zu. „Ich … ich werde auf Cape Cod sein, während Skinner hier Jagd auf ihn macht und … und …“

„Und Sie werden sich die ganze Zeit furchtbare Sorgen um Ihren Freund machen und sich fragen, ob man ihn wohl schon gefunden hat“, setzte Viola hinzu.

„Oder ob man ihn schon getötet hat.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie in diesem Zustand für Gracie nur von wenig Nutzen sind.“

„Nein, ich … ich würde niemals zulassen, dass …“

„Sie können aber nicht anders und es wäre nur zu verständlich, denn schließlich sind Sie auch nur ein Mensch.“ Nach kurzem Überlegen meinte Viola: „Und ich kenne Sie doch. Sie besitzen ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und ich weiß, wie loyal Sie gegenüber Ihren Freunden sind. Ihnen wäre nichts lieber, als in Boston zu bleiben, damit Sie Ihren Polizistenfreund ausfindig machen können, bevor dieser Skinner ihn aufspürt.“

„Natürlich, aber …“

„Wenn Sie möchten, können Sie das ruhig tun.“

Nell schaute auf. „Hierbleiben?“

„Zumindest eine Weile – bis Sie alles geklärt haben.“

„Aber was ist mit Gracie?“

„Eileen könnte sich solange um sie kümmern. Ich lasse Ihnen Geld da, damit Sie uns mit dem Zug hinterherreisen können. Kabeln Sie mir einfach nach Falconwood, wann Sie in Falmouth eintreffen, dann schicke ich Brady, damit er Sie abholt. Sehen Sie, es macht wirklich keine großen Umstände – wenn es Ihnen wirklich so wichtig ist.“

„Das ist es. Aber ich hätte das Gefühl, Gracie im Stich zu lassen – und Sie auch.“

„Ach, Gracie ist anpassungsfähig, ebenso wie ich. Und Eileen scheint mir durchaus in der Lage, Ihre Pflichten zu übernehmen, bis Sie wieder bei uns sein können. Bleibt nur die Frage, wo Sie solange wohnen werden, denn mir ist etwas unwohl bei dem Gedanken, Sie ganz allein in diesem großen leeren Haus zurückzulassen. Haben Sie Freunde, die Sie aufnehmen könnten?“

Nell dachte kurz nach. „Da wäre Emily Pratt, aber … nun ja, Sie lebt bis zu ihrer Heirat mit Dr. Foster noch bei ihren Eltern und …“

„Und es versteht sich von selbst, dass Orville Pratt keine irische Gouvernante unter seinem Dach beherbergen kann. Gewiss. Aber wie wäre es denn mit den Thorpes? Wenn Sie sie fragen würden, wären Sie bestimmt einverstanden.“

„Mrs. Thorpe behandelt mich wie eine Spülmagd und Mr. Thorpe … na ja, er ist der beste Freund Ihres Mannes und in Anbetracht der Gefühle, die Mr. Hewitt mir entgegenbringt …“

„Hmm … Dann gäbe es noch Max Thurston. Er ist ganz hingerissen von Ihnen.“ Der exzentrische Dramatiker hatte während der letzten Monate eine sehr herzliche Freundschaft mit Viola geknüpft.

Kopfschüttelnd sagte Nell: „Nein, wie sähe das denn aus, wenn ich allein mit einem Gentleman …“

„Schon, aber es ist doch allgemein bekannt, dass Max … nun, sagen wir einfach, dass er gegen weibliche Verlockungen gefeit ist.“

„Es ist bekannt und dennoch wäre es ein Skandal, wenn ich bei ihm wohnte. Außerdem kann ich sehr wohl hier im Haus bleiben. Es stört mich nicht, allein zu sein, und es wäre ja auch nicht für lange. Hoffe ich zumindest.“

„Sind Sie dessen auch ganz sicher, meine Liebe?“

Nell war sich dessen alles andere als sicher, doch so wie es aussah, blieb ihr kaum eine andere Wahl, und so meinte sie mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte: „Natürlich. Ich werde die Türen abschließen und die Vorhänge zuziehen. Niemand wird wissen, dass ich hier bin.“

3. KAPITEL

Sie sollten nie vergessen, dass es dort draußen Leute gibt, denen kein einziger Ihrer Schritte verborgen bleibt.

Skinners unterschwellige Drohung wollte Nell nicht mehr aus dem Sinn, als sie in jener Nacht im zweiten Stock des Palazzo Hewitt, wie Will das Haus gern spöttisch nannte, noch immer wach in ihrem Bett lag. Obwohl sie von den Ereignissen des Tages erschöpft war, konnte sie keinen Schlaf finden. Zum Teil mochte dies an der Hitze liegen. Zwar standen die Fenster auf beiden Seiten des Zimmers offen, doch war es eine unerträglich schwüle Nacht, und wenn überhaupt mal ein leichter Windzug hereinwehte, fühlte er sich eher so an, als blase einem heiße Luft aus einer geöffneten Ofentür entgegen.

Größtenteils jedoch rührte Nells Ruhelosigkeit von dem Wissen her, dass sie nun völlig allein war. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen hierzubleiben, aber dennoch kam sie sich jetzt in diesem riesigen Haus mit seinem gespenstisch verhüllten Mobiliar sehr einsam und verloren vor – und sehr schutzlos.

Da Nell nie zuvor gänzlich allein, ohne die Familie und eine Heerschar von Bediensteten, hier gewesen war, hatte sie nicht mit dieser absoluten, alles vereinnahmenden Leere gerechnet. Keine gedämpften Stimmen waren mehr durch die Wand zu vernehmen, keine Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, keine Schritte, nicht ein einziger Laut, der Leben erkennen ließe. Nur das leise, weit entfernte Ticken der Standuhr im vorderen Salon drang von unten herauf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es jemals zuvor bis in ihr Schlafzimmer gehört zu haben, auch nicht mitten in der Nacht, wenn es ganz ruhig im Haus gewesen war. Doch nie war es so ruhig gewesen wie jetzt.

Sie stand auf, ging zur Uhr hinüber, die auf dem Kaminsims stand, und versuchte, im schwachen Mondschein die Zeit abzulesen – fast schon ein Uhr morgens. Eigentlich sollte man ja meinen, dass sie, nachdem sie seit bald zweiundzwanzig Stunden wach war und die Nacht zuvor auch nur fünf Stunden geschlafen hatte, viel zu erschöpft wäre, als dass sie trotz der beängstigenden Unruhe, die sie erfasst hatte, nicht einschlafen konnte.

Das Haar hing ihr schwer und feucht in den erhitzten Nacken, und sie suchte in der obersten Kommodenlade nach einem Samtband, um es sich aufzubinden. Als sie in ihrer kleinen Kollektion von Handschuhen, Kragen und Bändern kramte, stieß sie auf einen ordentlich gefalteten, in feines Papier gewickelten Seidenschal, den sie weit hinten in der Schublade verwahrte – den Schal, den Will Hewitt getragen hatte, als sie ihn im Januar das letzte Mal gesehen hatte.

Nell war an jenem eisig kalten Morgen zum Bahnhof gekommen, um sich von Will zu verabschieden, der mit dem Zug nach San Francisco und von dort weiter mit dem Dampfschiff nach Shanghai fahren wollte. Es würde eine lange und anstrengende Reise werden, die vielleicht Jahre dauerte und auf die er sich keineswegs freute, die ihm aber unabänderlich geboten schien, um etwas Abstand zu gewinnen.

Sein Abschied aus Boston bedeutete nicht nur, dass er sie und Gracie verließ, sondern auch seine Stelle als Professor für Gerichtsmedizin an der Harvard Medical School aufgab – obwohl sie ihm, wie Nell wusste, sehr viel bedeutete. Sie hatten nie offen über die Gründe gesprochen, die ihn zu der Reise bewegt hatten, über die tiefen Gefühle, die sich in den fast drei Jahren ihrer Bekanntschaft zwischen ihnen entwickelt hatten. Nur konnten diese nirgendwohin führen, war sie doch leider Gottes bereits verheiratet. Als Katholikin kam eine Scheidung für sie nicht infrage, denn sollte sie sich scheiden lassen und jemals wieder heiraten, würde sie exkommuniziert werden. Und so hatte Nell sich damit abgefunden, bis an ihr Lebensende eine alte Jungfer zu bleiben, denn eine Liebschaft ohne ehelichen Segen zu unterhalten könnte sie ruinieren, sollte es jemals bekannt werden. Sie würde ihre Stelle als Gouvernante verlieren und ihr Zuhause bei den Hewitts, was schlimm genug sein würde, doch das Schlimmste wäre, dass sie auch Gracie aufgeben müsste.

Will hatte das verstanden und sich schließlich für einen längeren Aufenthalt fern von Boston entschieden. Auf diese Weise, so hoffte er, konnten sie beide etwas Erleichterung erfahren und waren nicht mehr beständig dem Dilemma ausgesetzt, zwar Zeit miteinander zu verbringen, letztlich jedoch nie wirklich zusammen sein zu können. Er war überrascht gewesen, sie an jenem Morgen am Bahnhof zu sehen – und mehr noch, als sie ihn dann an das Angebot erinnerte, welches er ihr in einem schwachen Moment gemacht hatte: ein Kuss von ihr – nur einer, niemals wollte er um einen zweiten bitten –, und er würde in Boston bleiben. Danach würden sie so weitermachen wie bisher, nie mehr von all dem sprechen, was besser ungesagt blieb. Mit dem Kuss sollte es gut sein und ein Ende haben.

Aber der Kuss war keineswegs das Ende von allem gewesen, sondern ein Versprechen, das so viel mehr verhieß. Er war wunderbar und überwältigend gewesen, das Eingeständnis eines geheimen Verlangens, das niemals hätte offenbar werden sollen. Eine Tür war aufgestoßen worden, und ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, wussten sie beide, dass Nell alles verlieren könnte, wenn sie hindurchgingen.